1.1 Einleitung und Forschungsgeschichte

Archäologische Artefakte kann man als Buchstaben oder Wörter verstehen. Interpretiert oder besser verstanden und richtig zusammengesetzt, können sie eine Geschichte über die damaligen Menschen erzählen. Anders als z. B. in der Forensik stehen für die Überprüfung einer Interpretation aber meist nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Verfügung.

Eine wichtige Methode in der Archäologie ist zunächst die exakte Beschreibung. Daran anschließend erfolgt die vergleichende Einordnung von Artefakten, z. B. anhand von Analogien. Aus einer solchen deskriptiven Typologie lassen sich dann besser fundierte Interpretationen ableiten und iterativ teilweise auch optimieren. Diesen deskriptiven Typologien mangelt es jedoch leider zum Teil an Stückzahlen von Artefakten, die einem Typ zugeordnet werden können. Die Anwendung statistischer Methoden zur Absicherung von Interpretationen ist deshalb oft ausgeschlossen. In besonderen Fällen kann eine vertiefende Charakterisierung mittels moderner Analysemethoden wie Element-, Molekular- und Strukturanalyse sinnvoll sein, um so die Vergleichs- und Interpretationsmöglichkeiten weiter zu verbessern und abzusichern.

Die vorliegende Arbeit widmet sich den neolithischen Knochenwerkzeugen und ihren Gebrauchsspuren, denn sie fanden bisher wenig Beachtung. Symptomatisch für die gängige Sichtweise auf die Bedeutung dieser Artefakte ist die im Bild (Abb. 1.1) dargestellte Ausrüstung eines neolithischen Haushalts. Jegliche Knochenartefakte fehlen dort. Geweihartefakte sind nur durch ein Zwischenfutter repräsentiert. Dies entspricht dem geringen Stellenwert, der den Knochen-, Geweih- und Zahnartefakten in der Forschung eingeräumt wird. Entsprechende Untersuchungen sind auf das Einordnen in eine rein formenkundlich-morphologische Typologie und eventuell einen daraus abgeleiteten funktionalen Anspruch beschränkt. Dabei könnte eine entsprechende Untersuchung solcher Fundkomplexe weitreichende Erkenntnisse über Sozialstrukturen und Ökonomie innerhalb der Siedlung liefern. Schließlich gehören Knochen, Geweih und Zahn aufgrund ihrer spezifischen Materialeigenschaften neben Stein und Silex zu den wichtigsten Materialien, aus denen im Jungneolithikum Werkzeuge und Schmuck hergestellt wurden, die als Indikatoren für Sozial- und Wirtschaftsstruktur herangezogen werden können. Bereits um das 4. Jahrtausend v. Chr. treten zwar auch die ersten Gegenstände aus Kupfer auf,jedoch sind diese für viele Anwendungen noch zu weich. Knochen, Geweih und Zahn gehörten deshalb als altbewährte Materialien zum allgegenwärtigen Bild der agrarisch geprägten Gesellschaft der Jungsteinzeit – nicht zuletzt auch aufgrund der leichten Verfügbarkeit der Rohmaterialien. Entsprechend häufig sind solche Artefakte in den Fundstellen vertreten.

Werkzeuge aus solchen Materialien – insbesondere aus Knochen – sollten eigentlich gute Möglichkeiten bieten, z. B. mittels experimentalarchäologischer Analysen der Gebrauchsspuren sichere funktionale Interpretationsmöglichkeiten zu erarbeiten. Hier liegt eine wesentliche Motivation für die vorliegende Arbeit. Der funktionale Anspruch – also die Frage, wie und vor allem wofür bestimmte Werkzeuge tatsächlich verwendet wurden – ermöglicht erst eine verlässliche Interpretation von Gebrauchsspuren. Damit eröffnen sich potenziell Verbindungen von Handwerk und Lebensweise.

Abb. 1.1
figure 1

Darstellung eines neolithischen Haushaltes mit all seinen Gerätschaften. Der Pfeil deutet auf das Zwischenfutter. Ansonsten finden sich auf dem Bild keinerlei weitere Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte

Eine umfassende Untersuchung von Siedlungen – wofür dann hauptsächlich Gustaf Kossinna den Begriff „Siedlungsarchäologie“Footnote 1 prägte – rückte Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum frühen 20. Jahrhundert mit der Entdeckung von Feuchtbodensiedlungen in der Schweiz immer stärker in den Fokus der archäologischen Forschung. Kurze Zeit später wurden auch im süddeutschen Raum die ersten Pfahlbauten am Bodensee entdeckt und erforscht. Diese als PfahlbaufieberFootnote 2 apostrophierten Aktivitäten hatten zur Folge, dass im süddeutschen Raum weite Bereiche des Federsees und des Bodensees untersucht wurden. Vor allem Hans ReinerthFootnote 3 und Robert R. SchmidtFootnote 4 sind hier zu nennen. Großflächige Ausgrabungen mit FeuchterhaltungFootnote 5, wie sie vor allem in den 1920er Jahren durchgeführt wurden, begründeten die Basis der Siedlungsarchäologie. Nur so können einzelne Hausstrukturen erkannt werden. Kombiniert mit naturwissenschaftlichen Untersuchungen (Botanik, Osteologie, Sedimentologie und andere) kann eine Siedlung mit ihrer Dynamik und ihrem Umfeld ganzheitlich betrachtet werden. Diese Entwicklung gipfelte in der Einführung der DendrochronologieFootnote 6. So konnten schließlich auch die Besiedlungsdauer, Reparaturphasen, etc. untersucht werden. In den 1950er und 1960er Jahren knüpfte Ernst WallFootnote 7 mit gebotenem AbstandFootnote 8 an die Vorkriegsuntersuchungen an. In dieser Zeit wurden neue Maßstäbe in den feinstratigraphischen Analysen, der Untersuchungen der Pollen, der C14-Datierung und der Dendrochronologie gesetztFootnote 9. Dennoch fanden kaum solch großflächige Ausgrabungen wie zuvor statt. Obwohl die Siedlungen auf vielerlei Art untersucht wurden, wurden Funde weiterhin nur formentypologisch den entsprechenden Kulturgruppen zugeordnet, weil das Augenmerk der Forschungen nicht auf der Wirtschaftseinheit ‚Siedlung‘, sondern eher auf der Kulturzugehörigkeit und einer entsprechenden Einordnung lag.

Erste Funktionsanalysen an Stein- und Silexartefakten wurden Mitte des 19. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts vorgenommenFootnote 10. Erst Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Untersuchungen auf andere Werkzeugarten wie Knochenartefakte ausgeweitet. Seitdem gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen zu Gebrauchsspuren an Knochenartefakten, die anfänglich meist rein deskriptiv von europäischen Lehrern durchgeführt wurden. Für Funktionszuordnungen fehlten entweder die experimentelle Überprüfung, oder die Dokumentation ist nicht nachvollziehbar dargelegt und damit für nachfolgende Forschungen auch nicht reproduzierbarFootnote 11. Überregionale, auf Analogien basierende ethnologische Vergleiche wurden noch nicht zur Klärung einer möglichen Funktionsweise der Werkzeuge herangezogen. Die Interpretation der Verwendung/Funktion der verschiedenen Werkzeuge war bei diesen frühen Untersuchungen also rein deskriptiv und stark von der westlichen Forschungsdenkweise beeinflusstFootnote 12. An der Professionalisierung der Analyse von Gebrauchsspuren war Sergej A. Semenov mit seinem Buch „Pervobytnaja technika“ 1957 und 1964 mit der englischen Übersetzung „Prehistoric Technology“ maßgeblich beteiligtFootnote 13. Er zog Verschleißspuren an Metallwerkzeugen als analogen Vergleich zu den Spuren an Stein- und Knochenartefakten heran und entwickelte so Kriterien zur Bestimmung von Gebrauchsspuren und daraus abgeleitet die mögliche Funktion der Artefakte. Im Gegensatz zu den Anfängen der Gebrauchsspurenanalyse, bei der die Untersuchungen hauptsächlich makroskopisch vorgenommen worden waren, verwendete Semenov vor allem ein Stereomikroskop, um die Spuren mikroskopisch zu analysieren. Für ihn galt die Devise „form follows function“Footnote 14. Allerdings führte er weder Experimente durch noch geht aus seinen Ausführungen schlüssig hervor, wie er zu manchen Ergebnissen gelangte. Es blieb also deskriptiv bei Auswertung und Analogschlüssen auf die Funktion.

Mit Beginn der Siedlungsarchäologie, die anfangs lediglich auf Basis von Grabfunden durchgeführt wurdeFootnote 15, haben sich die Herangehensweise an eine Siedlung und die Sichtweise auf diese grundlegend geändert. Zu den Begründern der modernen Siedlungsarchäologie nach dem ersten Weltkrieg zählen vor allem Gerhard Bersu, Hermann Stoll und Robert Rudolf Schmidt. Sie sahen in der Siedlungsarchäologie nicht mehr nur eine Methode, um die Strukturen einer Kulturgruppe zu untersuchen, sondern ihnen ging es um die Dorfstrukturen in wirtschaftlicher, alltäglicher und religiöser Hinsicht. So schrieb Herbert Jankuhn 1977Footnote 16, dass „siedlungsarchäologische Analysen auch Erkenntnisse für andere Forschungsbereiche“Footnote 17 liefern. Dazu zählt er die Wirtschaftsgeschichte, die soziale Struktur und gesellschaftliche Struktur. Mittlerweile hat sich zusätzlich die Landschaftsarchäologie als Zweig der Siedlungsarchäologie etabliert.

Auch die Erforschung der Feuchtbodensiedlungen lebte in den 1970er Jahren wieder auf. Die steigende Bedeutung der Pfahlbauarchäologie gipfelte 1981 in der Gründung der Außenstelle des baden-württembergischen Landesamtes für Denkmalpflege für FeuchtbodenarchäologieFootnote 18. Seitdem ist diese ein Schwerpunkt der archäologischen Denkmalpflege in Baden-Württemberg.

Zur selben Zeit wurden auch weitere Gebrauchsspurenuntersuchungen durchgeführt. Das Hauptaugenmerk lag dabei weiterhin auf der Verifikation von Funktionszuordnungen mittels Analyse von Analogien, aber zusätzlich auch auf Studien zur Effizienz. Dazu wurden nun neue Untersuchungsmethoden auf der technischen Ebene und bei der Herangehensweise an die Experimente eingeführt. So gab es erstmals Versuche, die Spuren an Silexwerkzeugen mithilfe eines Raster-Elektronenmikroskops, das eine höhere Auflösung gewährleistet, zu analysierenFootnote 19. Zunehmend wurde auch Wert daraufgelegt, die vermuteten Arbeitsprozesse bei der Durchführung von Experimenten nachzuvollziehenFootnote 20. Bereits ab Mitte des 20. Jahrhunderts hatte man begonnen, ethnologische Parallelen, also Analogien, im Werkzeuggebrauch zu suchenFootnote 21. Dieser Ansatz wurde nun gezielt erweitert, indem manche Forscher mit indigenen Völkern beispielsweise aus Papua-Neuguinea, zusammenarbeiteten und ihnen Repliken zur probeweisen Verwendung gaben. Häufig resultieren daraus für verschiedene Werkzeuge interessante Verwendungsarten, die sich nicht unbedingt mit der westlichen Denkweise deckten. Allerdings fehlte meist der Rückschluss von den gewonnenen Gebrauchsspuren auf die Spuren an den Artefakten und leider auch eine systematische Aufarbeitung der Gebrauchsspuren von verschiedenen möglichen Werkstoffen.

Um die Ergebnisse der Experimente zu überprüfen, wurden verstärkt Blindtests vorgenommen. D. h. es wurden Werkzeuge untersucht, deren experimentelle Verwendung dem Untersuchenden völlig unbekannt war. Mit solchen Analysen sollten Zuverlässigkeit und Reproduzierbarkeit der jeweiligen Methode bewiesen werden. Diese Blindtests fielen zum Teil sehr unterschiedlich aus und ergaben selten ein eindeutiges fehlerfreies ErgebnisFootnote 22.

Das wesentliche Problem blieb weiterhin die Qualifizierung und die Verifizierung der Spuren. Dieses wurde in der Folge durch neue Untersuchungen angegangen. So gab es in den 1980er Jahren erste VersucheFootnote 23, die Spuren an Stein- und Knochenartefakten mithilfe eines Weißlichtinterferometers, mit dem die Rauheit der Oberfläche gemessen werden kann, metrisch auszuwerten, um auf dieser Basis eine bessere Vergleichbarkeit zu erreichen. Es konnten auch erste gute Ergebnisse erzielt werden, allerdings stellte die geringe Reflexion der Oberfläche von Stein- wie auch von Knochenwerkzeugen eine große Einschränkung dar. Die meisten Untersuchungen beziehen sich aber weiterhin lediglich auf die Bestimmung der Spuren an den Repliken. Ein Rückschluss auf die archäologischen Artefakte fehlt meist gänzlich, ebenso wie eine nachvollziehbare und reproduzierbare Beschreibung der Experimente. Eine korrekte Verifizierung fehlt also auch hier.

Die 1970er und 1980er Jahre waren eine regelrechte Blütezeit der Gebrauchsspurenforschung an Knochenwerkzeugen. So fand 1974 in Paris die erste große Konferenz zu Untersuchungen mit Knochenwerkzeugen statt, die von Henriette Camps-Fabrer organisiert wurdeFootnote 24. Experimentelle Nachbildungen von Werkzeugen und verschiedene Verwendungstechniken sowie die Untersuchung der unterschiedlichen Ausprägungen von Makrospuren, wie sie bereits 1953 von John G. D. Clark und Michael W. ThompsonFootnote 25 vorgelegt worden waren, rückten wieder verstärkt in den Vordergrund; so auch die Untersuchungen von Mark Newcomer und Sandra L. OlsonFootnote 26. Die Studien fanden nun nur noch selten nur mit makroskopischen Mitteln statt, sondern es kamen häufig auch mit Licht- oder Elektronenmikroskopen zum Einsatz. Zwar wurden viele Experimente zu einzelnen Werkzeugtypen oder Werkstoffen durchgeführt, für eine verlässliche, reproduzierbare Verifizierung fehlte jedoch weiterhin eine konsistente systematische Aufarbeitung der Spuren.

Die 1980er Jahre erwiesen sich auch für die Aufarbeitung von Knochenwerkzeugen, nämlich dem Erstellen einer konsistenten formalen Typologie, als eine wichtige wissenschaftliche Phase. Jörg Schibler stellte 1981 mit den Knochenartefakten von Twann (Kanton Bern/Schweiz) eine Typologie auf, die bis heute als Grundlage zur Einordnung genutzt wirdFootnote 27. Er hat die archäologischen Knochenartefakte in Typen zusammengefasst, die aufgrund der Morphologie, der Form und einzelner Bearbeitungs- und Gebrauchsspuren gebildet wurden. Diese Typologie wurde in den folgenden Jahren immer wieder ergänzt und angepasstFootnote 28. Die Gebrauchsspuren an den archäologischen Artefakten wurden dabei rein makroskopisch untersucht. Eine mögliche Verwendung der Werkzeuge wurde nur am Rande und mit dem Hinweis berücksichtigt, dass diese Annahmen durch eine Analyse der Gebrauchsspuren überprüft werden müsstenFootnote 29.

Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war dann eine eher ruhige Phase in der Gebrauchsspurenanalyse von Knochenwerkzeugen. Dennoch gab es in dieser Zeit einige wichtige, experimentell unterlegte Ansätze. So konnte Francesco d’Errico 1995 mit seinen Experimenten zu einer gravettienzeitlichen Hechel nachweisen, dass die Gebrauchsspuren an archäologischem Artefakt und Replik gleich aussehen, wenn sie für dieselbe vermutete Funktionsweise verwendet wurdenFootnote 30. Allerdings beschränkte sich diese Analyse auf ein einzelnes archäologisches Artefakt, das nachgebaut wurde und das nur für die Bearbeitung eines einzigen Werkstoffs verwendet wurde. Ebenfalls bedeutsam ist die Arbeit von Yolaine Maigrot (1997), die eine Methode zur Bestimmung der Gebrauchsspuren entwickelt hat. Sie hat anhand makro- und mikroskopischer Kriterien einen Katalog zur Bestimmung der Gebrauchsspuren in Abhängigkeit vom bearbeiteten Material erstelltFootnote 31. Die Grundlage bildeten der experimentelle Nachbau verschiedener Typen von Knochenwerkzeugen und deren Benutzung. Es konnten aber nur einzelne Artefakte einem Werkstoff zugeordnet werden. Einschränkungen für eine grundlegende reproduzierbare Nutzbarkeit für die Einordnung der Artefakte ergeben sich auch aus der meist nur kurzzeitigen Nutzung der nachgebildeten Werkzeuge und der damit wohl zusammenhängenden fehlenden Erfassung von Brüchen und von Handhabungsspuren. Letztere sind wichtige Merkmale, die an Artefakten zu beobachten sind. Yolaine Maigrot hat leider die Experimente weder selbst durchgeführt noch begleitet. Zeitgleich versuchte Genevieve M. LeMoine (1991, 1994, 1997), das Potential der Mikrospurenanalyse in Abhängigkeit von verschiedenen Werkstoffen mit zuverlässigen Unterscheidungskriterien zu beschreibenFootnote 32. Sie kommt ebenso wie Francesco d’Errico und Yolaine Maigrot zu der Erkenntnis, dass unterschiedliche Werkstoffe unterschiedliche Spuren hinterlassen. Die Untersuchungen bleiben jedoch aufgrund fehlender Beschreibungen auch weiterhin kaum reproduzierbar. Objektivierung und Übertragung auf weitere Werkstoffe sind so noch nicht erreichbar.

Im Gegensatz hierzu steht die Arbeit von Alice Choyke (1983, 1997), die sich mit Gebrauchsspuren an bronzezeitlichen Knochenwerkzeugen beschäftigt. Ihre Untersuchungen zielen auf eine Differenzierung der Spuren, die der Herstellung, der Verwendung und der Handhabung zugeschrieben werden könnenFootnote 33. Ihr geht es darum, das „manufacturing continuum“, also den gesamten Arbeitsprozess, zu verstehen. Sie kritisiert, dass eine klassische Typologisierung nahezu ausschließlich anhand der verwendeten Tierart und des Skelettteils vorgenommen wird. Gebrauchsspuren spielen, wenn überhaupt, nur am Rande eine RolleFootnote 34. Sie propagiert deshalb eine Typologisierung, die die Gebrauchsspuren miteinschließt. Ihre Einordnung der Gebrauchsspuren basiert dabei auf den Ergebnissen von älteren Experimenten, wie denen von Mark NewcomerFootnote 35 und Sandra L. OlsonFootnote 36, deren Untersuchungen, wie bereits beschrieben, leider nicht überprüfbar und auch nicht nachvollziehbar dargestellt sind. Leider wurde seitdem die Bedeutung, die die Funktion der Artefakte auf die Typologie und dementsprechend chronologisch einordenbaren Formenveränderungen haben kann, nicht weiterverfolgt. Umgekehrt wurden ebenso keine Untersuchungen angestellt, um die Bedeutung der Typologie für die Funktion zu analysieren.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt die Gebrauchsspurenforschung an Knochenwerkzeugen eine Renaissance. Da es funktional immer noch keine standardisierte Methode zur Bestimmung und Unterscheidung von Knochenwerkzeugen gibt, liegt hierauf der Fokus vieler ForscherFootnote 37. Vor allem die experimentellen Ansätze, insbesondere die Produktion, also die Herstellungstechnologie, und die Verwendung der replizierten Werkzeuge, rücken vermehrt in den Vordergrund. Sie folgen damit wiederum John G. D. Clarks und Michael W. Thompsons Ansatz der „chaîne opératoire“Footnote 38. Untersucht wurden jedoch in diesem Zusammenhang jeweils nur kleine Fundkomplexe oder einzelne WerkzeugtypenFootnote 39. Bei den Experimenten wurde nicht auf die Reproduzierbarkeit der Versuche oder eine systematische Aufarbeitung der möglichen Werkstoffe geachtetFootnote 40 und Blindtests wurden nicht durchgeführt.

Nachdem die Untersuchungen deshalb weiterhin subjektiv blieben, versuchten Adam S. Watson und Mathew A. Gleason 2015 durch die Messung der Rauheit der Oberfläche der Knochenwerkzeuge ein quantifizierbares Merkmal einzuführen. Die Vorgehensweise bei den Experimenten und die angewandten Methoden sind jetzt genau beschriebenFootnote 41. Eine erhebliche Einschränkung liegt allerdings darin, dass nur eine einzige Werkzeugart verwendet wurde. Das solitäre Werkzeug war eine Ahle, die jeweils maximal eine Stunde beim Knüpfen eines Korbes und beim Stechen von Löchern in eine Rohhaut verwendet wurde. Unterscheidungen der Gebrauchsspuren wurden nur auf Basis von Rauheitsmessungen und entsprechenden Abbildungen mit dem konfokalen Lichtmikroskop gemacht. Stereomikroskopische Untersuchungen zur eventuell vereinfachten Überprüfung wurden ausgelassen.

Die neuen und verbesserten Untersuchungsmethoden und Ansätze führen somit noch nicht zur objektivierbaren, also auch reproduzierbaren Qualifizierung der Gebrauchsspurenanalyse und lassen darüber hinaus noch viele Fragen offen, wie z. B. Fragen nach einer ableitbaren Benutzungsdauer, nach dem Einfluss der Oberflächenbeschaffenheit der verwendeten Skelettteile, nach der Abhängigkeit von der ausgeführten Bewegung und der Form des Werkzeugs und auch nach dem Einfluss der Lagerung im BodenFootnote 42. Zudem wurde bei den Experimenten bislang häufig der menschliche Faktor außer Acht gelassen. Es wurde versucht, durch logische Kriterien die Funktionsweise und Handhabung der Knochenartefakte zu verstehen – dabei agiert der Mensch, wie James W. Stemp richtig schlussfolgert, jedoch nur sehr selten logischFootnote 43.

Festzuhalten bleibt, dass trotz der langen Geschichte der Erforschung von Gebrauchsspuren an Knochenwerkzeugen immer noch gravierende Defizite bestehen. Dazu gehört die fehlende systematische und nachvollziehbare Analyse der Verwendung mit verschiedenen Werkzeugen und Werkstoffen. Zwar gibt es Versuche zur Systematisierung der GebrauchsspurenFootnote 44, allerdings findet auch hier nur ein unbefriedigender Rückschluss zu den Gebrauchsspuren an den archäologischen Artefakten statt. Außerdem wurden die meisten Werkzeuge in den Versuchen nur eine kurze Zeit verwendet. Und trotz häufiger Zuhilfenahme aufwändiger moderner und modernster Untersuchungsmethoden wie Elektronenmikroskop und Weißlichtinterferometer zur Unterscheidung der Gebrauchsspuren wurde bisher noch keine Basis für einen Vergleich und eine Zuordnung der Gebrauchsspuren aufgebaut.

1.2 Fragestellung und Methodik

Die wesentlichen Hinderungsgründe für eine reproduzierbare funktionelle Analyse von Gebrauchsspuren sollen – soweit in diesem Rahmen möglich – beseitigt werden. So wird eine systematische Analyse der Gebrauchsspuren an Knochenwerkzeugen durch verschiedene Werkstoffe durchgeführt, wobei untersucht wird, ob sich Gebrauchsspuren von unterschiedlichen Werkstoffen an den archäologischen Knochenartefakten unterscheiden lassen. Darüber hinaus wird auf Grundlage der Gebrauchsspurenanalyse untersucht, ob die morphologische Typologie um einen funktionalen Aspekt erweitert werden kann. Allerdings kann in diesem Rahmen das eingangs erwähnte Problem der kleinen Stückzahlen und der dadurch mangelnden statistischen Absicherung nicht gelöst werden. Deshalb sollen die Erfahrungen in dieser Arbeit in einem Bestimmungsschlüssel zusammengefasst werden, der mit einfachsten Methoden angewandt werden kann und durch Erweiterung zu einer Verbesserung der Datenlage in Zukunft beitragen kann.

Unabdingbar hierfür sind experimentalarchäologische Analysen, verbunden mit makroskopischer Betrachtung der Spuren an den Knochenwerkzeugen und dem Vergleich mit Gebrauchsspuren an prähistorischen Knochenartefakten. Denn erst durch dieses Zusammenspiel ergibt sich eine neue Form der Zuordnung der Artefakte zu einer Funktion, die durch eine nachvollziehbare und verifizierbare Darlegung zu einer objektiveren Bestimmung werden kann. Es ist zu erwarten, dass durch diese Untersuchungen die momentan vorherrschende deskriptive Typologie der Knochenartefakte optimiert und zu einem technologisch-morphologischen Bestimmungskatalog erweitert werden kann. Dieser Bestimmungskatalog ist zudem so gedacht, dass anhand diesem jederzeit Gebrauchsspuren an Knochenwerkzeugen ohne große Hilfsmittel, d. h. nur mit dem bloßen Auge und einem Stereomikroskop, bestimmt werden können. So soll gewährleistet werden, dass die Methode weiterentwickelt wird und somit immer objektiver werden kann.

Bei den Experimenten wird nicht die Erlangung von Gebrauchsspuren im Vordergrund stehen, sondern der Arbeitsprozess zur Herstellung eines Gegenstandes aus dem bearbeiteten Werkstoff und die Effizienz der Knochenwerkzeuge bei dieser Arbeit. Denn nur auf diese Weise und auch unter dem Einbezug des menschlichen Faktors, kann dem Menschen und dem Alltag nähergekommen werden. Der menschliche Faktor „ist ein Sammelbegriff für psychische, kognitive und soziale Einflussfaktoren in sozio-technischen Systemen und Mensch-Maschine-Systemen. Im Gegensatz zur Ergonomie und zur klassischen Arbeitswissenschaft liegt der Schwerpunkt dabei weniger auf den physischen und anthropometrischen Eigenschaften. […] Dabei spielen die psychischen und kognitiven Leistungen und Fähigkeiten von Menschen ebenso eine Rolle wie die Leistungs- und Fähigkeitsgrenzen. Weil sich die Fähigkeiten technischer Systeme immer weiterentwickeln, haben die typisch menschlichen Fertigkeiten, wie die zur Kooperation, zur Problemlösung (Non-Technical Skills), eine immer stärkere Bedeutung. Die Fragestellungen sind: Welche menschlichen Eigenschaften müssen berücksichtigt werden, um:

  • eine technische Umgebung dem Menschen optimal anzupassen,

  • die Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zwischen Mensch und Maschine optimal zu verteilen,

  • eine reibungslose Interaktion an der Mensch-Maschine-Schnittstelle zu ermöglichen,

  • die Folgen technischer und menschlicher Fehler zu vermindern und

  • die Sicherheit und Effektivität des Gesamtsystems Mensch-Maschine zu verbessern?Footnote 45

Dadurch kann auch überprüft werden, ob sich an den Knochenartefakten nach der Funktionszuordnung eine Kulturgruppen-Zugehörigkeit ablesen lässt oder ob die Knochenartefakte größeren übergeordneten Veränderungen unterworfen sind. Mit der Beantwortung dieser Fragen und der gezielten Herangehensweise wird erhofft, differenziertere Aussagen über Handwerk und Alltagsleben im Jungneolithikum treffen zu können. Dadurch wird versucht, das Individuum hinter dem archäologischen Artefakt greifbar zu machen. Das schließt die Sorgfalt bei der Herstellung und Benutzung, und damit letztlich auch den Stellenwert des Werkzeuges für das Individuum, mit ein.

Die vorliegende Arbeit soll kein endgültiges Ergebnis zur Bestimmung von Gebrauchsspuren liefern. Vielmehr soll damit ein Werkzeug zur Bestimmung der Gebrauchsspuren geliefert werden, das mit der Verwendung auch durch andere Forscher immer weiter optimiert werden kann. Deshalb ist am Ende dieser Arbeit eine genaue Anleitung zur Bestimmung der bisher bekannten Gebrauchsspuren angefügtFootnote 46. Durch die Funktionsanalyse der Knochenwerkzeuge ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten zur Lebensweise der Menschen, der Entwicklung von Handwerk und zum Handwerk überhaupt. Durch die Analyse der Gebrauchsspuren soll der Blick auf den Menschen, der das Werkzeug benutzte, und dessen Wissen gelenkt werden, weg von rein typologischer und einordnender Betrachtung, wie sie so häufig in der Archäologie praktiziert wird.

1.3 Bezeichnungen und Maße

Für eine Beschreibung der Artefakte wurden bestimmte Begriffe, wie beispielsweise Arbeitsbereich, Schaft und Basis, verwendet um die Lage zu beschreiben. Für die Analyse der Gebrauchsspuren sind die Maße eher nebensächlich, lediglich für den Nachbau von bestimmten Artefakten werden Maße benötigt. Hierfür sind nur ausgewählte Maße erforderlich. Folgende Maße wurden genommen: größte Länge (GL), mittlere Breite (MB), mittlere Dicke (MD), Breite Arbeitskante (Breite AK) und Breite Basis. In Abbildung 1.2 sind die entsprechenden Bezeichnungen und Messtrecken abgebildet.

Abb. 1.2
figure 2

Wichtigste Bezeichnungen der einzelnen Bereiche und Messtrecken an den Artefakten. Sowie eine kurze Beschreibung der anatomischen Lagebezeichnungen und deren Verortung

1.4 Das Material

Die Auswahl der Fundorte, deren Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte im Rahmen dieser Arbeit aufgearbeitet werden sollten, unterlag spezifischen Voraussetzungen. Dabei spielte die zeitliche Streuung der genannten Artefakte über das gesamte Jung- und Endneolithikum als Auswahlkriterium eine wichtige Rolle, um so verschiedene Werkzeugtypen, die über die Zeit vorkommen, untersuchen zu können. Durch die Bearbeitung von Funden aus Mineralboden-, Moor- oder Seeufersiedlungen soll ausgeschlossen werden, dass die Lagerung im Boden Auswirkungen auf die Erhaltung von Gebrauchsspuren an der Werkzeugoberfläche hat. Zudem wurde darauf geachtet, dass nicht nur Material untersucht wird, das bereits mehrere Jahrzehnte im Regal liegt, wie Stuttgart-Stammheim und Reute-Schorrenried. Daher wurde auch das Material kürzlich gegrabener Stationen wie Olzreute-Enzisholz und Sipplingen-Osthafen einbezogen. Mit diesen Kriterien wurden sechs Feuchtboden- und Mineralbodensiedlungen aus Baden-Württemberg ausgewählt. Diese sind die Feuchtbodensiedlungen Bad Buchau-Bachwiesen I, Olzreute-Enzisholz, Reute-Schorrenried, Sipplingen-Osthafen und die Mineralbodensiedlungen Stuttgart-Hofen und Stuttgart-Stammheim. Stuttgart-Stammheim konnte jedoch bei der Untersuchung der Gebrauchsspuren nicht berücksichtigt werden, da noch vor der Aufnahme der Gebrauchsspuren die Knochenartefakte nach einer Ausleihe nicht wieder auffindbar waren.

Die Geweih- und Zahnartefakte werden bei der Bestimmung der Gebrauchsspuren nicht berücksichtigt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Aufbau einer Basis zur Untersuchung der Gebrauchsspuren an Knochenartefakten. Deshalb finden sich die Geweih- und Zahnartefakte im Anhang. Sie wurden nach der derzeit gängigen Typologie von Peter SuterFootnote 47 und Jörg SchiblerFootnote 48 aufgearbeitet.

1.5 Die Fundorte

1.5.1 Sipplingen-Osthafen

Sipplingen-Osthafen ist wohl eine der bedeutendsten Fundstellen auf der deutschen Seite des Bodenseeufers, da es bislang zu den größten und am häufigsten besiedelten Siedlungsarealen gehört. Das Areal erstreckt sich in der Flachwasserzone am Rande des „Sipplinger Dreiecks“Footnote 49 über eine Fläche von ca. 40 000 QuadratmeterFootnote 50.

Die Fläche wurde von 1978 bis 2012 vom baden-württembergischen Landesamt für Denkmalpflege gegraben. Von den ehemaligen Siedlungen haben sich nur die Kulturschichten und die Pfähle der Häuser erhalten. Fußbodenhölzer, Firstkonstruktionen u. ä. konnten nicht beobachtet werden. Insgesamt sind über eine Zeit von 3919 bis 933 v. Chr. 16 verschiedene Besiedlungsphasen auszumachenFootnote 51. Im Folgenden sollen nur die für die Arbeit relevanten Schichten kurz beschrieben werden.

Der Siedlungskomplex Sipplingen-Osthafen wurde im Rahmen des DFG-Projektes „Das Sipplinger Dreieck als Modell jung- und endneolithischer Siedlungs- und Wirtschaftsdynamik am Bodensee“ bearbeitet. Da der aufgearbeitete Komplex noch nicht vorgelegt ist, beschränkt sich die Beschreibung des Fundplatzes auf die aktuellsten veröffentlichten Berichte zu Sipplingen-Osthafen (Abb. 1.3)Footnote 52.

Abb. 1.3
figure 3

Darstellung der Besiedlungsgeschichte von Sipplingen-Osthafen

Die untersten und damit ältesten Schichten der Sipplinger Stratigraphie lassen sich dendrochronologisch und durch Funde in die Hornstaader Gruppe einordnen. Sipplingen-Osthafen A datiert in einen Zeitraum von 3919–3904 v. Chr. und ist durch eine typische Bauweise von relativ kleinen Häuser mit Pfahlschuhen gekennzeichnet. Neben den dominierenden Funden der Hornstaader Gruppe kommen auch Formen der Schussenrieder Kultur und Michelsberger Kultur Stufe III vorFootnote 53. Wie im namengebenden Fundplatz Hornstaad-Hörnle dominiert auch hier der Anbau von Lein. Außerdem wurde Nacktweizen angebaut.

Die darauffolgende, zur älteren Pfyner Kultur gehörende Schicht Sipplingen-Osthafen B datiert in eine Zeit zwischen 3857–3817 v. Chr. Häufigkeitsdiagramme der Schlagdaten zeigen, dass es wohl drei Bauphasen gab (3856, 3840, 3825)Footnote 54. Die Häuser standen uferparallel und manche weisen eine Innenbemalung auf. Auch hier lassen sich Einflüsse der Michelsberger Kultur nachweisenFootnote 55.

Sipplingen-Osthafen C und D folgen aus Sipplingen-Osthafen B im östlichen Teil des Siedlungsareals. Sie datieren dendrochronologisch anhand der Pfähle in den Zeitraum von 3795–3660 v. Chr. Die Fundschichten von Sipplingen-Osthafen D konnten durch liegende Hölzer mit den Pfählen verknüpft werden. Zu Sipplingen-Osthafen D zählt ein großes Pfahlfeld, aus dem sich mindestens 100 Gebäude rekonstruieren lassen, die wohl uferparallel standen. Abgegrenzt wird das Pfahlfeld am Hangende durch eine Brandschicht. Auch hier lassen sich die für die Pfyner Kultur typischen Einflüsse der Michelsberger Kultur, aber auch der Munzinger Gruppe nachweisenFootnote 56.

Die darauffolgenden Schichten fallen dendrochronologisch und durch das Fundmaterial zeitlich in die Horgener Kultur. Bei Sipplingen-Osthafen G – M handelt es sich um vier verschiedene Schichten, die in den Zeitraum zwischen 3316–2981 v. Chr. datieren. Nur die Fundschicht von Sipplingen-Osthafen G ist durch liegende Hölzer gesichertFootnote 57. Die Datierung von Sipplingen-Osthafen H, Sipplingen-Osthafen J, Sipplingen-Osthafen K und Sipplingen-Osthafen M ist noch nicht gesichertFootnote 58. Durch seine Datierung in das ausgehende 34. Jh. v.Chr. ist Sipplingen-Osthafen G eine besondere Bedeutung beizumessen, da es in die Übergangszeit von der Pfyner zur Horgener Kultur fällt. Anhand Si G kann der Kulturwandel, der in dieser Zeit stattgefunden hat, sehr gut nachvollzogen werden. Das Fundgut scheint zwischen beiden Formen zu vermittelnFootnote 59 und spiegelt somit den Übergang sehr gut wider. Dennoch gibt es am Bodensee zwischen 3507–3384 v.Chr. immer noch eine Besiedlungslücke. Hierfür sind bislang folgende Erklärungen geboten worden: Diese Besiedlungslücke fällt genau in die Kaltphase Piora II. Es ist zu vermuten, dass sie für die geringe Besiedlung des Bodensees verantwortlich ist. Durch kältere Temperaturen und höhere Niederschläge waren die klimatischen Bedingungen am Bodensee vermutlich zu schlecht. Bei dieser Besiedlungslücke könnte es sich aber auch um eine archäologische Lücke handeln. Geht man davon aus, dass ein höherer Niederschlag in dieser Zeit herrschte, muss man auch folgern, dass das Ufer des Bodensees in dieser Zeit höher lag als heute. Damit wäre es möglich, dass entsprechende Siedlungen heute weiter landeinwärts zu finden wären und nicht im aktuellen Uferbereich des Sees.

Festzuhalten ist, dass die Siedlung während der Horgener Kultur aus kleineren Siedlungseinheiten bestand, die oft verlagert wurden. Die Strukturen stehen ganz in der Tradition des Jungneolithikums. Sie weichen aber in der Größe voneinander ab.

Die Bebauung der späten Horgener Kultur, also in den Schichten Sipplingen-Osthafen Na-Nb2, ändert sich im Vergleich zu den älteren Schichten grundlegend. Nun dominieren mehrere zeitgleiche Straßendörfer mit einer Hauptstraße und landwärtiger Palisadenreihe. Ähnliche zeitgleiche Baustrukturen sind aus Oberschwaben bekanntFootnote 60. Sipplingen-Osthafen Na, Sipplingen-Osthafen Nb1 und Sipplingen-Osthafen Nb2 sind durch liegende Hölzer auf eine Zeit zwischen 2917–2855 v. Chr. datiert. In dieser Zeit herrschte eine hohe Besiedlungsaktivität, allein in Sipplingen-Osthafen Nb1 lassen sich fünf Schwerpunkte herauslesen, in denen ein Großteil der Hölzer geschlagen wurdeFootnote 61. In allen Schichten lassen sich Einflüsse der Goldberg III-Gruppe erkennenFootnote 62.

Der anschließende Kulturwandel zur Schnurkeramik (Si O/Si P) lässt sich formenkundlich leider nicht greifen, da sich aus dieser Zeit lediglich die Pfähle erhalten haben. Die Kulturschicht ist aberodiert, da sie zuoberst lag.

Leider sind die anderen Fundkategorien wie Textilien, Holzartefakte u.ä. bisher noch nicht ausreichend publiziert, weshalb sie nicht zur Unterstützung der bestimmten Aktionsgruppen herangezogen werden können. Hier können nur die Untersuchungen der botanischen Großreste berücksichtigt werden, die in Teilen bereits veröffentlicht sind. Wichtig sind vor allem die Nachweise von Lein. Für die gesamten Schichten von Sipplingen-Osthafen konnte nachgewiesen werden, dass Lein, abgesehen von den Hornstaader Schichten, in bedeutenden Mengen vorkommtFootnote 63.

Die archäozoologische Untersuchung der Knochenreste ist zum bisherigen Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht, weshalb sie hier keine Beachtung finden kann.

1.5.2 Reute-Schorrenried

Die Siedlung Reute-Schorrenried (Bad Waldsee, Oberschwaben) wurde bereits 1934 entdeckt, allerdings erst von 1980 bis 1985 vom Landesamt für Denkmalpflege durch das Projekt „Bodensee-Oberschwaben“ ergraben und anschließend im Rahmen einer Dissertation von Martin Mainberger aufgearbeitetFootnote 64. Aufgrund von Dendrodaten von Pfählen und liegenden Hölzern kann die Siedlung in das 37. Jh. v. Chr. datiert werden. Dies wird durch die Funde bestätigt, die hauptsächlich der Pfyn-Altheimer-Gruppe Oberschwabens zugeordnet werden können. Das Fundmaterial zeigt aber auch einen starken Einfluss der Michelsberger Kultur.

Die Siedlung Reute-Schorrenried zählt zu den bedeutenden Feuchtbodenfundstätten in Oberschwaben. Der hier gefundene Kupferdolch etwa ist einer der frühesten Nachweise der Metallurgie in Oberschwaben.

Die Siedlung lag auf einer bereits vertorften Landzunge in der Mitte eines Kleinsees, der ca. 800 × 200 m maß. Der Wasserspiegel des Sees war häufigen Wechseln unterworfen.

Die Kulturschicht war nicht auf die Landzunge begrenzt, sondern erstreckte sich bis in die limnischen Bereiche des Sees. Die höheren Areale der Siedlung im Bereich der Landzunge waren durch die Entwässerung des Rieds in einem schlechten Erhaltungszustand. Hier konnten nur noch die Lehmlinsen und einzelne Pfähle beobachtet werden. In den tieferen nord- und südwärts gelegenen Randbereichen war die Erhaltung noch ausreichend. Dort konnten insgesamt acht Häuser dokumentiert werden, die ca. vier auf sechs Meter groß und im Inneren mit Lehm ausgekleidet waren. Jedes Haus besaß eine zentrale Feuerstelle. Die Häuser wurden ebenerdig errichtet, wobei sie durch mehrere Unterkonstruktionslagen aus Rund- und Spalthölzern leicht vom Boden abgehoben waren. Am ehemaligen Nordufer fanden sich zudem Hinweise darauf, dass die Häuser in diesem Bereich abgeständert gebaut worden waren. Hier fand sich auch ein Haus, das sich durch seine Orientierung, sein Fundinventar und seine bemalten Wände mit plastisch geformten Brüsten von den anderen Häusern deutlich unterscheidet. Es könnte sich ähnlich wie in Ludwigshafen-Seehalde um ein „Ahnenhaus“ handelnFootnote 65.

Die Funde stammen hauptsächlich aus den Randbereichen der Siedlung, wo sie konzentriert auf „Abfallhaufen“ gesammelt waren. Nur wenige Funde stammen aus den Häusern selbst.

Insgesamt konnten 31 Baueinheiten bestimmt werden, allerdings ist die Ausdehnung der Siedlung sowie die Gesamtanzahl der Häuser unklar. Vergleichbar mit anderen Siedlungsstrukturen der Pfyn-Altheimer-Gruppe Oberschwabens wurden die Häuser in mehreren parallellaufenden Häuserzeilen (fünf) errichtet.

1.5.3 Olzreute-Enzisholz

Die Fundstelle wurde bereits Ende der 1940er Jahre beim Torfabbau entdeckt. Ihre besondere Bedeutung als endneolithisches Siedlungsareal wurde allerdings erst ab 2004 deutlich, als das Landesamt für Denkmalpflege begann, den Fundplatz mittels Bohrungen und kleinerer Sondagen genauer zu untersuchen. Bei Grabungsarbeiten im Jahre 2009 und 2015 kamen drei große Scheibenräder und vier kleine Modellräder zum Vorschein. Die Räder aus dem Olzreuter Ried zählen zu den ältesten Wagennachweisen nördlich der Alpen.

Das insgesamt ca. 3000 Quadratmeter umfassende Siedlungsareal liegt am Rande eines heute vollständig verlandeten Kleinsees, der sich in einer eiszeitlichen Schmelzwasserrinne gebildet hatte und um 3000 v. Chr. noch eine offene Wasserfläche besaß. Die Siedlung befand sich im Uferbereich des ehemaligen Sees in unmittelbarer Nähe zum Federsee.

Neueste Untersuchungen mit dem Georadar haben ergeben, dass es sich um zwei Straßendörfer handelt, die sich im südlichen Bereich überschneidenFootnote 66. Die zeitliche Abfolge der beiden Dörfer konnte noch nicht geklärt werden. Beide Siedlungen können jedoch anhand der charakteristischen Keramik der Goldberg III-Gruppe zugeordnet werden, einer regionalen Kulturgruppe des Endneolithikums in Württemberg und Oberschwaben um 3000 v. Chr. Auch das übrige Fundmaterial fügt sich gut in das endneolithische Fundspektrum ein. Unterstützt wird die zeitliche Einordnung durch eine dendrochronologische Datierung auf 2900–2800 v. Chr.

Bei den Häusern handelt es sich wahrscheinlich um 4–5 m breite und 8–15 m lange Großhäuser. Möglicherweise wurden die Häuser zunächst abgehoben gebaut, bis sich schließlich so viel organischer Siedlungsabfall angesammelt hatte, dass in einer zweiten Siedlungsphase ebenerdig gebaut werden konnte. Wie viele Siedlungsphase es insgesamt gibt, konnte noch nicht endgültig geklärt werden, aber man geht von mindestens drei aus.

Aufgrund der immerfeuchten Lagerung im Boden unter Sauerstoffabschluss gehört der Erhaltungszustand des organischen Materials zu den herausragendsten im Federseegebiet. Die Siedlung ist geprägt vom Anbau von Faserlein und Schlafmohn sowie der Haltung von Schafen und Ziegen. Dies zeigen die vielen Reste von Leinsamen, Fasern, Schäben und Wurzelansätzen sowie die hohe Anzahl an Mohnsamen. Auf eine zeitweilige Haltung der Schafe und Ziegen innerhalb der Siedlung im Winter lassen die gefundenen Dungperlen und ein am nördlichen Siedlungsrand gefundener Laubhaufen schließen, der als Rest der Laubheufütterung interpretiert werden kann.

Über das Umfeld der Siedlung geben die zahlreichen Wildpflanzenarten Auskunft, deren Reste sich in der Kulturschicht finden. Am Ufer des Sees befand sich ein ausgedehntes Niedermoor mit Wunder- und Steifseggen sowie anderen Sauergrasarten. Zum offenen Wasser hin standen Seebinse, Schneide, Rohrkolben, Igelkolben und Schilf. In größerer Entfernung vom See könnten sich Erle, Faulbaum, und andere Bruchwaldarten befunden haben, jedoch sind die Nachweise hierfür sehr spärlich. Alles spricht für eine weitgehend offene Niedermoorfläche. Im See selbst siedelte eine Vielzahl an Wasserpflanzenarten, von denen Nixenkraut, Weiße Seerose, Laichkraut, Tausendblatt und Raues Hornblatt nachgewiesen wurden. Auf den trockenen Böden außerhalb des Moores stockte Buchenwald. Dies zeigt sich nicht nur in dem für den Hausbau verwendeten Buchenholz, sondern geht auch aus zahlreichen Bucheckern und Buchenknospen in der Kulturschicht hervor. Reste von Winterlinde, Esche und Bergahorn belegen weitere Gehölze aus diesen Wäldern.

Das Sammeln von Wildfrüchten muss für die Siedlung als bedeutend eingestuft werden. Über 40.000 Erdbeernüsschen und 17.000 Himbeerkernchen belegen, dass dieses Wildobst häufig gesammelt worden ist. Auch Samen, Kernhausreste, Fruchtstiele und sogar verkohltes Fruchtfleisch vom Holzapfel kommen häufig vor, während Funde von Holunder, Hagebutten, Brombeeren, Schlehen und Haselnüssen selten sind.

1.5.4 Stuttgart-Stammheim

Die Knochen- Geweih- und Zahnartefakte aus dieser Siedlung gingen bei einer Ausleihe für eine kleine Ausstellung verloren und konnten bis jetzt nicht wiedergefunden werden. Deshalb konnten die Gebrauchsspuren der Knochenartefakte nicht endgültig bestimmt werden. Aus diesem Grund wird das Fundmaterial hier weder typologisch noch stratigraphisch oder flächenmäßig aufgearbeitet. Das Material, das ansonsten nicht weiter berücksichtigt wurde, soll im Folgenden nur kurz vorgestellt werden.

Die Fundstellen Stuttgart-Stammheim „Neubaugebiet Süd“ und „Sieben Morgen“ wurden 1984 und 1995 entdeckt, als jeweils die Aushubarbeiten für die Häuser bereits in vollem Gange waren. Der Entdecker, Walter Joachim, versuchte im Rahmen einer Rettungsgrabung die verbliebenen Befunde zu dokumentieren. Die Dokumentation der Befunde und Funde erfolgte durch Einmessung sowie zeichnerische und fotografische Aufnahmen.

Die Entdeckung der beiden Fundstellen und der Fundstelle Stuttgart-Hofen konnten dazu beitragen, die Besiedlungslücke während des späten Endneolithikums im Neckarbecken auf den fruchtbaren Lößflächen zu schließenFootnote 67. Durch das Neckartal haben die Siedlungen eine gute Verbindung über Jagst, Kocher und Tauber mit dem Maintal und dem Nördlinger Ries. Dass diese Verbindungen bestanden, zeigen vor allem die für die Goldberg III-Gruppe typischen Knickwandschüsseln. Eine nähere Erläuterung soll in der Beschreibung der beiden Fundstellen folgen.

Insgesamt wurden im „Neubaugebiet Süd“ und in „Sieben Morgen“ 37 Knochen-, 20 Geweih- und zwei Zahnartefakte gefunden. Bei den deutlich dominierenden Knochenwerkzeugen wurde der größte Teil aus Röhrenknochen großer Wiederkäuer gefertigt. Bei den Artefakten, bei denen die Tierart bestimmt werden konnte, handelt es sich hauptsächlich um Knochen von Haustieren, also Rind, Schwein, Schaf/Ziege. Wildtiere konnten bis auf ein Knochenartefakt und die 20 Geweihartefakte nicht bestimmt werden. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Wildtiere, abgesehen von der Nutzung von Geweih als Werkzeugmaterial, eher eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Die Verteilung der Werkzeugtypen ist typisch für das Endneolithikum.

1.5.4.1 „Neubaugebiet Süd“

Die Fundstelle „Neubaugebiet Süd“ liegt leicht exponiert auf einem nach Osten hinabfallendem Geländerücken, kann aber nicht als Höhensiedlung gedeutet werdenFootnote 68. Die zwei gefundenen Grubenhäuser liegen am südöstlichen Rand des „Langen Feld“, einer Lößlinse des Neckarraumes. Die beiden Grubenhäuser (Befund 28 und 29) sind ca. 40 m voneinander entfernt und waren wahrscheinlich zeitlich versetzt. Leider lieferte nur Grube 28 ein 14C-Datum, das mit 3360–3125 v. Chr. ins Endneolithikum datiertFootnote 69.

1.5.4.2 „Sieben Morgen“

Die Fundstelle „Sieben Morgen“ liegt ca. 50 m vom Feuerbach entfernt in einer Talaue zwischen zwei Zuflüssen auf einer leichten Geländeerhebung. Es konnten zwei Grubenhäuser (1 und 4) bestimmt werden, die aber aufgrund der schwierigen Grabungsbedingungen in der Fläche nicht vollständig erfasst sindFootnote 70. Dennoch konnten Größe und Form rekonstruiert werden. Beide Grubenhäuser sind ungefähr gleich groß (1: 4 × 4 m; 4: 3,4 × 4,3 m) mit ebenem Boden und steilen Rändern. Die Häuser datieren anhand von 14C-Daten ins Endneolithikum (4: 3090–2925 v. Chr.; 1: 3330–2930 v. Chr.) und können aufgrund der KeramikfundeFootnote 71 der Goldberg III-Gruppe zugeordnet werden. Die beiden Grubenhäuser sind demnach nicht zeitgleich mit den Befunden aus der Fundstelle „Neubaugebiet Süd“.

1.5.5 Stuttgart-Hofen

Bei der Erweiterung des Wohngebietes „Mittlere Wohlfahrt“ wurden 2009 bei Baggerarbeiten drei große Verfärbungen entdeckt, die bei näherer Untersuchung als Grubenhäuser definiert werden konnten. Die Gruben sind bis auf 20–25 cm aberodiert. Auch die Befundgrenzen waren nur noch schwer zu erkennen. Pfostengruben fehlen gänzlich. Die Fundstelle liegt auf einem von Ost nach West abfallenden breit gefächerten Gleithang einer großen Flussschleife des Neckars etwa 20–25 m über dem heutigen Wasserspiegel. Mit Ausnahme von SHM-12, SHM-35 und SHM-36 stammen alle Knochen- und Geweihartefakte aus der Verfüllung der südwestlichen Ecke von Grubenhaus 2. Es konnte aufgrund von 14C-Daten (3095–2930 v. Chr.) dem Endneolithikum zugeordnet werden. Aufgrund der zahlreich vertretenen Knickwandschüsseln kann auch Stuttgart-Hofen „Mittlere Wohlfahrt“ der Goldberg III-Gruppe zugewiesen werden. Somit konnte zusammen mit den Siedlungen von Stuttgart-Stammheim („Neubaugebiet Süd“, „Sieben Morgen“) die Besiedlungslücke im späten Endneolihtikum im Neckarbecken geschlossen werden. Wie auch für Stuttgart-Stammheim wird für Stuttgart-Hofen eine Verarbeitung von Textilfasern angenommen. Dafür sprechen vor allem die in Grubenhaus 2 gefundenen Rotlehmbrocken, die als mögliche Webgewichte angesprochen werden können. Auch finden sich unter den gefundenen Knochen- und Geweihartefakten mehrere Werkzeuge, die auf eine Textilverarbeitung hindeuten.

Bei den Knochen- und Geweihwerkzeugen aus Stuttgart-Hofen „Mittlere Wohlfahrt“ handelt es sich hauptsächlich um Werkzeuge, die bei der Herstellung und Verarbeitung von Textilien, wie Flachs und Lindenbast, zum Einsatz kamen. Die Siedlung folgt demnach der gängigen Entwicklung im Endneolithikum, in dem die Flachsproduktion im Alpenvorland zunehmend intensiviert wurdeFootnote 72.

1.5.6 Bad Buchau-Bachwiesen I

Die Siedlung Bachwiesen I wurde bereits 1947 bei Bauarbeiten des Moorheilbades in Bad Buchau, Federsee, entdeckt. Schon damals konnten Keramikscherben der Schussenrieder Kultur dokumentiert werden. Nicht weit von dieser Fundstelle entfernt befindet sich eine zweite Station der Pfyn-Altheimer Gruppe Oberschwabens. Beide liegen am Rande der Insel Buchau auf einem Niedermoorsockel. Die Siedlung Bachwiesen I datiert aufgrund von Eichenpfählen in das 4. Jt. v. Chr.

2005 mussten Teile der Siedlung in einer Rettungsgrabung innerhalb von wenigen Tagen gegraben werdenFootnote 73. Es wird hier nur ein grober Überblick über die ersten Erkenntnisse aus der Rettungsgrabung gegeben.

Bei der Siedlung handelt es sich vermutlich um Häuser, die abgehoben gebaut wurden, was für die Schussenrieder Kultur eher ungewöhnlich ist. Da die Pfähle nicht sehr tief gründeten, wurden sie mit der Zeit umgedrückt, so dass die Lehme direkt auf den Pfählen lagen. Transgression, die zum Teil auch noch in der Bronze- und Eisenzeit stattfand, arbeitete einen Großteil der Siedlung auf. Zu den bedeutendsten Funden aus dieser Siedlung gehört das Fragment eines Bernsteinanhängers. Nachweise von Bernstein sind im süddeutschen Raum, insbesondere in den Pfahlbausiedlungen, äußerst selten. Allerdings stammt das Fragment aus dem Transgressionsbereich, weshalb eine genaue zeitliche Zuordnung schwierig bleiben wird.

Bei der Rettungsgrabung konnte nur ein kleiner Teil der Siedlung gegraben werden, weswegen ihre genaue Ausdehnung unbekannt ist. Die Häuser waren parallel zueinander ausgerichtet und standen sehr eng, was typisch für die Siedlungsstruktur der Schussenrieder Kultur ist. Die vielen Rotlehmbrocken, die sich im Siedlungsareal häufig in Konzentrationen fanden, deuten darauf hin, dass sich in den Häusern auch ein Backofen befand. Da die Häuser verstürzt sind und die Konstruktionshölzer verschwemmt wurden, gibt es keine Hinweise auf eine Innengliederung der Häuser.

1.6 Vorgehensweise

In einem ersten Schritt werden die Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte der bearbeiteten Fundorte typo-chronologisch eingeordnet, um einen Überblick über das Spektrum der archäologischen Artefakte innerhalb der einzelnen Siedlungen zu geben. Die Knochen-, Geweih- und Zahnartefakte werden taphonomisch aufgearbeitet und einzelnen Typen zugeordnetFootnote 74. Bei den Knochenartefakten werden zunächst lediglich die vorkommenden Typen und deren Häufigkeit konstatiert, da diese im Anschluss noch eingehender untersucht und beschrieben werden.

In Teil III (Bestimmung der Gebrauchsspuren an den archäologischen Knochenartefakten) werden die Experimente, die daraus resultierende Differenzierung der Gebrauchsspuren und schließlich die damit mögliche Funktionszuordnung beschriebenFootnote 75.

Zunächst werden die gängigen Werkzeugtypen, die im Fundmaterial auftreten, aufgezählt. Die Beschreibung umfasst das verwendete Material, die Herstellungs- und Gebrauchsspuren sowie die angenommene Funktion. Zusammen mit den Bearbeitungsspuren durch Knochenwerkzeuge an anderen archäologischen Funden gängiger Werkstoffe wird eine Funktionsbestimmung versucht, die – wie zu zeigen sein wird – aber nur sehr unbefriedigend ausfallen kann.

Deshalb wird ein experimentalarchäologischer Ansatz gewählt. Dabei wird bei der Nachbildung der archäologischen Knochenartefakte die Dokumentation der Herstellungsspuren beschrieben, gefolgt von entsprechend dokumentierten Experimenten mit verschiedenen Werkstoffen. Die hierbei entstandenen Gebrauchsspuren werden dokumentiert und beschrieben.

Im letzten Unterkapitel werden die entstandenen Spuren an den nachgebauten Werkzeugtypen mit den Spuren an den zuvor beschrieben archäologischen Knochenartefakten verglichen. Hier kann gezeigt werden, dass die bisher gängige Typologie unter Einbezug der bestimmten Spuren (Herstellungs- sowie direkte Gebrauchs- und indirekte Gebrauchsspuren) um den funktionalen Aspekt erweitert werden kann.

In Teil IV finden sich die Themen zur praktischen Umsetzung der um die funktionale Kategorisierung erweiterten Typologie der Knochenartefakte. Hier werden zunächst die Grenzen und die Chancen der Gebrauchsspurenanalyse an archäologischen Knochenartefakten aufgezeigt und diskutiert. Danach folgt die funktionale Kategorisierung der Knochenartefakte nach den neuen Kriterien.

Schließlich werden die in der Arbeit gewonnenen Ergebnisse zusammengefasst und kontextualisiert; darüber hinaus wird auf notwendige weiterführende Forschungen hingewiesen.