Ich hatte in Abschnitt 6.3 dafür argumentiert, dass sich der Begriff einer epistemischen Autorität auf den Begriff epistemischer Superiorität zurückführen lässt, und ferner, dass epistemische Superiorität unterschiedliche Formen annehmen und unterschiedliche Dimensionen oder epistemische Güter betreffen kann. Bislang habe ich mich in erster Linie auf epistemische Superiorität im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten konzentriert. Die eine epistemische Autorität auszeichnende Superiorität kann aber auch darin bestehen, dass die Autorität die fragliche Domäne hinreichend besser versteht als das Subjekt, für das sie eine Autorität ist. In diesem Abschnitt möchte ich mich nun dieser Superiorität- bzw. Autoritätsform noch einmal zuwenden. Die Motivation dazu besteht zum einen darin, dass auch diese Autoritätsform eine wichtige Rolle in unseren sozialen epistemischen Praktiken spielt. In jüngster Zeit haben sich ihr auch durchaus einige Erkenntnistheoretiker zugewandt (etwa Jäger 2016; Croce 2018; Scholz 2018). Desweiteren besteht eine Motivation darin, dass ich im dritten Teil dieser Untersuchung auch auf die Frage eingehen möchte, inwiefern plurale epistemische Autoritäten auch Verstehens-Autoritäten sein können, und dazu sind als Hintergrund und Kontrastfolie einige Überlegungen zu individuellen Verstehens-Autoritäten bzw. Verstehens-Autorität generell angezeigt. Zunächst sollten wir uns aber eine gewisse Klarheit über den Verstehensbegriff als solchen verschaffen (Abschnitt 9.1), um uns daraufhin (in Abschnitt 9.2) dann der Klärung des Begriffs einer Verstehens-Autorität zuwenden zu können.

1 Der Begriff des Verstehens

Dieser Begriff hat in der analytischen Erkenntnistheorie der letzten Jahren einen beträchtlichen Zuwachs an Interesse erfahren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem sogenannten explanatorischen Verstehen (Verstehen-warum) sowie dem objektualen Verstehen. Explanatorisches Verstehen zu besitzen heißt, zu verstehen, warum etwas der Fall oder warum ein Ereignis passiert ist (z. B. warum sich der Mond um die Erde dreht). Demgegenüber ist objektuales Verstehen das Verstehen einer thematischen Domäne oder eines Phänomenbereichs (z. B. der Evolution). Explanatorisches Verstehen hat die Form „S versteht, warum p“, wobei p eine Proposition ist, wohingegen objektuales Verstehen die Form „S versteht P“ besitzt, wobei P grammatisch gesehen ein objektuales oder nominales Satzkomplement ist.

In der Erkenntnistheorie der letzten Jahre sind eine Reihe von Vorschlägen zur Analyse des Begriffs des explanatorischen und des objektualen Verstehens entwickelt worden. Wir können hier nicht auf alle diese Vorschläge im Detail eingehen und jedem einzelnen Rechnung tragen. Ebenso wenig wäre es aber eine sinnvolle Strategie, einfach einen dieser Vorschläge herauszugreifen und die anderen außen vor zu lassen. Eine bessere Strategie ist meines Erachtens, mit einem Analyseschema zu arbeiten, das hinreichend allgemein formuliert ist, um mit den verschiedenen konkreten Ansätzen kompatibel zu sein, ohne dass es zu vage wäre, um informativ zu sein.

Das Schema, das ich vorschlagen möchte, besteht aus vier Komponenten, die vier meines Erachtens wesentlichen Dimensionen des Verstehensbegriffs entsprechen: einer Komponente der epistemischen Pro-Einstellung, einer Rechtfertigungskomponente, einer kognitiven Komponente und einer Anbindungskomponente.Footnote 1 Es beruht ferner auf der Annahme, dass ein Subjekt S, um Verstehen zu erlangen, einer mentalen Repräsentation des zu Verstehenden (also des Phänomenbereichs P bei objektualem bzw. der Ursache von p bei explanatorischem Verstehen) bedarf, wobei es sich um Theorien, Modelle, Erklärungen oder ähnliche Strukturen handeln kann (diese Annahme dürfte relativ unstrittig sein; vgl. in diesem Sinne auch Baumberger/Beisbart/Brun 2017). Unter dieser Voraussetzung lautet nun das Definitionsschema:

(VERSTEHEN)

Subjekt S versteht P bzw. warum p genau dann, wenn

  1. 1)

    S eine geeignete epistemische Pro-Einstellung gegenüber einer Repräsentation R von P bzw. der Ursache von p hat (Komponente der epistemischen Pro-Einstellung),

  2. 2)

    Ss epistemische Pro-Einstellung in geeigneter Weise gerechtfertigt ist (Rechtfertigungskomponente),

  3. 3)

    S in der Lage ist, eine charakteristische Menge kognitiver Leistungen in Bezug auf R zu erbringen (kognitive Komponente),

  4. 4)

    R in einer geeigneten Weise an die Tatsachen angebunden ist (d. h. korrekt ist) (Anbindungskomponente).

Dieses Schema lässt bewusst offen, was genau eine auf geeignete Weise gerechtfertigte epistemische Pro-Einstellung, eine charakteristische Menge kognitiver Leistungen und eine geeignete Anbindung von R an die Tatsachen sind; das sind gewissermaßen Leerstellen, die Vertreter unterschiedlicher Ansätze auf die ihnen jeweils richtig scheinende Weise ausfüllen können. Es mögen aber einige Andeutungen, wie dies geschehen könnte, hilfreich sein. Was die Komponente der epistemischen Pro-Einstellung sowie die Rechtfertigungskomponente betrifft, so besteht eine Möglichkeit darin, zu verlangen, dass S wissen muss, dass R korrekt ist (das wäre im Einklang mit solchen Ansätzen, die Verstehen als Spezies von Wissen auffassen; vgl. z. B. Grimm 2006; Khalifa/Gadomski 2013; Kelp 2017).Footnote 2 Einige Autoren (z. B. Kvanvig 2003 oder Pritchard 2009) sind demgegenüber der Meinung, dass ein verstehendes Subjekt lediglich eine gerechtfertigte oder nicht durch epistemisches Glück beeinträchtigte Überzeugung bezüglich der Repräsentation braucht. Wiederum andere Autoren verlangen keine volle Überzeugung, sondern ein Akzeptieren der Repräsentation (vgl. etwa Dellsén 2016; Baumberger/Brun 2017; Elgin 2017). Lediglich einen gerechtfertigten positiven Glaubensgrad verlangt Wilkenfeld (2017). Der Begriff einer „epistemische Pro-Einstellung“ soll alle diese Möglichkeiten abdecken.

Im Hinblick auf die kognitive Komponente finden sich in der Literatur Ansätze, die etwa verlangen, dass ein verstehendes Subjekt R in geeigneter Weise „manipulieren“ kann (Grimm 2010; Wilkenfeld 2013), dass S bestimmte „Abhängigkeitsbeziehungen erfasst“ (Kvanvig 2003; Strevens 2013; Gijsbers 2013), dass S bestimmte Inferenzen ziehen kann (Hills 2009; Newman 2012) oder in der Lage ist, einschlägige Erläuterungen zu geben oder von anderen gegebenen Erläuterungen zu folgen (Hills 2009).

Was schließlich die Anbindungskomponente betrifft, so reichen die in der Literatur vertretenen Positionen von starken („faktiven“) über moderate bis zu schwachen („nicht-faktiven“) Ansätzen. Ein starker Ansatz läuft darauf hinaus, dass R vollständig wahr sein muss. Vertreter moderater Positionen (wie Kvanvig 2003 oder Mizrahi 2012) argumentieren demgegenüber, dass lediglich gewisse wesentliche Elemente von R wahr sein müssen, während die Falschheit anderer Elemente mit einem Verstehen des Subjekts verträglich ist. Dementsprechend könnte ein Subjekt anhand einer Theorie, deren zentrale Annahmen wahr sind, ein Verstehen des Gegenstands der Theorie erlangen, auch wenn einige periphere Annahmen der Theorie falsch sein sollten. Vertreter der schwachen Ansätze bestreiten schließlich, dass R überhaupt wahr sein muss. In diesem Sinne verweist Elgin (2017) etwa auf wissenschaftliche Modelle, die in hohem Maße idealisiert sein und trotzdem Verstehen ermöglichen können. Auch Vertreter dieser Position verlangen allerdings, dass R in einer geeigneten Beziehung zur Realität stehen muss. Elgin bemerkt entsprechend: „The issue that divides factivists and nonfactivists is not whether understanding must answer to the facts, but how it must do so“ (2017, 45). Statt von einer Repräsentation, die in einer geeigneten Weise an die Tatsachen angebunden ist, möchte ich auch von einer „korrekten Repräsentation“ sprechen, was je nachdem, ob man die starke, moderate oder schwache Position befürwortet, unterschiedliche Anforderungen für R ergibt.

Der in (VERSTEHEN) explizierte Begriff muss unterschieden werden von verwandten, aber nicht-angebundenen Begriffen wie dem eines „Verständnisses“. Dieser Begriff (und der Unterschied zwischen diesem und dem in (VERSTEHEN) explizierten Begriff) sind in der erkenntnistheoretischen Debatte zum Verstehen bislang kaum beachtet worden, gleichwohl aber bedeutsam.Footnote 3 Man kann ihn sich etwa durch Betrachtung von Sätzen wie den folgenden klar machen:

  1. (1)

    „Platons Verständnis der Seelenwanderung unterscheidet sich erheblich von Pythagoras’ Verständnis“

    oder

  2. (2)

    „Kreationisten haben ein verfehltes Verständnis der Evolution“.

Solche Sätze lassen sich natürlicherweise äußern. Allerdings kann man einen Satz wie (1) sinnvoll äußern auch dann, wenn man der Meinung ist, dass weder Platon noch Pythagoras auch nur annähernd gerechtfertigte oder korrekte Vorstellungen von der Seelenwanderung hatten oder dass es so etwas wie eine Seelenwanderung gar nicht gibt. Und man kann – wie (2) zeigt – offenbar eine gewisse Form von „Verständnis“ der Evolution haben, ohne irgendetwas wirklich davon zu verstehen im Sinne des Definitionsschemas (VERSTEHEN). Von jemandem zu sagen, er habe ein „Verständnis“ von etwas in diesem Sinn, scheint auf etwas ähnliches hinauszulaufen wie zu sagen, er habe eine bestimmte „Auffassung“, „Lesart“ oder „Interpretation“ der Sache. Der entscheidende Unterschied zwischen dem Verstehensbegriff und dem Begriff eines Verständnisses, wie er in (1) und (2) auftaucht, ist offenbar, dass letzterer kein Erfolgsbegriff ist, ersterer aber schon (der Erfolgscharakter des Verstehensbegriffs ist etwa von Rosenberg (1981) und vielen anderen Autoren bemerkt worden). Verstehen im klassischen Sinn involviert wie Wissen (und anders als bloßer Glauben) einen epistemischen Erfolg. Wenn man etwas im Sinne von (VERSTEHEN) verstanden hat, dann hat man einen epistemischen Erfolg erzielt; man hat tatsächlich bestehende Zusammenhänge erfasst, was daran liegt, dass man eine korrekte Repräsentation verwendet hat, also eine Repräsentation, die in einer geeigneten Beziehung zur Realität steht (die „answers to the facts“, wie Elgin schreibt), und dass man eine geeignete Rechtfertigung besitzt. Ein „Verständnis“ von etwas im Sinn von (1) und (2) kann man dagegen auch dann haben, wenn man eine komplett irrige Repräsentation verwendet, also eine Repräsentation, die noch nicht einmal die Anforderungen der schwachen Faktivität erfüllt; und in diesem Sinn ist der Begriff eines Verständnisses (ähnlich dem des Glaubens) kein Erfolgsbegriff.

Allerdings muss beachtet werden, dass der Ausdruck „Verständnis“ eine gewisse Ambiguität aufweist: Er kann nämlich auch synonym mit dem in (VERSTEHEN) explizierten Begriff verwendet werden.Footnote 4 Wenn man etwa sagt:

  1. (3)

    „Dank der Fortschritte in der Genetik haben wir heute ein besseres Verständnis der Evolution als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts“

dann dürfte das gleichbedeutend sein mit

  1. (3)

    „Dank der Fortschritte in der Genetik verstehen wir die Evolution heute besser als noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts“.

Der Ausdruck „Verständnis“ ist also manchmal ein Erfolgsbegriff und manchmal nicht. Um dieser Ambiguität Rechnung zu tragen, werde ich im Folgenden von einem „nicht-angebundenen Verständnis“ oder „Verständnisna“ sprechen, wenn der Begriff gemeint ist, der in (1) und (2) auftaucht, und einem „angebundenen Verständnis“ oder „Verständnisa“, wenn jener Begriff gemeint ist, der synonym mit dem in (VERSTEHEN) explizierten ist.

Noch weiter verkompliziert sich die Situation, wenn man bedenkt, dass man jemandem ein nicht-angebundenes Verständnis zuschreiben kann, ohne ausschließen zu müssen, dass die Person tatsächlich versteht. Die Situation ist ähnlich der beim Begriff der Überzeugung: Man kann jemandem eine Überzeugung zuschreiben, ohne ausschließen zu müssen, dass diese wahr ist oder die Person entsprechendes Wissen besitzt. Wenn man jemandem eine Überzeugung zuschreibt, lässt man einfach offen, ob sie wahr ist oder nicht bzw. ob die Person weiß oder nicht. In ähnlicher Weise lässt man offen, ob die Person tatsächlich versteht, wenn man ihr ein nicht-angebundenes Verständnis von etwas zuschreibt (man kann dem Satz (1) zustimmen, wenn man der Auffassung ist, dass es Seelenwanderung tatsächlich gibt und Platon und/oder Pythagoras diese wirklich verstanden haben, und man kann dem Satz genauso zustimmen, wenn man nicht dieser Auffassung ist).

Ich denke, man kann die Struktur des Begriffs eines nicht-angebundenen Verständnisses wie folgt explizieren:

(VERSTÄNDNISna)

Subjekt S hat ein Verständnisna von P bzw. warum p genau dann, wenn

  1. 1)

    S eine geeignete epistemische Pro-Einstellung gegenüber einer Repräsentation R von P bzw. der Ursache von p hat (Komponente der epistemischen Pro-Einstellung),

  2. 2)

    S in der Lage ist, eine charakteristische Menge kognitiver Leistungen in Bezug auf R zu erbringen (kognitive Komponente).

Dieses Definitionsschema entspricht dem von (VERSTEHEN), mit dem Unterschied, dass darin keine Rechtfertigungs- und keine Anbindungskomponente vorkommt.

Wie schon angedeutet, scheint es ferner so zu sein, dass der Begriff eines nicht-angebundenen Verständnisses zu dem des Verstehens in einer ähnlichen Relation steht wie der der Überzeugung zu dem des Wissens. Wissen ist Überzeugung plus einige andere Dinge; ähnlich besteht Verstehen von etwas darin, ein Verständnisna der Sache zu haben plus einige andere Dinge. Im Falle des Wissens kommt als zusätzliche Bedingung hinzu, dass die Überzeugung wahr und auf nicht-gettierartige Weise gerechtfertigt sein muss; im Falle des Verstehens kommt als zusätzliche Bedingung hinzu, dass die Repräsentation korrekt und gegebenenfalls die epistemische Pro-Einstellung in geeigneter Weise gerechtfertigt sein muss.

2 Superiorität im Hinblick auf Verstehen und Verstehens-Transfers

Mittels dieser Definitionsschemata lässt sich nun die Frage, was eine Verstehens-Autorität ist, genauer beantworten. Weithin anerkannt ist der Umstand, dass Verstehen gradierbar ist: Man versteht ein Phänomen nicht entweder ganz oder gar nicht, sondern man kann es mehr oder weniger gut verstehen. Epistemische Superiorität im Hinblick auf Verstehen kann sich demnach darin äußern, dass die Autorität sehr viel mehr von etwas versteht als Subjekt S, also ein größeres Verständnisa der fraglichen Sache besitzt, was nicht ausschließt, dass S ebenfalls ein gewisses Verständnisa besitzt. Beispielsweise könnte die Großmutter in Croces Beispiel (siehe oben, Fußnote 11 im Kapitel 6) eine Verstehens-Autorität für ihren Enkel sein, da sie ein gewisses Verständnisa der Evolution besitzt; gegenüber einer Biologin mit entsprechender Spezialisierung, die noch sehr viel mehr von der Evolution versteht, ist sie aber in einer inferioren Position.

Was heißt es nun, mehr von einem Phänomen zu verstehen als ein anderer (oder mehr als man selbst zu einem früheren Zeitpunkt)? Mit anderen Worten: Was heißt es, mehr Verständnisa eines Phänomens zu besitzen als ein anderer (oder als man selbst zu einem früheren Zeitpunkt)? Ein Blick auf das Definitionsschema (VERSTEHEN) lässt folgende Antwort plausibel erscheinen: Ein größeres Verstehen hat zum einen offenbar etwas damit zu tun, die für die kognitive Komponente relevanten Leistungen besser und in größerem Umfang erbringen zu können: Der superiore Akteur erfasst mehr Abhängigkeitsbeziehungen, kann mehr Inferenzen ableiten oder umfangreichere Erläuterungen geben. Die kognitive Komponente ist aber nicht der einzige relevante Faktor. Auch die verwendete Repräsentation spielt eine Rolle. Nehmen wir beispielsweise an, dass Verstehen starke Faktivität voraussetzt. Dann versteht eine Person nur dann, wenn die Repräsentation komplett wahr ist. Gleichwohl können unterschiedliche Repräsentationen in unterschiedlich großem Maße das Verstehen eines Phänomenbereichs ermöglichen. Wenn R1 eine Theorie der Evolution ist, die nur sehr wenige Annahmen enthält, dann kann eine Person durch eine geeignete epistemische Pro-Einstellung zu R1 ein Verständnisa der Evolution erwerben, sofern diese Annahmen allesamt wahr sind. Zugleich kann eine andere Person auf Basis einer umfassenderen Theorie R2 ein umfassenderes Verständnisa der Evolution erwerben, sofern R2 ebenfalls korrekt ist. Wenn wir von einer weniger starken Anbindungsannahme ausgehen, dann spielt außerdem auch das Verhältnis von wahren zu falschen Bestandteilen der Repräsentation eine Rolle: Eine Theorie, die einige falsche Annahmen enthält, kann vielleicht ein gewisses Verständnisa des Phänomenbereichs ermöglichen, aber ein geringeres als eine Theorie gleichen Umfangs, die keine falschen Elemente enthält. Ob eine Person ein größeres Verständnisa eines Phänomenbereichs besitzt als eine andere, ergibt sich also aus einem recht komplexen Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren, zu denen (mindestens) gehören: der Umfang der Repräsentationen, das Verhältnis von wahren zu falschen Bestandteilen der Repräsentationen und schließlich das Ausmaß, in dem die Personen die einschlägigen kognitiven Leistungen zu erbringen in der Lage sind. Wie diese einzelnen Faktoren zu gewichten sind, dürfte sich freilich schwer sagen lassen. (Versteht jemand mit einer umfangreicheren Repräsentation, die aber einige falsche Elemente enthält, mehr als jemand mit einer weniger umfangreichen, aber vollständig wahren Repräsentation? Wie groß muss die Umfangsdifferenz dafür sein? Wie viele falsche Elemente dürfen es sein?) Ich möchte mich jedenfalls hier nicht auf entsprechende Annahmen festlegen.

Wir erhalten somit folgende Bestimmung der Begriffe einer Verstehens-Autorität und des Begriffs epistemischer Superiorität im Hinblick auf das Verstehen einer Domäne:

(EAVerstehen)

EA ist für S eine Verstehens-Autorität bezüglich D genau dann, wenn EA für S im Hinblick auf das Verstehen von D epistemisch superior ist.

(SUPVerstehen)

EA ist für S im Hinblick auf das Verstehen von D epistemisch superior genau dann, wenn EA aufgrund einer Repräsentation REA ein Verstehen von D besitzt, das das gegebenenfalls vorhandene Verstehen von S deutlich übersteigt, wobei sich diese Verstehens-Differenz aus einem Zusammenspiel dreier Faktoren ergibt: a) der Differenz der Umfänge von REA und der gegebenenfalls vorhandenen Repräsentation des Subjekts RS, b) dem Verhältnis wahrer und falscher Bestandteile von REA und RS und c) dem Ausmaß, in dem EA und S die für Verstehen charakteristischen kognitiven Leistungen in Bezug auf REA und RS erbringen können.

Von besonderer Relevanz für das Thema der epistemischen Autorität im Hinblick auf Verstehen ist der Umstand, dass Verstehen nicht oder weniger gut als Wissen testimonial vermittelbar zu sein scheint. So schreibt Gordon (2017, 298): „[U]nderstanding can’t simply be given to another in the way knowledge can“ (Hervorh. i. O.). Der Grund ist, dass Verstehen das Vollziehen kognitiver Leistungen voraussetzt, die jeder selbst erbringen muss (das gilt übrigens für den Transfer eines nicht-faktiven Verständnisses ebenso, denn auch (VERSTÄNDNISna) enthält eine kognitive Komponente). Allerdings ist die Disanalogie zwischen Verstehen und Wissen in dieser Hinsicht vielleicht geringer, als es scheinen könnte. Zum einen hatte ich schon angedeutet (vgl. oben, Kapitel 4), dass auch die Weitergabe von Wissen durchaus anspruchsvoller sein kann, als es die typischen in der Debatte über Testimonialerkenntnis verwendeten Beispiele häufig nahelegen. Die Weitergabe justifikatorisch oder semantisch esoterischen Wissens kann Erklärungs- oder Übersetzungsleistungen erfordern, die besondere („novizen-orientierte“) Fähigkeiten seitens der Autorität erfordern. Zum anderen kann auch Verstehen zumindest in gewissem Sinne weitgegeben werden. Eine Verstehens-Autorität kann zwar nicht sozusagen stellvertretend für das deferierende Subjekt verstehen, aber sie kann ihm durch Erläuterungen usw. dabei helfen, selbst zu verstehen (Gordon (2017) untersucht in ihrem Aufsatz dann auch eine Reihe von Weisen, wie dies geschehen kann).Footnote 5 Auch dafür sind novizen-orientierte Fähigkeiten erforderlich, die über das eigentliche Verstehen hinausgehen.Footnote 6 Mit anderen Worten kann man sich eine Verstehens-Autorität vorstellen, die epistemisch superior für S im Hinblick auf das Verstehen von D ist, aber nicht in der Lage, S dabei zu helfen, selbst zu verstehen, weil ihr die nötigen novizen-orientierten Fähigkeiten fehlen.Footnote 7

Auch im Hinblick auf Verstehens-Autorität stellt sich ein Identifikationsproblem. Es lautet: Wie kann jemand, der Domäne D gar nicht oder nur in geringem Maße versteht, jemanden erkennen, der deutlich mehr von D versteht? Das Problem ist, dass auch Verstehens-Autoritäten durch so etwas wie jene „epistemische Opazität“ gekennzeichnet sind, die wir als charakteristisch für propositionale Autoritäten vorgefunden hatten. Das heißt, dass ein inferiores Subjekt gerade in keiner guten Position zu sein scheint, echte Verstehens-Autoritäten als solche zu identifizieren und von falschen, bloß vorgeblichen zu unterscheiden. Denn angenommen, ich verstehe nichts oder nicht viel von D und treffe nun auf eine Person, die sich als Verstehens-Autorität für D ausweist und mir umfangreiche Erläuterungen zu D gibt, die mir alle recht einleuchtend erscheinen und mir allerlei „Aha-Momente“ bescheren. Kann ich daraus schließen, dass ich es mit einer echten Verstehens-Autorität für D zu tun habe und durch ihre Hilfe zu einem besseren Verständnis von D gebracht habe? Keineswegs: Ein „Aha-Erlebnis“, der „sense of understanding“, kann ein trügerisches Anzeichen für echtes Verstehen sein (vgl. Trout 2007), und genauso wie es möglich ist, dass man etwas zu wissen glaubt, ohne es zu wissen, ist es möglich, dass man das Gefühl hat, etwas zu verstehen, ohne es zu verstehen. Man hat womöglich ein Verständnisna der Domäne erworben, aber kein Verständnisna, das echtes Verstehen ermöglicht (also kein Verständnisa). Denn man braucht eine gerechtfertigte epistemische Pro-Einstellung zu einer korrekten Repräsentation, um etwas verstehen zu können. Wenn die vermeintliche Autorität eine inkorrekte oder nicht gerechtfertigte propagiert, dann kann man, trotz möglicher „Aha-Erlebnisse“, auf dieser Grundlage nichts über die Domäne verstehen.

Daraus ergibt sich ein Problem für das Subjekt, das dem gar nicht so unähnlich ist, das wir in Kapitel 7 diskutiert hatten. Wenn das „novice/2-expert-problem“, angewandt auf den Modus propositionaler epistemischer Autorität, darauf hinausläuft, dass eine mutmaßliche Autorität p behauptet und eine andere non-p, dann läuft es, wenn man es auf den Modus der Verstehens-Autorität anwendet, darauf hinaus, dass eine mutmaßliche Autorität ein bestimmtes Verständnisna von etwas propagiert, während eine andere ein anderes Verständnisna propagiert, wobei aber nur (höchstens) eines der beiden Verständnissena ein tatsächliches Verstehen der Sache ermöglicht. Beispielsweise könnte eine Autorität zum Verstehen der Evolution ein Verständnisna basierend auf der Evolutionstheorie propagieren und eine andere ein Verständnisna basierend auf der Intelligence-Design-Theorie.Footnote 8 Das ist allerdings nur der Extremfall. Es ist vor dem Hintergrund der Gradierbarkeit von Verstehen auch denkbar, dass das eine Verständnisna ein geringeres Verstehen ermöglicht als das andere. Ferner ist es möglich, dass zwei verschiedene, aber miteinander kompatible Verständnissena in gleichem Maße Verstehen ermöglichen. Wenn man etwa verstehen möchte, warum ein Haus abgebrannt ist, dann könnte das eine Verständnisna sich auf die technisch-physikalischen Details des Brandes beziehen, während ein anderes Verständnisna Bezug nehmen kann auf die psychologische Motivation eines Brandstifters (wenn Person A behauptet, ihrem Verständnisna zufolge sei das Haus abgebrannt, weil der Besitzer die Versicherungssumme kassieren wollte, während Person B behauptet, ihrem Verständnisna zufolge sei das Haus abgebrannt, weil es viel brennbares Material enthalten hat, das durch diesen oder jenen chemischen Prozess entflammt wurde, dann können beide Recht haben und bis zu einem gewissen Grade verstehen, warum das Haus abgebrannt ist).

Ein Subjekt, das verstehen will, ist also ebenfalls mit verschiedenen Identifikationsproblemen konfrontiert. Er muss zunächst jemanden identifizieren, der überhaupt von sich denkt, dass er die fragliche Domäne versteht. Auch hier dürften die Mechanismen der epistemischen Arbeitsteilung – insbesondere die Anreize, die es für Verstehende gibt, sich als solche erkennen zu geben –, dazu beitragen, dass es diese Aufgabe zumindest mit einer gewissen Erfolgsaussicht bewältigen kann. Ferner muss es feststellen, ob ein mutmaßlich Verstehender tatsächlich versteht, das heißt, ob das Verständnisna, das er propagiert, echtes Verstehen ermöglicht. Und gegebenenfalls muss es feststellen, welcher von zwei mutmaßlich Verstehenden, die inkompatible Verständnissena propagieren, die bessere epistemische Quelle ist. Zu den Strategien, die es dazu anwenden kann, dürften mehr oder weniger dieselben Anmerkungen einschlägig sein, die wir zu Goldmans Überlegungen gemacht hatten. Es mag aber bei Verstehens-Autoritäten einige Methoden geben, die bei propositionalen Autoritäten weniger einschlägig sind. Da z. B. Verstehen das Erbringen kognitiver Leistungen erfordert und dieses Erbringen wiederum gewisse intellektuelle Fähigkeiten voraussetzt, könnte ein Subjekt versuchen zu eruieren, ob eine mutmaßliche Autorität die entsprechenden Fähigkeiten besitzt. Es könnte beispielsweise das Ausmaß berücksichtigen, in dem die mutmaßliche Autorität die für Verstehen charakteristischen Leistungen – imaginatives Manipulieren, Ziehen von Schlussfolgerungen, Erfassen von Zusammenhängen usw. – im Zusammenhang mit Repräsentationen bzw. Phänomenbereichen zu praktizieren im Stande ist, die ihm selbst vertraut sind, wo es also besser einschätzen kann, ob ein Fall imaginativer Manipulation erfolgreich, eine Inferenz gültig oder ein Zusammenhang korrekt erfasst wird.

Und schließlich besteht für das Subjekt wiederum die Notwendigkeit, sicherzustellen, dass die Erläuterungen des mutmaßlich Verstehenden sozusagen authentisch seinem tatsächlichen Verstehen entsprechen. Damit ist gemeint, dass beispielsweise ausgeschlossen wird, dass die mutmaßliche Verstehens-Autorität zwar tatsächlich die Domäne versteht, aber aus irgendwelchen Gründen bewusst eine epistemische Pro-Einstellung zu einer inkorrekten Repräsentation vortäuscht und ihre Erläuterungen auf dieser aufbaut.Footnote 9

Schließlich stellt sich auch ein Deferenzproblem im Zusammenhang mit Verstehens-Autoritäten. Es lautet: Wenn das Subjekt eine Verstehens-Autorität identifiziert und sichergestellt hat, dass die von ihr gegebenen Erläuterungen im soeben spezifizierten Sinn authentisch sind, wie sollte es sich ihr bzw. ihren Erläuterungen gegenüber genau verhalten? An dieser Stelle ist die Ausganglage eine etwas andere als bei propositionalen Autoritäten. Hinsichtlich der letzteren besteht eine Standardauffassung wie gesagt darin, dass das Subjekt seine Gründe präemptieren sollte, so dass lediglich Konversionsfälle und persistierende Übereinstimmungen rationale Optionen für es darstellen. Der Bereich der Verstehens-Autorität ist demgegenüber gerade von solchen Autoren ins Feld geführt worden, die skeptisch gegenüber dem Präemptionismus (oder zumindest dem starken Präemptionismus) eingestellt sind (vgl. etwa Jäger 2016; Lackey 2018a; Stewart 2020). Die Idee ist dabei in etwa die folgende: Wenn ich als inferiores Subjekt Verstehen von D erlangen möchte, dann muss ich zwangsläufig selbst kognitiv tätig werden: Ich muss selbst eine epistemische Pro-Einstellung zu einer geeigneten Repräsentation von D entwickeln und vor allem selbst die Leistungen der kognitiven Komponente erbringen. Das scheint der Idee der Präemption diametral entgegengesetzt zu sein. Präemption heißt ja, dass die Tatsache, dass die Autorität p glaubt, mein einziger Grund sein soll, meinerseits p zu glauben. Es ist nicht so, dass ich meine eigenen Gründe durch die der Autorität ersetzen sollte (also durch die, auf die die Autorität ihrerseits ihre Überzeugung basiert), sondern ich soll meine Gründe durch nichts als die Tatsache ersetzen, dass die Autorität p glaubt. Um Verstehen zu erlangen, brauche ich aber mehr als eine solche isolierte Tatsache. Ich brauche ein hinreichend großes, wohlorganisiertes System von Überzeugungen zu D, von Gründen, die ich mir in ihrem Zusammenhang klar machen muss.Footnote 10

Umso erstaunlicher ist, dass Croce (2018) versucht hat, eine Form von Präemptionismus auch für den Bereich der Verstehens-Autorität zu formulieren. Seine „Preemption Thesis Weak for the Authority of Understanding“ lautet: „There are circumstances in which the fact that an EA has some understanding of a subject matter x is a reason for me to accept her understanding of x that replaces my previous understanding of x and is not simply added to it“ (Croce 2018, 490). Die Bedingungen, unter denen ein Subjekt präemptieren soll, sind Croce zufolge wiederum mit denen vergleichbar, unter denen es gegenüber einer propositionalen Autorität präemptieren sollte, also beispielsweise in Dissensfällen. Diese These scheint mir in mehreren Hinsichten befremdlich zu sein. Zunächst ist unklar, was es genau heißen könnte, dass ich mein Verstehen durch das der Autorität ersetzen soll. Wie wir gesehen hatten, muss ja jeder selbst verstehen; die kognitiven Leistungen kann nicht jemand anderes für mich stellvertretend erbringen. Vielleicht liegt Croces These implizit die Ambiguität des englischen Ausdrucks „understanding“ zugrunde, der nämlich (ähnlich wie „Verständnis“) sowohl „Verstehen“ als auch „Verständnisna“ bedeuten kann (s. o., Fußnote 4). Was Croce vorschwebt, ist vielleicht eigentlich die These, dass ich als inferiores Subjekt die Repräsentation eines Verstehenden übernehmen und meine eigene, vorherige Repräsentation durch diese ersetzen sollte. Ich sollte also etwa eine Pro-Einstellung zu der von der Autorität befürworteten Repräsentation ausbilden. Wenn das die These sein sollte, dann ist sie meines Erachtens aber durch ähnliche Einwände bedroht wie die, die wir bereits (in Abschnitt 8.1) diskutiert hatten. Wenn ein Schwäne-Experte Erläuterungen über Schwäne gibt und dabei von einer Repräsentation ausgeht, die die Annahme, alle Schwäne seien weiß, zum Bestandteil hat, dann scheint es nicht rational zu sein, ihm blind zu folgen, wenn ich mir sicher bin, dass es nicht-weiße Schwäne gibt. Wie genau ich mich verhalten sollte, hängt sicher von den Details des Falles ab. Wenn die Annahme, alle Schwäne seien weiß, lediglich ein peripheres Element der Repräsentation ist, dann kann ich vielleicht den Rest der Repräsentation übernehmen und, sofern sie auch mit der Annahme, dass nicht alle Schwäne weiß sind, kompatibel ist, entsprechend korrigieren. Wenn die Annahme ein zentrales Element der Repräsentation ist, dann sollte ich den Erläuterungen gegenüber vermutlich insgesamt skeptisch sein. Ich möchte freilich nicht bestreiten, dass es häufig vernünftig sein mag, Missverständnisse über eine Domäne zu korrigieren und die bisher verwendete Repräsentation vollständig durch die der Verstehens-Autorität zu ersetzen. Allerdings denke ich, dass insgesamt ein breites Spektrum von Verhaltensweisen je nach Situation rational sein kann: von einer vollständigen Ersetzung der Repräsentationen über eine teilweise Korrektur der eigenen oder der der Autorität sowie gegebenenfalls eine Integration beider Repräsentationen bis hin zu einer vollständigen Zurückweisung der Repräsentation der Autorität.