Sollte das Subjekt es im Hinblick auf eine für es relevante Proposition p geschafft haben, eine einschlägige epistemische Autorität und deren Überzeugung bezüglich p korrekt zu identifizieren, so sind damit noch keineswegs alle epistemischen Schwierigkeiten beseitigt. Denn es fragt sich, wie genau es sich der Autorität bzw. deren p-Überzeugung gegenüber verhalten sollte. Es dürfte zwar wahrscheinlich relativ unstrittig sein, dass zumindest in typischen Situationen ein gewisses Maß an Deferenz gegenüber der Autorität für das Subjekt rationalerweise geboten ist. Der Ausdruck „Deferenz“ ist eine Eindeutschung des Ausdrucks „deference“, der im Englischen jene Haltung bezeichnet, die gegenüber epistemischen Autoritäten angemessen ist,Footnote 1 nämlich im weitesten Sinne ein Sich-Richten-nach oder Orientieren-an der Autorität.

Diese Deferenz ist manchmal so beschrieben worden, dass sie eine „paradoxe“ Spannung enthalte (etwa von McMyler 2020). Jemand, der sich in seinem epistemischen Verhalten nach einer Autorität richtet, scheint ein Stück weit seine epistemische Autonomie abzugeben. Er entscheidet sich dagegen, selbst die relevanten Evidenzen zu prüfen, um dies anderen zu überlassen („not making up one’s own mind“, wie es bei McMyler (2020) heißt). Andererseits geschieht dieses Abtreten epistemischer Verantwortung wohlüberlegt. Das Subjekt räsoniert, dass die Autorität mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit als es selbst die Wahrheitswerte der in ihre Domäne fallenden Propositionen korrekt bestimmen kann, so dass es rational und vernünftig ist, schlicht die doxastischen Einstellungen der Autorität zu übernehmen. Das Paradox besteht darin, dass das Subjekt gerade dadurch, dass es epistemische Verantwortung abgibt, seiner epistemischen Verantwortung nachkommt.Footnote 2

Auch wenn nun weitgehend unstrittig ist, dass Deferenz in der einen oder anderen Form die in typischen Situationen gebotene Verhaltensweise gegenüber epistemischen Autoritäten ist, fragt es sich zum einen, ob es nicht auch untypische Situationen geben kann und welches Verhalten in diesen geboten ist. Zum anderen stellt sich auch für die typischen Situationen die (im Zuge der Debatte über Präemption zuletzt intensiv diskutierte) Frage, wie genau die rationalerweise gebotene epistemische Deferenz eigentlich aussehen sollte. Sollte das Subjekt beispielsweise völlig unkritisch die p-Überzeugung der Autorität übernehmen? Oder sollte es die Tatsache, dass die Autorität diese oder jene doxastische Einstellung bezüglich p hat, als einen (mehr oder weniger stark gewichteten) Grund neben anderen behandeln, seinerseits eine entsprechende doxastische Einstellung bezüglich p anzunehmen? Diesen Fragenkomplex fasse ich unter der Bezeichnung „Deferenzproblem“ zusammen.

1 Doxastische Übereinstimmungen und Dissense mit epistemischen Autoritäten

Grundsätzlich liegt der Idee der Deferenz folgendes Bild zugrunde. Angenommen, ein Subjekt hat zu einem Zeitpunkt t1 zu einer relevanten Proposition p eine bestimmte doxastische Einstellung DES(p). Dabei kann es sich um Überzeugt-Sein, dass p, handeln, eine agnostische Einstellung oder Überzeugt-Sein, dass non-p (oder – wenn man die Redeweise von Glaubensgraden bevorzugt – jeden beliebigen Glaubensgrad bezüglich p zwischen 0 und 1). Diese Einstellung basiert auf einer (leeren oder nicht-leeren) Menge von Gründen G1 bis Gn (ich werde auch von den „Gründen des Subjekts“ oder den „eigenen Gründen des Subjekts“ sprechen). Dann erfährt das Subjekt von der Tatsache T, dass EA – eine epistemische Autorität für die Domäne, zu der p gehört – eine doxastische Einstellung DEEA(p) besitzt. EA hat ihrerseits Gründe für ihre Einstellung, d. h. Evidenzen, die sie erwogen hat, um sich ihre Meinung bezüglich p zu bilden. Typischerweise besitzt die Autorität mehr und bessere Gründe als das Subjekt. Die Menge der Gründe der Autorität MEA kann die Menge der Gründe des Subjekts MS beispielsweise enthalten. Es kann aber auch sein, dass MS teilweise oder gar nicht in MEA enthalten ist, das Subjekt also Gründe besitzt, die die Autorität nicht erwogen hat und umgekehrt. Sehr untypisch, aber vermutlich nicht ausgeschlossen, dürften Fälle sein, in denen MEA in MS enthalten ist.

Wenn das Subjekt von der Tatsache T erfährt, also der Tatsache, dass EA die doxastische Einstellung DEEA(p) besitzt, dann erwirbt es dadurch wohlgemerkt noch keinen Zugang zu den in MEA enthaltenen Gründen. Es wird sicherlich berechtigt sein anzunehmen, dass es eine solche Menge gibt. Aber welche Elemente sie enthält, weiß es allein dadurch, dass es T zur Kenntnis nimmt, noch nicht. Es besteht freilich zumindest manchmal die Möglichkeit, dass EA das Subjekt mit einigen dieser Elemente vertraut macht. EA könnte ihm etwa ihre Gründe (oder einige davon) in persönlicher Kommunikation oder in einer Publikation in einer für Laien verständlichen Sprache erläutern (was aber – gerade bei justifikatorisch esoterischen Propositionen – manchmal kaum oder gar nicht möglich sein wird). Ich möchte von solchen Kommunikationen aber zunächst absehen und mich auf Situationen konzentrieren, in denen S lediglich Kenntnis von T erhält, nicht aber von den Elementen aus MEA. Wichtig ist, zu sehen, dass die Tatsache T selbst ein bezüglich p relevanter Grund für S sein kann und typischerweise auch tatsächlich ist. Denn T ist etwas, was dafür spricht, die doxastische Einstellung DEEA(p) zu übernehmen. T kann als höherstufiger Grund beschrieben werden, d. h. als Grund, der darauf hindeutet, dass es starke Evidenzen, also erststufige Gründe gibt, die es nahelegen, die Einstellung DEEA(p) anzunehmen.

S hat also nun Kenntnis von der Tatsache erhalten. Es empfiehlt sich, sich zunächst einen Überblick über die prinzipiell möglichen Situationstypen zu verschaffen, die sich nun eröffnen. Tabelle 8.1 gibt einen Überblick über diese Situationstypen. Zum Zeitpunkt t1 können die doxastischen Einstellungen von S und EA entweder übereinstimmen (1) oder divergieren (2). Wenn sie übereinstimmen (diesen Fall nenne ich „apriorische Übereinstimmung“), können sie zum Zeitpunkt t2 identisch bleiben (1a) (solche Fälle können wir „persistierende Übereinstimmung“ nennen) oder abweichen (1b) (dann möchte ich von „Separationsfällen“ sprechen). Wenn die doxastischen Einstellungen zu t1 dagegen divergieren (d. h. bei „apriorischen Dissensen“), kann S seine eigene doxastische Einstellung entweder der Meinung der Autorität anpassen (2a) (das wäre ein „Konversionsfall“) oder nicht (2b) (dieser Fall sei als „persistierender Dissens“ bezeichnet). Der letztgenannte Falltyp liegt vor, wenn S seine doxastische Einstellung beibehält; ein persistierender Dissens setzt aber nicht notwendigerweise voraus, dass DES(p) unverändert bleibt. So könnte es beispielsweise sein, dass S zu t1 p glaubte, dann feststellt, dass EA non-p glaubt und infolgedessen zu einer agnostischen Einstellung wechselt – auch dies würde unter meinen Begriff eines persistierenden Dissenses fallen.

Tabelle 8.1 Typologie der möglichen Dynamik von Übereinstimmungs- und Dissens-Fällen, temporale Darstellung

Diese Typologie hat den Nachteil, dass gewisse Situationen nicht adäquat berücksichtigt werden können. Sie setzt nämlich eine gewisse Reihenfolge der Ereignisse voraus, die nicht immer gegeben bzw. nicht immer in dieser Form relevant ist. Wenn beispielsweise S zunächst basierend auf den Gründen G1 und G2 glaubt, dass p, dann erfährt, dass eine Autorität non-p glaubt, woraufhin es aber nicht seine Meinung ändert, sondern weiterhin p glaubt, dann liegt unserer Typologie zufolge ein persistierender Dissens vor. Stellen wir uns nun alternativ vor, dass S zunächst lediglich aufgrund von G1 non-p glaubt. Dann erfährt es, dass EA ebenfalls non-p glaubt, was es als weitere Bestätigung für seine Meinung interpretiert. Anschließend lernt es aber den Grund G2 kennen, dem es ein solches Gewicht beimisst, dass es seine Meinung ändert und nun p glaubt. Dieser Fall ist strukturell zu dem vorher diskutierten analog: In den für unsere Belange wesentlichen Hinsichten sind es Variationen eines Falles, die eigentlich gleich behandelt werden sollten. Was nämlich für unsere Belange relevant ist, ist nicht, zu welchem Zeitpunkt S von dem Grund G2 erfährt (ob vor oder nach der Kenntnisnahme von T). Relevant ist vielmehr, dass es diesen Grund höher gewichtet als T, und das ist in beiden Varianten des Falles gegeben. Wir sollten also unsere Typologie so konstruieren, dass die Strukturgleichheit beider Fälle abgebildet werden kann. Dies kann wie folgt erreicht werden (vgl. Tabelle 8.2): Statt die doxastischen Einstellungen von S und EA zu zwei Zeitpunkten zu vergleichen, betrachten wir lediglich einen Zeitpunkt, zu dem S bereits von T Kenntnis hat. Wir vergleichen nun in einem ersten Schritt die doxastischen Einstellungen DES(p) und DEEA(p), wobei erstere die Einstellung ist, die das Subjekt haben würde, wenn es sie lediglich auf seine eigenen Gründe G1 bis Gn basieren würde (also eine Menge von Gründen, die T nicht enthält). Wie in der ursprünglichen Typologie können DES(p) und DEEA(p) identisch oder verschieden sein. In einem zweiten Schritt vergleichen wir dann abermals DES(p) und DEEA(p), wobei erstere diesmal aber die Einstellung ist, die S bezüglich p hat, wenn es T berücksichtigt. Wiederum können die Einstellungen identisch oder verschieden sein. Wenn sie nun vom ersten zum zweiten Schritt identisch (bzw. verschieden) bleiben, liegt eine persistierende Übereinstimmung (bzw. ein persistierender Dissens) vor; wenn sie sich verändern, liegt ein Separations- oder Konversionsfall vor.

Tabelle 8.2 Typologie der möglichen Dynamik von Übereinstimmungs- und Dissens-Fällen, atemporale Darstellung

Die oben als „typisch“ bezeichneten Situationen fallen offenbar in die Kategorien der persistierenden Übereinstimmungen oder der Konversionsfälle: Entweder teilte das Subjekt ohnehin schon die Meinung der Autorität oder es passt sich ihr an. Nicht selten wird in der epistemologischen Literatur die Auffassung vertreten, dass dies die einzigen Möglichkeiten für das Subjekt sind, rational zu handeln. Ich möchte demgegenüber geltend machen, dass auch die anderen Falltypen nicht nur vorkommen (diese empirische Behauptung dürfte auch kaum strittig sein), sondern es für das Subjekt manchmal rational ist, entsprechend zu handeln. Nach der rein deskriptiven Differenzierung der prinzipiell denkbaren Situationen soll es nun also um die eigentliche normative Frage gehen, wie das Subjekt sich rationalerweise verhalten sollte.

Zunächst eine kurze Bemerkung zu den Separationsfällen: Dass das Subjekt seine Meinung ändert, nachdem es erfährt bzw. in seiner Überlegung mitberücksichtigt, dass sie von einer Autorität geteilt wird, mag auf den ersten Blick als nachgerade widersinnige Verhaltensweise erscheinen. Wenn man allerdings die doxastischen Einstellungen des Subjekts und der Autorität mithilfe von Glaubensgraden interpretiert, schwächt sich dieser Eindruck ab. Wenn S beispielsweise mit einem Grad von 0,8 glaubt, dass p, und nun von der Tatsache erfährt, dass eine Autorität ebenfalls mit einem Grad von 0,8 p glaubt, dann scheint es keineswegs mehr völlig widersinnig zu sein, wenn S diese Tatsache als zusätzliche Evidenz für p behandelt und seinen Glaubensgrad entsprechend erhöht (vielleicht auf 0,85). Da die Glaubensgrade von EA (weiterhin 0,8) und S (0,85) zu t2 nun divergieren, sind die Bedingungen eines Separationsfalles erfüllt.Footnote 3

Als problematischer und relevanter für die philosophische Debatte stellen sich allerdings persistierende Dissense dar, denen ich mich jetzt mit größerer Ausführlichkeit widmen möchte. Betrachten wir zunächst ein von Zagzebski konstruiertes Beispiel, mit dem diese zu untermauern versucht hat, dass es keine persistierenden Dissense zwischen einer epistemischen Autorität und einem Subjekt geben kann, in denen das letztere sich rational verhält (dass es also, wie wir sagen wollen, keine „rationalen persistierenden Dissense“ gibt zwischen Subjekten und Autoritäten):

Suppose your physician tells you to take 4000 pills an hour for the rest of your life. I assume that you trust your belief that you should not take so many pills more than you trust your judgment that your physician is an authoritative guide to your health. […] Epistemic authority has the consequence that trust in ourselves in some domain is replaced by trust in the authority but it remains the case that a general trust in ourselves leads us to trust the authority, and the judgment that someone is an authority can be withdrawn. (Zagzebski 2012, 116)

Dieses Beispiel einer „humeanischen Kollision“Footnote 4 scheint zunächst wie ein Gegenbeispiel gegen die These auszusehen, dass es keine rationalen persistierenden Dissense zwischen inferioren Subjekten und epistemischen Autoritäten geben kann. Denn immerhin vertraut der Patient dem Arzt nicht, er übernimmt nicht dessen doxastische Einstellung, und scheint dennoch rational zu handeln. Zagzebski interpretiert den Fall aber so, dass es kein Gegenbeispiel darstellt, da der Arzt in dem Moment, in dem er eine derartig hanebüchene Überzeugung (Zagzebski spricht von einem „outrageous belief“) äußert wie die, dass die Einnahme von 4000 Pillen pro Stunde die korrekte Dosis darstellt, seinen Status als epistemische Autorität verliere. Zagzebskis Überlegung scheint zu sein, dass die Empfehlung des Arztes einfach zu absurd ist; jemand, der mit einem solchen Ratschlag an mich herantritt, kann nicht (mehr) als epistemische Autorität von mir anerkannt werden (bei Zagzebski (2012, 116) heißt es: „[the fact that] the authority’s belief is something outrageous … count[s] as a defeater of your belief that it is an authority“). Was Zagzebski plausibilisieren möchte, ist letztlich folgende Position: Entweder es liegt ein rationaler persistierender Dissens vor, dann untergräbt das aber den Status der vermeintlichen Autorität als Autorität. Oder man hat es mit einer „echten“ epistemischen Autorität zu tun, dann besteht allerdings die Möglichkeit eines rationalen persistierenden Dissenses nicht.

Nun gibt es aber Situationen, die sich durchaus als rationale persistierende Dissense zwischen Subjekten und Autoritäten beschreiben lassen (vgl. Hauswald 2018; 2021c). Nehmen wir an, eine epistemische Autorität – ein Experte für Schwäne – glaubt, dass alle Schwäne weiß sind. Die Bestätigungslogik besagt, dass eine einzige falsifizierende Instanz ausreicht, um eine Allaussage zu falsifizieren. So könnte es ein Subjekt geben, in dessen Besitz sich ein schwarzer Schwan befindet (vielleicht einer von nur sehr wenigen existierenden). Wenn nun das Subjekt von der Überzeugung der Autorität Kenntnis erhält (etwa weil es eine Publikation der Autorität liest), scheint die rationale Reaktion für es nicht darin zu bestehen, seine doxastische Einstellung derjenigen der Autorität anzupassen. Es weiß, dass nicht alle Schwäne weiß sind, und somit sind alle Bedingungen eines rationalen persistierenden Dissenses erfüllt. Gleichwohl kann es die Autorität weiterhin als Autorität in Bezug auf Schwäne anerkennen, denn sie weiß, mit Ausnahme dieser einen Proposition, nach wie vor sehr viel mehr über Schwäne als das Subjekt, und hierin liegt der entscheidende Unterschied zu Zagzebskis Mediziner-Beispiel. Im Falle des Schwäne-Experten scheint das rationale Verhalten nicht darin zu bestehen, ihm den Status als epistemische Autorität abzuerkennen, sondern vielmehr darin, ihn zu korrigieren bzw. seine Überzeugung nicht zu übernehmen, zumindest in Bezug auf diese eine Proposition.

Aber – so könnte man einwenden – ist es wirklich unstrittig, dass das Subjekt in diesem Beispiel sich über das Expertenurteil „hinwegsetzen“ sollte? Denn womöglich ist ja das Tier, das es für einen Schwan hält, gar nicht wirklich ein Schwan. Und vielleicht sollte das Subjekt eher seine Fähigkeit, das Tier korrekt biologisch zu bestimmen, infrage stellen als das Expertenurteil. Derartige Einwände lassen sich aber unschwer durch geeignete Modifikation des Beispiels begegnen. So könnten wir uns etwa vorstellen, dass die Spezieszugehörigkeit des Tieres für das Subjekt zweifelsfrei feststeht – beispielsweise dadurch, dass die Spezieszugehörigkeit der Elterntiere durch epistemische Autoritäten verbürgt ist. Es bleibt festzuhalten, dass Fälle rationaler persistierender Dissense zwischen Subjekten und epistemischen Autoritäten möglich sind, in denen letztere ihren Status als Autoritäten nicht einbüßen.

2 Präemptionistische und anti-präemptionistische Antworten auf das Deferenzproblem

2.1 Starke und gemäßigte Präemptionsthesen und ihre Schwächen

Das Deferenzproblem erschöpft sich nicht in der Frage, ob bzw. wie man seine doxastischen Einstellungen denen einer Autorität anpassen sollte. Ein weiterer Aspekt betrifft die Frage, was mit den Gründen passieren sollte, die man für oder wider eine bestimmte Proposition hatte, bevor man von der Tatsache Kenntnis erhielt, dass eine Autorität diese oder jene doxastische Einstellung bezüglich der Proposition besitzt. Eine gleichermaßen prominente wie umstrittene Antwort auf diese Frage hat Linda Zagzebski (2012, 107) mit ihrer Präemptionsthese gegeben. Diese lautet:

(PRÄEMPTION)

The fact that the authority has a belief p is a reason for me to believe p that replaces my other reasons relevant to believing p and is not simply added to them.

Diese These verlangt von mir als deferierendem Subjekt, alle Gründe, die ich für oder gegen p hatte, zu suspendieren, und die Tatsache, dass die Autorität glaubt, dass p wahr ist (also T), als alleinigen Grund gelten zu lassen. Ich soll also nicht meine alten Gründe (die Gründe G1 bis Gn) gegen diesen neuen abwägen, ich soll diesen vielmehr an ihre Stelle setzen; T soll als „präemptiver Grund“ behandelt werden: als erststufiger Grund dafür, p zu glauben, der zugleich ein zweitstufiger Grund dafür ist, meine sonstigen für p relevanten Gründe außer Acht zu lassen.

Es ist eine Klarstellung darüber angebracht, worauf genau dies hinauslaufen würde und worauf nicht. Meine Gründe „außer Acht lassen“ muss nicht (zumindest nicht zwangsläufig) bedeuten, dass ich die dem Grund entsprechende Überzeugung aus meinem Überzeugungsnetz entferne.Footnote 5 Angenommen beispielsweise, p sei die Proposition, dass Impfen Autismus verursachen kann, und G meine Überzeugung, dass eine bestimmte mir persönlich bekannte Person P geimpft wurde und autistisch ist. Wenn nun G mein Grund ist, p zu glauben,Footnote 6 dann läuft Präemptieren nicht darauf hinaus, die Überzeugung, dass die Person P geimpft wurde und autistisch ist, zu vergessen bzw. aus meinem Überzeugungsnetz zu entfernen. Der Präemptionismus verlangt vielmehr, die Stützungsrelation zwischen G und p zu kappen. Ich soll also p nicht mehr auf der Basis von G glauben, sondern meine p-bezügliche Überzeugung vielmehr allein auf die Tatsache basieren, dass eine geeignete Autorität diese oder jene doxastische Einstellung bezüglich p hat. Ich darf aber die Überzeugung, dass P geimpft wurde und autistisch ist, sehr wohl weiterhin in meinem Überzeugungsnetz belassen.

Zagzebski greift mit ihrer Präemptionsthese einen ursprünglich in der praktischen Philosophie entwickelten Ansatz auf, nämlich Joseph Raz’ Theorie praktischer Autorität.Footnote 7 Raz vertritt den Standpunkt, dass Gesetze, Befehle oder Vorschriften unter geeigneten Bedingungen die Eigenschaft haben können, dass sie präemptive Gründe für Akteure darstellen, die durch die Gesetze, Befehle oder Vorschriften gebotenen Handlungen zu vollziehen. Das bedeutet, dass das Subjekt die Handlung nicht einfach nur vollziehen soll, sondern es soll sie vollziehen und dabei von eigenen Gründen hinsichtlich der Handlung absehen. Der präemptive Grund (Raz spricht manchmal auch von einem „protected reason“) erscheint somit als ein erststufiger Grund, die Handlung zu vollziehen, der zugleich ein zweitstufiger Grund ist, von bestimmten anderen für die Handlung relevanten Gründen, die das Subjekt ebenfalls haben könnte, abzusehen. Ob das alle für die Handlung relevanten Gründe betrifft, die das Subjekt außer dem präemptiven Grund hat, oder nur bestimmte, hat Raz in unterschiedlichen Texten unterschiedlich beantwortet. In früheren Texten hat er die Position vertreten, der Akteur solle alle eigenen Gründe „ausblenden“, in späteren dagegen die Position, dass nur solche Gründe betroffen sind, die gegen die Ausführung der Handlung sprechen (vgl. auch Essert 2012 sowie McMyler 2020). Die letztgenannte Position läuft auf folgendes hinaus: Wenn der Akteur die für die Ausführung der Handlung H sprechenden Gründe Ga bis Gm besitzt und die gegen die Ausführung von H sprechenden Gründe Gn bis Gz, dann soll er, wenn er mit dem präemptiven Grund P für die Ausführung von H konfrontiert wird, H vollziehen, und zwar auf Grundlage von P sowie Ga bis Gm; die Gründe Gn bis Gz soll der Akteur dagegen bei seiner Deliberation, ob er die Handlung vollziehen soll oder nicht, außenvorlassen.

Zagzebski überträgt nun diesen Ansatz auf den epistemischen Bereich. Ihr geht es nicht um Handlungen, sondern um Überzeugungen, und nicht um Handlungsgründe, sondern um epistemische Gründe. Dabei radikalisiert sie die Position aus Raz’ späten Schriften und kehrt zu seiner früheren Position zurück. Mit anderen Worten vertritt Zagzebski den Standpunkt, die Tatsache, dass die Autorität p glaubt, sei ein präemptiver Grund, der sich auf alle weiteren Gründe auswirkt, die das Subjekt hinsichtlich p haben könnte, nicht nur auf jene, die gegen p sprechen. Somit kann der Fall eintreten, dass das Subjekt bereits viele gute für p relevante Gründe besitzt, die allesamt für p sprechen, die es aber gleichwohl ausblenden soll, sobald es mit der Tatsache konfrontiert wird, dass eine epistemische Autorität p glaubt. Dann nämlich soll das Subjekt p nur noch aufgrund dieser Tatsache glauben, und zwar selbst dann, wenn die Gründe, aufgrund derer die Autorität p glaubt, mit denjenigen des Subjekts identisch sind (vgl. Jäger (2016), der das für eine sehr problematische Konsequenz hält).

Eine Reihe von Autoren haben auf verschiedene (vermeintliche oder tatsächliche) Schwächen von Zagzebskis Präemptionsthese hingewiesen. So wurde etwa argumentiert, die These sei zumindest für Fälle apriorischer Übereinstimmung unplausibel (vgl. z. B. Benton 2014; Jäger 2016; Wright 2016). Ferner wurde argumentiert, sie stehe in Konflikt mit fundamentalen epistemischen Werten und Prinzipien (vgl. etwa Jäger 2016; Wright 2016; Dormandy 2018; Lackey 2018a; Constantin/Grundmann 2020; Stewart 2020) oder laufe gewissen Anforderungen unserer epistemischen Praxis zuwider (beispielsweise hatte ich bereits auf den Aufsatz von Ward (2017) hingewiesen, in dem argumentiert wird, dass eine Richterin Expertengutachten – selbst wenn diese zunächst justifikatorisch esoterisch für sie sein sollten – nicht einfach als präemptive Gründe behandeln kann, da sie unter Verwendung der Gutachten selbst urteilen und ihr Urteil begründen muss). Die meines Erachtens einfachste und effektivste Möglichkeit, die These zu entkräften, besteht aber im Verweis auf Beispiele wie das bereits vorgestellte Schwäne-Beispiel. Dadurch, dass dieses die Möglichkeit rationaler persistierender Dissense zwischen inferioren Subjekten und Autoritäten aufzeigt, untergräbt es nämlich zugleich auch Zagzebskis Präemptionsthese. Denn wie wir gesehen haben, ist es für das Subjekt nicht rational, die doxastische Einstellung des Schwäne-Experten zu übernehmen. Es besitzt starke Gründe – nämlich sein Wissen um die Existenz des nicht-weißen Schwans –, die die Inkorrektheit dieser doxastischen Einstellung demonstrieren. Wenn es aber im Einklang mit der Präemptionsthese handeln und seine Gründe inklusive dieses Wissens suspendieren würde, dann wäre ihm jede Möglichkeit genommen, die Inkorrektheit der doxastischen Einstellung der Autorität einzusehen; ihm wären genau die Ressourcen vorenthalten, die es braucht, um auf die Weise zu handeln, von der wir gesehen haben, dass es die rationalerweise gebotene ist.Footnote 8

Welche Konsequenzen sollte man aus diesen Einwänden gegen den Präemptionismus ziehen? Eine Möglichkeit wäre, diesen zugunsten einer nicht- oder anti-präemptionistischen Position zurückzuweisen. Ein solcher „Anti-Präemptionismus (AP)“ würde auf die Auffassung hinauslaufen, dass es keine Situation gibt, in der T irgendeinen Grund von S ersetzen sollte.

Anti-Präemptionismus (AP):

Es gibt keine Situation, in der T irgendeinen Grund von S ersetzen sollte.

Der AP stellt das diametrale Gegenstück zum „starken Präemptionismus“ dar:

Starker Präemptionismus (SP):

T sollte alle Gründe, die S für oder wider p hatte, in allen Situationen ersetzen.

Der AP hätte keineswegs die Konsequenz, dass T kein Grund für S mehr dafür sein könnte, die Überzeugung, dass p, anzunehmen. Vielmehr ist der AP durchaus kompatibel mit der Auffassung, dass es sich bei T sogar um einen sehr starken Grund handelt, so dass auch ein Subjekt, das im Einklang mit dem AP handelt, womöglich in der Regel seine doxastischen Einstellungen denen epistemischer Autoritäten anpasst. Der AP bestreitet lediglich, dass das Subjekt dabei seinen sonstigen für p relevanten Gründen keinerlei Gewicht beimessen sollte.

Der AP und der SP sind allerdings nicht die einzigen denkbaren Alternativen. Wer sich von der Unhaltbarkeit von SP hat überzeugen lassen, könnte auch versucht sein, den Präemptionismus abzuschwächen und einen „gemäßigten Präemptionismus (GP)“ zu vertreten. Dieser besagt, dass SP in mindestens einer von zwei Hinsichten abgemildert werden sollte, ohne dabei in das andere Extrem einer anti-präemptionistischen Position zu fallen. Genauer gesagt läuft der GP auf folgende Position hinaus:

Gemäßigter Präemptionismus (GP):

(1) Es gibt Situationen, in denen T ein präemptiver Grund für S sein sollte, p zu glauben, wohingegen es andere Situationen gibt, in denen T kein präemptiver Grund für S sein sollte, p zu glauben,

und/oder

(2) es gibt für p relevante Gründe, die S durch T ersetzen sollte, wohingegen es andere für p relevante Gründe gibt, die S nicht durch T ersetzen sollte.

GP ist nicht nur in dem Sinne eine schwache Position, dass er eine gemäßigte Haltung zwischen den Extremen des SP und des AP darstellt, sondern auch in dem Sinne, dass er lediglich eine Festlegung auf Existenzbehauptungen beinhaltet („es gibt mindestens eine Situation, so dass…“ bzw. „es gibt mindestens einen Grund, für den gilt…“). Wenn man etwas sozusagen philosophisch Anspruchsvolleres möchte, besteht schließlich noch die Möglichkeit, den GP mit gewissen Qualifizierungen zu versehen und dadurch informativer zu machen. Das Resultat einer solchen Modifizierung des GP möchte ich „qualifizierten gemäßigten Präemptionismus (QGP)“ nennen. Der QGP ist eine spezielle Form des GP, der diesen um die Angabe genauer Bedingungen ergänzt, die die Situationen erfüllen müssen, in denen T Ss andere Gründe ersetzen sollte, und/oder die Gründe erfüllen müssen, wenn S sie durch T ersetzen soll. Dementsprechend gibt es zwei mögliche Grundformen des QGP, den Situations-Typen-QGP und den Gründe-Typen-QGP:

Situations-Typen-QGP:

Wenn Bedingung B erfüllt ist, dann sollte T ein präemptiver Grund für S sein, p zu glauben (wobei B manchmal erfüllt ist)Footnote 9; wenn non-B erfüllt ist, sollte T dagegen kein präemptiver Grund für S sein, p zu glauben (wobei auch non-B manchmal erfüllt ist).

Gründe-Typen-QGP:

S sollte Gründe des Typs x durch T ersetzen, wohingegen S non-x-Gründe nicht durch T ersetzen sollte.

Eine Reihe von Autoren, die zu dem Schluss gekommen sind, dass der SP zu stark ist, haben nicht für den AP, sondern den GP als Alternative optiert.Footnote 10 Von diesen haben wiederum einige versucht, die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen S präemptieren sollte, d. h. versucht, die ein oder andere QGP-Variante zu entwickeln. Es könnte so scheinen, dass Anhänger des GP grundsätzlich den QGP anstreben sollten. Schließlich könnte man, wie gesagt, die Anspruchslosigkeit oder den nicht-informativen Charakter des nicht-qualifizierten GP bemängeln. Es sollte aber andererseits nicht von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass sich die für den QGP erforderlichen Bedingungen aus irgendwelchen fundamentalen Gründen einfach nicht spezifizieren lassen (vielleicht ist die Realität einfach zu „unordentlich“ dafür).Footnote 11

Ich möchte nun noch einen kritischen Blick auf die in der jüngeren Diskussion vorgeschlagenen QGP-Ansätze werfen. Ein Grund, warum ich die Verwendung von Gegenbeispielen wie dem Schwäne-Beispiel für eine besonders effektive Argumentationsstrategie halte, besteht darin, dass diese Beispiele nicht nur den SP, sondern auch gleich mehrere vorgeschlagene QGP-Varianten unterminieren. Eine dieser Varianten ist Michel Croces „Preemption Thesis Weak for the Authority of Belief“ (Croce 2018, 486). Dabei handelt es sich um einen Situations-Typen-QGP, der besagt, dass T ein präemptiver Grund für S sein sollte, p zu glauben, sofern (a) ein apriorischer Dissens vorliegt oder (b) eine apriorische Übereinstimmung, bei der S gerechtfertigt ist, davon auszugehen, dass Ss für p relevante Gründe von der Autorität berücksichtigt wurden.Footnote 12 Ein Gründe-Typen-QGP liegt in Form des von Katherine Dormandy (2018) diskutierten „Contra-Reason Preemption“-Ansatz vor. Dieser basiert auf einer Unterscheidung zwischen Pro-Gründen, d. h. Gründen zugunsten der von EA geteilten doxastischen Einstellung, und Kontra-Gründen, d. h. Gründen gegen EAs Einstellung. „Contra-Reason Preemption“ verlangt nun, dass S seine Überzeugung bezüglich p auf alle ihm zur Verfügung stehenden Pro-Gründe einschließlich T basieren sollte, wohingegen alle Kontra-Gründe durch T ersetzt werden sollten.Footnote 13 „Contra-Reason Preemption“ ist wohlgemerkt nicht die Position, die Dormandy letztendlich vertreten möchte. Ihren eigenen Ansatz nennt sie vielmehr „Proper-Basing View of Belief on Authority“. Dieser besagt, dass S seine Überzeugung bezüglich p auf alle ihm zur Verfügung stehenden Gründe einschließlich T basieren sollte, wobei aber Pro-Gründe sich zugunsten der Überzeugung, dass p, auswirken sollten, während Kontra-Gründe keinerlei Wirkung zuungunsten dieser Überzeugung entfalten sollten („contra-reasons do not exert any force against p“).

Überraschenderweise hält Dormandy ihren „Proper-Basing View“ gar nicht für eine präemptionistische Position. Ob diese Einschätzung gerechtfertigt ist oder nicht, möchte ich hier nicht weiter untersuchen. Wie ich allerdings zeigen möchte, scheint dieser Ansatz genauso durch Gegenbeispiele vom Schwäne-Typ unterminiert zu werden wie SP, „Contra-Reason Preemption“ und Croces „Preemption Thesis Weak for the Authority of Belief“. Zunächst zu letzterer: Mit dem Schwäne-Beispiel liegt ein rationaler persistierender Dissens vor, also ein apriorischer Dissens, bei dem es rational für S ist, nicht die Meinung der Autorität zu übernehmen. Dieses Beispiel unterminiert den SP, weil S, wenn es seinen Kontra-Grund suspendieren würde, keinerlei rationale Ressourcen mehr hätte, um die Falschheit von EAs Meinung einzusehen. Aus demselben Grund unterminiert das Beispiel auch Croces Ansatz: Denn dieser verlangt, dass S in apriorischen Dissensen präemptieren sollte. Das Schwäne-Beispiel ist aber ein apriorischer Dissens, in dem Präemption nicht rational ist. Was nun „Contra-Reason Preemption“ betrifft, so ergibt sich ein ähnliches Bild. Wenn S seinen Kontra-Grund nicht berücksichtigen würde – was „Contra-Reason Preemption“ verlangt –, dann könnte es nicht die Meinung des Schwäne-Experten zurückweisen, was es aber rationalerweise tun sollte. Der von Dormandy favorisierte „Proper-Basing View“, der von S verlangt, seine Kontra-Gründe keinerlei Wirkung entfalten zu lassen, führt zu demselben inkorrekten Resultat.Footnote 14

Weniger anfällig gegenüber dem Schwäne-Beispiel scheint der von Constantin/Grundmann (2020) entwickelte „Defeatist Preemptionism“ zu sein. Diesen Vorzug verdankt er insbesondere einer besonderen Bestimmung des Domänen-Begriffs. Für Constantin/Grundmann sollte die Domäne, bezüglich derer jemand eine epistemische Autorität für eine andere Person ist, nämlich nicht verstanden werden als ein „metaphysically individuated set of facts“, sondern vielmehr eine Menge von „exactly those facts, whatever they are, that are best accessible via specific methods.“ (Constantin/Grundmann 2020, 4117) Auf das Schwäne-Beispiel würde sich diese Begriffsbestimmung folgendermaßen auswirken: Da die Feststellung der Farbe von Ss Schwan keine besonderen Methoden erfordert, ebenso wenig wie der inferentielle Schluss darauf, dass nicht alle Schwäne weiß sind, ist hier gar keine Proposition betroffen, bezüglich derer der Schwäne-Experte eine epistemische Autorität für S ist. Von S wird folglich auch gar nicht verlangt, seine Gründe zu präemptieren und sich nach dem Experten zu richten, so dass dem Gegenbeispiel der Stachel gezogen zu sein scheint.

Auch wenn der „Defeatist Preemptionism“ besser mit dem Schwäne-Beispiel zurechtzukommen scheint, stellt auch er meines Erachtens keinen letztlich überzeugenden präemptionistischen Ansatz dar. Um dies zu sehen, müssen wir uns zunächst anschauen, worauf der „Defeatist Preemptionism“ genau hinausläuft. Er besagt, dass S T als präemptiven Grund behandeln sollte, es sei denn, S ist berechtigt davon auszugehen, dass (i) die Autorität einige der Gründe Ss nicht berücksichtigt hat oder (ii) Ss doxastische Einstellung hinsichtlich p nicht auf domänenspezifischen Gründen basiert, die durch die Autorität kompetenter beurteilt werden können als durch S (vgl. die Formulierung in Constantin/Grundmann 2020, 4123).Footnote 15 Diese Formulierung scheint auf einen Situations-Typen-QGP hinauszulaufen: S soll präemptieren, außer in Situationen, in denen S berechtigt ist anzunehmen, dass Ss Gründe mindestens einen umfassen, der nicht von der Autorität berücksichtigt wurde, oder der nicht domänenspezifisch ist. Aus verschiedenen Textstellen geht jedoch hervor, dass die Autoren eher einen Gründe-Typen-QGP vertreten wollen, dem zufolge, S (in allen Situationen) genau diejenigen Gründe berücksichtigen darf, von denen es anzunehmen berechtigt ist, dass die Autorität sie nicht berücksichtigt hat oder die nicht domänenspezifisch sind, während alle anderen für p relevanten Gründe suspendiert werden sollen.Footnote 16

Wie ich nun allerdings zeigen möchte, führt weder die Gründe-Typen- noch die Situations-Typen-Interpretation zu plausiblen Resultaten. Ich möchte das an einem von Constantin und Grundmann selbst verwendeten Beispiel demonstrieren, das gewisse Ähnlichkeiten mit meinem Schwäne-Fall hat. Das Beispiel lautet wie folgt:

Consider the astrophysicist Edmond, who predicts that a well-known comet will be visible to the naked eye at a certain time t. Suppose that at time t Lucy carefully looks for the comet but fails to see it. Edmond himself is ill that night and therefore not able to test his prediction. Moreover, Lucy doesn’t tell him about her observations. Intuitively, in this case, it is acceptable for Lucy to use her own observations as (probably inconclusive) evidence against Edmond’s authority belief that the comet would be visible to the naked eye at t. It clearly is irrational for Lucy to defer to Edmond and to disregard her own observations. (Constantin/Grundmann 2020, 4110)

Wenn Lucy sich gemäß der Gründe-Typen-QGP-Interpretation des „Defeatist Preemptionism“ verhält, dann berücksichtigt sie ihre Beobachtung, dass zu t kein Komet zu sehen war, denn dabei handelt es sich nicht um einen domänenspezifischen Grund. Ihre sonstigen für p relevanten Gründe präemptiert sie demgegenüber, ersetzt sie also durch T, sofern diese domänenspezifisch sind, also die Eigenschaft haben, besser durch die Autorität beurteilt werden zu können. Was nach dieser Ersetzung übrig bleibt, ist also T auf der einen Seite und ihre Beobachtung auf der anderen, also ein Pro- und ein Kontra-Grund, die sie nun gegeneinander abwägen soll. Das Problem ist, dass dies keine geeignete Weise zu sein scheint, um zu einem adäquaten Urteil hinsichtlich p zu kommen. Wie Constantin und Grundmann zu Recht betonen ist Lucys Beobachtung keine zwingende Evidenz gegen Edmonds Hypothese („not conclusive evidence against Edmond’s hypothesis“): „[S]he might, e.g. just have missed the comet by virtue of being inattentive or distracted“. Gleichwohl sollte sie ihrer Beobachtung zumindest ein gewisses Gewicht beimessen („give at least some evidential weight to her own perceptual evidence rather than utterly disregarding it“, Constantin/Grundmann 2020, 4124). Es fragt sich jedoch, wie viel evidentielles Gewicht sie ihrer Beobachtung denn beimessen sollte. Wie groß ist die evidentielle Bedeutung, die evidentielle Relevanz dieser Beobachtung? Das evidentielle Gewicht eines Grundes ergibt sich ja erst vor dem gesamten epistemischen Hintergrund des Subjekts, das den Grund hat. In Abhängigkeit vom konkreten Kontext kann das evidentielle Gewicht einer Beobachtung oder Überzeugung größer oder kleiner sein, oder es kann sich sogar die „Polarität“ des Grundes verändern (was in dem einen Kontext ein Grund für p ist, kann in einem anderen ein Grund für non-p sein).Footnote 17 Dementsprechend sollte Lucy bei der Abwägung zwischen T und ihrer Beobachtung so viel von ihrem epistemischen Hintergrund wie möglich berücksichtigen. Insbesondere sollte sie alles, was sie über Kometen, astronomische Beobachtungen usw. weiß oder zu wissen glaubt gerade nicht unberücksichtigt lassen, sondern in ihre Erwägungen einbeziehen. Wie funktionieren astronomische Vorhersagen im Allgemeinen? Wie wahrscheinlich ist es, dass sie nicht eintreten? Falls der Komet zu t tatsächlich da gewesen sein sollte, welche möglichen Erklärungen könnte es dafür geben, dass sie ihn nicht gesehen hat? Was ist wahrscheinlicher: dass sie den Kometen nicht gesehen hat, obwohl er da war, oder dass Edmonds Vorhersage fehlerhaft war? Alle diese und viele weitere Fragen könnte Edmond sicher sehr viel besser beantworten als Lucy; dementsprechend haben sie Constantin/Grundmanns Definition zufolge domänenspezifischen Charakter, so dass sie in den Bereich dessen fallen, was Lucy gemäß der Gründe-Typen-QGP-Interpretation des „Defeatist Preemptionism“ präemptieren sollte. Genau solche Fragen muss Lucy aber erwägen und so gut es geht beantworten – auch wenn sie dies weniger gut kann als Edmond –, um eine Abwägung zwischen T und ihrer Beobachtung zustande zu bringen.

Es hat also den Anschein, dass die Gründe-Typen-QGP-Interpretation nicht zu plausiblen Resultaten führt. Zumindest im Hinblick auf das Kometen-Beispiel scheint die SituationsTypen-QGP-Interpretation besser zu funktionieren. Dieser Lesart zufolge besagt der „Defeatist Preemptionism“, dass Lucy die Gesamtheit ihrer eigenen Gründe präemptieren sollte, es sei denn, sie ist der gerechtfertigten Überzeugung, dass diese Gründe zumindest einen umfassen, den Edmond nicht berücksichtigt hat bzw. der nicht domänenspezifisch ist. Wenn sie dieser Überzeugung sein sollte, dann sollte sie nicht präemptieren, und zwar keinen einzigen ihrer Gründe. Und da Lucy mit ihrer Beobachtung einen solchen Grund hat, tritt der zweite Fall ein; sie sollte also keinen einzigen ihrer Gründe präemptieren, so dass diese ihr in Gänze für die Abwägung zwischen T und ihrer Beobachtung zur Verfügung stehen, und dieses Resultat steht im Einklang mit unseren vorhergehenden Überlegungen.

Auch wenn sie im Kometen-Fall das gewünschte Resultat ergibt, so scheitert diese Interpretation des „Defeatist Preemptionism“ gleichwohl an anderen Beispielen. Kehren wir noch einmal zu Zagzebskis Mediziner-Beispiel zurück, das auch von Constantin und Grundmann ausführlich diskutiert wird (Constantin/Grundmann 2020, 4124 ff.). Der Patient stützt sich in diesem Beispiel letztlich auf seine Überzeugung, dass die korrekte Dosis geringer als 4000 Pillen pro Stunde ist. Er darf diese Überzeugung Constantin und Grundmann zufolge berücksichtigen, da es sich um einen nicht-domänenspezifischen Grund handelt: Es könne nämlich zum einen geltend gemacht werden, dass es schlicht physikalisch unmöglich sei, so viele Pillen zu nehmen, und zudem zum anderen, dass andere Ärzte vergleichbare Empfehlungen niemals geben. Im ersten Fall ist die Evidenz physikalischer, im letzteren sozialer Natur; in beiden Fällen basiert der Grund nicht auf etwas, dessen Bewertung spezifisch medizinische Methoden verlangt, so dass der Grund demnach nicht-domänenspezifisch ist.

Wir könnten die Überzeugung des Patienten, dass die korrekte Dosis geringer als 4000 Pillen pro Stunde liegt, einen „Kontrollgrund“ nennen. Damit seien Gründe gemeint, die das Subjekt verwenden kann, um vermeintliche epistemische Autoritäten zu kontrollieren, also festzustellen, ob ihre Überzeugung(n) ernstgenommen werden sollte(n) bzw. ob es sich überhaupt um epistemische Autoritäten handelt. Kontrollgründe können unterschiedlicher Natur sein, beispielsweise können sie die physische oder psychische Konstitution der (vermeintlichen) Autorität betreffen (steht sie unter dem Einfluss psychoaktiver Substanzen, handelt sie erratisch? usw.), sie können aber auch speziell ihre doxastischen Einstellungen betreffen (z. B.: glaubt die vermeintliche Autorität, eine Wiedergeburt Kleopatras zu sein?, hält sie andere Personen für Aliens? usw.). Unter diesen „doxastischen Kontrollgründen“ können nun wiederum solche sein, die für die fragliche Proposition p unmittelbar relevant sind. Genauer möchte ich einen p-relevanten doxastischen Kontrollgrund so bestimmen, dass er eine Proposition px enthält, so dass gilt: (i) wenn EA non-px glauben würde, dann wäre es legitim für das Subjekt, ihr den Status als Autorität abzuerkennen (oder zumindest Zweifel zu haben im Hinblick auf das Zeugnis von EA bezüglich p), und (ii) px ist unmittelbar relevant für die Überzeugung, dass p. Die Überzeugung, dass die korrekte Dosis geringer ist als 4000 Pillen, erfüllt in Zagzebskis Beispiel diese Bedingungen, da sie relevant für den Patienten dafür ist, ob er p glauben sollte, und weil er gerechtfertigterweise am Status der Autorität zu zweifeln beginnt, als diese ihre Wahrheit infrage stellt.

Das Problem ist, dass der Patient diesen Kontrollgrund auch in solchen Situationen besitzt, in denen der Arzt eine vernünftige Empfehlung macht. Wir können ja das Szenario geringfügig so abändern, dass es zu einem Konversionsfall oder einer persistierenden Übereinstimmung wird. Beispielsweise könnte der Arzt die Einnahme von drei Pillen täglich verschreiben. Wenn der Patient zuvor eine agnostische Einstellung zu der Proposition „Die korrekte Dosis beträgt drei Pillen täglich“ hatte und nun die Meinung des Arztes übernimmt, wäre dies ein Konversionsfall. Es könnte auch so sein, dass er sich daran zu erinnern meint, dass die korrekte Dosis bei zwei oder vier Pillen täglich liegt (vielleicht weil er das Medikament schon einmal vor langer Zeit genommen hat), die Autorität des Arztes aber als hinreichend groß ansieht, um dessen Meinung zu übernehmen. Eine persistierende Übereinstimmung läge beispielsweise vor, wenn der Patient sich korrekt daran erinnert, dass die korrekte Dosis bei drei Pillen liegt.

Nun hat der Patient sicherlich in allen diesen Szenarien die Überzeugung „Die korrekte Dosis ist geringer als 4000 Pillen pro Stunde“.Footnote 18 Wenn das aber so ist, dann verlangt der „Defeatist Preemptionism“ nach der Situations-Typen-QGP-Interpretation auch in allen Szenarien, dass der Patient keinerlei Gründe präemptiert. Für Präemptionisten dürfte das kein willkommenes Ergebnis sein. Denn Subjekte dürften in sehr vielen Fällen, in denen sie mit epistemischen Autoritäten konfrontiert sind, Kontrollgründe oder auch andere nicht-domänenspezifische Gründe besitzen. Das schließt auch solche Fälle ein, die Präemptionisten als paradigmatisch erachten. Man möchte die Präemptionisten fragen: Wann, wenn nicht in Situationen wie den Konversions- oder persistierenden-Übereinstimmungs-Varianten des Medizinerbeispiels, sollte das Subjekt denn präemptieren? Eine Theorie, die in solchen Fällen verlangt, nicht zu präemptieren, verdient es kaum, als (auch nur schwach-)präemptionistische bezeichnet zu werden.

Vielleicht könnte der (im Sinne eines Situations-Typen-QGP interpretierte) „Defeatist Preemptionism“ so modifiziert werden, dass er mit dem soeben skizzierten Problem besser zurechtkommt. Eine entsprechend verbesserte Variante könnte folgendermaßen aussehen: S soll präemptieren, außer in Situationen, in denen S berechtigt ist anzunehmen, dass Ss Gründe mindestens einen umfassen, der nicht von der Autorität berücksichtigt wurde oder nicht domänenspezifisch ist und die Autorität bzw. ihr Urteil in erheblicher Weise infrage stellt.

Diese Modifizierung scheint das Kontrollgründe-Problem zu lösen. Das Problem ergab sich daraus, dass der „Defeatist Preemptionism“ das Subjekt in den verschiedenen Falltypen (in den Dissens- genauso wie in den Konversions- oder apriorischen Übereinstimmungsfällen) zu identischen Verhaltensweisen aufforderte, nämlich zum Nicht-Präemptieren, weil durch die Kontrollgründe in all diesen Falltypen die Ausnahmebedingung erfüllt war. Durch die (kursiv gesetzte) Ergänzung ist es nun möglich, eine Differenzierung vorzunehmen, so dass die verschiedenen Falltypen nicht gleich behandelt werden müssen. In der apriorischen Dissens-Variante wird das Subjekt nicht zum Präemptieren aufgefordert, denn es hat ja einen nicht-domänenspezifischen Grund, der die Autorität bzw. ihr Urteil in erheblicher Weise infrage stellt. In den Konversions- und apriorischen Übereinstimmungs-Varianten greift diese Bedingung dagegen nicht, so dass das Subjekt zum Präemptieren aufgefordert wird. Denn es hat zwar auch in diesen Szenarien seinen Kontrollgrund, aber dieser stellt die Autorität bzw. ihr Urteil nicht in erheblicher Weise infrage, sondern steht vielmehr im Einklang mit ihrem Urteil.

Auch wenn eine solche verbesserte Version des „Defeatist Preemptionism“ mit dem skizzierten Kontrollgründeproblem zurechtkommt, denke ich dennoch, dass auch diese verbesserte Version keinen zufriedenstellenden präemptionistischen Ansatz darstellt. Um dies zu sehen, sollten wir uns zunächst noch einmal vor Augen führen, dass die verbesserte Version des „Defeatist Preemptionism“ (anders als die ursprüngliche Version) das Subjekt in den Konversions- und den apriorischen Übereinstimmungs-Szenarien auffordert, seine Kontrollgründe zu präemptieren. Das schien ein Fortschritt zu sein, da es offenbar eine Differenzierung erlaubte zwischen der Behandlung der Konversions- und der apriorischen Übereinstimmungs-Szenarien einerseits und der apriorischen Dissens-Szenarien andererseits. Tatsächlich ist es aber, wie ich nun zeigen möchte, kein Fortschritt, denn von dem Subjekt sollte in keiner Situation verlangt werden, seine Kontrollgründe zu präemptieren.

Das Argument, das dies zeigen soll, basiert auf der Annahme, dass Kontrollgründe stärker sind als T, und stärker sein müssen, wenn sie ihre Funktion erfüllen sollen – nämlich eine Kontrolle der Autorität zu ermöglichen. Wenn es einen Konflikt zwischen Kontrollgründen und T gibt, dann ist das Subjekt gerechtfertigterweise disponiert, an den Kontrollgründen zuungunsten von T festzuhalten. Dass ein Kontrollgrund „stärker“ ist als T, bedarf vielleicht der Erläuterung, denn Gründe können in mehreren Hinsichten stärker sein als andere, und für das zu entwickelnde Argument sind nicht alle davon gleichermaßen relevant. Allgemein ist ein Grund eine Überzeugung ÜG, die eine andere, durch ihn begründete Überzeugung ÜB wahrscheinlicher macht oder stützt. Man könnte auch sagen, dass ÜG und ÜB zueinander in der Begründungs- oder Stützungsrelation R stehen: R(ÜGB). ÜG kann nun in drei Hinsichten als „starker Grund“ bezeichnet werden. Die Redeweise von einem „starken Grund“ kann sich erstens darauf beziehen, wie stark ÜG, wenn sie wahr wäre, die Wahrscheinlichkeit von ÜB erhöhen würde. Zweitens kann es sich darauf beziehen, wie wahrscheinlich ÜG wahr ist. Drittens kann gemeint sein, wie wahrscheinlich es ist, dass ÜG und ÜB tatsächlich in der Relation R zueinander stehen.

Zur Erläuterung: Im Sinne der ersten Lesart ist der Grund ÜG dann am stärksten, wenn ÜB logisch aus ÜG folgt. In diesem Fall wäre die Wahrheit von ÜB sichergestellt, sofern ÜG wahr sein sollte. Ein Beispiel wäre ein mathematisches Theorem, das einen bestimmten mathematischen Satz als logische Folge nach sich zieht. In diesem Fall ist die – gradierbare – Relation R maximal stark. Zugleich kann es aber sehr unsicher sein, ob das Theorem überhaupt wahr ist (vielleicht wurde es bislang weder bewiesen noch widerlegt). Das Theorem ist nur in dem Sinne ein starker Grund, dass es, wenn es wahr wäre, den Satz zwingend nach sich ziehen würde. Die Relation R ist dagegen schwächer, wenn ÜG lediglich so etwas wie ein Indiz für ÜB ist. Beispielsweise können bestimmte körperliche Symptome wie etwa charakteristische Flecken auf der Haut einer Person darauf hindeuten, dass die Person eine bestimmte Krankheit K hat. Wenn es aber noch andere Krankheiten gibt, bei denen dieselben Flecken auftreten, dann reichen die Flecken allein nicht aus, um sicherzustellen, dass die Person tatsächlich die Krankheit K hat. Ein im Sinne der ersten Lesart sehr schwacher Grund liegt vor, wenn beispielsweise ein Verdächtiger eine von mehreren Dutzend Personen ist, mit der ein Mordopfer in der Woche vor der Tat Kontakt hatte. Dies erhöht eventuell geringfügig die Wahrscheinlichkeit, dass er der Täter ist, aber es zieht es nicht zwingend nach sich.

Im Sinne der zweiten Lesart ist ein Grund ÜG umso stärker, je wahrscheinlicher er wahr ist. In diesem Sinne kann das mathematische Theorem ein schwacher Grund sein: nämlich dann, wenn es sehr unsicher ist, ob es wahr ist (vielleicht gibt es nicht nur bislang keinen Beweis für das Theorem, sondern die Mathematiker erwarten sogar vielmehr, dass in Zukunft ein Beweis für die Negation des Theorems gelingt). Die Flecken auf der Haut und der Kontakt zwischen Opfer und Verdächtigem können dagegen starke Gründe sein (wenn sehr sicher ist, dass es die Flecken gibt oder der Verdächtige mit dem Opfer tatsächlich in Kontakt stand).

Im Sinne der dritten Lesart ist ÜG schließlich ein maximal starker Grund für ÜB, wenn zweifelsfrei feststeht, dass ÜB durch ÜG tatsächlich in bestimmtem Maße gestützt wird. ÜG ist dagegen ein schwächerer Grund, je mehr Zweifel bestehen, ob ÜG tatsächlich auf ÜB hindeutet. Beispielsweise könnte ein medizinischer Laie unsicher sein, ob die Flecken wirklich ein Symptom von Krankheit K sind und dementsprechend darauf hindeuten, dass die Person mit den Flecken an K leidet.

Wie helfen uns diese Unterscheidungen nun bei der Konstruktion eines anti-präemptionistischen Arguments? Alle präemptionistischen Ansätze dürften ein gutes Stück weit auf der Intuition basieren, dass T stärker ist als die sonstigen Gründe, die ein Subjekt für die fragliche Proposition p haben könnte, weswegen es diese Gründe durch T ersetzen sollte. Aber welche der drei Lesarten könnten Präemptionisten im Sinn haben, wenn sie von dieser Intuition ausgehen? Die erste Lesart kann es jedenfalls nicht sein. Denn angenommen, ich bin ein mathematischer Laie und weiß, dass p aus dem Theorem X logisch folgt (es kann sein, dass diese Folgebeziehung selbst für mich als Laien offensichtlich ist). Dann wäre die Überzeugung, dass X wahr ist, ein in diesem Sinne stärkstmöglicher Grund für p. Die Überzeugung, dass es eine mathematische Autorität gibt, die glaubt, dass p, ist definitiv schwächer in dem Sinne, dass p nicht durch diese Überzeugung logisch impliziert wird. Wenn der Präemptionismus also auf der Intuition beruht, dass schwache Gründe durch starke ersetzt werden sollen, kann „Stärke“ nicht im Sinne der ersten Lesart gemeint sein, denn T ist im Sinne der ersten Lesart durchaus kein stärkstmöglicher Grund.

Betrachten wir noch einmal den Kontrollgrund aus unserem Beispiel: die Überzeugung, dass die korrekte Dosis geringer ist als 4000 Pillen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die korrekte Dosis drei Pillen beträgt, wird durch diese Überzeugung fraglos nur minimal erhöht.Footnote 19 Im Sinne der ersten Lesart ist der Kontrollgrund also ein sehr schwacher Grund. Aber wir hatten gerade gesehen, dass die erste Lesart von „starkem Grund“ nicht ausschlaggebend ist. Wenn wir nun aber die zweite und dritte Lesart betrachten, dann erweist sich der Kontrollgrund im Vergleich mit T als stärker. Der Patient ist sich in höherem Maße sicher, dass die Proposition „Die korrekte Dosis ist geringer als 4000 Pillen“ wahr ist, als er sich sicher ist, dass die Proposition „Die korrekte Dosis beträgt X Pillen“ wahr ist, wobei X ein beliebiger konkreter Wert ist, den der Arzt mitteilt. Und er ist sich in höherem Maße sicher, dass es eine Stützungsrelation zwischen dem Kontrollgrund und der Überzeugung, dass drei Pillen der korrekte Wert ist, gibt. Wenn man also von dem Prinzip ausgeht, dass ein epistemisches Subjekt nicht stärkere Gründe durch schwächere ersetzen sollte, dann sollte T keine Kontrollgründe ersetzen, denn in den relevanten Hinsichten sind die Kontrollgründe stärker als T. Wie groß mein Vertrauen in eine Autorität (und damit in T) auch sein mag: Es wird in keinem Fall größer als das Vertrauen in den Kontrollgrund sein – andernfalls könnte der Kontrollgrund in den entscheidenden Situationen (d. h. in den Dissensfällen) ja gar nicht seine eigentliche Funktion erfüllen: die Autorität zu „kontrollieren“.

Wenn diese Überlegung korrekt ist, dann unterminiert sie alle präemptionistischen Ansätze, die das Subjekt zum Präemptieren von Kontrollgründen auffordern, insbesondere auch die oben erwogene verbesserte Variante des „Defeatist Preemptionism“. Denn diese Variante gewährt dem Subjekt zwar in den Dissens-Szenarien des 4000-Pillen-Beispiels, seine Kontrollgründe beizubehalten, fordert es aber in den anderen Falltypen zum Präemptieren der Kontrollgründe zugunsten von T auf. Da aber T im relevanten Sinn ein schwächerer Grund ist, sollte der Kontrollgrund nicht zugunsten von T aufgegeben werden. Hinzu kommt, dass das Subjekt durch das Suspendieren des Kontrollgrundes eine Voraussetzung beseitigen würde, die T nötig hat, damit T ein effektiver, für die fragliche Proposition sprechender Grund für das Subjekt sein kann. Denn mithilfe von Kontrollgründen kontrolliert das Subjekt, ob T bzw. die Proposition p gewisse Minimalbedingungen erfüllt, bevor sie in sein Überzeugungsnetz integriert wird; es prüft, ob zwischen p und seinem Überzeugungsnetz eine gewisse Minimalkompatibilität besteht. Voraussetzung für die Integration der Proposition in das Überzeugungsnetz des Subjekts ist, dass sie diese Minimalkompatibilität aufweist. Von dem Subjekt zu verlangen, seine Kontrollgründe zu suspendieren, würde aber bedeuten, dass es sich dieser Minimalkompatibilität nicht mehr vergewissern kann. Es würde bedeuten, von dem Subjekt zu verlangen, ein Element in sein Überzeugungsnetz zu integrieren, ihm zugleich aber die Mittel zu verwehren, die eine rationale Integration voraussetzt.

Ich möchte mich abschließend noch einmal kurz der Frage zuwenden, wie die anderen QGP-Ansätze mit Kontrollgründen umzugehen imstande sind. Croces „Weak Preemption Thesis“ besagt, dass S in solchen Fällen apriorischer Übereinstimmung präemptieren sollte, in denen S berechtigt ist anzunehmen, dass seine für p relevanten Gründe von der Autorität berücksichtigt wurden. Nun dürfte es in typischen Fällen apriorischer Übereinstimmung sehr wohl so sein, dass S berechtigt ist anzunehmen, dass die Autorität Ss Kontrollgründe berücksichtigt hat. Wenn der Patient zumindest die „stillschweigende Überzeugung“ (im Sinne von Peels) hat, dass die korrekte Dosis geringer ist als 4000 Pillen, dann sicherlich auch der Arzt, wenn er die Einnahme von drei Pillen verschreibt (vgl. Fußnote 18). Croces These würde folglich greifen und den Patienten auffordern, seinen Kontrollgrund zu präemptieren. Aber der Kontrollgrund ist ein stärkerer Grund als T und sollte nicht präemptiert werden. „Contra-Reason Preemption“ und Dormandys „Proper Basing View“ scheinen demgegenüber besser mit Kontrollgründen umgehen zu können, zumindest wenn apriorische Übereinstimmungen und Konversionsfälle betroffen sind. Denn diese Ansätze erlauben es S, seine Gründe zu behalten, sofern es sich um Pro-Gründe handelt, d. h. Gründe zugunsten der von EA geteilten Überzeugung. Nun dürften Kontrollgründe in Fällen apriorischer Übereinstimmung und in Konversionsfällen grundsätzlich Pro-Gründe sein. Wären es nämlich Kontra-Gründe, dann würden sie S ja dazu veranlassen, eine mit EAs Überzeugung unvereinbare doxastische Einstellung einzunehmen, so dass dann kein apriorischer Übereinstimmungs- bzw. Konversionsfall mehr gegeben wäre. S dürfte demzufolge seine Kontrollgründe behalten. Konflikte zwischen Kontrollgründen und der Überzeugung von EA (wenn also die Kontrollgründe Kontra-Gründe sind) führen allerdings unweigerlich zu persistierenden Dissensen. Und in diesen Fällen hatten wir bereits gesehen, dass „Contra-Reason Preemption“ und der „Proper Basing View“ problematische Empfehlungen geben: Sie verlangen, dass S die doxastische Einstellung der Autorität übernimmt, obwohl es rational geboten ist, dies nicht zu tun.

Ich habe versucht, deutlich zu machen, dass sowohl der starke als auch verschiedene Varianten des qualifizierten gemäßigten Präemptionismus von Gegenbeispielen bedroht sind. Ich habe nicht gezeigt, dass dies für den gemäßigten Präemptionismus (GP) insgesamt gilt. Das ist allerdings auch insofern schwierig, als es sich dabei um eine Existenzbehauptung handelt, die aus bestätigungstheoretischen Gründen gar nicht durch Gegenbeispiele widerlegt werden kann. Aus denselben Gründen ist die Behauptung, dass die Entwicklung funktionierender QGP-Ansätze prinzipiell möglich ist, nicht durch Gegenbeispiele widerlegbar. Gleichwohl denke ich, dass meine Argumente diese Behauptungen zumindest recht unplausibel erscheinen lassen. Abgesehen davon sollte die Beweislast bei denen liegen, die eine Existenzbehauptung machen wollen, nicht bei denen, die sie nicht machen wollen.

Es könnte eingewandt werden, dass doch zumindest in solchen Situationen, in denen das Subjekt außer T keinerlei eigene für p relevante Gründe besitzt, eine Form von Präemption trivialerweise greift, denn es scheint ja außer T nichts als Grund übrig zu bleiben, worauf es seine doxastische Einstellung bezüglich p basieren könnte.Footnote 20 Das scheint mir allerdings ein wenig geeignetes Argument zur Rettung eines gewissen Rest-Präemptionismus zu sein. Denn der Präemptionismus ist ja eine Theorie darüber, wie das Subjekt mit eigenen Gründen bezüglich p verfahren sollte, wenn es mit der Tatsache konfrontiert wird, dass eine Autorität eine bestimmte doxastische Einstellung zu p hat. Wenn es aber gar keine eigenen Gründe hat, dann kann es auch keine ersetzen, so dass eine wie auch immer geartete Form von Präemption in einem solchen Fall trivialerweise gerade nicht greifen kann.

2.2 Bestätigungstheoretische Einwände gegen den Präemptionismus

Ich möchte im Folgenden noch eine weitere gegen präemptionistische Ansätze gerichtete Argumentationslinie entwickeln, die primär von bestätigungstheoretischen Überlegungen ausgeht. Ich möchte dazu nochmals zu unserem Schwäne-Beispiel zurückkehren und dieses folgendermaßen modifizieren. Angenommen, S habe bislang nur weiße Schwäne gesehen und glaubt aufgrund dieser Beobachtungen, alle Schwäne seien weiß (=p). Nun erfährt S von der Tatsache T, dass eine Autorität ebenfalls p glaubt (wir wandeln das Beispiel, das in seiner ursprünglichen Variante ein apriorischer Dissens ist, nun also zu einer apriorischen Übereinstimmung ab). Zumindest einige präemptionistische Ansätze (nämlich SP und auch einige GP- bzw. QGP-Ansätze) fordern nun, dass S seine bisherigen Gründe aufgibt und p nur noch aufgrund von T glaubt. Während S p bislang aufgrund einer Art induktiven Arguments geglaubt hat, soll es p nun aufgrund eines Autoritätsschlusses der Form T, also p oder p weil T glauben.

Betrachten wir diese Situation etwas genauer. Die Prämissen des induktiven Arguments sind eine Menge MB von Beobachtungen weißer Schwäne, die S mit Sätzen der Form „Ich habe den weißen Schwan1 gesehen“, „Ich habe den weißen Schwan2 gesehen“ … „Ich habe den weißen Schwann gesehen“ formulieren könnte. Jede dieser Beobachtungen kann als Grund für p angesehen werden (man könnte alternativ auch MB als komplexen Grund für p ansehen). Das induktive Argument scheint also die folgende Form zu haben:

„Ich habe den weißen Schwan1 gesehen“

„Ich habe den weißen Schwan2 gesehen“

„Ich habe den weißen Schwann gesehen“

Also p

Oder kürzer: MB, also p.

In dieser Form ist das Argument allerdings noch nicht überzeugend. Das Problem ist, dass eine Menge bestätigender Beobachtungen keine hinreichende Basis für eine induktive Schlussfolgerung darstellt, und zwar unabhängig davon, wie groß diese Menge ist. Denn der Schluss auf p ist nur unter der Voraussetzung gerechtfertigt, dass S keine der Konklusion widersprechenden Beobachtungen gemacht und einfach ignoriert hat. (Beispielsweise habe ich schon sehr viele schwarze Autos gesehen; gleichwohl wäre es nicht gerechtfertigt, induktiv darauf zu schließen, dass alle Autos schwarz sind, da ich die nicht-schwarzen Autos, die ich ebenfalls beobachtet habe, mitberücksichtigen muss.) Die Überzeugung, dass S niemals einen nicht-weißen Schwan gesehen hat, ist demzufolge ein wichtiger Grund, der zu MB hinzugefügt werden sollte, damit induktiv auf p geschlossen werden kann. Induktives Erkennen läuft darauf hinaus, die Welt nach bestätigenden Instanzen zu durchsuchen und zugleich sensitiv zu sein für falsifizierende Instanzen. Ein korrekter induktiver Schluss besteht demzufolge sowohl aus positiven Gründen als auch aus negativen Gründen, wobei sich die positiven Gründe auf die bestätigenden Beobachtungen beziehen (also MB umfassen), während die Überzeugung, noch keine p widersprechenden Beobachtungen gemacht zu haben, einen negativen Grund Gneg darstellt (positive Gründe betreffen die Anwesenheit bestätigender Beobachtungen, negative Gründe die Abwesenheit falsifizierender Beobachtungen). Der induktive Schluss hat also tatsächlich die Form MB und Gneg, also p.

Der entscheidende Punkt ist nun, dass es eine strukturelle Parallele zwischen einem solchen induktiven Argument und jenem autoritären Argument gibt, das dem Präemptionismus zufolge anstelle des induktiven treten soll, nachdem S von der Tatsache T erfahren hat. Die Parallele besteht darin, dass T genauso wenig ausreicht, um p abzuleiten, wie MB. Die ursprüngliche Variante des Schwäne-Beispiels, die wir (in Abschnitt 8.1) diskutiert hatten, hat aufgezeigt, dass S Evidenzen besitzen kann, die p widersprechen und eine Übernahme der Überzeugung der Autorität ungerechtfertigt erscheinen lassen. In dieser ursprünglichen Variante des Falls hatte S Kenntnis von der Existenz nicht-weißer Schwäne und glaubte auf dieser Basis non-p, was gerechtfertigterweise ein stärkerer Grund als T war. Ganz ähnlich ist es in der jetzt betrachteten Übereinstimmungs-Variante des Falls so, dass wenn S nicht-weiße Schwäne beobachtet hätte, es non-p glauben würde und T nicht als hinreichend dafür betrachten würde, p zu glauben.

Ähnlich wie (die in Abschnitt 8.2.1 betrachteten) Kontrollgründe, spielen negative Gründe eine wichtige Rolle in der kognitiven Ökonomie rationaler epistemischer Subjekte. Entsprechend wäre es unvernünftig, die Ersetzung der Gründe des Subjekts inklusive der negativen Gründe durch T zu verlangen. Selbst wenn es plausibilisiert werden könnte, dass S seine positiven Gründe durch T ersetzen soll (was, wie ich gleich zeigen werde, ebenfalls nicht der Fall ist), sollte doch die Ersetzung der negativen Gründe nicht verlangt werden. Denn nur wenn T ergänzt wird um Gneg, kann p korrekt abgeleitet werden. Wie ersichtlich wird, hat der Autoritätsschluss somit eine ähnliche Struktur wie der induktive, nämlich T und Gneg, also p.

Wie steht es nun um Ss positive Gründe? Sollte S zumindest diese durch T ersetzen (sollte es also den Schluss MB und Gneg, also p zu T und Gneg, also p transformieren)? Auch das ist, wie ich meine, nicht der Fall. Croces und Constantin/Grundmanns QGP-Varianten sehen vor, dass S präemptieren sollte, sofern S berechtigt ist anzunehmen, dass EA Ss Gründe berücksichtigt hat. Nun mag es plausibel sein anzunehmen, dass EA sehr viel mehr Schwäne beobachtet hat als S. Nicht sehr plausibel ist es dagegen anzunehmen, dass die Menge der von S beobachteten Schwäne in der von EA beobachteten Menge enthalten ist. Vermutlich hat S zumindest einige Schwäne beobachtet, die EA nicht beobachtet hat. Wenn die Beobachtung jedes weißen Schwans ein eigenständiger Grund ist, p zu glauben, dann dürfte S nicht berechtigt sein anzunehmen, dass EA alle seine positiven Gründe berücksichtigt hat.

Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Argument dafür konstruieren, dass es in Fällen apriorischer Übereinstimmung typischerweise rational für das Subjekt ist, seinen Glaubensgrad über den Glaubensgrad von EA zu erhöhen (das ist das positive Argument für die Rationalität von Separationsfällen, das ich in Abschnitt 8.1 angekündigt hatte; s. o., Fußnote 3). EA basiert ihre Überzeugung in p auf ihre eigenen positiven und negativen Gründe, also zum einen die Menge MB-EA, die die bestätigenden Beobachtungen, die EA gemacht hat, umfasst, sowie zum anderen EAs Überzeugung, keinen falsifizierenden Instanzen begegnet zu sein. Basierend auf diesen Gründen hat EA einen bestimmten Glaubensgrad X hinsichtlich der Proposition p. Wenn S von diesem Glaubensgrad erfährt, kann S schlussfolgern, dass es auf der Basis von MB-EA sowie EAs negativen Gründen rational ist, p mit dem Glaubensgrad X zu glauben. Zugleich ist S aber berechtigt anzunehmen, dass MB (also die Menge der bestätigenden Beobachtungen, die S selbst gemacht hat) keine Teilmenge von MB-EA ist. In gewissem Sinne kann S seine Überzeugung hinsichtlich p auf eine größere Menge von Beobachtungen stützen als EA, nämlich auf die Vereinigungsmenge von MB und MB-EA. S scheint also berechtigt zu sein, p mit einem höheren Glaubensgrad als X zu glauben.

Es scheint sogar rational für S zu sein, p mit einem höheren Glaubensgrad als X zu glauben, wenn es noch nie irgendwelche Schwäne beobachtet haben sollte. Diese Annahme folgt aus einem Prinzip, das besagt: „Was eine Hypothese nicht falsifiziert, bestätigt sie“, das wir als „Nietzsche-Prinzip“ bezeichnen könnten (da es als eine Art epistemologisches Gegenstück zu Nietzsches Diktum „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker“ (Nietzsche 1954, 943) angesehen werden könnte). Das Nietzsche-Prinzip mag auf den ersten Blick nicht sehr plausibel erscheinen, tatsächlich ist seine Postulierung aber eine vernünftige Reaktion auf Hempels Paradox. Hempels Paradox resultiert daraus, dass die Hypothese „Alle Schwäne sind weiß“ äquivalent zu der Hypothese „Wenn etwas nicht-weiß ist, dann ist es kein Schwan“ ist. Daraus folgt, dass alles, was die zweite Hypothese bestätigt, auch die erste bestätigt, beispielsweise die Beobachtung grüner Äpfel (vgl. Hempel 1945a; 1945b). Einige Philosophen haben das als unplausibles Resultat angesehen; Hempel selbst hat es akzeptiert und war der Meinung, dass die Beobachtung grüner Äpfel tatsächlich die Hypothese, dass alle Schwäne weiß sind, bestätigt, wenn auch nur in sehr geringem Maße. Wir haben also folgende Situation (vgl. Abbildung 8.1): Ein beobachtetes Objekt kann entweder ein Schwan oder ein Nicht-Schwan sein, und es kann entweder weiß oder nicht-weiß sein. Es gibt demnach vier Typen möglicher Beobachtungen: 1. Beobachtungen nicht-weißer Schwäne, die die Hypothese falsifizieren würden, 2. Beobachtungen weißer Schwäne, die die Hypothese bestätigen, 3. Beobachtungen nicht-weißer Nicht-Schwäne, die, falls Hempel recht hat, die Hypothese ebenfalls bestätigen. Es bleibt ein vierter Typ, nämlich die Beobachtung weißer Nicht-Schwäne. Wenn das Nietzsche-Prinzip tatsächlich korrekt sein sollte, müsste gelten, dass auch solche Beobachtungen die Hypothese bestätigen. Das hat Hempel nicht explizit behauptet, aber es scheint durchaus eine vertretbare Annahme zu sein, wie etwa Maher (1999) in seiner Untersuchung zu Hempels Paradox festgestellt hat. Maher gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die Beobachtung eines Nicht-Schwans beliebiger Farbe die Hypothese, dass alle Schwäne weiß sind, bestätigt, da die Information, dass dieses Objekt kein Schwan ist, (1) die Möglichkeit ausschließt, dass das Objekt ein Gegenbeispiel gegen die Verallgemeinerung ist („removes the possibility that this object is a counterexample to the generalization“), und (2) die Wahrscheinlichkeit, dass noch unbeobachtete Objekte Schwäne sind, reduziert – „thereby reducing the probability that they are counterexamples to the generalization“ (Maher 1999, 57). Folglich bestätigen beliebige Beobachtungen die Hypothese, außer solche, die sie falsifizieren, und dies ist genau das, was das Nietzsche-Prinzip besagt.

Abbildung 8.1
figure 1

Mögliche Beobachtungen und ihr bestätigungstheoretischer Status

Zweifellos wäre noch mehr zu dieser Lösung von Hempels Paradox und zu ihrer Verteidigung gegenüber alternativen Lösungen zu sagen. Ich möchte es aber damit bewenden lassen und stattdessen eine konditionale Behauptung machen: Wenn das Nietzsche-Prinzip gelten sollte, dann folgen gewisse Konsequenzen für die Frage, was das rationale Deferenzverhalten des Subjekts gegenüber epistemischen Autoritäten angeht, insbesondere des Subjekts, das noch nie Schwäne beobachtet hat (oder allgemeiner: das noch nie Objekte des Typs beobachtet hat, von dem die fragliche Hypothese explizit handelt).

Worin bestehen diese Konsequenzen? Hätte S noch keinerlei Beobachtungen der oben unterschiedenen vier Typen gemacht, die EA nicht auch gemacht hat, dann wäre S womöglich tatsächlich berechtigt, genau EAs Glaubensgrad zu kopieren. S hat allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einige Beobachtungen gemacht, die EA nicht gemacht hat. Wenn diese Beobachtungen (ob sie nun weiße Schwäne, weiße Autos, grüne Äpfel oder was auch immer betreffen) nun zur Bestätigung der Hypothese, dass alle Schwäne weiß sind, beitragen, wie das Nietzsche-Prinzip behauptet, dann ist S berechtigt, diese Hypothese mit höherem Glaubensgrad als EA zu glauben.

Ein möglicher Einwand gegen diese Argumentation lautet, dass sie aufseiten von S diskriminatorische Fähigkeiten voraussetzt, also Fähigkeiten, überhaupt bestätigende und falsifizierende Instanzen als solche identifizieren zu können. Wenn S diese Fähigkeiten vollständig fehlen würden, dann könnte es nichts konstruktives zu EAs induktiven Bemühungen hinzufügen. Beispielsweise hat Ss negativer Grund, also seine Überzeugung, noch nie falsifizierende Instanzen gesehen zu haben, nur in dem Maße epistemischen Wert, in dem S solche Instanzen überhaupt als solche erkannt hätte, wenn es ihnen begegnet wäre.

Ich denke, dieser Einwand ist insofern berechtigt, als S gewisse diskriminatorische Fähigkeiten tatsächlich braucht, um einen epistemisch wertvollen Beitrag zu so etwas wie einem induktiven Gemeinschaftsprojekt mit EA beitragen zu können. Was S aber nicht können muss, ist jede bestätigende oder falsifizierende Instanz als solche zu erkennen. Es genügt bereits, dass eine einzige falsifizierende Instanz existiert, die es als solche erkennen würde (eine Instanz, die so klar und eindeutig eine falsifizierende ist, dass selbst S sie als solche erkennen kann).

Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, d. h. wenn S zumindest minimale diskriminatorische Fähigkeiten besitzt, folgt meines Erachtens aus diesen Überlegungen, dass ein Subjekt in vielen Fällen sowohl negative als auch positive Gründe besitzt, die es nicht präemptieren sollte, sondern die einen genuinen bestätigungstheoretischen und justifikatorischen Wert besitzen. Ansätze, die das Subjekt zum Präemptieren dieser Gründe auffordern, sind entsprechend defizitär. Auf der anderen Seite wäre in Bezug auf jene präemptionistischen Ansätze, die eine Ausnahme für das Subjekt in den betrachteten Situationen einräumen und nicht zum Präemptieren auffordern würden, zu fragen, ob dies nicht den Status dieser Ansätze als präemptionistische unterminiert. Denn die Frage ist, ob typische Subjekte nicht in äußerst vielen Situationen negative oder positive Gründe der betrachteten Art besitzen. Wenn alle diese Situationen als Ausnahmen behandelt werden sollten (und das sollten sie), fragt man sich, welche Situationen noch übrig bleiben, in denen die Präemption greifen könnte. Jedenfalls dürften viele Situationen, die Präemptionisten als paradigmatisch betrachten, sich in Anbetracht unserer Überlegungen nicht als Fälle aufrechterhalten lassen, in denen ein Präemptieren geboten ist.

2.3 Epistemische Autoritäten und deferierende Subjekte als Interaktionspartner

Die Auseinandersetzung eines Subjekts mit einer epistemischen Autorität nimmt typischerweise eine von zwei Formen an: Entweder gibt es eine persönliche Interaktion und wechselseitige Kommunikation zwischen beiden (wie es der Fall ist, wenn man seinen Arzt, Steuerberater oder Anwalt konsultiert). Oder es gibt keine Interaktion, sondern das Subjekt ist passiver Empfänger von Informationen, deren Quelle die Autorität ist (etwa wenn man eine Publikation der Autorität liest oder einem Rundfunkinterview von ihr zuhört).Footnote 21 Ich möchte nun noch zwei Argumente gegen den Präemptionismus entwickeln, die jeweils speziell für eine dieser beiden Formen einschlägig sind.

Zunächst zum interaktiven Fall. An seinen Arzt, Steuerberater oder Anwalt wendet man sich typischerweise dann, wenn man ein spezielles medizinisches, steuerliches oder juristisches Problem hat, für dessen Lösung man sich Hilfe von der Autorität verspricht. Nun ist die Autorität in diesen Fällen ihrerseits darauf angewiesen, vom Subjekt einen gewissen Input zu bekommen: gewisse Informationen über die Randbedingungen und Details des Problems, um das es geht. Der Arzt mag eine Autorität für die Domäne der Medizin im Allgemeinen sein, der Steuerberater für Steuern im Allgemeinen usw., aber für die Beurteilung des besonderen Problems des Subjekts muss dessen spezielle Situation berücksichtigt werden. Eine wesentliche Funktion der Interaktion mit der Autorität besteht dann darin, der Autorität die Details zu vermitteln, die sie braucht, um das spezielle Problem des Subjekts einschätzen zu können. Nun liegt es aber in der Verantwortung des Subjekts, ihr die dafür notwendigen Informationen zu vermitteln. Das Subjekt ist (wenn man so will) epistemische Autorität für seine spezielle Situation; es weiß um seine Befindlichkeit, seine Symptome, seine Krankengeschichte usw.Footnote 22 Freilich: Ein nicht unerheblicher Teil der Verantwortung liegt auch bei der Autorität, denn diese muss durch das Stellen der richtigen Fragen das Subjekt dazu bringen, ihr genau die Informationen zu geben, die sie für die Beurteilung seines Falls braucht. Gleichwohl ist es am Subjekt, diese Fragen möglichst akkurat zu beantworten.

Meines Erachtens ergeben sich aus dieser wechselseitigen kommunikativen Abhängigkeit zwischen dem Subjekt und der Autorität wichtige Konsequenzen für die Präemptionsproblematik. Bemerkenswerterweise erweist sich gerade die Fehlbarkeit des Subjekts als entscheidender Faktor, aus dem sich die Unhaltbarkeit der Präemptionsthese ergibt. Denn auch wenn die Autorität einiges dazu beitragen kann, das Subjekt durch gezieltes Fragen dazu zu bringen, ihr die richtigen Informationen über seinen Fall zu vermitteln, ist es doch das Subjekt, das ihr diese Informationen geben muss. Und dabei kann es allerlei falsch machen: Beispielsweise kann es eine Frage der Autorität missverstehen und eine unpassende Antwort geben, was die Autorität wiederum erkennen oder nicht erkennen mag. Oder es hält relevante Informationen zurück, etwa weil es ihre Relevanz nicht erkennt oder sie ihm gerade nicht präsent sind oder aus Vergesslichkeit oder (wenn es irgendwie „heikle Informationen“ sind) aus Scham. Und schließlich muss auch bedacht werden, dass das Subjekt typischerweise diejenige Person ist, die die Interaktion mit der Autorität initiiert, sie aufsucht und um Hilfe bittet. Und es ist entsprechend die Person, die die ursprüngliche Problemdefinition vornimmt und formuliert, worum es geht. Bevor also die Autorität überhaupt Fragen stellen kann, hat das Subjekt bereits eine Vorgabe geleistet, durch die die Interaktion in bestimmte Bahnen gelenkt wird und durch die ein gewisser Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen sie sich bewegen wird. Wie das Subjekt die Autorität missverstehen kann, kann die Autorität auch das Subjekt missverstehen, und in beiden Fällen liegt ein Teil der Verantwortung dieser kommunikativen Fehlleistungen beim Subjekt.

Der Präemptionismus verlangt, dass das Subjekt das Urteil der Autorität unkritisch übernehmen und seine eigenen Gründe aufgeben soll. Aber das Urteil der Autorität ist bei den interaktiven Situationstypen, in gewisser Weise, das Resultat eines Gemeinschaftsunternehmens von Autorität und Subjekt, oder zumindest ein Resultat, an dessen Zustandekommen das Subjekt nicht unwesentlich beteiligt war. Gerade weil das Subjekt dabei so viel falsch machen kann, sollte es das Urteil nicht einfach unkritisch übernehmen. Und auch die Autorität kann sich suboptimal verhalten – man bedenke auch, dass wenn wir uns an Ärzte, Steuerberater oder Anwälte wenden, wir es nicht mit idealen epistemischen Subjekten zu tun haben, sondern mit fehlbaren Akteuren, deren Aufmerksamkeit schwankt und die nur begrenzte Ressourcen haben, sich mit unserem Problem zu befassen. Das Subjekt sollte sich vor diesem Hintergrund Fragen stellen wie: Wie ist die Autorität zu ihrer Einschätzung meines Falles gekommen? Welche Informationen habe ich ihr dazu als Input gegeben und – wichtiger noch – welche womöglich relevanten Informationen könnten ihr noch fehlen? Was könnte ich vergessen haben zu sagen? Derartige Fragen kann das Subjekt aber nicht adäquat reflektieren, wenn es seine Gründe präemptiert.

2.4 Präemption und „pragmatic encroachment“

Abschließend sei nun noch ein anti-präemptionistisches Argument skizziert, das speziell in Situationen anwendbar ist, in denen das Subjekt nicht Interaktionspartner der Autorität, sondern passiver Empfänger von Informationen ist, deren Quelle sie ist. Hintergrund des Arguments sind Überlegungen, die in Epistemologie und Wissenschaftstheorie unter Stichwörtern wie „pragmatic encroachment“ und „induktives Risiko“ diskutiert worden sind. Dabei geht es darum, dass epistemische Aktivitäten in pragmatische Kontexte eingebunden sind und dementsprechend nicht nur von evidentiellen Aspekten abhängig sind, sondern auch von nicht-epistemischen Interessen und evaluativen Gesichtspunkten (vgl. etwa Weatherson (2005) und John (2011) für den Bereich des Glaubens oder Akzeptierens von Propositionen, Stanley (2005) für Wissenszuschreibungen und Douglas (2000) für das Annehmen wissenschaftlicher Hypothesen). Die Grundidee ist, dass die Frage, ob man etwa jemandem Wissen zuschreiben oder eine wissenschaftliche Hypothese annehmen sollte, einerseits von den verfügbaren Evidenzen abhängt, andererseits aber unausweichlich auch von nicht im engeren Sinn evidentiellen Erwägungen, die etwas damit zu tun haben, wie „wichtig“ die Sache ist, um die es geht, und wie schwerwiegend verschiedene Arten möglicher Fehlleistungen wären: Wie schwerwiegend wären die Konsequenzen, wenn man die Hypothese H ablehnen würde, obwohl sie wahr ist? Wie schwerwiegend wären sie demgegenüber, wenn man H akzeptieren würde, obwohl H falsch ist?

Nun kann für unterschiedliche Akteure unterschiedlich viel auf dem Spiel stehen. Betrachten wir beispielsweise das Akzeptieren oder Glauben von Propositionen. Die insgesamt für p verfügbaren Evidenzen können mehr oder weniger stark für p sprechen (wobei die Gesamtmenge der verfügbaren Evidenzen sowie das Verhältnis von Pro- und Kontra-Evidenzen relevante Faktoren darstellen). Ab wann ist ein epistemischer Akteur nun gerechtfertigt, p zu akzeptieren oder zu glauben? Wie sehr müssen die Gesamtevidenzen für p sprechen? Die Antwort darauf lautet: Das hängt von den Interessen des Akteurs ab. Wenn es sehr schwerwiegende Konsequenzen für Akteur A haben würde, p zu akzeptieren oder zu glauben, obwohl p falsch ist, wohingegen es weniger „schlimm“ wäre, wenn er p ablehnt, obwohl p wahr ist, dann sollte A die Proposition erst akzeptieren oder glauben, wenn die Gesamtevidenzen sehr stark für p sprechen. Das Level L der evidentiellen Stützung sollte sehr hoch sein. Nun könnte es aber einen anderen Akteur A* mit anderen Interessen geben, so dass sich sozusagen ein inverses epistemisches Risikoprofil ergibt: Für A* wäre es besonders schwerwiegend, p abzulehnen, obwohl p wahr ist, wohingegen es weniger schlimm wäre, p zu akzeptieren oder zu glauben, wenn p falsch ist, dann ist das Level der evidentiellen Stützung, ab dem A* p rationalerweise glauben oder akzeptieren sollte, entsprechend niedriger (LA* < LA).

Angenommen nun, Akteur A* sei eine epistemische Autorität und Akteur A ein deferierendes Subjekt. Wenn das Subjekt in so einem Fall von der Autorität die Information vermittelt bekommt, dass p, besteht die Gefahr, dass die Autorität sich zwar auf p festzulegen bereit ist, wenn sie ihr niedriges Level LA* anlegt, aber nicht mehr, wenn sie das höhere Level LA anlegen würde. Wenn eine persönliche Interaktion zwischen dem Subjekt und der Autorität möglich ist, könnte das Subjekt nun im Prinzip die Autorität bitten, die Bewertung der evidentiellen Situation unter Anlegung des für es relevanten höheren Standards LA zu wiederholen.Footnote 23 In Situationen aber, in denen keine Interaktion möglich ist, kann das Subjekt die Autorität nicht um eine solche Reevaluation ersuchen. Die Meinung der Autorität einfach trotzdem zu übernehmen, scheint aber angesichts der Möglichkeit, dass LA* und LA differieren, epistemisch unverantwortlich oder wenigstens riskant zu sein. Gänzlich aussichtslos ist die Situation aber für das Subjekt nicht. Was es z. B. tun könnte, ist zu eruieren, ob LA* und LA vielleicht hinreichend ähnlich sind, so dass das epistemische Risiko in Kauf genommen werden kann. Dazu könnte es die nicht-epistemischen Interessen der Autorität heranziehen (das ist, wie wir gesehen haben, immerhin etwas, was es zur Lösung des Identifikationsproblems ohnehin tun sollte). Wenn die Autorität ähnliche Interessen hat wie das Subjekt, dann liegt die Vermutung nahe, dass ihr epistemisches Risikoprofil hinsichtlich der fraglichen Proposition ähnlich ist und folglich auch die beiden Levels LA* und LA. Wenn aber Grund zu der Annahme besteht, dass LA* und LA signifikant voneinander abweichen, ist die Situation schwieriger. Grundsätzlich wird man wohl sagen können, dass in Fällen, in denen LA* < LA, das Subjekt umso zurückhaltender sein sollte, die Meinung der Autorität, dass p, einfach zu übernehmen, je größer die Differenz zwischen den Levels ist.

Hier ist ein konkretes Beispiel für eine solche Situation. Ob eine bestimmte Impfung empfehlenswert ist, bestimmt sich einerseits daraus, wie viel Schutz sie der geimpften Person bietet und mit welcher Wahrscheinlichkeit sie zu Nebenwirkungen führen wird. In der medizinischen Praxis (etwa bei der Erstellung von Leitlinien) spielen aber darüber hinaus regelmäßig noch andere Erwägungen eine Rolle. Impfungen sollen die geimpften Personen nicht nur vor Krankheiten schützen und möglichst wenige Nebenwirkungen haben, sondern sie sollen auch möglichst kostengünstig sein, einen guten „Herdenschutz“ etablieren (um z. B. auch Personen zu schützen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können) und dazu beitragen, bestimmte Krankheiten auszurotten.Footnote 24 Nun kann die Gewichtung und Abwägung dieser unterschiedlichen Interessen verschieden ausfallen. Staatliche Behörden erachten epidemiologische Aspekte womöglich für wichtiger als (manche) Eltern, die überlegen, ob ihre Kinder geimpft werden sollen. Je nachdem kann sich ein unterschiedliches epistemisches Risikoprofil ergeben: Staatlicherseits ist man vielleicht eher bereit, Evidenzen für die Nebenwirkungsfreiheit als hinreichend zu erachten als Eltern, die in erster Linie oder gar ausschließlich die Sicherheit ihrer eigenen Kinder als relevant empfinden. Angesichts der nicht-epistemischen Interessen der medizinischen Autoritäten, die bestimmte Impfungen empfehlen, scheint eine gewisse Skepsis diesen Empfehlungen gegenüber durchaus rational zu sein. Ich möchte hier wohlgemerkt nicht das Verhalten solcher Eltern tout court verteidigen. Im weitesten Sinn epidemiologische Gesichtspunkte als komplett irrelevant zu betrachten und zu keinerlei persönlichem Beitrag für die Etablierung von so etwas wie einem „Herdenschutz“ bereit zu sein, lässt sich möglicherweise als eine Form von Trittbrettfahrerei interpretieren, die in moralischer Hinsicht problematisch sein mag (vgl. dazu auch John 2011). Mein Punkt ist vielmehr der, dass wenn ein bestimmtes Profil nicht-epistemischer Interessen gegeben ist, sich unter Umständen ein bestimmtes epistemisches Risikoprofil ergibt, das von demjenigen einer epistemischen Autorität abweichen kann, was zur Folge hat, dass es auf eine gewisse Form von Irrationalität hinauslaufen würde, eine Überzeugung der Autorität einfach unkritisch zu übernehmen.

2.5 Nicht-Präemptionistische Deferenz

Ich habe in Abschnitt 8.2 bislang überwiegend negativ argumentiert: Indem ich mich kritisch gegen den Präemptionismus in seinen verschiedenen Spielarten gewandt habe, habe ich dargelegt, wie ein Subjekt nicht gegenüber Autoritäten deferieren sollte. Aber wie sollte es sich verhalten? Auch wenn ich zunächst nur negativ argumentiert habe, sind dabei aber durchaus eine Reihe von positiven Aspekten angesprochen worden, die wir im Folgenden noch einmal deutlich machen und festhalten sollten.

Die Schlussfolgerung dieses Abschnitts lautet bei aller Skepsis dem Präemptionismus gegenüber natürlich nicht, dass ein Subjekt der Tatsache, dass eine epistemische Autorität eine bestimmte doxastische Einstellung bezüglich einer relevanten Proposition hat, grundsätzlich nicht großes Gewicht beimessen sollte. Die Bereitschaft, überraschende oder auch befremdlich erscheinende Überzeugungen zu übernehmen, ist ein essentielles Merkmal der Auseinandersetzung mit epistemischen Autoritäten; ebenso wie die Einsicht, dass man als epistemisch inferiore Person nicht leichtfertig seine Gründe über die epistemisch superiorer Personen stellen sollte. Das müssen aber Vertreter eines Anti-Präemptionismus auch keineswegs bestreiten. Die Position des Anti-Präemptionisten besteht vielmehr darin zu bestreiten, dass es Situationen gibt, in denen das Subjekt seinen eigenen Gründen keinerlei Gewicht beimessen sollte.

Generell möchte ich gegenüber dem Präemptionismus geltend machen, dass Subjekte zwar als deferierende, aber gleichwohl aktive und kritische epistemische Subjekte begriffen werden sollten. Wir hatten gesehen, dass Subjekte in manchen Situationen Interaktionspartner von Autoritäten sein können, in anderen nicht. Weder in dem einen noch in dem anderen Situationstyp sollten sie die Überzeugung der Autorität einfach unkritisch übernehmen. Sie sollten vielmehr mithilfe ihrer Kontrollgründe und ihrer negativen Gründe Tests auf Minimalplausibilität durchführen und die Überzeugung der Autorität, falls sie die Tests nicht besteht, zurückweisen.Footnote 25 Ferner müssen sie die Relevanz ihrer eigenen Gründe gegenüber der Tatsache, dass die Autorität die fragliche Proposition glaubt, gewichten und abwägen. Wenn sie Interaktionspartner der Autorität sind, sollten sie sich bemühen, möglichst akkurat diejenigen Informationen bereitzustellen, die die Autorität braucht, um ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen zu können. Schließlich müssen sie aus mehreren Gründen die Interessen der Autorität evaluieren: zum einen, um eine Einschätzung des epistemischen Risikoprofils der Autorität vornehmen zu können, zum anderen, um die beiden Teile des Identifikationsproblems zu lösen.

Überhaupt muss bedacht werden, dass der Umgang mit dem Identifikationsproblem sich in der Praxis nicht sauber vom Umgang mit dem Deferenzproblem abkoppeln lässt. Man kommt nicht umhin zuzugestehen, dass Subjekte die richtigen Autoritäten und ihre Überzeugungen als solche identifizieren müssen. Diese Identifikationsversuche sind aber prinzipiell fehleranfällig. Die Informationen, die das Subjekt über die (vermeintliche) Autorität besitzt, können sich ständig wandeln und eine Neubewertung der Frage, ob bzw. inwiefern es sich um eine Autorität handelt, erforderlich machen. Ebenso können sich die Evidenzen, die das Subjekt zu den fraglichen Propositionen besitzt, ständig verändern. Das Überzeugungsnetz des Subjekts ist ein dynamisches System, innerhalb dessen jeder Teil für jeden anderen Teil relevant werden kann. Der Präemptionismus trägt dieser Dynamik nicht adäquat Rechnung. Angenommen, die Autorität propagiert p, während ich als deferierendes Subjekt eigene Evidenzen besitze, die gegen p sprechen. Gleichwohl kann es rational für mich sein, mich der Autorität anzuschließen und ebenfalls p zu glauben. Diesbezüglich herrscht Einigkeit zwischen Präemptionisten und Anti-Präemptionisten. Die Uneinigkeit besteht darin, ob ich – wie der Präemptionismus verlangt – meine gegen p sprechenden Gründe suspendieren soll. Nun kann es sein, dass meine gegen p sprechenden Evidenzen nach und nach um weitere Kontra-Gründe verstärkt werden. Irgendwann könnte eine Schwelle erreicht sein, bei dem ich vernünftigerweise aufhöre, gegenüber der Autorität zu deferieren (in diesem Moment wird aus dem Konversionsfall ein persistierender Dissens). Es scheint aber ein sehr merkwürdiges Bild zu sein, zunächst die eigenen Gründe zu suspendieren, um sie dann plötzlich – wenn der Schwellenwert erreicht ist – in vollem Umfang zu gewichten. Wenn ich starke Gegenevidenzen besitze, deren Stärke knapp unterhalb der Schwelle liegt, ab der ich nicht mehr gegenüber der Autorität deferieren würde, dann würde der Präemptionismus verlangen, dass ich diese Gründe trotzdem suspendiere und mich allein auf das Autoritätsurteil stütze. Das ist sehr kontraintuitiv, denn wenn die Gründe so stark sind, dass sie das Autoritätsurteil bei geringfügiger Verstärkung überwiegen würden, dann sollten sie doch auch knapp unterhalb der Schwelle eine Relevanz für meine Erwägungen für oder wider p und die Ausbildung meiner entsprechenden doxastischen Einstellung besitzen. Und wenn man in der Vorstellung die Gegenevidenzen weiter abschwächt, dann sinkt ihre Relevanz im Vergleich mit dem Autoritätsurteil weiter, doch es lässt sich kein Punkt angeben, an dem man sagen könnte, dass ihre Relevanz plötzlich komplett nichtig wäre. Abgesehen davon wäre auch unklar, wie es bei diesem Bild überhaupt zur Akkumulation von Gegenevidenzen komme sollte. Denn ich soll dem Präemptionismus zufolge meine eigenen Gründe ja suspendieren und mich komplett auf das Autoritätsurteil stützen. Akkumulation von Gegengründen setzt aber voraus, diesen ein gewisses Maß an epistemischer Aufmerksamkeit beizumessen.Footnote 26

Ein Zusammenhang zwischen der Identifikationsproblematik und der Deferenzproblematik besteht auch insofern, als dass das Maß an „gefühlter Absurdität“, das ein Subjekt rationalerweise in Kauf nehmen sollte, abhängig ist vom Maß bzw. vom Status der Autorität, die die vermeintlich absurde Auffassung propagiert. Kuhn (1996, 149) berichtet, dass die Relativitätstheorie in ihrer Frühzeit sehr skeptisch von physikalischen Laien aufgenommen wurde. Das scheint mir kein vorwerfbares epistemisches Verhalten zu sein. Die von der Relativitätstheorie gemachten Behauptungen (Raum und Zeit sind relativ, dehnbar usw.) kollidieren mit grundlegenden Alltagsüberzeugungen, ebenso wie mit zentralen Annahmen, die jahrhundertelang das physikalische Weltbild bestimmt hatten. Rationale Laien unterziehen solche Behauptungen Tests auf minimale Plausibilität, wobei sie den Status der Autorität mitberücksichtigen. Angesichts der Tatsache, dass zunächst auch viele Fachleute skeptisch waren und sich die wissenschaftliche Revolution eher über einen Generationswechsel als über eine schlagartige kollektive Einsicht in die Überlegenheit der Relativitätstheorie vollzogen hat, scheint es für einen Laien nicht unvernünftig gewesen zu sein, ebenfalls skeptisch zu sein. Mittlerweile hat sich freilich ein Konsens in der Gemeinschaft der Physiker eingestellt, dass die Relativitätstheorie korrekt ist. Dieser Konsens wiegt schwer; er besitzt eine epistemische Autorität, die die individuelle Autorität jedes Einzelexperten bei weitem übersteigt (das verweist auf Überlegungen, die wir im dritten Teil dieser Untersuchung anstellen wollen). Das epistemische Gewicht dieses Konsenses wiegt so schwer, dass die Absurditätsgefühle der Laien mittlerweile nicht mehr ausreichen, um eine Weigerung, die Relativitätstheorie als korrekt zu akzeptieren, rational begründen zu können.Footnote 27