Ich beginne meine Diskussion der Kernprobleme, die eine Theorie epistemischer Autorität zu bewältigen hat, mit der Frage, welchen begrifflichen Inhalt der Ausdruck „epistemische Autorität“ eigentlich genau hat und wie er von anderen Ausdrücken wie „Experte“ oder „Expertise“ abzugrenzen ist. Zunächst müssen jedoch einige methodologische Präliminarien geklärt werden.

1 Methodologische Vorbemerkungen

Wer über das Definitionsproblem nachdenkt, ist zunächst mit einer gewissen methodologischen Schwierigkeit konfrontiert. Denn welche Methode soll man zur Analyse des Begriffs „epistemische Autorität“ anwenden? Nach welchen Kriterien soll man entscheiden, ob ein bestimmter Analysevorschlag adäquat ist oder nicht? Die in der Philosophie übliche Standardmethode zur Analyse von Begriffen beruht bekanntlich auf der Konstruktion kontrafaktischer Szenarien und der Prüfung unserer Sprachintuitionen: Sind wir geneigt, den zu analysierenden Begriff in dem fraglichen Szenario anzuwenden oder nicht? Diese etwa von der Diskussion über den Wissensbegriff her vertraute und umfangreich erprobte Methode dürfte allerdings nur bedingt für die Analyse des Begriffs „epistemische Autorität“ einsetzbar sein. Denn ihre Anwendbarkeit setzt das Vorhandensein hinreichend klarer und belastbarer Sprachintuitionen voraus, und bei einem (wenn überhaupt) nur in geringem Maß in der Alltagssprache verankerten Begriff wie „epistemische Autorität“ ist es fraglich, ob diese Voraussetzung erfüllt ist. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für den Begriff des Experten, der zwar häufiger in der Alltagssprache verwendet wird, allerdings weniger tief in ihr verankert sein dürfte als etwa der des Wissens (beispielsweise wird der Begriff des Experten sicherlich wesentlich später zu einem Teil des Wortschatzes von Kindern als der Wissensbegriff).Footnote 1 Das heißt nicht, dass die Berufung auf sprachliche Intuitionen keinerlei Rolle bei der Analyse der Begriffe „epistemische Autorität“ oder „Experte“ spielen darf; allerdings heißt es meines Erachtens, dass sie nicht die prominente und alleinige Rolle spielen sollte, die sie bei anderen philosophischen Analyseprojekten spielt, sondern in einer Art reflexivem Gleichgewicht mit anderen Methoden bzw. Kriterien gehalten werden sollte.

Welche sonstigen Methoden bzw. Kriterien sind das? Eine davon besteht in der Orientierung an unserer tatsächlichen epistemischen Praxis. Vielleicht weisen – so könnte man vermuten – Begriffe wie die des Experten oder der epistemischen Autorität ja zumindest eine gewisse Verwandtschaft mit Ausdrücken für natürliche Arten auf. Wenn wir wissen wollen, was Wasser ist oder Gold, dann hilft es nicht weiter, unsere Sprachintuitionen hinsichtlich dieser Begriffe zu befragen. Vielmehr ist es so, dass diese Ausdrücke auf in der Natur existierende saliente Phänomene und Strukturen Bezug nehmen, für deren Erforschung naturwissenschaftliche Methoden erforderlich sind. Man muss Physik und Chemie betreiben, um herauszufinden, was Wasser oder Gold ist, nicht Sprachanalyse, denn es kann sehr wohl passieren, dass unsere Sprachintuitionen fehlgeleitet sind und gewissermaßen nicht zur physikalischen und chemischen Wirklichkeit passen. In ähnlicher Weise könnte es in unserer sozialen epistemischen Praxis saliente Phänomene und Strukturen geben, die die Sozialepistemologie bei ihren begrifflichen Bestimmungen berücksichtigen sollte. Vielleicht sind Begriffe wie „Experte“ oder „epistemische Autorität“ keine direkt referierenden natural kind terms. Aber vielleicht stellt die Passung unserer Definitionen zu den in der epistemischen Praxis anzutreffenden Realitäten zumindest eine gewisse Adäquatheitsbedingung für die Formulierung dieser Definitionen dar. Ich denke, dass sich in diesem Sinne Goldmans Forderung verstehen lässt, dass die Definition des Expertenbegriffs ihren Ausgangspunkt bei funktionalistischen Erwägungen nehmen sollte: Die Definition sollte Expertise dadurch kennzeichnen, was Experten aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse oder Fähigkeiten für Laien tun können („by reference to what experts can do for laypersons by means of their special knowledge or skill“, Goldman 2018, 3; vgl. für eine verwandte Forderung nach einer funktionalistisch orientierten Vorgehensweise auch Quast 2018).Footnote 2

Neben einer Orientierung an Sprachintuitionen und einer im weitesten Sinn externalistischen Perspektive gibt es noch weitere Möglichkeiten, sich dem Definitionsproblem zu nähern – oder besser: weitere Aspekte, die auch als legitime Adäquatheitskriterien mitberücksichtigt werden können und sollten. Dazu zählen klassische epistemische Werte wie externe Konsistenz und ein gewisser theoretischer Konservativismus, d. h. die Definition sollte nicht völlig losgelöst von bisherigen philosophischen Diskussionen sein, sondern vielmehr möglichst anschlussfähig an diese. Wenn ein Definitionsvorschlag der Ausdrücke „Experte“ oder „epistemische Autorität“ völlig anders aussähe als andere Vorschläge, dann wäre das wohl eher ein Indiz dafür, dass der Vorschlag auf ein ganz anderes Phänomen abzielt. Ferner kann auch theoretische Fruchtbarkeit ein legitimes Adäquatheitskriterium sein. Wenn man einen neuen Punkt in der epistemologischen Debatte machen möchte, dann ist es bis zu einem gewissen Grade legitim, solche Definitionen zu verwenden, die zur Erreichung dieses Ziels besonders geeignet sind (dass es dabei zu gewissen Spannungen zwischen dem Fruchtbarkeits- und dem Konservativismuskriterium kommen kann, dürfte unvermeidlich sein). Da es mir beispielsweise in dieser Untersuchung primär um die bislang kaum diskutierten pluralen epistemischen Autoritäten geht, werde ich eine Analyse des Begriffs „epistemische Autorität“ vornehmen, die auch dieses Ziel im Blick hat (konkret: ich werde bei der Definition nicht auf den Begriff der „Überzeugung“ zurückgreifen, da nicht zwingend davon ausgegangen werden kann, dass eine Pluralität als solche eine Überzeugung besitzt, obwohl sie in unserer epistemischen Praxis eine ähnliche Rolle spielen kann wie klassische individuelle epistemische Autoritäten). Wie ich meine, kann diese Vorgehensweise zudem für sich geltend machen, ein hohes Maß an Passung zu den Phänomenen unserer sozialen epistemischen Praxis im Sinne des vorhin diskutierten externalistisch-funktionalistischen Kriteriums aufzuweisen. Denn wie ich hoffe deutlich machen zu können, ist eine Orientierung an epistemischen Gemeinschaften, ein Sich-Stützen auf plurale epistemische Autoritäten tatsächlich ein bedeutsamer und salienter Zug unserer epistemischen Praxis.

Ich denke, dass die soweit diskutierten Aspekte allesamt Kriterien darstellen, die bei der Definition von Begriffen wie „Experte“ und „epistemische Autorität“ berücksichtigt werden können und sollten. Einen objektiv richtigen Maßstab der Gewichtung der einzelnen Kriterien dürfte es freilich kaum geben (ähnlich wie es bei der wissenschaftlichen Theoriewahl kein objektiv richtiges Maß zur Gewichtung verschiedener theoretischer Werte gibt (vgl. Kuhn 1977)). Das mag einer der Gründe sein für die Heterogenität existierender Definitionsvorschläge, die einfach daraus resultiert, dass manche Autoren die Übereinstimmung mit gewissen Sprachintuitionen für wichtiger erachtet haben als die externalistische Passung zu bestimmten Phänomenen der epistemischen Praxis oder theoretische Werte wie Konservativismus oder Fruchtbarkeit, während andere Autoren umgekehrte Gewichtungen vorgenommen haben.

Ich möchte diese Überlegungen nicht als Plädoyer für ein definitorisches Anything Goes verstanden wissen, durch das kein Definitionsvorschlag mehr kritisierbar wäre (vielmehr möchte ich deutlich machen, dass die begrifflichen Bestimmungen in den folgenden Abschnitten unweigerlich ein Stück weit den Charakter von Explikationen im Sinne Carnaps haben (vgl. in diesem Sinne auch Quast 2018)). Definitionen des Begriffs „epistemische Autorität“, die es meines Erachtens beispielsweise durchaus verdienen, kritisiert zu werden, sind gewisse normative Definitionen, die den Begriff über das Verhalten zu bestimmen versuchen, das einer epistemischen Autorität gegenüber vermeintlich rational und geboten ist. Beispielsweise heißt es bei Zagzebski (2012, 102): „What is essential to authority is that it is a normative power that generates reasons for others to do or to believe something preemptively“. Das bedeutet, dass wenn EA eine epistemische Autorität für mich ist, es per Definition für mich geboten ist, die Überzeugungen von EA als präemptive Gründe zu verwenden. Was das im Einzelnen heißt, werde ich in Abschnitt 8.2 genauer diskutieren. An dieser Stelle relevant ist lediglich der Umstand, dass Zagzebskis These, dass es manchmal geboten ist, etwas auf präemptive Weise zu glauben, sehr umstritten und, wie ich später zeigen möchte, letztlich falsch ist. Wenn die Präemptionsthese aber bereits in die Definition des Begriffs „epistemische Autorität“ eingebaut ist, würde daraus folgen, dass es dann gar keine epistemische Autoritäten gibt (denn wenn es niemanden gibt, dem gegenüber man präemptiv deferieren sollte, das Gebot zum präemptiven Deferieren aber in die Definition von „epistemische Autorität“ eingebaut ist, würde folgen, dass es dann gar keine epistemischen Autoritäten gibt). Das wiederum möchten die wenigsten behaupten (ich möchte es jedenfalls nicht). Definitionen erfüllen nicht zuletzt auch den Zweck, eine gemeinsame begriffliche Grundlage über opponierende theoretische Lager hinweg zu liefern. Sie sollten sicherstellen, dass sich die Kontrahenten zumindest einig darüber sind, worüber sie streiten. Auch dies ist ein (eng mit dem Konservativismuskriterium zusammenhängender) epistemischer Wert, der berücksichtigt werden sollte. Nun stellt die Präemptionsthese aber gerade einen der zentralen Gegenstände der gegenwärtigen Debatte über epistemische Autorität dar, was es äußerst ungünstig erscheinen lässt, die Definition des Begriffs an diese These zu koppeln (was Zagzebski, die die Debatte ja erst angestoßen hat, freilich nur bedingt vorgeworfen werden kann).Footnote 3

2 Epistemische und praktische Autorität

Der im vorigen Abschnitt diskutierten methodologischen Schwierigkeiten eingedenk wollen wir uns nunmehr an eine Klärung des Begriffs „epistemische Autorität“ heranwagen. In erster Annäherung wird man sagen können, dass eine Autorität allgemein jemand ist, der durch ein gewisses Superioritätsverhältnis gegenüber jemand anderem gekennzeichnet ist. In der Konsequenz ist es typischerweise für die zweite Person rational, sich in ihrem Verhalten nach der Autorität zu richten. Im praktischen Bereich, aus dem der Autoritätsbegriff eher vertraut sein dürfte, handelt es sich dabei um eine Superiorität im Hinblick auf Macht oder Herrschaft im weitesten Sinn. Beispielsweise ist ein Polizist von Gesetzes wegen mit legaler Herrschaft ausgestattet, aufgrund derer es typischerweise rational ist, seinen Anweisungen Folge zu leisten. Bei Nichtbefolgung riskiert das unterworfene Subjekt Bestrafung bzw. Sanktionen. In Analogie dazu zeichnet sich eine epistemische Autorität durch eine Superiorität in epistemischer Hinsicht aus (ich komme gleich darauf zurück, was das genau bedeutet). Und es ist speziell das epistemische Verhalten, das man an der Autorität ausrichten sollte. Man sollte gegenüber der Autorität „epistemisch deferieren“, was in typischen Fällen etwa bedeuten kann, bestimmte Überzeugungen von der Autorität zu übernehmen (d. h. man glaubt bestimmte Propositionen, sofern und weil die Autorität diese Propositionen glaubt; welche genauen Formen epistemische Deferenz annehmen kann bzw. sollte, untersuche ich in Kapitel 8 ausführlicher). Bei Unterlassen riskiert das Subjekt freilich keine Bestrafung im engeren Sinn; was es riskiert, ist vielmehr den Besitz falscher Überzeugungen, den Nicht-Besitz wahrer Überzeugungen oder andere „epistemische Defizite“.Footnote 4

Das Verhältnis von praktischer und epistemischer Autorität ist aber noch komplexer als in dieser ersten Charakterisierung. Ein verkomplizierender Umstand ist etwa, dass es nicht selten vorkommt, dass wir uns auch in unserem nicht-epistemischen Verhalten nach epistemischen Autoritäten richten. Die eigenen Kinder zu impfen bzw. impfen zu lassen ist beispielsweise ein nicht-epistemisches Verhalten. Aber wenn man den Entschluss dazu fasst aufgrund der Empfehlung oder des Beispiels der Kinderärztin, dann gibt deren epistemische Autorität in diesem Fall den Ausschlag. Diese Situation lässt sich unschwer analysieren: Erfolgreiches Handeln setzt Wissen voraus. Wenn man seine Kinder optimal vor Krankheiten schützen will, dann braucht man Wissen hinsichtlich der besten Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Das nicht-epistemische bzw. praktische Deferieren gegenüber epistemischen Autoritäten ist in diesem Sinne eine Art indirekter Konsequenz des epistemischen Deferierens: Man lässt den Kindern die Impfung X verabreichen, weil man sie bestmöglich vor Krankheiten schützen möchte und glaubt, dass die Verabreichung von X ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist; diese instrumentelle Überzeugung übernimmt man wiederum von der Kinderärztin, die man für eine epistemische Autorität im Hinblick auf Impfungen hält.

Ein weiterer Aspekt, der das Verhältnis zwischen praktischer und epistemischer Autorität verkompliziert, ist, dass Menschen sich in ihrem epistemischen Verhalten manchmal durchaus auch nach praktischen Autoritäten richten. Beispielsweise kann es vorkommen, dass praktische Autoritäten Strafe androhen, wenn die ihnen unterworfenen Subjekte nicht bestimmte epistemische Verhaltensweisen zeigen – man denke etwa an die „Gedankenverbrechen“ in Orwells totalitärem Staat oder an religiöse Führer, die jene mit Strafe bedrohen, die vermeintlich falsche religiöse Überzeugungen haben. Nun ist das Ausmaß, in dem die Überzeugungen der eigenen willentlichen Kontrolle unterliegen, bekanntlich eher gering. Wie – könnte man fragen – sollte eine Beeinflussung des epistemischen Verhaltens durch nicht-epistemische Autoritäten also überhaupt möglich sein? Die Bürger in Orwells Staat oder die von den religiösen Führern bedrohten Subjekte werden womöglich aus Angst vor Strafe oder aus anderen nicht-epistemischen Gründen so tun, als ob sie die gewünschten Überzeugungen hätten, aber sie werden es kaum fertig bringen, diese Überzeugungen tatsächlich in sich hervorzurufen, sofern sie sie nicht bereits aus genuin epistemischen Gründen besitzen. Die Subjekte haben also entweder die fraglichen Überzeugungen nicht, und dann kann auch eine nicht-epistemische Autorität sie nicht dazu bringen, sie zu glauben; oder sie haben sie bereits, aber aus genuin epistemischen Gründen (also weil sie sie aufgrund der ihnen verfügbaren Evidenzen glauben); in beiden Fällen – so schließt der Einwand – hat die praktische Autorität keinen wirklichen Einfluss auf die Überzeugungen. Ohne ausführlich auf die umfangreiche Debatte zum doxastischen Voluntarismus eingehen zu wollen, möchte ich in Reaktion auf diesen (nicht rundweg unangemessenen) Einwand zwei Bemerkungen machen. Zum einen gibt es durchaus indirekte Weisen, auf die Genese der eigenen Überzeugungen Einfluss zu nehmen. Auch wenn es stimmen mag, dass unsere Überzeugen sich weitgehend unwillkürlich angesichts der Evidenzen einstellen, mit denen wir konfrontiert sind, so können wir doch beispielsweise ein Stück weit kontrollieren, welchen Evidenzen wir uns aussetzen (vgl. Alston 1988). Und in dieser Hinsicht könnte es sehr wohl einen Einfluss praktischer Autoritäten geben. Zum anderen sollte bedacht werden, dass es neben dem Glauben vielleicht noch einige im weiteren Sinn epistemische Einstellungen bzw. Verhaltensweisen gibt, die durchaus auch direkt willentlich beeinflussbar sind. Hier wäre etwa an das epistemische Akzeptieren zu denken (Cohen 1992; Lehrer 2000). Auch wenn eine praktische Autorität ein Subjekt nicht direkt dazu bringen kann, Proposition p zu glauben, dann kann sie es vielleicht durchaus direkt dazu bringen, p zu akzeptieren. Aber auch in einem solchen Fall würde das Subjekt p wohl aus nicht-epistemischen Gründen akzeptieren (d. h. weil es Strafe vermeiden möchte usw.), nicht, weil es seine epistemischen Ziele (etwa das Streben nach wahren und das Vermeiden falscher Überzeugungen) erreichen möchte.

Soeben haben wir Fälle diskutiert, in denen sich ein Subjekt S1 in seinem epistemischen Verhalten aus nicht-epistemischen Gründen nach einem anderen Subjekt S2 richtet. Daneben gibt es aber auch noch Situationen, in denen S2 ebenso wenig eine epistemische Autorität ist, S1 dessen Überzeugungen aber aus epistemischen Gründen übernimmt. Ein Beispiel ist eine Situation, in der S2 fälschlicherweise von S1 für eine epistemische Autorität gehalten wird. S2 ist also S1 gegenüber gar nicht wirklich epistemisch überlegen, was S2 wiederum selbst bekannt oder unbekannt sein kann. Ein Beispiel für den ersten Fall ist ein Hochstapler, der sich mit bestimmten epistemischen Fähigkeiten und Kenntnissen schmücken will, wohl wissend, dass er sie nicht wirklich besitzt (im praktischen Bereich entspricht dieser Fall einer Person, die sich z. B. als Polizist verkleidet hat und der es gelingt, andere Personen durch ihren daraus resultierenden vermeintlichen Autoritätsstatus zu bestimmten Handlungsweisen zu bewegen). Ein Beispiel für den zweiten Fall ist eine Person, die eine objektiv falsche Theorie selbst für korrekt hält und auch andere davon zu überzeugen weiß.Footnote 5

Ein weiterer möglicher Grund, wieso ein Subjekt unter Umständen aus epistemischen Gründen Überzeugungen von einer praktischen Autorität übernimmt, besteht darin, dass die praktische Autorität zugleich eine epistemische Autorität ist. Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Schließlich werden die Posten in politischen, juristischen, militärischen usw. Hierarchien häufig an Individuen vergeben, die über gewisse epistemische Fähigkeiten verfügen. Von daher kann beispielsweise ein Offizier, der eine praktische (militärische) Autorität für einen einfachen Soldaten ist, zugleich auch eine epistemische Autorität für diesen sein, d. h. es kann für den Soldaten aus epistemischen Gründen rational sein, die Äußerung des Offiziers, dass p wahr ist, zu übernehmen. Aber es ist freilich genauso möglich, dass ein Offizier unqualifiziert ist, so dass er keine epistemische Autorität für den Soldaten darstellt; gleichwohl ist er eine praktische Autorität, dessen Anweisungen er Folge leisten muss.Footnote 6

Ich möchte noch auf zwei wichtige Struktureigenschaften hinweisen, die sowohl der praktische als auch der epistemische Autoritätsbegriff aufweisen: eine dem Begriff innewohnende Ambiguität und seine Relationalität. Die Ambiguität besteht darin, dass jemand Autorität besitzen und eine Autorität sein kann. Entsprechend kann sich auch der Begriff „epistemische Autorität“ zum einen auf eine Eigenschaft beziehen, zum anderen aber auch auf jene Person (oder sonstige Entität), der diese Eigenschaft zukommt. Beispielsweise lassen sich Äußerungen wie „Professor X ist eine epistemische Autorität“ ebenso natürlich tätigen wie die Äußerung „Aufgrund seiner epistemischen Autorität war Professor X bei seinem Vortrag in der Lage, das Publikum von der Richtigkeit seiner Theorie zu überzeugen“.

Wichtig ist ferner, dass es sich bei der Eigenschaft, eine epistemische Autorität zu sein, um eine relationale, keine intrinsische Eigenschaft handelt. Beispielsweise ist jemand eine epistemische Autorität immer nur relativ zu jemand anderem. Während etwa eine Mathematik-Grundschullehrerin eine epistemische Autorität für eine Schülerin sein mag, muss sie nicht zugleich eine epistemische Autorität für eine Kollegin sein, oder für die Professorin, bei der sie studiert hat.Footnote 7 Überdies kann der Autoritätsstatus verloren gehen: In dem Maße, in dem die Schülerin Wissen oder (andere) intellektuelle Fähigkeiten erwirbt, die ihr die Lehrerin zunächst voraus hatte, verliert letztere ihren Status als epistemische Autorität für sie. Genauso kann natürlich auch eine epistemische Autorität ihre intellektuellen Fähigkeiten verlieren, ihr Wissen vergessen usw., und dadurch ihren Status als Autorität einbüßen.

Die Relationalität des Begriffs „epistemische Autorität“ hat noch eine weitere Dimension: Es ist nicht nur so, dass jemand epistemische Autorität immer nur relativ zu anderen Akteuren besitzt, die Autorität ist auch immer bezogen auf bestimmte thematische Domänen.Footnote 8 Die Professorin mag für die Grundschullehrerin eine epistemische Autorität im Hinblick auf mathematische Zusammenhänge sein, aber im Hinblick auf zahllose andere Bereiche ist sie es nicht unbedingt. Und es mag auch durchaus eine Reihe von thematischen Domänen geben, bezüglich derer die Grundschullehrerin für die Professorin eine epistemische Autorität ist (vielleicht bezüglich der Didaktik der Grundrechenarten oder bezüglich der Geschichte der Schule, in der sie tätig ist). Wenn wir über epistemische Autorität reden, haben wir es also mit einer dreistelligen Relation zu tun: Eine Person (oder sonstige Entität) EA ist für ein anderes Subjekt S im Hinblick auf eine thematische Domäne D eine epistemische Autorität.Footnote 9

3 Epistemische Autoritäten, Experten und epistemische Superiorität

Manchmal werden die Begriffe „Experte“ und „epistemische Autorität“ einfach austauschbar verwendet (so etwa bei Goldman 1999, 268). Ein Stück weit ist eine solche Praxis durch die Alltagssprache gedeckt. Denn wenn etwas gesagt wird wie „Professor X ist eine Autorität auf dem Gebiet der Evolution“, dann kann damit gemeint sein, dass Professor X ein Experte, oder vielleicht auch ein besonders herausragender oder führender Experte für die Evolution ist. In der gegenwärtigen Debatte zu epistemischer Autorität ist es allerdings eher üblich, beide Begriffe zu unterscheiden (vgl. etwa Constantin/Grundmann 2020), und es gibt meines Erachtens gute Gründe, dieser Praxis zu folgen. Einer der Gründe ist, dass es in unserer epistemischen Praxis verschiedene Phänomene gibt, die wir analytisch unterscheiden sollten, und die Begriffe „Experte“ und „epistemische Autorität“ bieten sich jeweils als Bezeichnung für diese Phänomene an (dieser Punkt fällt in den Bereich der im methodologischen Abschnitt 6.1 als „externalistisch“ bezeichneten Erwägungen). Zudem folgt (wenn man einmal von der gerade erwähnten Redeweise absieht) der Autoritätsbegriff allgemein einer anderen „Logik“ als der Expertenbegriff. Freilich gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen beiden Begriffen: Wie der Autoritätsbegriff ist auch der Expertenbegriff domänenrelativ, d. h. jemand ist ein Experte immer relativ zu einer bestimmten Domäne D. Ferner bestimmt auch er sich über eine gewisse epistemische Superioritäts-Relation. Wie wir bereits gesehen hatten, ist für den Begriff einer epistemischen Autorität eine gewisse Relationalität charakteristisch: Wenn EA im Hinblick auf D eine epistemische Autorität für S ist, dann gibt es zwischen EA und S eine Art epistemisches Superioritätsverhältnis bezüglich D. Man könnte auch sagen, dass EA hinsichtlich D einen epistemischen Vorsprung gegenüber S hat oder sich, was D betrifft, in einer besseren epistemischen Position als S befindet. Während aber epistemische Autorität eine Superioritäts-Relation zwischen zwei konkreten Individuen bezeichnet, ist jemand ein Experte, wenn er eine bestimmte Rolle in einer Gemeinschaft spielt. Grob gesagt ist ein Experte jemand, dessen epistemische Position im Hinblick auf D besser ist als die der meisten anderen Mitglieder der relevanten Gemeinschaft.Footnote 10 Daraus folgt, dass jemand seinen Expertenstatus nicht einfach je nach Kommunikationspartner gewinnt oder verliert. Für den Autoritätsbegriff ist demgegenüber genau diese Volatilität kennzeichnend: Die Mathematiklehrerin ist eine epistemische Autorität für Mathematik, wenn sie mit ihren Schülern kommuniziert, aber wenn sie mit ihrer Professorin interagiert, verliert sie diesen Status. Ein Experte ist jemand dagegen einfach dadurch, dass er relativ zu einer Domäne ein bestimmtes (typischerweise ziemlich hoch bemessenes) epistemisches Mindestniveau erreicht hat. Er verliert diesen Status nicht, auch wenn er auf jemanden treffen sollte, der ihm bezüglich D noch weiter überlegen ist. Es kann also sein, dass jemand eine epistemische Autorität bezüglich D für jemand anderen ist, ohne Experte für D sein zu müssen. Beispielsweise ist die Mathematiklehrerin eine epistemische Autorität im Hinblick auf Mathematik für ihre Schüler, ohne eine Mathematikexpertin sein zu müssen.Footnote 11 Umgekehrt kann es ein Gespräch zwischen zwei D-Experten geben (die sich auch wechselseitig als solche anerkennen), ohne dass der eine für den anderen eine epistemische Autorität sein müsste. Aber all dies schließt natürlich nicht aus, dass ein D-Experte einer anderen Person als epistemische Autorität für D gegenübertritt; das ist im Gegenteil sogar ein ganz typischer Fall. Um noch einmal auf unser in der Einleitung verwendetes Bild zurückzukommen: Ein Experte ließe sich vielleicht als jemand charakterisieren, der mindestens bis zu einer bestimmten Höhe auf den Riesen hochgeklettert ist (vielleicht bis zu den Schultern). Eine epistemische Autorität könnte dagegen vielleicht schon ein Zwerg sein, der dem Riesen bis zu dessen Knie geklettert ist; dieser Zwerg wäre eine epistemische Autorität für einen am Boden gebliebenen Zwerg, wohingegen er keine epistemische Autorität für einen auf den Schultern sitzenden Zwerg ist. In erster Annäherung ergeben sich somit die folgenden begrifflichen Bestimmungen:

(EXP)

E ist ein D-Experte genau dann, wenn E gegenüber den meisten anderen Personen im Hinblick auf D epistemisch superior ist.

(EA)

EA ist eine epistemische Autorität bezüglich D für S genau dann, wenn EA im Hinblick auf D gegenüber S epistemisch superior ist.

In Abbildung 6.1 wird das Verhältnis der beiden Begriffe nochmals graphisch veranschaulicht: D-Experten sind die Personen, deren Kenntnisse der Domäne das Niveau N übersteigen (hier also die Personen 3 und 4). Eine epistemische Autorität im Hinblick auf D dagegen ist eine Person relativ zu einer (oder mehreren) anderen, je nachdem, ob es ein Superioritätsverhältnis zwischen den Personen gibt: Person 2 ist eine epistemische Autorität für Person 1; Person 3 für 1 und 2; Person 4 für alle anderen. Ein Experte kann also eine epistemische Autorität für einen anderen Experten sein (Person 4 für Person 3) oder für einen Nicht-Experten (z. B. Person 4 für Person 2). Und ein Nicht-Experte kann eine epistemische Autorität für einen anderen Nicht-Experten sein (Person 2 für Person 1). Der einzige Fall, der nicht auftreten kann, ist, dass ein Nicht-Experte eine epistemische Autorität für einen Experten ist.

Abbildung 6.1
figure 1

Relationen zwischen Experten, Laien, epistemischen Autoritäten und epistemisch inferioren Subjekten

Es ist noch eine Bemerkung zu den jeweiligen Gegenbegriffen zu „Experte“ und „epistemische Autorität“ angebracht. Diejenigen Personen, die keine Experten sind, werde ich meistens als „Laien“, manchmal auch als „Nicht-Experten“ bezeichnen. Darüber hinaus ist es möglich, die Gruppe der Laien noch einmal weiter zu unterteilen in diejenigen, die Ambitionen haben, in absehbarer Zeit selbst zum Experten zu werden, und entsprechende Anstrengungen unternehmen (etwa in Form einer Ausbildung oder eines Studiums); diese Laien könnte man als „Novizen“ bezeichnen.Footnote 12 Ein Laie, der dagegen keine derartigen Ambitionen hat, könnte als „Ignoramus“ bezeichnet werden.Footnote 13 Eine Person nun, die sich mit einer epistemischen Autorität konfrontiert sieht, werde ich als „Nicht-Autorität“ oder meistens einfach als „Subjekt“ bezeichnen (ein Stück weit auch auf die ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks als „Untergeordnetes“ oder „Unterworfenes“ anspielend); manchmal wird auch von einem „(epistemisch) inferioren“ im Gegensatz zu einem „(epistemisch) superioren“ Subjekt die Rede sein.

Bislang habe ich die Begriffe „Experte“ und „epistemische Autorität“ über den Begriff der „epistemischen Superiorität“ bestimmt, der seinerseits klärungsbedürftig ist. Um eine solche Klärung herbeizuführen, sollten wir uns zunächst vor Augen führen, dass für den Status eines Experten bzw. den einer epistemischen Autorität offenbar verschiedene kognitive Einstellungstypen bzw. Typen epistemischer Fähigkeiten oder epistemischer Güter relevant sein können. Häufig haben Erkenntnistheoretiker (nicht nur, aber auch, in den Debatten über Expertise und epistemische Autorität) zunächst und zumeist an propositional strukturierte Überzeugungen gedacht. Aber auch das Vorhandensein von Fähigkeiten oder praktischem Wissen könnte eine Rolle für den Status als Experte oder epistemische Autorität spielen (vgl. z. B. Stichter 2015 und Watson 2019). Beispielsweise besitzt eine typische praktizierende Chirurgin nicht nur propositional strukturierte Kenntnisse der menschlichen Anatomie usw., sondern auch praktische Fähigkeiten beim Umgang mit dem Skalpell etc. (Entsprechendes gilt für Klaviervirtuosen, Fahrlehrer, Piloten usw.). Vielleicht kann auch so etwas wie phänomenales Wissen (Wissen-wie-es-ist/-wie-es-sich-anfühlt) eine Rolle spielen. Ein Weinexperte zeichnet sich beispielsweise vielleicht nicht zuletzt auch dadurch aus, dass er mit dem Geschmack unterschiedlichster Weine vertraut ist. Ferner hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass Experten häufig in hohem Maße auch semantisch und justifikatorisch esoterisches Wissen besitzen. Es ist typischerweise nicht so, dass sie in ihrer Domäne einfach nur viel von dem besitzen würden, was Lackey (2018a, 240 f.) „isoliertes Wissen aus zweiter Hand“ („isolated second-hand knowledge“) nennt, also propositionale Kenntnisse, die leicht testimonial von einer Person auf die andere transferiert werden können. Vielmehr zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie sich in besonderem Maße in ihrer Domäne „auskennen“: Sie verstehen die relevanten Zusammenhänge und können Begründungen dafür angeben, warum die eine Proposition wahr, die andere falsch ist (der Verstehensbegriff wird etwa von Jäger (2016) und von Scholz (2018) in den Mittelpunkt gerückt, wobei es ersterem primär um eine Explikation des Begriffs „epistemische Autorität“ geht (Jäger bezeichnet eine Autorität, die über ein hohes Maß an Verstehen verfügt, als „sokratische Autorität“), letzterem um eine Explikation des Expertenbegriffs; ich komme darauf in Kapitel 9 ausführlicher zurück).

Häufig scheint es so zu sein, dass ein Experte oder eine epistemische Autorität eine Person ist, die von mehreren oder allen diesen Erkenntnisformen relativ viel besitzt: Sie kennt die Wahrheitswerte vieler Propositionen in D, versteht D, hat mit D zusammenhängendes praktisches und phänomenales Wissen. Man könnte entsprechend von epistemischen „Dimensionen“ sprechen und geltend machen, dass deren typisches „Mischungsverhältnis“ je nach Bereich verschieden ist: Ein Experte im Bereich der Philatelie zeichnet sich vielleicht eher durch den Besitz propositionaler Kenntnisse aus, während praktisches Wissen usw. im Verhältnis dazu weniger relevant (aber nicht irrelevant) für seinen Expertenstatus sein mag. Für jemanden, der im Klavierspielen Expertenstatus besitzt, könnte es sich genau umgekehrt darstellen. Goldman (2018, 3) hat wohl etwas Ähnliches im Sinn, wenn er schreibt: „Indeed, it is plausible that ‘expert’ is such a fluid term that different criteria for it are used in different contexts“. Damit zusammenhängend sei darauf hingewiesen, dass ein Experte häufig eine Person ist, die Laien unterschiedliche Formen von „Dienstleistungen“ anbietet. Ein Arzt kann als medizinischer Ratgeber in Erscheinung treten; als Therapeut, der Kranken Heilung verspricht; als Ausbilder, der Studierenden der Medizin seine Kenntnisse und Fähigkeiten weitergibt; oder auch als Forscher, der einen Beitrag zur medizinischen Wissenschaft liefert. Für alle diese Dienstleistungen sind verschiedene epistemische Dimensionen in unterschiedlichem Maße relevant. Während das Geben medizinischen Rates typischerweise etwa in der Weitergabe propositional strukturierter Kenntnisse besteht, setzt therapeutische Tätigkeit in erster Linie praktisches Wissen voraus. Doch auch wenn man diese Dienstleistungen separat betrachtet, haben wir es abermals wieder mit einer Mischung epistemischer Dimensionen zu tun, auf die der Experte zu ihrer Erbringung zurückgreifen muss. Auch zum Beispiel in der therapeutischen Praxis können propositional strukturierte medizinische Kenntnisse relevant sein (denn das Stellen einer Diagnose und auch die eigentliche Behandlung können ohne sie nicht möglich sein). Umgekehrt ist auch das Geben eines medizinischen Rates mehr als der bloße Transfer einer medizinischen Überzeugung.

Wie wir schon gesehen haben, erfordert dieser Transfer gerade bei justifikatorisch und semantisch esoterischen Aussagen auch Erklärungs- und Übersetzungsleistungen. Auch hierzu braucht der Experte praktisches Wissen bzw. Fähigkeiten, beispielsweise jene, die Croce (2018) „novizenorientierte Fähigkeiten“ („novice-oriented abilities“) nennt: „virtues that allow an expert or authority to properly address a layperson’s epistemic dependency on them (e.g. sensitivity to S’s needs, intellectual generosity, intellectual empathy, sensitivity to S’s epistemic resources... maieutic ability).“ (Croce 2018, 494) Croce grenzt diese von einer weiteren Klasse von Fähigkeiten ab, den „expertenorientierten Fähigkeiten“ („expert-oriented abilities“), womit er insbesondere Fähigkeiten meint, die Experten brauchen, um einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung liefern zu können: „virtues that allow an expert or authority to exploit their fund of knowledge to find and face new problems in their field of expertise (e.g. intellectual curiosity, intellectual creativity, open-mindedness, intellectual courage, firmness, autonomy, etc.).“ Croce spricht in Bezug auf diese letztere Klasse von „expertenorientierten Fähigkeiten“, weil er der Meinung ist, dass der Expertenbegriff eine Ausrichtung auf die Lieferung neuer Forschungsbeiträge notwendigerweise beinhaltet. Angesichts des schillernden Charakters des Expertenbegriffs scheint mir das allerdings problematisch zu sein. Es gibt zumindest eine sehr gängige Verwendungsweise dieses Begriffs, der zufolge beispielsweise auch ein Arzt, der keine neuen Forschungsbeiträge liefert, aber sehr gut bestimmte Operationen durchführen kann, ein Experte ist. Die Fähigkeiten, die er dazu braucht, sind weder durch Croces „expertenorientierte Fähigkeiten“ noch durch die „novizenorientierten Fähigkeiten“ abgedeckt (der Patient muss ja kein medizinischer Novize oder Laie sein). Auch für epistemische Autoritäten ist eine Forschungsorientierung nicht zwingend erforderlich (sondern lediglich relative epistemische Superiorität) – zumindest darin stimme ich mit Croce, der das ebenfalls so sieht, überein.

Eine meines Erachtens sinnvolle Möglichkeit, dieser begrifflichen Vieldimensionalität analytisch Herr zu werden, besteht darin, die einzelnen epistemischen Dimensionen in die Definition der Begriffe „Experte“ und „epistemische Autorität“ aufzunehmen und in der Folge separat zu behandeln. Dementsprechend könnten sich etwa folgende Erweiterungen der Definitionen ergeben:

(EXPerweitert)

E ist ein D-Experte genau dann, wenn E gegenüber den meisten anderen Personen im Hinblick auf D epistemisch superior ist, wobei es sich z. B. um eine Superiorität im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D handeln kann oder auf D-bezogenes praktisches Wissen oder auf D-bezogenes phänomenales Wissen oder auf D-bezogenes Verstehen.Footnote 14

(EAerweitert)

EA ist eine epistemische Autorität bezüglich D für S genau dann, wenn EA gegenüber S im Hinblick auf D epistemisch superior ist, wobei es sich z. B. um eine Superiorität im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D handeln kann oder auf D-bezogenes praktisches Wissen oder auf D-bezogenes phänomenales Wissen oder auf D-bezogenes Verstehen.

In der erkenntnistheoretischen Diskussion sowohl über Experten als auch über epistemische Autoritäten hat man sich häufig auf die Dimension propositionaler Kenntnisse konzentriert (in gewissem Unterschied zu Diskussionen etwa in der Psychologie; vgl. Stichter 2015). Auch Goldman, der sich der Vieldimensionalität des Expertenbegriffs bewusst ist, entscheidet sich explizit zu einer Analyse „kognitiver Expertise“ (Goldman 2001, 91), womit er sich auf epistemische Superiorität im Hinblick auf propositionale Wahrheiten bezieht.Footnote 15 Auch mein Hauptaugenmerk in dieser Untersuchung soll auf diesem Aspekt liegen, hauptsächlich deswegen, weil er meines Erachtens zentral für unsere Auseinandersetzung mit pluralen epistemischen Autoritäten ist. Freilich ist der Verstehens-Aspekt in letzter Zeit stärker in den Fokus der Erkenntnistheorie im Allgemeinen und der Debatte über epistemische Autorität und Experten im Besonderen gerückt (vgl. z. B. Jäger 2016; Croce 2018; Scholz 2018). Mir erscheint diese Akzentverschiebung im Prinzip sehr berechtigt zu sein und ich möchte diesen Aspekt ebenfalls nicht vernachlässigen. Speziell mit Blick auf plurale epistemische Autoritäten scheint er mir allerdings von eher sekundärer Relevanz zu sein. Wie ich noch zeigen möchte kann zwar ein Kollektiv auch eine Verstehens-Autorität sein (vgl. Kapitel 16), dennoch meine ich, dass Kollektive, wenn sie denn als epistemische Autoritäten in Erscheinung treten, primär Autoritäten für propositionale Wahrheiten sind. Vor diesem Hintergrund werde ich mich im Folgenden zunächst mit größerer Ausführlichkeit auf epistemische Superiorität und Autorität im Hinblick auf propositionale Wahrheiten konzentrieren und das Definitions-, Identifikations- und Deferenzproblem mit Blick darauf diskutieren, um daraufhin (in Kapitel 9) noch einmal gesondert, aber insgesamt knapper, auf Verstehens-Autorität einzugehen. Epistemische Superiorität im Hinblick auf praktisches und phänomenales Wissen werde ich weitgehend außen vor lassen.

Worin genau besteht nun epistemische Superiorität im Hinblick auf propositionale Wahrheiten bezüglich D? Wenn wir Goldman (2001; 2018) folgen, könnte ein prima facie attraktiver Vorschlag so aussehen:

(SUPpropositional-Goldmann-1)

S ist gegenüber I im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D epistemisch superior genau dann, wenn S mehr wahre und weniger falsche Überzeugungen in Bezug auf Propositionen in D besitzt als I.

Angewandt auf den Expertenbegriff würde sich entsprechend ergeben, dass jemand ein D-Experte ist genau dann, wenn er mehr wahre und weniger falsche Überzeugungen in Bezug auf Propositionen in D besitzt als die meisten Personen. Eines der Probleme dieses Vorschlags benennt Goldman selbst: Lediglich einige wahre Überzeugungen mehr zu besitzen als die meisten Personen, scheint noch nicht auszureichen, um zu einem Experten zu werden. Zusätzlich scheint nötig zu sein, dass der epistemische Abstand zu den anderen Personen hinreichend groß ist, oder dass die absolute Anzahl der wahren Überzeugungen von S „sehr beträchtlich“ ist („very substantial“), wie es bei Goldman heißt.Footnote 16

Ein von mehreren Autoren gesehenes Problem mit Goldmans Vorschlag besteht allerdings darin, dass Experten häufig insgesamt sehr viele Überzeugungen zu Propositionen in D haben, während Laien typischerweise wenige oder gar keine haben (vgl. z. B. Coady 2012; Croce 2019a; Scholz 2009; 2018). Das bedeutet, dass Experten (und das gilt auch für epistemische Autoritäten) auch ein höheres Risiko als Laien (bzw. inferiore Subjekte) eingehen, etwas Falsches über D zu glauben. Während ein Laie dieses Risiko dadurch minimieren kann, dass er einfach gar nichts über D glaubt, wird ein Experte bzw. eine epistemische Autorität mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit einige falsche Überzeugungen zu D-Propositionen haben – und also auch mehr falsche als der Laie bzw. das inferiore Subjekt.

Welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen? Mehrere Autoren haben argumentiert, dass man angesichts des beschriebenen Problems bei der Definition des Expertenbegriffs auf eine Bedingung, die die Abwesenheit falscher Überzeugungen verlangt, gänzlich verzichten sollte. Daraus ergeben sich modifizierte Definitionsvorschläge, deren simpelster vermutlich der von Coady (2012, 28 ff.) ist und der darauf hinausläuft, dass jemand im Hinblick auf propositional strukturierte Kenntnisse einfach dadurch zu einem D-Experten wird, dass er signifikant mehr wahre Überzeugungen zu Propositionen in D besitzt als die meisten Personen:

(SUPpropositional-Coady)

S ist gegenüber I im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D epistemisch superior genau dann, wenn S signifikant mehr wahre Überzeugungen in Bezug auf Propositionen in D besitzt als I.

Entsprechend wäre ein D-Experte jemand, der signifikant mehr wahre Überzeugungen in Bezug auf Propositionen in D besitzt als die meisten Personen. Mir scheint diese Schlussfolgerung allerdings übereilt zu sein. Zum einen zeichnen sich Experten häufig durchaus dadurch aus, dass sie bestimmte verbreitete falsche Überzeugungen nicht teilen: Viele Laien mögen vielleicht glauben, dass p, der Experte aber kennt die für p einschlägigen Evidenzen besser und urteilt, dass es sich dabei um einen Mythos, einen Irrglauben handelt. Das muss aber nicht bedeuten, dass er eine wahre Überzeugung mehr hat als die Laien, sondern kann auch lediglich darauf hinauslaufen, dass er eine falsche Überzeugung weniger besitzt als sie (die für p verfügbaren Evidenzen könnten nämlich in der Summe uneindeutig sein und eine Urteilsenthaltung zur rationalerweise gebotenen Verhaltensweise machen).Footnote 17

Noch gravierender für Coadys Vorschlag ist aber das Problem, dass man sich einen epistemisch promisken Akteur vorstellen könnte, der sämtlichen D betreffenden Propositionen einfach willkürlich beliebige Wahrheitswerte zuweist. Allein schon aus statistischen Gründen wird ein solcher Akteur den Propositionen häufig korrekte Wahrheitswerte zuweisen, und infolgedessen auch sehr viel mehr wahre Überzeugungen haben als die meisten Menschen. Gleichwohl würden wir ihn nicht als Experten oder als epistemische Autorität anzuerkennen bereit sein, denn bei extrem vielen anderen Propositionen wird er falsch liegen. Was wir von einem Experten oder einer epistemischen Autorität erwarten, ist offenbar, dass die Anzahl ihrer falschen Überzeugungen in einem irgendwie vernünftigen Verhältnis zu den wahren steht. Wenn man diese Idee berücksichtigt, ergibt sich etwa die folgende Definition:

(SUPpropositional)

S ist gegenüber I im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D epistemisch superior genau dann, wenn S hinreichend viel mehr wahre und nicht unverhältnismäßig viel mehr falsche Überzeugungen bezüglich Propositionen in D besitzt als I.Footnote 18

Natürlich enthalten diese Formulierungen einige vage Ausdrücke („hinreichend“, „unverhältnismäßig“), was sich aber kaum vermeiden lassen dürfte, nicht nur, weil eine Quantifizierung in diesem Bereich generell schwierig sein dürfte, sondern auch deshalb, weil es womöglich Unterschiede von Domäne zu Domäne gibt (in Bereichen, die weitgehend „ausgeforscht“ sind, wird man vielleicht einen geringeren Anteil falscher Überzeugungen als mit epistemischer Superiorität kompatibel erachten als in jungen Forschungsbereichen, die eher explorativen Charakter haben und mit höheren epistemischen Risiken verbunden sind).

4 Eine verallgemeinerte Begriffsbestimmung auf Grundlage des Begriffs eines Wahrheitsindikators

Ein Defizit der bisherigen Begriffsbestimmungen besteht allerdings noch darin, dass sie das Vorhandensein irgendwelcher Überzeugungen bzw. die Fähigkeit, überhaupt Überzeugungen auszubilden, voraussetzt. Das ist insofern problematisch, als ich in dieser Untersuchung primär Kollektive und andere Pluralitäten als potentielle epistemische Autoritäten analysieren möchte, bei denen nicht unbedingt vom Erfülltsein dieser Voraussetzung ausgegangen werden kann. Zwar schreiben wir manchmal tatsächlich auch Kollektiven Überzeugungen und andere epistemische oder nicht-epistemische Einstellungen zu (wir sagen Dinge wie „Das Kabinett glaubt, dass das neue Gesetz effektiv sein wird“). Zum einen funktioniert eine solche Zuschreibung aber nicht bei allen Kollektiven und in allen Situationen. Zum anderen bin ich der Auffassung, dass wir uns in unserer epistemischen Praxis manchmal auch auf Kollektive stützen und sie als epistemische Autoritäten behandeln, obwohl die fraglichen Kollektive keine Überzeugungen im engeren Sinn besitzen und auch nicht von uns zugeschrieben bekommen. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ich mich in meiner Urteilsbildung hinsichtlich der Proposition p daran orientiere, dass die Mitglieder eines bestimmten Kollektivs mehrheitlich der Meinung sind, dass p der Fall ist: Ich behandle das Kollektiv als epistemische Autorität und übernehme die Meinung, dass p, meinerseits. Dazu muss ich aber dem Kollektiv nicht selbst eine Überzeugung bezüglich p im engeren Sinn zuschreiben. Die Aussage „Die Mehrheit der Mitglieder des Kollektivs K glaubt, dass p“ impliziert nicht die Aussage „K glaubt, dass p“. Ein Kollektiv als epistemische Autorität zu behandeln, scheint also nicht im Widerspruch dazu zu stehen, das Vorhandensein irgendeiner Überzeugung aufseiten des Kollektivs zu bestreiten. Unsere Definition des Begriffs „epistemische Autorität“ sollte so offen sein, dass sie diesen Fall zulässt.

Wie also könnte der Begriff der epistemischen Superiorität im Hinblick auf propositionale Wahrheiten bestimmt werden, so dass auch ein Kollektiv ohne Überzeugungen im engeren Sinn unter ihn fallen kann? Schauen wir uns zur Lösung dieses Problems zunächst noch einmal die oben entwickelte Definition an und fragen uns, was man eigentlich tut, wenn man sich epistemisch auf eine epistemische Autorität stützt. Wenn man daran interessiert ist, ob eine Proposition p wahr oder falsch ist, warum ist es dann offenbar eine sinnvolle Vorgehensweise, sich nach der Überzeugung einer epistemischen Autorität zu richten? Die Antwort darauf lautet, dass man gerechtfertigt ist davon auszugehen, dass sich von der Überzeugung der Autorität, dass p (oder non-p), auf die Wahrheit der Proposition p (oder non-p) schließen lässt. Das ist freilich nur ein Wahrscheinlichkeitsschluss; es gibt keine Garantie dafür, dass die Überzeugung der Autorität mit der Wirklichkeit übereinstimmt, denn auch die zuverlässigste Autorität irrt sich manchmal (wenn man einmal von allwissenden Göttern, Laplaceschen Dämonen oder ähnlichen fiktiven epistemischen Akteuren absieht). Gleichwohl kann ein solcher Autoritätsschluss eine relativ zuverlässige Möglichkeit sein, die Wahrheit über eine Proposition zu erfahren – in vielen Fällen ist es die zuverlässigste unter allen verfügbaren Alternativen. Die eher schlechte Reputation, die Autoritätsschlüsse in der Philosophiegeschichte häufig hatten, ist also eigentlich nicht gerechtfertigt, zumindest dann nicht, wenn man sich auf eine echte epistemische Autorität als Quelle stützt (und keine bloß vermeintliche). Eine Möglichkeit, das hinter einem solchen Autoritätsschluss bestehende Prinzip zu rekonstruieren, besteht im Rückgriff auf so etwas wie eine Sensitivitätsunterstellung: der Unterstellung, dass die Autorität nicht der Überzeugung wäre, dass p, wenn p nicht tatsächlich der Fall wäre.Footnote 19 In dem Maße, in dem diese Sensitivitätsunterstellung zutrifft, lässt sich die Überzeugung der Autorität gleichsam als Indikator für die Wahrheit von p verwenden. Man unterstellt, dass die Autorität ihre Meinung aufgrund einer zuverlässigen Methode zur Feststellung der Wahrheit von p gebildet hat, so dass es eine ebenso zuverlässige Methode zur Feststellung der Wahrheit von p zu sein verspricht, sich die Autorität wiederum als Vorbild für die eigene Meinungsbildung zu nehmen. Wenn man sich also auf eine epistemische Autorität stützt, dann betreibt man zumindest implizit eine Art genealogische Spekulation: Wenn die mutmaßliche Autorität ihre p-bezügliche Überzeugung unter Verwendung einer Methode ausgebildet hat, die zuverlässig bzw. für die Wahrheit von p sensitiv ist, dann taugt die Überzeugung als Wahrheitsindikator; wenn die p-bezügliche Überzeugung aber auf andere Weise zustande gekommen sein sollte (wenn sie etwa auf Wunschdenken, anderen psychologischen Biases oder bloßem Zufall beruht), dann taugt sie nicht als Wahrheitsindikator.Footnote 20 Die genealogische Spekulation besteht darin abzuwägen, welches dieser Szenarien das wahrscheinlichere ist. Und wer sich auf eine epistemische Autorität stützt (wer also davon ausgeht, dass es sich um eine wirkliche, nicht nur eine vermeintliche Autorität handelt), ist zu dem Ergebnis gekommen, dass das erste Szenario wahrscheinlicher ist.

Versuchen wir nun, diese Überlegungen zur Modifikation unserer begrifflichen Bestimmungen einzusetzen. Wir hatten gesehen, dass man sozusagen im herkömmlichen Fall, wenn man sich bei seiner Urteilsbildung hinsichtlich p auf eine Autorität stützt, die Tatsache, dass die Autorität p glaubt, als Indikator für die Wahrheit von p verwendet. Man kann nun diese Formulierung leicht dadurch generalisieren, dass man auf die Erwähnung des Überzeugungsbegriffs schlicht verzichtet. Sich auf eine epistemische Autorität zu stützen, heißt dann einfach, eine geeignete die Autorität betreffende Tatsache als Wahrheitsindikator für p zu verwenden. Da es sich bei dieser Tatsache nicht zwingend um das Vorliegen einer Überzeugung handeln muss, ist diese Formulierung auch für solche epistemischen Autoritäten anwendbar, die keine Überzeugungen haben. Sobald die fragliche Tatsache der Sensitivitätsunterstellung genügt, ist sie als Wahrheitsindikator geeignet. Wenn also – um auf unser vorhin verwendetes Beispiel zurückzukommen – Anlass besteht davon auszugehen, dass es keine Mehrheitsmeinung, dass p, in dem Kollektiv gäbe, wenn p nicht tatsächlich der Fall wäre, dann besteht auch Anlass dazu, diese Tatsache als Indikator für die Wahrheit von p zu verwenden.Footnote 21 Abgesehen vom Vorliegen einer Mehrheitsmeinung können auch weitere ein Kollektiv betreffende Tatsachen als Wahrheitsindikatoren infrage kommen; auf diese werde ich an späterer Stelle (insbesondere in Abschnitt 11.3) ausführlicher eingehen.

Wir sind nun an einem Punkt, an dem wir Definitionen der Ausdrücke „epistemische Superiorität“ und „epistemische Autorität“ vorschlagen können, die hinreichend allgemein sind, um auch auf Kollektive und andere soziale Pluralitäten anwendbar zu sein:

(SUPpropositional-allgemein)

S ist gegenüber I im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D epistemisch superior genau dann, wenn in Bezug auf D und verglichen mit I die als Wahrheitsindikatoren verwendeten Tatsachen über S in hinreichend vielen Fällen die Wahrheit der entsprechenden Propositionen korrekt und nicht in unverhältnismäßig vielen Fällen inkorrekt anzeigen.

Und als generelle Definition für propositionale epistemische Autoritäten ergibt sich entsprechend:

(EApropositional-allgemein)

EA ist im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D für S eine epistemische Autorität genau dann, wenn in Bezug auf D und verglichen mit S die als Wahrheitsindikatoren verwendeten Tatsachen über EA in hinreichend vielen Fällen die Wahrheit der entsprechenden Propositionen korrekt und nicht in unverhältnismäßig vielen Fällen inkorrekt anzeigen.

Nur der Vollständigkeit halber sei noch die Definition angegeben, die sich entsprechend für den Expertenbegriff ergeben würde (nur der Vollständigkeit halber deshalb, weil es mir im dritten Teil der Untersuchung um plurale epistemische Autoritäten gehen wird, nicht um so etwas wie „plurale Experten“):

(EXPpropositional-allgemein)

E ist im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D ein Experte genau dann, wenn in Bezug auf D und verglichen mit den meisten Personen die als Wahrheitsindikatoren verwendeten Tatsachen über E in hinreichend vielen Fällen die Wahrheit der entsprechenden Propositionen korrekt und nicht in unverhältnismäßig vielen Fällen inkorrekt anzeigen.

5 Epistemische Autoritäten ohne Überzeugungen

Der im vorigen Abschnitt eingeführte Begriff eines Wahrheitsindikators ist sehr allgemein und breit anwendbar. Alles, was in systematischem Zusammenhang mit etwas anderem steht und ein Anzeichen (ein Index im Sinne von Peirce)Footnote 22 für dieses ist, kann als Wahrheitsindikator verwendet werden. Z.B. kann Rauch als Wahrheitsindikator für die Proposition, dass es an einem bestimmten Ort ein Feuer gibt, verwendet werden. Auch Tatsachen über Menschen können in einem vergleichbaren Sinn Anzeichen sein. Beispielsweise ist der Sonnenbrand auf der Haut einer Person ein Anzeichen dafür, dass die Sonne sehr heftig geschienen hat, und kann entsprechend als Wahrheitsindikator für die Proposition „Die Sonne hat heftig geschienen“ verwendet werden. Wir sind freilich nicht in allen diesen Fällen geneigt, von einer „epistemischen Autorität“ zu sprechen. Es wäre merkwürdig, den Rauch als epistemische Autorität im Hinblick auf die Proposition, dass es am fraglichen Ort ein Feuer gibt, zu bezeichnen, oder den Menschen als epistemische Autorität im Hinblick auf die Proposition, dass die Sonne stark geschienen hat. Das ist aber kein Einwand gegen die Definition EApropositional-allgemein, denn auf den Rauch oder den Menschen in dieser Situation trifft die Definition ja auch nicht zu. Dieser Definition zufolge ist eine epistemische Autorität eine Entität, über die es eine Reihe von Tatsachen geben kann, deren Vorliegen in hinreichend vielen Fällen die Wahrheitswerte der Propositionen in einer bestimmten Domäne korrekt anzeigt. Der Rauch ist aber nur eine singuläre Entität, die mit einer singulären weiteren Entität, nämlich dem Feuer, in indikativem Zusammenhang steht. Dasselbe gilt für den Sonnenbrand und den Sonnenschein.Footnote 23 Typische epistemische Autoritäten helfen uns dabei, die Wahrheitswerte vieler Propositionen einzusehen – dies ist ein Aspekt, der in EApropositional-allgemein eingefangen wird. Wenn es nur eine einzige Proposition gibt (oder einige wenige), würden wir nicht von einer „epistemischen Autorität“ sprechen, und entsprechend greift auch die Definition nicht.

Sehr wohl erfasst durch EApropositional-allgemein sind allerdings typische epistemische Instrumente, d. h. Instrumente, die so gebaut wurden, dass sie bestimmte Outputs erzeugen, die bestimmte Informationen über die Welt vermitteln.Footnote 24 Beispielsweise ist ein Thermometer eine Entität, über die es eine große Reihe von Tatsachen geben kann (z. B. die Tatsache, dass das Quecksilber in der Säule bis „20“ steht, oder die Tatsache, dass das Quecksilber bis „30“ steht usw.), deren Bestehen in typischen Fällen die Wahrheit bestimmter Propositionen korrekt anzeigt (z. B. die Wahrheit der Propositionen „Die Temperatur beträgt gerade 20 °C“ oder „Die Temperatur beträgt gerade 30 °C“ usw.). Der Umstand, dass epistemische Instrumente, anders als der Rauch oder der Mensch mit dem Sonnenbrand, durch EApropositional-allgemein erfasst sind, scheint mir keine inakzeptable Konsequenz zu sein. Es klingt meines Erachtens sehr viel weniger merkwürdig, von einem Thermometer als „epistemischer Autorität“ zu sprechen als von Rauch oder einem Menschen mit Sonnenbrand.

Sofern die Konsequenz, dass epistemische Instrumente als epistemische Autoritäten erscheinen, dennoch problematisch erscheint, könnte man die Definition aber leicht weiter so modifizieren, dass diese Konsequenz vermieden wird. Eine entsprechende Möglichkeit wäre, zusätzlich in der Definition zu verlangen, dass die wahrheitsindikative Tatsache durch „epistemische Aktivität“ zustande gekommen ist. Wenn eine Person z. B. die Überzeugung hat, dass die Sonne scheint, dann setzt das epistemische Aktivitäten wie sinnliche Wahrnehmung, Schlussfolgerung oder die Abwägung von Evidenzen voraus. Die Tatsache, dass die Person einen Sonnenbrand hat, ist aber nicht das unmittelbare Resultat epistemischer Aktivitäten. Auch die Tatsache, dass sich das Quecksilber so weit ausgedehnt hat, dass die Säule bei „20“ steht, ist das Resultat einfacher kausaler Interaktionen zwischen der Temperatur und dem Quecksilber, die man nicht im engeren Sinn als „epistemisch“ bezeichnen würde.

Der für unsere Belange entscheidende Vorteil von EApropositional-allgemein bliebe durch diese Modifikation unberührt. Der Vorteil ist, dass die Definition es erlaubt, soziale Pluralitäten als epistemische Autoritäten auszuweisen, auch wenn die Pluralitäten nicht im eigentlichen Sinn Überzeugungen besitzen. Wie ich in Abschnitt 11.3 genauer ausführen werde, handelt es sich bei den entsprechenden wahrheitsindikativen Tatsachen beispielsweise um die Tatsache, dass es einen Konsens in Pluralität P gibt, dass Proposition p wahr ist, oder die Tatsache, dass es in P eine Mehrheitsmeinung gibt, dass p. Das sind Tatsachen, die eindeutig epistemische Aktivität voraussetzen – zwar vielleicht nicht aufseiten der Pluralität selbst (d. h. die Pluralität selbst ist nicht unbedingt das Subjekt der Aktivität bzw. der Akteur), aber aufseiten ihrer Mitglieder. Denn damit es beispielsweise zu der Tatsache kommen kann, dass eine Mehrheit von Mitgliedern von P der Meinung ist, dass p, muss es ja Meinungsbildungsprozesse gegeben haben, also epistemische Aktivität, durch die hinreichend viele Mitglieder von P zu der Überzeugung gelangt sind, dass p.

Die oben gemachte Unterscheidung zwischen „einfachen“ („simplen“, „primitiven“) wahrheitsindikativen Tatsachen und solchen, die epistemisch anspruchsvoller sind, lässt sich übrigens auch auf Pluralitäten anwenden. Der Sonnenbrand ist ein einfacher Wahrheitsindikator, der auf einem verhältnismäßig simplen kausalen Zusammenhang beruht. In ähnlicher Weise kann es auch verhältnismäßig simple Tatsachen über Pluralitäten geben, die aufgrund einfacher kausaler Zusammenhänge wahrheitsindikativen Charakter haben. Ein Beispiel wäre etwa die Tatsache, dass in einer bestimmten Population, beispielsweise der Belegschaft einer Firma, eine bestimmte Krebsart sehr viel häufiger vorkommt als in der Allgemeinbevölkerung. Diese Tatsache lässt darauf schließen, dass im Arbeitsumfeld der Beschäftigten bestimmte karzinogene Faktoren in erhöhtem Maße präsent sind (beispielsweise kommen bestimmte Lungenkrebsformen aufgrund der Belastung mit Radon bei Mitarbeitern von Firmen, die im Uranbergbau tätig sind, deutlich häufiger vor (vgl. Walsh et al. 2015)). Es handelt sich um eine Schlussfolgerung, die man aufgrund individueller Krebsfälle nicht ziehen könnte, denn individuelle Krebsfälle kommen ja immer vor; es könnte sie geben, auch ohne dass es im Arbeitsumfeld eine besondere karzinogene Belastung geben müsste. Erst die Tatsache über die Gruppe lässt diesen Schluss zu. Aber wie im Beispiel des Sonnenbrands setzt die Hervorbringung dieser Tatsache nicht direkt epistemische Aktivität voraus.

Wenn ich in Teil III dieser Untersuchung soziale Pluralitäten als epistemische Autoritäten ins Auge fassen möchte, habe ich demgegenüber epistemisch anspruchsvollere Wahrheitsindikatoren vor Augen. Paradigmatische Beispiele sind wissenschaftliche Konsense. Die Tatsache, dass es einen Konsens in einer bestimmten Scientific Community gibt, dass p wahr ist, ist eine Tatsache über die Community, keine Tatsache über die individuellen Mitglieder. Was den wahrheitsindikativen Charakter der Tatsachen betrifft, ähneln Konsense in den für uns relevanten Hinsichten sehr viel eher individuellen Überzeugungen. Wie die erhöhte Krebsrate eine plurale Entsprechung zu dem Beispiel des Sonnenbrands ist, so sind wissenschaftliche Konsense eine Entsprechung zu individuellen Überzeugungen. Wie Überzeugungen (aber anders als das Zustandekommen eines Sonnenbrands oder einer Krebsrate) setzen Konsense epistemische Aktivität voraus. Eine weitere Parallele zwischen individuellen Überzeugungen und wissenschaftlichen Konsensen ist, dass es in typischen wissenschaftlichen Gemeinschaften unterschiedlichste Konsense zu vielfältigen Fragen gibt – ähnlich wie Einzelindividuen vielfältige Überzeugungen zu Fragen besitzen, die für sie von Interesse sind. In der Gemeinschaft der Mediziner gibt es etwa einen Konsens darüber, dass Radonexposition Lungenkrebs verursachen kann, einen Konsens, dass Rauchen ebenfalls ein karzinogener Faktor sein kann, einen Konsens, dass Lungenkrebs unter bestimmten Bedingungen mit Strahlentherapie behandelt werden kann, und Konsense zu zahlreichen weiteren medizinischen Fragen.

Kurzum: Ich denke, dass sowohl EApropositional-allgemein als auch eine eventuelle, um die Erwähnung epistemischer Aktivität ergänzte Definition geeignet ist, eine sinnvolle Abgrenzung pluraler epistemischer Autoritäten zu gewährleisten, also eine Abgrenzung, durch die wissenschaftliche Gemeinschaften als epistemische Autoritäten charakterisiert werden, eine Population mit erhöhter Krebsrate dagegen nicht. Ob die erweiterte Definition oder EApropositional-allgemein präferiert wird, hängt davon ab, ob man bestimmte Konsequenzen in Kauf zu nehmen bereit ist, beispielsweise die Konsequenz, dass epistemische Instrumente unter den Ausdruck „epistemische Autorität“ fallen. Ich halte diese Konsequenz für akzeptabel und arbeite aus diesem Grund im Folgenden mit EApropositional-allgemein; es dürfte aber im Prinzip wenig problematisch sein, sich die Ergänzung um den Begriff „epistemischer Aktivität“ sozusagen „hinzuzudenken“.