Sich auf andere Akteure epistemisch zu stützen, gehört zu unseren elementaren epistemischen Verhaltensweisen. Wer sich nur auf seine eigenen Sinne und sein eigenes Schlussfolgerungsvermögen stützen müsste, wäre zu einem wesentlich beschränkteren epistemischen Leben verdammt (wobei fraglich ist, ob der komplette Verzicht auf das Sich-Stützen auf andere eine auch nur mögliche Option wäre – immerhin dürfte das Kleinkind unweigerlich darauf angewiesen sein, verschiedenste Informationen von anderen Personen einfach ungeprüft zu übernehmen). Niemand hat auch nur ansatzweise das insgesamt verfügbare Wissen zur Verfügung, und in sehr vielen Fällen haben wir nur die Möglichkeit, andere zu fragen oder anderweitig auf von anderen bereitgestellte Informationen zurückzugreifen. Das sind keine Phänomene der jüngeren Vergangenheit, sondern mehr oder weniger anthropologische Konstanten. Auch in den prähistorischen menschlichen Gemeinschaften gab es bereits so etwas wie eine epistemische Arbeitsteilung,Footnote 1 und auch die vielbeschworenen „Universalgenies“ der Vergangenheit hatten zweifellos von zahllosen Dingen, die der eine oder andere ihrer Zeitgenossen wusste, keinerlei Kenntnis (Leibniz dürfte keine Ahnung gehabt haben von – sagen wir – den Verwandtschaftsbeziehungen eines beliebigen ihm unbekannten sächsischen Bauern).

Gleichwohl hat sich seit prähistorischen Zeiten einiges verändert. Unsere „Wissens-“ oder „Informationsgesellschaft“ ist in mehreren Hinsichten durch eine erhebliche Intensivierung jener „division of epistemic labor“ (Kitcher 2011)Footnote 2 gekennzeichnet, die zu einem der hervorstechendsten Merkmale der Gegenwart geworden zu sein scheint. Nicht nur wird die schiere Menge an verfügbarem Wissen zunehmend größer (wodurch sich der Quotient zwischen dem, was ein Individuum zu wissen im Stande ist, und dem insgesamt verfügbaren Wissen ständig verkleinert); es gibt auch eine zunehmende Notwendigkeit – und auch eine Anerkennung der Notwendigkeit –, das Handeln in verschiedenen Bereichen an Wissen und Evidenzen zu orientieren, die die Akteure in diesen Bereichen nicht unbedingt aus erster Hand selbst besitzen. Das Expertentum – „begriffs- wie rollengeschichtlich gesehen, ein Geschöpf des Gerichts“ (Hirschi 2018, 21) – ist heute allgegenwärtig und durchdringt als „fünfte Gewalt im Staat“ (Jasanoff 1990) mittlerweile das öffentliche wie das private Leben gleichermaßen. Die Forderung, „evidenzbasiert“ zu sein, mit der sich neben der Medizin auch die Politik, die Justiz, die Verwaltung und andere Bereiche bis hin zu aktivistischen sozialen BewegungenFootnote 3 konfrontiert sehen, geht mit der Notwendigkeit einher, Wissen in erheblichem Maße sozusagen von außen in diese Bereiche zu importieren.Footnote 4

Ähnlich wie die Beziehungen zwischen den Institutionen und Subsystemen moderner Gesellschaften sind auch die Beziehungen zwischen den Einzelindividuen durch epistemische Abhängigkeiten geprägt. Während so gut wie jeder im Hinblick auf wenigstens einige Themen vertiefte Kenntnisse besitzt (vielleicht ist, um ein Beispiel von Coady (2012, 31) aufzugreifen, jeder ein Experte dafür, was er an diesem Tag zum Frühstück hatte), kennen wir uns doch in einer Vielzahl von Themen kaum oder gar nicht aus. Gleichwohl haben wir häufig Bedarf an Informationen auch aus solchen uns unvertrauten Gebieten – sei es aus bloßer Neugier; sei es aufgrund eines persönlichen (medizinischen, finanziellen, juristischen usw.) Problems; sei es, weil wir wissen müssen, wie es um den Klimawandel, die Globalisierung oder die demographische Entwicklung steht, um uns bei politischen Wahlen für die richtige Partei entscheiden zu können. Wer die entsprechenden Fragen nur auf Basis der beschränkten eigenen Kenntnisse zu beantworten versucht, geht ein hohes Risiko ein, zu falschen Antworten zu gelangen. Eine Alternative wäre zwar zu versuchen, selbst zum Spezialisten für die fraglichen Gebiete zu werden, aber das ist aus mehreren Gründen häufig unrealistisch. Zum einen kostet es Zeit und Mühe, einen thematischen Bereich gründlich genug zu studieren, um hinreichende Spezialkenntnisse zu erwerben, und womöglich werden die Antworten auf die Fragen schon jetzt oder in naher Zukunft gebraucht. Zum anderen haben wir normalerweise Interesse an Propositionen aus sehr vielen thematischen Bereichen. Angesichts begrenzter Lebenszeit und Ressourcen ist es kaum möglich, Spezialist für alle diese Bereiche zu werden. Vor diesem Hintergrund bleibt als einzige rationale Alternative in sehr vielen Fällen nur, diejenigen zurate zu ziehen, die sich besser in den fraglichen Gebieten auskennen, d. h. sich auf epistemische Autoritäten zu verlassen.

Eine weitere Dimension der Intensivierung der epistemischen Arbeitsteilung gegenüber früheren Epochen besteht darin, dass nicht nur die Quantität des Wissens und dessen Relevanz für die soziale Praxis zugenommen hat, sondern dieses Wissen mehr und mehr auch eine andere Qualität bekommen hat: Es bekommt, wie man sagen könnte, in wachsendem Maße esoterischen Charakter (wobei „esoterisch“ hier heißen soll, dass das Wissen nicht ohne Weiteres für Außenstehende zugänglich ist). Damit ist nicht nur gemeint, dass das eine Individuum das Wissen besitzt, ein anderes dagegen nicht – das wäre etwas, was wir vielleicht esoterisches Wissen im „schwachen Sinn“ nennen könnten. In einem stärkeren Sinn kann Wissen esoterisch sein, wenn die Aussagen, mit denen es formuliert wird, ohne Spezialkenntnisse gar nicht verständlich sind. Goldman (2001, 94) spricht in diesem Zusammenhang von „semantisch esoterischen Aussagen“ (im Unterschied zu schwach esoterischen, Goldman sagt: „epistemisch esoterischen“ Aussagen), für die charakteristisch ist, dass eine Person ohne intensives und unter Umständen langwieriges und aufwändiges Studium des relevanten Spezialgebiets nicht nur ihren Wahrheitswert nicht kennt, sondern (aufgrund des Vorkommens eines technischen Vokabulars etc.) noch nicht einmal ihre Wahrheitsbedingungen. Vielleicht könnte man zwischen diesen Extremen noch weitere Zwischenformen unterscheiden, z. B. Aussagen, die man als Laie auch ohne Kenntnisse des relevanten Spezialgebiets zwar semantisch versteht und deren Wahrheitswert man von einem Experten für das Gebiet entsprechend erfragen kann, wobei aber die Begründung, die der Experte für seine Antwort anbieten könnte, nicht ohne weiteres nachvollziehbar ist. Beispielsweise kann man als mathematischer Laie eine einigermaßen klare Vorstellung davon haben, was der Große Fermatsche Satz besagt, und man kann sich von den einschlägigen Experten auch leicht die Information erfragen, dass er wahr und bewiesen ist, die Begründung bzw. den Beweis selbst wird man aber, wenn überhaupt, nur mit großem Aufwand nachvollziehen können. In solchen Fällen könnten wir vielleicht von Wissen bzw. einer Aussage sprechen, das/die „justifikatorisch esoterischen“ Charakter hat.

Das zunehmende Vorkommen semantisch und justifikatorisch esoterischen Wissens stellt eine Herausforderung für die epistemische Arbeitsteilung als solche dar. Denn wenn epistemische Arbeitsteilung darin besteht, dass jene mit Spezialwissen ihre Kenntnisse denen zur Verfügung stellen, die dieses Wissen nicht haben, aber brauchen, dann fragt es sich, was letztere mit einer Auskunft anfangen können, die aus einer Menge semantisch für sie esoterischer Aussagen besteht. Es scheint hier offenbar auch die Notwendigkeit einer Art Übersetzungsleistung zu geben: Mit einem trivialen Transfer ist es nicht getan, sondern der Experte muss – soweit das eben möglich ist – den Nicht-Experten sein Wissen in einer Sprache vermitteln, die letzteren verständlich ist. Etwas Ähnliches kann auch für „bloß“ justifikatorisch esoterisches Wissen gelten. Denn mitunter genügt den Nicht-Experten ein bloßes „Ja“ oder „Nein“ nicht, sondern sie brauchen auch die Begründungen dafür, wieso dies die korrekte Antwort ist. Das gilt (wie etwa Ward (2017) deutlich macht) beispielsweise für den Justizbereich, wo der Richter nicht einfach als passiver Empfänger verschiedener externer Expertengutachten vorgestellt werden sollte, sondern vielmehr als Akteur, der sich aktiv auch mit den Hintergründen, den Evidenzen, den Begründungen der Experten auseinandersetzen muss, um auf dieser Grundlage ein in sich stimmiges Urteil formulieren und seinerseits begründen zu können. Etwas Ähnliches lässt sich auch für den medizinischen Bereich feststellen: In dem Maße, in dem das paternalistische Paradigma des „Doctor Knows Best“ einem Ideal des „Shared Decision Making“ gewichen ist, bei dem die Autonomie des Patienten so weit wie möglich gewahrt werden soll (vgl. Brock 1991), sieht sich der Arzt auch mit der Forderung konfrontiert, seine Empfehlungen auf eine Art und Weise zu rechtfertigen, die für den Patienten nachvollziehbar ist. Auch hier besteht die epistemische Arbeitsteilung in keinem einfachen Wissenstransfer, sondern geht, zumindest dem Anspruch nach, mit Übersetzungs- und Erklärungsleistungen einher. Inwieweit allerdings semantisch esoterisches Wissen überhaupt übersetzt und justifikatorisch esoterisches Wissen erklärt werden kann – oder vielleicht besser: wie aufwändig und zeitintensiv die nötigen Übersetzungen und Erklärungen sind oder wären und ob der Aufwand den erwarteten Nutzen aufwiegt –, ist freilich eine schwierige Frage, die sich von Fall zu Fall unterschiedlich darstellen dürfte und mit nicht unerheblichen Herausforderungen für die epistemische Praxis verbunden ist.Footnote 5