Ich möchte noch ein weiteres Beispiel betrachten, das mir aus mehreren Gründen besonders interessant und instruktiv zu sein scheint, um Funktionsweise und Leistungsfähigkeit des in dieser Untersuchung entwickelten Ansatzes zu demonstrieren. Einer dieser Gründe ist die überragende gesamtgesellschaftliche Relevanz des betrachteten Themas. Corona ist weltweit – oder zumindest in den meisten westlich geprägten Ländern – über zwei bis drei Jahre hinweg eine Art „totales Thema“ gewesen, d. h. ein Thema, das den öffentlichen Diskurs und das öffentliche Leben in sehr starkem Maße geprägt und zeitweilig sogar nahezu vollständig beherrscht hat.Footnote 1 Dabei standen Wissenschaft und wissenschaftliche Experten in besonderem Maße im Fokus der Öffentlichkeit. Die Politik hat die von ihr beschlossenen Maßnahmen sehr häufig unter Berufung auf „die Wissenschaft“ gerechtfertigt; im öffentlichen Diskurs wurde mit Slogans wie dem des „Follow the Science“ dafür geworben, diese Maßnahmen zu unterstützen und zu befolgen. Man kann diese verbreitete Praxis als Versuch rekonstruieren, sich zur Einschätzung der Gesamtsituation und zur Bewältigung der mit ihr einhergehenden Herausforderungen auf die plurale epistemische Autorität der Wissenschaft zu stützen. Es fragt sich aber, ob dies in einer Art und Weise geschehen ist, die den epistemischen Herausforderungen und Fallstricken, die ich in dieser Arbeit aufzuzeigen versuche, angemessen Rechnung getragen hat. Sind politische und andere Akteure in dieser Hinsicht in epistemisch tugendhafter Weise in Erscheinung getreten? Ist beim Rekurs der Politik und der leitmedialen Öffentlichkeit auf „die Wissenschaft“ ein hinreichendes Bewusstsein für die verschiedenen in dieser Arbeit diskutierten Identifikationsaufgaben und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten erkennbar gewesen?

Die im Folgenden entwickelten Überlegungen legen überwiegend negative Antworten auf diese Fragen nahe. Vor diesem Hintergrund verspricht gerade auch der Kontrast zwischen der ersten und der zweiten Beispielanalyse instruktiv zu sein. Während man bezüglich der Proposition, dass die MMR-Impfung keinen Autismus verursacht, wohl mit gewissem Recht wird sagen können, dass es einen zumindest einigermaßen belastbaren wissenschaftlichen Konsens gibt, hat es für zahlreiche für den Umgang mit Corona relevante Propositionen über weite Strecken keine solchen Konsense gegeben, zumal nicht in der Anfangszeit der Krise. Gleichwohl sind entsprechende Konsensbehauptungen mit großer Lautstärke und Vehemenz gemacht worden. Ein Aspekt, der sich vor diesem Hintergrund neben vielen anderen im Zusammenhang mit der Corona-Krise besonders gut studieren lässt, ist das Problem der Politisierung der Rede vom wissenschaftlichen Konsens. Solchen Konsensbehauptungen wohnt ein erhebliches Potential inne, da sich mit ihnen politische Forderungen häufig effektiv untermauern lassen. Daraus ergibt sich jedoch auch ein Missbrauchspotential, und gerade in politisch umkämpften, unübersichtlichen und durch Polarisierung geprägten Kontexten sollten sie eigentlich mit besonderer Umsicht und Vorsicht geäußert und behandelt werden.

Ich werde mich primär auf die Frühzeit der Corona-Krise konzentrieren – d. h. in erster Linie das Jahr 2020, wobei ein besonderer Schwerpunkt noch einmal die ersten Wochen und Monate ab März 2020 sind –, weil sich hier bestimmte mir wesentlich erscheinende Aspekte mit besonderer Deutlichkeit nachweisen lassen, aber auch weil in dieser Phase entscheidende Weichenstellungen getroffen wurden, die für den öffentlichen Diskurs auch in späteren Phasen der Krise prägend waren. Ich skizziere zunächst das „dominante Narrativ“, d. h. die Menge grundlegender Annahmen, die für die Herangehensweise von Politik und leitmedialer Öffentlichkeit bestimmend waren (20.1). Anschließend gehe ich der Frage nach, welches die angemessene epistemische Haltung gegenüber diesem Narrativ gewesen wäre und inwieweit sich die Behauptung, es sei durch die plurale Autorität der Wissenschaft gestützt gewesen, aufrechterhalten lässt (20.2). Einige resümierende Überlegungen schließen das Kapitel ab (20.3).

1 Das dominante Narrativ

Ab März 2020 hatte sich innerhalb der deutschen Politik (sowie der Politik vieler weiterer – aber nicht aller – Länder) eine Einschätzung der Situation weithin durchgesetzt, die man unter anderem in Form folgender Annahmen zusammenfassen könnte: (a) die durch die Corona-Pandemie ausgehende Gefahr ist sehr wahrscheinlich massiv und übersteigt die von typischen Influenzawellen verursachte Gefahr um ein Vielfaches, wenn nicht um Größenordnungen; (b) diese Gefahr kann durch drastische Gegenmaßnahmen wie die Verhängung sog. Lockdowns effektiv bewältigt werden; (c) sofern diese Gegenmaßnahmen ihrerseits Nebenwirkungen und Kollateralschäden verursachen werden, so sind diese es Wert, in Kauf genommen zu werden, d. h. das Schaden-Nutzen-Profil der Maßnahmen spricht eindeutig zu deren Gunsten; (d) es gibt keine alternativen milderen Mittel, die hinreichend effektiv wären.

Man könnte die Annahmen a bis d als Teil von etwas zusammenfassen, was während der Corona-Krise oft als „dominantes“, „herrschendes“ oder „orthodoxes“ „Narrativ“ oder manchmal auch „Paradigma“ bezeichnet worden ist.Footnote 2 Die Politik hat ihre Einschätzung der Situation als im Wesentlichen auf wissenschaftlicher Autorität basierend dargestellt. Die ergriffenen Maßnahmen wurden häufig mit Slogans wie dem des „Follow the Science“ gerechtfertigt, als „alternativlos“ dargestellt und konsequent implementiert, was der Politik den Vorwurf eingebracht hat, sie würde einen „illiberalen Verbotspopulismus“ und eine Form des „Durchregierens“ praktizieren, das von weiten Teilen der Opposition lediglich abgenickt wird. Kritische Stimmen wie diese (die Formulierungen stammen von dem Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, vgl. Merkel 2020) sind allerdings die Ausnahme gewesen. Auch die Leitmedien haben den von der Politik eingeschlagenen Weg im Wesentlichen mitgetragen und das dominante Narrativ sowie die Annahme, dieses sei durch die Autorität der Wissenschaft gestützt, als korrekt dargestellt. Bereits früh haben eine Reihe von prominenten Medienwissenschaftlern vor diesem Hintergrund ihren Eindruck zum Ausdruck gebracht, die Leitmedien würden einseitige „Hofberichterstattung“ und „Systemjournalismus“ betreibenFootnote 3 und seien durch „Panikmache“, „mangelnde Quellenvielfalt“ und „Herdentrieb“ in Erscheinung getreten.Footnote 4 Es ist zwar nicht so, dass das Agieren der Politik völlig kritiklos von den Leitmedien hingenommen wurde. Wenn Kritik geübt wurde, so bestand diese allerdings häufig nicht in einer grundsätzlichen Infragestellung des dominanten Narrativs, sondern in Detailfragen oder der Forderung noch härterer Maßnahmen. In einer von der Rudolf Augstein Stiftung herausgegebenen Studie (Maurer/Reinemann/Kruschinski 2021) heißt es entsprechend: „Bei den in der Berichterstattung erwähnten Akteuren zeigt sich eine starke Konzentration auf Politiker und mit einigem Abstand Ärzte und Wissenschaftler, während von der Infektion Betroffene und auch so genannte Corona-Skeptiker kaum vorkamen.“ (5) Die Berichterstattung sei „zugleich regierungsnah und regierungskritisch“ gewesen: „Sie war regierungsnah, weil die Medien, ähnlich wie die Politik, überwiegend für harte Maßnahmen plädierten. Sie war zugleich aber auch regierungskritisch, weil den Medien diese Maßnahmen oft gar nicht hart genug erschienen oder zu spät kamen“, wobei sich „die Medien [..] an dem [orientierten], was sie als wissenschaftlichen Konsens wahrnahmen.“ (57)Footnote 5

Wie sollte nun das, was ich als „dominantes Narrativ“ bezeichnet habe, in epistemischer Hinsicht bewertet werden? Eine umfassende und definitive Bewertung ist auch Mitte 2023 noch kaum möglich. Allerdings setzt sich doch zunehmend die Einsicht durch, dass wesentliche Aspekte des dominanten Narrativs fragwürdig waren oder der Relativierung bedürfen. Das legt etwa der Vergleich mit Ländern nahe, die wie Schweden oder verschiedene US-Bundesstaaten sehr viel weniger drastische Maßnahmen verhängt haben und damit nicht schlechter oder sogar besser gefahren sind als Länder wie Deutschland mit härteren Maßnahmen. Nicht nur hat etwa Schweden deutlich weniger unten den mit den Corona-Maßnahmen verbundenen Kollateralschäden zu leiden; es wird auch deutlich, dass die Maßnahmen offenbar noch nicht einmal die eigentlich gewünschten Wirkungen gezeitigt haben (z. B. hat Schweden für die Corona-Jahre eine geringere Übersterblichkeit zu verzeichnen als Deutschland).Footnote 6 Gemessen an der infection fatality rate (IFR) ist (und war) die Gefährlichkeit des Virus neueren Meta-Studien zufolge bei weitem nicht so hoch, wie in Hochzeiten der Krise oft angenommen wurde (vgl. z. B. Pezzullo et al. 2023).Footnote 7 Das gilt zumal für jüngere Menschen, für die das Virus deutlich weniger gefährlich ist als für ältere. Lockdowns haben sich im Rückblick als wenig effektiv zur Eindämmung oder Verlangsamung der Pandemie erwiesen (vgl. z. B. Herby/Jonung/Hanke 2022a; 2022b; Voshaar et al. 2023). Dafür haben sie – wie auch der Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IFSG (2022) betont hat – schwerwiegende Schäden hervorgerufen: etwa psychische Belastungen und Erkrankungen, u. a. bei Kindern und Jugendlichen aufgrund langer Schulschließungen, somatische Erkrankungen durch verschobene Operationen oder ausgefallene Vorsorgeuntersuchungen oder wirtschaftliche Schäden. Letztere besaßen gerade für ärmere Länder eine existentielle Dimension. Viele bereits vorher am Existenzminimum lebende Menschen konnten die durch die Krise der Weltwirtschaft ausgelöste zusätzliche Verteuerung bzw. Verknappung von Lebensmitteln nicht kompensieren und fielen Hungersnöten zum Opfer.Footnote 8 Unabhängig von den durch die Maßnahmen hervorgerufenen materiellen oder gesundheitlichen Schäden müssen aber auch die mit ihnen verbundenen Grundrechtseinschränkungen als solche in die Gesamtrechnung mit einbezogen werden. Denn wenn eine Maßnahme eklatant in die Freiheits- oder sonstigen Grundrechte von Bürgern eingreift, dann steht sie unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck und ist keineswegs automatisch legitim, selbst wenn klar sein sollte, dass sie bezogen auf ökonomische oder Public-Health-Gesichtspunkte mehr Nutzen als Schaden verursacht. Ob die Grundrechtseinschränkungen vor diesem Hintergrund gerechtfertigt waren, erscheint in vielen Punkten durchaus als äußerst fraglich.Footnote 9

2 Das dominante Narrativ und die plurale Autorität der Wissenschaft

Nun mag man einräumen, dass sich das dominante Narrativ oder zumindest wesentliche Teile davon im Nachhinein als fragwürdig herausgestellt haben, gleichwohl aber den Standpunkt vertreten, dass es in der Früh- und Hochphase der Corona-Krise angesichts der damals zugänglichen Gesamt-Evidenzlage (d. h. unter Berücksichtigung aller Typen von Evidenzen, einschließlich sozialer und sonstiger höherstufiger Evidenzen) sehr wohl gerechtfertigt gewesen sei. Das Narrativ – so könnte argumentiert werden – sei damals durchaus durch die plurale epistemische Autorität der Wissenschaft gestützt gewesen und Personen, die das Narrativ mit Verweis auf Slogans wie „Follow the Science“ verteidigt haben, hätten damals richtig gelegen. Ich möchte mich im Rest dieses Kapitels mit genau diesem Standpunkt auseinandersetzen und ihn einer umfassenden Kritik unterziehen. Meine These lautet, dass die angemessene epistemische Haltung gegenüber dem dominanten Narrativ sowie der Behauptung, dieses sei durch die plurale Autorität der Wissenschaft gestützt, zu jeder Zeit eine erhebliche Skepsis hätte sein müssen. Um dies zu demonstrieren, werde ich drei Typen von Argumenten diskutieren, bei denen es (i) um das Verhältnis von empirischen und normativen Urteilen, (ii) die interdisziplinäre Komplexität des dominanten Narrativs und (iii) Schwierigkeiten bei der Ermittlung von Mehrheitsverhältnissen in den einschlägigen wissenschaftlichen Gemeinschaften sowie dem Umgang mit Dissens gehen wird. Ich möchte die Auseinandersetzung mit den Punkten (i) und (ii), die meiner Wahrnehmung nach in der wissenschaftsphilosophischen Literatur inzwischen bereits recht ausführlich diskutiert worden sind, eher knapphalten, um dann ausführlicher auf Punkt (iii) einzugehen.

2.1 Empirische und normative Urteile

Entscheidend für den ersten Argument-Typ ist die Beobachtung, dass einige der Annahmen des dominanten Narrativs zumindest partiell normativen bzw. evaluativen Charakter haben, insbesondere die Annahmen c (das Schaden-Nutzen-Profil der Maßnahmen spricht zu deren Gunsten) und d (es gibt keine alternativen milderen Mittel, die hinreichend effektiv wären). Nun kann uns die empirische Wissenschaft mit ihren Mitteln bestenfalls sagen, wie die Welt beschaffen ist (Deskription), warum sie so beschaffen ist (Explanation) oder wie sie sich unter bestimmten Umständen weiterentwickeln wird (Prognose), aber sie kann uns nicht unmittelbar sagen, wie auf bestimmte existierende oder zu erwartende Weltzustände reagiert werden sollte. Wenn wir wissen, dass eine politische Maßnahme dazu geeignet ist, eine bestimmte Wirkung X zu erzielen, gleichzeitig aber auch mit einer Nebenwirkung Y einhergehen wird, dann bedarf es vor der Umsetzung der Maßnahme eines normativen bzw. evaluativen Urteils, ob es die gewünschte Wirkung X tatsächlich Wert ist, dass dafür die Nebenwirkung Y in Kauf genommen wird. Um ein drastisches Beispiel zu verwenden: Die Exekution der gesamten Bevölkerung dürfte ein sehr effektives Mittel sein, um die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern (das Ziel, dass es keine Kranken gibt, wird erreicht); eine vernünftige normative Abwägung wird dennoch zu dem Schluss kommen, dass diese Methode nicht umgesetzt werden sollte.

Selbst wenn alle empirischen Fragen unter Rekurs auf die einschlägigen Experten geklärt sein sollten, müssen vor politischen Entscheidungen (oder Entscheidungen generell) normative Abwägungen getroffen werden, für die empirische Wissenschaftler per se keine größere Expertise besitzen als andere Personen. Wenn dies nicht berücksichtigt wird, wenn politische Entscheidungen unmittelbar mit empirischen Forschungsergebnissen und unter Verweis darauf, man solle doch „der Wissenschaft folgen“, gerechtfertigt werden, dann läuft das auf etwas hinaus, was man einen „expertokratischen“ oder „szientistischen Fehlschluss“ nennen könnte. Genau diese Art von Fehlschluss ist während der Corona-Krise oft begangen worden.Footnote 10 In Zeitungen waren Aussagen zu lesen wie „Die Mediziner haben ein Urteil gefällt, das wir umsetzen müssen“Footnote 11, Politiker oder Regierungssprecher haben beschlossene Maßnahmen mit unmittelbarem Verweis auf Experten-Urteile begründet, und auch Wissenschaftler oder wissenschaftliche Institutionen haben Forschungsresultate oft so dargestellt, als ergäben sich daraus zwangsläufig bestimmte politische Handlungsfolgen. Ein vieldiskutiertes Beispiel ist die 7. Ad-hoc-Stellungnahme der deutschen Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina vom 8. Dezember 2020, in der es heißt, es sei „aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl an Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern“ (Leopoldina 2020). Diese Formulierung ist irreführend, weil es „aus wissenschaftlicher Sicht“ weder notwendig noch nicht notwendig sein kann, einen harten Lockdown oder irgendeine andere Maßnahme zu ergreifen. Nur wenn Ziele spezifiziert werden, die erreicht werden sollen, und eine Abwägung der Kosten erfolgt ist, die für die Erreichung dieser Ziele opportun sind – beides kann die empirische Wissenschaft als solche nicht allein leisten –, können bestimmte Maßnahmen als mehr oder weniger geboten erscheinen.Footnote 12

Expertokratische bzw. szientistische Fehlschlüsse sind nicht allein aufgrund der kategorialen Verwechslung von Fakten und Normen bzw. Werten problematisch, und auch nicht allein aufgrund des Umstands, dass sie politischen Entscheidungen eine Schein-Legitimität verleihen, die sie in Wirklichkeit gar nicht besitzen. Sie sind, wie Trotter (2021) ausführt, auch deshalb problematisch, weil sie auf lange Sicht die epistemische Autorität der Wissenschaft zu unterhöhlen drohen. Die Wissenschaft enthält keine inhärente Festlegung auf bestimmte politische Werte, und gerade aufgrund dieser Nicht-Festlegung wird sie weithin als moralisch und politisch unparteiische epistemische Autorität anerkannt. In dem Maße jedoch, in dem sie von bestimmten politischen Kräften vereinnahmt wird, könnte sie genau diesen Status einbüßen.

2.2 Interdisziplinäre Komplexität

Das gerade diskutierte Argument betraf speziell die normativen bzw. nicht-empirischen Aspekte des dominanten Narrativs. Es gibt darüber hinaus noch weitere Gründe zur Skepsis gegenüber der Behauptung, eine Befürwortung des dominanten Narrativs hätte sich als schlichtes „Folgen der Wissenschaft“ interpretieren und dadurch rechtfertigen lassen, Gründe, die ausschließlich die empirischen Aspekte des dominanten Narrativs betreffen – also etwa Annahmen wie die, dass Lockdowns oder andere Maßnahmen mit diesen oder jenen empirischen Wirkungen einhergehen. Das Argument, um das es im Folgenden gehen soll, lautet, dass diese empirischen Aspekte ausgesprochen vielfältig sind und ihre Beurteilung in die Domänen sehr vieler wissenschaftlicher Disziplinen fällt. Demgegenüber ist der öffentliche Diskurs während der Corona-Krise über weite Strecken hinweg durch eine „expertielle Monokultur“ (Bogner/Menz 2021) geprägt gewesen, bei der die Menge der überwiegend sichtbaren Disziplinen nur sehr begrenzt war. Auf dieser beschränkten Grundlage konnten wesentliche Teile des dominanten Narrativs (insbesondere der Satz c in meiner Charakterisierung) eigentlich gar nicht in belastbarer Weise empirisch gerechtfertigt werden, jedenfalls nicht in der Form und Stärke, wie dies weithin behauptet wurde.

Mit Blick auf die Ratgebergremien der Politik hat Matthias Schrappe im Dezember 2020 beklagt, dass diese sehr einseitig besetzt seien: In ihnen fänden sich

vorrangig naturwissenschaftlich orientierte Virologen, die die Pandemie am liebsten unter dem Mikroskop bekämpfen wollen und Epidemiologen, die das Infektionsgeschehen anhand von mathematischen Modellen ausrechnen. Niemand von ihnen ist wirklich vor Ort und versteht ganz konkret, wie es zum Beispiel um die Infektiosität von Kindern oder Türklinken steht. (Schrappe 2020)

Schrappe bezieht sich mit seiner Äußerung auf eine Einseitigkeit innerhalb des Bereichs der im weitesten Sinn medizinischen Teildisziplinen. Aber selbst wenn die Medizin in ihrer ganzen Breite angemessen berücksichtigt gewesen wäre, wäre das Feld relevanter Disziplinen damit bei weitem noch nicht ausgeschöpft gewesen.Footnote 13 Denn wie schon angedeutet, haben Lockdowns und andere Maßnahmen potentiell sehr vielfältige Auswirkungen, die von psycho-sozialen Belastungen über Probleme bei Bildung und Kindererziehung bis hin zu weitreichenden ökonomischen Konsequenzen für die nationale und die Weltwirtschaft reichen. Ein interessantes Korollar der Feststellung dieser großen interdisziplinären Komplexität ist übrigens, dass es in Bezug auf die Corona-Krise eigentlich gar nicht die Experten gab. Vielmehr gab es eine große und heterogene Menge von relevanten Aspekten, für die jeweils bestimmte Personen aus bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen besondere Expertise besaßen, aber es gab praktisch keine Person, die nicht in Bezug auf die allermeisten relevanten Aspekte genauso sehr Laie war wie alle anderen.Footnote 14

Die einseitige Konzentration auf bestimmte Expertisedomänen und die unzureichende Berücksichtigung anderer ist ein weiterer Grund, aus dem Skepsis gegenüber der „Follow the Science“-Formel angebracht gewesen wäre.Footnote 15 Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich in diesem Zusammenhang auch dadurch, dass zumindest in der Anfangszeit der Corona-Krise gar nicht unbedingt klar war, welche Aspekte, welche Personengruppen, soziale Teilsysteme und Lebensbereiche überhaupt von welchen Maßnahmen betroffen sein würden. So gab es mit Lockdowns in der Form, wie sie ab Frühjahr 2020 weltweit verhängt wurden, bis zu diesem Zeitpunkt im Grunde kaum Erfahrungen. Man hat sicherlich von Beginn an die begründete Vermutung haben können, dass es beispielsweise zu negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft kommen würde. Aber einen Gesamtüberblick über die möglichen Auswirkungen und deren Ausmaß gab es nicht. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zu Beginn des Jahres 2021 wurde über Studien berichtet, denen zufolge die im Zuge der Lockdowns gestiegene Nutzung von Computern, Smartphones und anderen digitalen Geräten zu einem Anstieg von Sehstörungen, insbesondere bei Kindern geführt hat (das Phänomen ist als „Quarantäne-Kurzsichtigkeit“ bezeichnet worden, vgl. z. B. Burger 2021). Ich vermute, dass an diese potentielle Auswirkung von Lockdowns zum Zeitpunkt ihrer ersten Verhängung kaum jemand gedacht hat. Wenn das aber so ist, heißt das, dass man zunächst nicht nur das genaue Ausmaß dieser potentiellen Auswirkung des Lockdowns nicht kannte; man wusste vielmehr noch nicht einmal, dass man es nicht kannte (es war ein „unknown unknown“). Bei der durch die Lockdowns vermutlich ausgelösten Wirtschaftskrise hätte man zumindest die Frage „Welches Ausmaß wird diese Krise vermutlich annehmen?“ formulieren und an einschlägige (ökonomische) Experten delegieren können (was aber, wie ich oben argumentiert habe, auch nicht in ausreichendem Maße geschehen ist). Bei der Quarantäne-Kurzsichtigkeit kannte man dagegen nicht nur deren genaues Ausmaß nicht, man konnte noch nicht einmal die entsprechende Frage formulieren und an einschlägige Experten richten.Footnote 16 Gleichwohl hätte man aber zumindest die begründete Vermutung haben können, dass es angesichts der Komplexität der Gesamtsituation und der vielfältigen und tiefgreifenden potentiellen Auswirkungen der beschlossenen oder in Erwägung gezogenen Maßnahmen eine Vielzahl von Auswirkungen geben dürfte, von denen man noch nicht einmal eine Ahnung hat. Man hätte wissen (oder zumindest die begründete Vermutung haben) können, dass es viele Unbekannte gibt.Footnote 17

Es könnte eingewandt werden, dass dieser Umstand von der Politik und im leitmedialen Diskurs durchaus gesehen worden ist. So scheint etwa die gerade in der Anfangszeit der Krise oft gebrauchte Metapher vom „Fahren auf Sicht“ durchaus von einer Sensibilität für das Ausmaß des Unwissens zu zeugen. Das scheint mir allerdings oft lediglich eine Unsicherheits-Rhetorik gewesen zu sein, aus der nicht die richtigen Schlüsse gezogen wurden. Der richtige Schluss aus dem Wissen um die verschiedenen Typen von Unsicherheit verschiedener Stufen (d. h. Wissen um „known unknowns“ und „unknown unknowns“) wäre gewesen, sich in epistemischer Demut zu üben, den Glaubensgrad in die Richtigkeit des dominanten Narrativs herabzusetzen und die Behauptung, dieses sei durch „die“ Wissenschaft legitimiert, als – in dieser Absolutheit – unangebracht zurückzuweisen. Tatsächlich aber haben sich Politiker, Journalisten und andere Personen des öffentlichen Lebens nicht selten der Unsicherheits-Rhetorik bedient, um zugleich mit großer Überzeugung die Richtigkeit des dominanten Narrativs zu unterstellen und dessen Kritiker zu verunglimpfen (als irrational, egoistisch usw. – auf diesen Aspekt werde ich im folgenden Abschnitt noch einmal ausführlicher zurückkommen).Footnote 18

2.3 Schwierigkeiten bei der Ermittlung von wissenschaftlichen Mehrheitsverhältnissen und dem Umgang mit Dissens

Neben den beiden genannten Punkten gibt es einen weiteren Grund zur Skepsis gegenüber der Behauptung, das dominante Narrativ sei durch so etwas wie die plurale Autorität der Wissenschaft legitimiert gewesen. Er betrifft nicht das Verhältnis von normativen und empirischen Aspekten des Narrativs und auch nicht dessen interdisziplinäre Komplexität, sondern er betrifft die Pluralität von Perspektiven bezüglich konkreter, relativ klar umgrenzter empirischer Fragen wie beispielsweise der Frage nach der Höhe der infection fatality rate von SARS-CoV-2 oder der Frage nach der Effektivität von Lockdowns zur Eindämmung oder Verlangsamung der Ausbreitung des Virus. Diese Fragen haben nicht unmittelbar normativen Charakter (wie auch immer die Antworten ausfallen, die Einschätzung, ob man Lockdowns verhängen sollte, ist durch sie noch nicht determiniert) und es dürfte kaum strittig sein, dass sie in die Zuständigkeit einer relativ klar umgrenzten Fachdisziplin bzw. Menge von Fachdisziplinen (hier insbesondere Virologie und Epidemiologie) fallen.

Ich möchte im Folgenden argumentieren, dass der Umgang mit diesen und anderen, ähnlich gelagerten Fragen im öffentlichen Diskurs während der Corona-Krise in einer fundamentalen Hinsicht, die für jeden hinreichend aufmerksamen und kompetenten Bürger sichtbar war oder hätte sichtbar sein können, epistemisch defizitär war, und zwar in einer Hinsicht, die weder etwas mit einem illegitimen Übergang vom Empirischen zum Normativen zu tun hat, noch mit mangelnder Interdisziplinarität. Der im öffentlichen Diskurs vorherrschende und durch Politik und Leitmedien weit überwiegend gestützte Eindruck lautete, dass es einen wissenschaftlichen Konsens oder zumindest eine große Mehrheit unter den relevanten Experten gäbe, die zugunsten von Auffassungen wie der spreche, die infection fatality rate von SARS-CoV-2 liege um ein Vielfaches oder gar Größenordnungen über derjenigen der Influenza, oder der Auffassung, Lockdowns seien ein effektives Mittel zur Eindämmung der Pandemie oder zur „Abflachung der Kurve“. Nun gab es allerdings durchaus bereits in der Anfangsphase der Krise eine ganze Reihe von teils hochkarätigen Experten, die deutlich abweichende Auffassungen vertraten. Bekannte Namen im deutschsprachigen Raum sind unter anderen etwa Sucharit Bhakdi, Karin Mölling, Wolfgang Wodarg oder Andreas Sönnichsen oder im angelsächsischen Bereich John Ioannidis, Sunetra Gupta, Martin Kulldorff oder Jay Bhattacharya. Von diesen und anderen Experten wurden bereits früh Hypothesen wie die ins Spiel gebracht, dass die infection fatality rate wesentlich niedriger oder dass ein Lockdown weniger effektiv ist, als vielfach unterstellt wurde.Footnote 19

Eine verbreitete Reaktion auf solche abweichenden Stimmen – sofern sie in Politik und Leitmedien überhaupt wahrgenommen wurden – war, sie als unseriös oder als kaum ins Gewicht fallende Minderheit darzustellen. Auf den letzteren Punkt werde ich gleich noch ausführlich zu sprechen kommen; zunächst möchte ich jedoch kurz auf zwei häufig genannte Aspekte eingehen, mit denen die Seriosität der „dissidenten Experten“ in Zweifel gezogen wurde.

Eine häufig gegen dissidente Experten verwendete Strategie bestand darin, ihnen die einschlägige Expertise abzusprechen, indem sie entweder als rundweg unqualifiziert dargestellt wurden oder als zwar qualifiziert, aber nicht in der relevanten Expertisedomäne. Der letztere Fall läuft auf den Vorwurf des „epistemic trespassing“ hinaus (Ballantyne 2019), d. h. des unrechtmäßigen Überschreitens des Bereichs, in dem ein Experte Expertise besitzt. Auf diesen Vorwurf kann zum einen erwidert werden, dass viele dissidente Experten durchaus einschlägige Expertise besaßen und entsprechende Vorwürfe des epistemic trespassing schlicht fehlgeleitet waren.Footnote 20 Mit Recht konnten etwa Levy/Savulescu (2020, 12) zu Beginn der Corona-Krise konstatieren:

But distinguishing the crank from the genuine expert is not the dilemma that confronts us here. We are faced with deciding how to act in the face of conflicting testimony from genuine experts. Both sides are extremely well credentialed. For instance, Neil Ferguson, whose modelling has been very influential on the UK government’s response to the virus, heads the Medical Research Council Centre for Global Infectious Disease Analysis at Imperial College London, while John Ioannidis, who is the best-known expert urging a less heavy handed response, is one of the most highly cited medical experts in the world (with an eye-watering H-index of 197). Criteria like prizes, independence and integrity, and track records do not seem useful in adjudicating disputes like this.Footnote 21

Zweitens muss bedacht werden, dass sich Expertisedomänen oft gar nicht so klar voneinander abgrenzen und sich Propositionen immer genau einer dieser Domänen zuordnen lassen (vgl. dazu Watsons (2022) und Gerkens (2023) kritische Diskussionen des Arguments von Ballantyne). Ein dritter, damit zusammenhängender Aspekt betrifft das Phänomen des intellektuellen Bias, auf das ich in Abschnitt 12.2.1 eingegangen war. Wie dort ausgeführt, sind bei sog. Konsenskonferenzen mit Absicht nicht diejenigen Experten, die auf einem bestimmten Gebiet sozusagen an der Forschungsfront aktiv sind, eingeladen worden, um über Fragen zu diesem Gebiet zu referieren, weil – so die Überlegung – solche Personen sich in besonderer Weise mit ihren theoretischen oder methodischen Ansätzen identifizieren, ihre Karrieren mit dem Erfolg dieser Ansätze verknüpft sind und sie vor diesem Hintergrund nicht unbefangen dazu Auskunft geben können. Vielmehr wurden vorzugsweise Wissenschaftler mit angrenzenden Forschungsschwerpunkten befragt, weil diese immer noch hinreichend gute Kenntnisse besitzen, aber weniger durch den intellektuellen Bias kompromittiert sind. Schließlich muss, viertens, an die bereits angestellte Überlegung erinnert werden, dass die Corona-Krise uns mit einer äußert komplexen Gesamtsituation konfrontiert hat, für deren Bewältigung zahlreiche Expertisedomänen relevant waren. Der Vorwurf, kein Spitzenvirologe oder -epidemiologe zu sein, ist unangemessen, wenn die von der entsprechenden Person gemachten Behauptungen gar nicht (oder nicht primär oder ausschließlich) im engeren Sinn virologischer oder epidemiologischer Natur waren. Und gerade für den so wichtigen Abgleich und die Integration von Evidenzen aus unterschiedlichen Expertisedomänen ist nicht unbedingt der Experte mit der punktuell größten Expertise in einer dieser Domänen am besten geeignet, sondern eher derjenige mit einem guten Überblick sowie der Fähigkeit, auch die mit den unterschiedlichen Evidenzen jeweils verbundenen Unsicherheiten und höherstufigen Evidenzen (etwa bezüglich der Qualität der erststufigen Evidenzen oder auch bezüglich der Möglichkeit, dass diese durch Biases o.ä. verzerrt sein könnten) berücksichtigen zu können.Footnote 22

Ein zweiter gegen einige dissidente Experten mitunter gerichteter Vorwurf bezog sich auf deren fortgeschrittenes Alter (das betraf beispielsweise die damals bereits emeritierten Professoren Mölling und Bhakdi). Hintergrund dieses Vorwurfs scheint die Überlegung zu sein, dass mit fortgeschrittenem Alter die intellektuelle Leistungsfähigkeit schwindet und die Personen die aktuelle Forschung nicht mehr oder nicht mehr mit derselben Intensität verfolgen wie Personen im aktiven Dienst. Dem kann man allerdings zum einen entgegenhalten, dass der Eintritt ins Pensionsalter nicht zwangsläufig mit einem Verlust an intellektueller Fähigkeit einhergeht und auch pensionierte Wissenschaftler weiterhin Forschung betreiben oder die Forschungsdebatte verfolgen können. Darüber hinaus, und wichtiger noch, kann gerade ein fortgeschrittenes Alter und der Pensionsstatus auch mit besonderen epistemischen Ressourcen einhergehen, die sich daraus ergeben, dass pensionierte Wissenschaftler nicht mehr den institutionellen Zwängen unterliegen, denen jüngere Kollegen oft ausgesetzt sind. In der Regel unterliegen sie keinen Weisungen von Universitätsleitungen mehr, stehen nicht mehr unter dem Druck, Drittmittel einwerben zu müssen, und sind materiell abgesichert. Gerade in einer Situation, die durch ein toxisches Diskursklima und enormen öffentlichen Druck, das dominante Narrativ nicht infrage zu stellen, geprägt war (darauf komme ich gleich noch ausführlicher zu sprechen), scheint das kein unerheblicher Aspekt zu sein.Footnote 23

Was schließlich bei beiden Typen von Vorwürfen (fehlende einschlägige Expertise und fortgeschrittenes Alter) bedacht werden muss, ist das Problem der doppelten Standards. Wer dissidenten Experten vorgeworfen hat, dass sie etwa (vermeintlich) keine Koryphäen auf den Gebieten der Virologie oder Epidemiologie sind, hätte dasselbe Kriterium dann auch auf Experten anwenden müssen, die zugunsten des dominanten Narrativs plädierten und denen in den Leitmedien breiter Raum zur Erörterung virologischer oder epidemiologischer Fragen eingeräumt wurde, auch wenn sie in ihrer Forscherkarriere bis dato nicht zu Coronaviren oder Epidemien gearbeitet hatten oder nicht einmal Mediziner waren (sondern z. B. ausgebildete Physiker oder Experten für neuronale Netze; vgl. dazu auch Lütge/Esfeld 2021, 60 f.).

Wie bereits angedeutet, bestand der vielleicht wichtigste Einwand gegen die dissidenten Experten allerdings nicht im Verweis auf ihre vermeintlich fehlende Expertise oder ihr Alter, sondern in der Behauptung, sie würden innerhalb der Expertengemeinschaft lediglich eine kaum ins Gewicht fallende Minorität repräsentieren oder sich gar gegen einen bereits etablierten „wissenschaftlichen Konsens“ stellen. Die Unterstellung, es habe in zentralen Fragen wissenschaftliche Konsense zugunsten des dominanten Narrativs gegeben, war bereits im März 2020 sehr verbreitet (sie fand sich beispielsweise in vielen sog. Faktenchecks).Footnote 24 Häufig wurde eine Parallele zur Klimaforschung gezogen. Dissidente Corona-Experten wurden auf eine Stufe mit Personen gestellt, die die Existenz des Klimawandels anzweifeln, und als „Wissenschafts-“ oder „Coronaleugner“ abqualifiziert (analog zu den „Klimaleugnern“; vgl. z. B. den Artikel von Rahmstorf 2020).Footnote 25

Diese Parallele war aber aus mehreren Gründen äußerst fragwürdig und hätte auch unmittelbar als fragwürdig erkannt werden können.Footnote 26 Wenn es einen belastbaren wissenschaftlichen Konsens in Bezug auf die Existenz eines anthropogenen Klimawandels gibt, dann hat es zur Herausbildung dieses Konsenses Jahrzehnte klimatologischer Debatten gebraucht. Demgegenüber hatte es bis Frühjahr 2020 gerade einmal einige Wochen der Forschung zu Fragestellungen mit unmittelbarer Relevanz für SARS-CoV-2 bzw. Covid-19 gegeben. Bezüglich zentraler Fragestellungen wie etwa der infection fatality rate von SARS-CoV-2 oder der Effektivität von Lockdowns gab es gerade keinen Konsens, und konnte ihn vor diesem Hintergrund gar nicht geben. Wie ich in Abschnitt 11.3 ausgeführt hatte, lässt sich der Begriff eines wissenschaftlichen Konsenses, so wie er üblicherweise verwendet wird, annäherungsweise durch das gemeinsame Vorliegen von drei Kriterien charakterisieren: eines übereinstimmenden Urteils eines Großteils der Mitglieder der Fachgemeinschaft bezüglich der fraglichen Proposition; der Tatsache, dass es eine umfassende Fachdebatte in der Gemeinschaft zu dieser Proposition gegeben hat, die überwiegend als beigelegt wahrgenommen wird; und dem Vorliegen von gemeinsamem Wissen in der Fachgemeinschaft hinsichtlich des Erfülltseins der beiden zuvor genannten Bedingungen. Für die allermeisten der für die Beurteilung des dominanten Narrativs relevanten Fragen dürfte im Frühjahr 2020 (und in vielen Punkten auch darüber hinaus) keine einzige dieser Bedingungen erfüllt gewesen sein. Weder gab es hinreichend deutliche Mehrheiten, geschweige denn wurden die Debatten als „beigelegt“ wahrgenommen (sie hatten ja noch kaum richtig begonnen), und auch die Ausbildung gemeinsamen Wissens setzt intensive Kommunikationsprozesse voraus (denn alle müssen ja die Meinungen von allen anderen in Erfahrung bringen), für die es bis dahin gar nicht genügend Zeit gegeben hatte. Die wissenschaftliche Situation war vielmehr durch große Unsicherheiten, ein hohes Maß an Kontroversität und eine sich schnell verändernde Evidenz- und Studienlage geprägt. Zwar haben wissenschaftliche Akteure durchaus versucht, auf das große Bedürfnis, möglichst schnell belastbare Ergebnisse zu liefern, mit einer massiven Ausweitung und Beschleunigung der Forschungsaktivität zu reagieren. Allerdings ging dieser Beschleunigungsprozess auch mit epistemischen Kosten einher – etwa einer Absenkung etablierter wissenschaftlicher Qualitätsstandards –, und zudem lassen sich viele Erkenntnisprozesse schlicht nicht beliebig beschleunigen.Footnote 27 Hinzu kommt, dass es – wie Lütge/Esfeld (2021, 9 ff.) herausgestellt haben – bis zum Jahr 2019 im Hinblick auf die Bekämpfung von Pan- und Epidemien ganz generell einen gesundheitswissenschaftlichen Konsens gab, diese medizinisch zu bekämpfen und nicht primär durch Lockdowns oder andere nicht-pharmazeutische Interventionen der Art, wie sie dann im Rahmen des dominanten Narrativs befürwortet wurden. Wenn es bereits in der Frühphase der Corona-Krise einen Konsens zugunsten von Lockdowns hätte geben sollen, dann wäre das also doppelt erstaunlich gewesen: Nicht nur hätte sich innerhalb von wenigen Wochen ein wissenschaftlicher Konsens etablieren müssen, er hätte zugleich einen bis dahin bestehenden entgegengesetzten Konsens ablösen müssen.

Vielleicht wird man nun zugestehen, dass es in den ersten Monaten der Corona-Krise (und bezüglich vieler Propositionen weit darüber hinaus) noch keine Konsense in zentralen Fragestellungen gegeben haben konnte, gleichwohl aber darauf insistieren, dass es doch zu jeder Zeit zumindest klare Mehrheitsverhältnisse in den relevanten Fachgemeinschaften gab (auch wenn sich diese vielleicht schnell veränderten und aus Mehrheiten zugunsten bestimmter Proposition schnell Mehrheiten dagegen werden konnten). Es war – so könnte argumentiert werden – trotz der Abwesenheit von Konsensen im engeren Sinn vernünftig, sich epistemisch auf die Mehrheiten zu stützen (die das dominante Narrativ befürworteten) und die dissidenten Experten mit ihren Minderheitenmeinungen weitgehend zu ignorieren.Footnote 28 Die Frage ist aber: Woher wollte man die Mehrheitsverhältnisse überhaupt so genau kennen? Was ab März 2020 sicherlich wahrnehmbar war, war eine große Präsenz von Experten, die sich zugunsten des dominanten Narrativs geäußert haben, in den Leitmedien. Um von dieser Sichtbarkeit in den Leitmedien auf die Mehrheitsverhältnisse in den Fachgemeinschaften zu schließen, musste man allerdings unterstellen, dass die durch die Leitmedien erfolgte Expertenauswahl repräsentativ für die Fachgemeinschaften insgesamt war. Es gab allerdings gewichtige Indizien, aufgrund derer man bezüglich dieser Repräsentativitätsunterstellung hätte skeptisch sein müssen. Eines dieser Indizien ist, dass selbst wissenschaftliche Koryphäen wie John Ioannidis – der als einer der weltweit meistzitierten, wenn nicht der meistzitierte Epidemiologe gelten durfte (und darf) – kaum in den Leitmedien sichtbar waren, sofern sie sich kritisch oder skeptisch zum dominanten Narrativ positionierten. Oder sie wurden nach anfänglichen kritischen Beiträgen oder Interviews in den Leitmedien nicht wieder interviewt. Für die Präsenz eines Experten in den Leitmedien war ganz offensichtlich seine Haltung zum dominanten Narrativ in sehr viel stärkerem Maße verantwortlich als seine bis dahin erworbene wissenschaftliche Reputation, und viele dissidente Experten, die über Jahre hinweg geschätzte Interviewpartner oder Talkshowgäste gewesen waren, wurden plötzlich, allein aufgrund ihrer abweichenden Meinung zum dominanten Narrativ, für unzuverlässig (oder Schlimmeres) befunden und nicht mehr konsultiert.Footnote 29 Häufig musste dann der Rezipient auf die Fachliteratur, die ausländische Presse oder sog. alternative Medien ausweichen, um diese kritischen Positionen wahrzunehmen. Was die Leitmedien betrifft, war schnell klar, dass es einen eklatanten Bias zugunsten des dominanten Narrativs gab, der sich im Laufe der Zeit auch zunehmend durch medienwissenschaftliche Einschätzungen und Studien (wie die in Abschnitt 20.1 bereits erwähnten) belegen ließ.Footnote 30

Ein Erklärungsansatz, mit dem sich dieser Bias zumindest teilweise erklären lassen könnte, besteht im Zusammenspiel von zwei anderen Biases, einem aufseiten der Medien und einem aufseiten der Experten (andere Faktoren wie etwa ökonomische Interessenkonflikte, politische Anreize oder politischer Druck mögen ebenfalls eine Rolle gespielt haben).Footnote 31 Aufseiten der Medien gibt es eine traditionelle Präferenz für dramatische oder erschreckende Meldungen, da diese in stärkerem Maße die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich ziehen und sich besser verkaufen lassen: „Bad news are good news.“ Entwarnung gebende Experten dürften vor diesem Hintergrund schlicht weniger attraktive Interviewpartner gewesen sein. Aufseiten der Experten könnte diesem Phänomen ein komplementärer Effekt entsprechen, den man „urgency bias“ nennen könnte. Tendenziell wird ein Experte vermutlich (ceteris paribus) eher die Disposition haben, in die Medien zu drängen, wenn er der Meinung ist, die Öffentlichkeit vor einer Gefahr oder einer dramatischen Entwicklung warnen zu müssen, wohingegen Experten, die die Situation weniger dramatisch einschätzen, einen geringeren Anlass dafür sehen.Footnote 32 Es soll hier wohlgemerkt kein individueller Vorwurf gegen Wissenschaftler erhoben werden, sofern sie aus einem Verantwortungsgefühl heraus an die Öffentlichkeit getreten sind, um diese vor einer aus ihrer Sicht drohenden großen Gefahr zu warnen.Footnote 33 Der Punkt ist nur der, dass der asymmetrische Anreiz (für Wissenschaftler, die eine große Gefahr erwarten, vs. für Wissenschaftler, die die Gefahr gering einschätzen) und auch das Zusammenspiel dieses Anreizes mit dem erwähnten medialen Bias zugunsten dramatischer Meldungen hätte in Rechnung gestellt werden müssen.Footnote 34

Ich hatte in Abschnitt 14.2 auch das Befragen aktiver Wissenschaftler als mögliche Methode zur Feststellung von Mehrheitsverhältnissen in ihren wissenschaftlichen Communities diskutiert. Ich hatte betont, dass Wissenschaftler zwar in der Regel gut unterscheiden können zwischen den beiden Modi des Beantwortens erststufiger, domänenspezifischer Fragen zu ihrem Fachgebiet auf der einen Seite und des Beantwortens der zweitstufigen Frage, ob es in ihrer Community einen Konsens oder eine Mehrheit zugunsten einer bestimmten Antwort auf eine erststufige Frage gibt, auf der anderen Seite. Zugleich hatte ich aber auch deutlich gemacht, dass in Bezug auf den letzteren Aspekt Anlass zu mehr oder weniger stark ausgeprägtem Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit bestehen kann, da sie einem unbewussten Bias unterliegen können, aufgrund dessen sie zu einer Überschätzung der Verankerung von ihnen präferierter Sichtweisen in ihrer Community tendieren,Footnote 35 oder weil sie diese Verankerung bewusst, aus strategischen Erwägungen heraus stärker darstellen, als sie tatsächlich ist. Der Verweis auf das Bestehen eines wissenschaftlichen Konsenses oder einer signifikanten Experten-Mehrheit kann enormes Gewicht haben. Wenn sich tatsächlich die allermeisten einschlägigen Experten in einer Frage einig sind und diese Einigkeit in der richtigen Art und Weise zustande gekommen ist, dann kommt dem – dies ist ja generell ein Hauptpunkt des vorliegenden Buches – eine große epistemische Autorität zu, an der sich Politiker und andere Akteure in ihrem Handeln orientieren sollten und tatsächlich ja auch häufig orientieren. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass wenn ein Akteur die Verfolgung bestimmter politischer Ziele für richtig hält, dieser Akteur einen signifikanten Anreiz hat, die Situation genau so darzustellen, dass es eine auf die richtige Art und Weise zustande gekommene Einigkeit unter den allermeisten Experten gibt. Das bedeutet aber wiederum, dass Konsens- oder „Einigkeits“-Behauptungen gerade in hochgradig politisierten Kontroversen mit besonderer Vorsicht behandelt werden müssen. So musste etwa die Anfang 2021 gemachte Behauptung der Virologin Melanie Brinkmann, es gäbe zugunsten der von ihr präferierten „No-Covid“-Strategie eine „vorherrschende Meinung“ in der Wissenschaft, der lediglich eine „krasse Minderheit“ entgegenstehe (vgl. Brinkmann 2021), als sehr fragwürdig erscheinen. Als Begründung verwies Brinkmann darauf, dass „mehr als 1000 Wissenschaftler“ aus allen Disziplinen ihr Strategiepapier unterschrieben haben, ohne zu erwähnen, dass die Great-Barrington-Erklärung zugunsten einer liberaleren Vorgehensweise von einer mehrfach größeren Zahl von Experten allein aus dem medizinischen Bereich unterzeichnet worden war. Auch für das John Snow Memorandum, einem im Herbst 2020 initiierten Gegenprogramm gegen die Great-Barrington-Erklärung, war bereits zuvor mit der fragwürdigen Begründung geworben worden, es werde durch einen „wissenschaftlichen Konsens“ gestützt (etwa in Alwan et al. 2020).Footnote 36 Eine problematische Begleiterscheinung der Behauptung vermeintlicher Konsense war auch die von Unterstützern des dominanten Narrativs gestellte Diagnose einer „falschen Balance“ (false balance), also einer unproportionalen medialen Aufmerksamkeit zugunsten der dissidenten Experten, die nicht deren tatsächlicher Bedeutung in der Wissenschaft entsprach. Dass es eine Unausgewogenheit in der medialen Expertenauswahl gab, dürfte sich nach den vorangegangenen Überlegungen wohl behaupten lassen, aber angesichts des Biases der Leitmedien für das dominante Narrativ war es gewiss keine Unausgewogenheit zugunsten der dissidenten Experten, sondern eine zu deren Ungunsten (vgl. dazu auch Friedrich 2021 und Schlott 2022). In einem Ende 2022 gegebenen Interview hat Jay Bhattacharya (einer der Initiatoren der Great-Barrington-Erklärung) die Situation rückblickend so resümiert:

Ich denke, das Problem war, dass die führenden Wissenschaftler schon sehr früh, als die Pandemie begann, beschlossen, dass sie wüssten, wie man mit dem Virus umgehen müsse. Sie betrachteten jede abweichende Meinung, insbesondere von prominenten Wissenschaftlern, als gefährlich. Worin bestand die Gefahr? Die Gefahr bestand darin, dass ihre Politik vielleicht nicht angenommen werden würde. Aber das ist natürlich unverantwortlich. Richtig wäre es gewesen zu versuchen, mit Wissenschaftlern, die anderer Meinung sind, ins Gespräch zu kommen. Stattdessen haben sie so getan, als gäbe es einen Konsens bezüglich ihres Vorgehens. (Bhattacharya 2022)

Ich möchte abschließend noch einmal etwas genauer auf die Art und Weise des Umgangs mit den dissidenten Experten und die sich daraus ergebenden epistemischen Konsequenzen eingehen. Generell wird man sagen können, dass der öffentliche Diskurs während der Corona-Krise sehr problematische, um nicht zu sagen toxische oder pathologische Züge aufgewiesen hat und etwa durch ein hohes Maß an Invektivität, d. h. schmähende, abwertende bzw. ausgrenzende Kommunikation geprägt war.Footnote 37 Diese erfolgte durchaus wechselseitig, ausgehend sowohl von Befürwortern des dominanten Narrativs als auch seinen Kritikern, und jeweils gerichtet gegen die „andere Seite“ – allerdings mit der wichtigen Einschränkung, dass die Diskursmacht zwischen beiden Seiten sehr asymmetrisch verteilt war und das dominante Narrativ von Politik, Leitmedien und anderen mächtigen Institutionen gestützt wurde.Footnote 38 In diesem Sinne hat auch der Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG in seinem Evaluationsbericht festgestellt:

Abweichende Meinungen wurden in der Corona-Pandemie oft vorschnell verurteilt. Wer alternative Lösungsvorschläge und Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. Dabei ist eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten langfristig nur schwer denkbar. (Sachverständigenausschuss nach § 5 Abs. 9 IfSG 2022, 57)

Als Begleiterscheinung der invektiven Kommunikation konnte eine Polarisierung zwischen den beiden Seiten beobachtet werden, die sich zugleich als Effekt und – aufgrund einer selbstverstärkenden Dynamik – als Ursache wiederum neuer Invektivität rekonstruieren lässt (vgl. dazu ausführlicher Hauswald 2023a, 488 ff.). Ein charakteristisches epistemisches Merkmal von Polarisierung ist das wechselseitige Unverständnis und die Ablehnung einer ernsthaften und ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit den Argumenten der „anderen Seite“. Es scheint hier beinahe so etwas wie jene von Kuhn (1996) beschriebene Inkommensurabilität zwischen konkurrierenden Paradigmen gegeben zu haben. Ian James Kidd und Matthew Ratcliffe haben in einem im Herbst 2020 erschienenen Artikel mit dem Titel „Welcome to Covidworld“ im Hinblick auf die Konfrontation zwischen Befürwortern und Kritikern des dominanten Corona-Narrativs die – ebenfalls bereits von Kuhn verwendete – Metapher vom „Leben in verschiedenen Welten“ aufgegriffen:

Academic philosophers, such as us, like to question assumptions, consider alternative perspectives and find holes in arguments. However, in questioning the orthodox Covid-19 narrative (according to which there is an unprecedented threat, best dealt with via extreme social restrictions), we are rarely met with careful consideration and counterarguments. More often, we get awkward looks, expressions of discomfort or disapproval, and a steadfast refusal to even contemplate the possibility of certain claims being mistaken or certain actions misguided. […] Sometimes, it can feel as though one’s interlocutors live in another world, a place where different rules and standards apply, where different things seem obvious, and where certain facts are not up for debate at all. They operate with different sets of certainties, in ways that lock out the possibility of critical discussion. We think this may actually be what is happening: there really is a way in which many people have come to inhabit a different world. (Kidd/Ratcliffe 2020)

Was Kidd und Ratcliffe hier beschreiben, ist eine Situation, in der von anderen formulierte Diskursbeiträge nicht mehr als ernstzunehmende Argumente wahrgenommen werden, sondern als gefährliche „Desinformation“, pathologische Verirrung oder schlicht „Unsinn“, der im engeren Sinn gar nicht intelligibel, gar nicht verständlich istFootnote 39 und dem entsprechend nicht mit Gegenargumenten, sondern mit „Debunking“, zensurartigen Maßnahmen oder vielleicht therapeutischen Methoden zu begegnen ist. Berücksichtigt man zusätzlich die asymmetrische Verteilung der Diskursmacht zwischen Anhängern und Kritikern des dominanten Narrativs, lässt sich vor diesem Hintergrund ein Stück weit der schwere Stand erklären, den letztere während der Corona-Krise im öffentlichen Diskurs hatten.

Die gerade angestellten Überlegungen zu Diskursklima, Invektivität und Polarisierung betreffen den öffentlichen Diskurs während der Corona-Krise grundsätzlich, nicht speziell den Umgang mit dissidenten Experten. Diese waren davon allerdings auch betroffen. Bei Experten, die sich auch in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit exponiert haben (also bei Experten, die in Interviews, Talkshows usw. sichtbar waren), konnte das vielfach beobachtet werden. Ich erinnere nur exemplarisch an den Twitter-Hashtag „#SterbenmitStreeck“ (vgl. Zeit 2020). Aber auch weniger im „Rampenlicht“ stehende Wissenschaftler bzw. der wissenschaftliche Diskurs insgesamt standen unter dem Eindruck der allgemeinen gesellschaftlichen Situation mit ihren vielfältigen problematischen Aspekten.Footnote 40 In Abschnitt 12.3 hatte ich ausgeführt, dass die Wissenschaft zwar ein autonomes soziales System mit eigenen Normen und Regeln ist, dass sie aber gleichwohl nicht als völlig frei von mehr oder weniger ausgeprägter Beeinflussung oder „Interpenetration“ durch andere soziale Teilsysteme vorgestellt werden darf. Solche Interpenetrationsprozesse haben während der Corona-Krise ein besonderes Ausmaß angenommen, allein schon als Begleiterscheinung der enormen öffentlichen Aufmerksamkeit, die wissenschaftliche Experten und der Wissenschaft generell zuteilwurde.Footnote 41

Die sozialen Sanktionen, denen dissidente Experten ausgesetzt waren, beschränkten sich nicht allein auf invektive Attacken. Shir-Raz et al. (2023) haben die Erfahrungen, die dissidente Experten während der Corona-Krise gemacht haben, in einer empirischen Studie systematisch untersucht, u. a. durch qualitative Interviews mit betroffenen Personen. Sie schlussfolgern: „In the effort to silence alternative voices, widespread use was made not only of censorship, but of tactics of suppression that damaged the reputations and careers of dissenting doctors and scientists, regardless of their academic or medical status and regardless of their stature prior to expressing a contrary position.“ (408) Im Einzelnen handelte es sich bei den Sanktionen, mit denen die interviewten dissidenten Experten konfrontiert waren, u. a. um die Löschung ihrer Social-Media-Accounts und andere Formen des sog. Deplatformings oder auch der Unsichtbarmachung ihrer Inhalte (das sog. Shadow banning), um offizielle Untersuchungen etwa durch Gesundheits- und andere Behörden, die Aberkennung ihrer medizinischen Approbationen, Jobverlust oder juristische Verfolgung.

Welche epistemischen Konsequenzen ergeben sich aus den betrachteten Phänomenen? Liester (2022) unterscheidet im Anschluss an Martin (2014) zwischen primären und sekundären Effekten, die ein repressives Diskursklima wie das während der Corona-Krise in der Wissenschaft zeitigen kann. Bei primären Effekten handelt es sich um negative Konsequenzen unmittelbar für die dissidenten Experten, die ihre heterodoxen Auffassungen öffentlich artikulieren – Konsequenzen, wie sie von Shir-Raz et al. untersucht wurden. Sekundäre Effekte sind solche, die dissidente Experten betreffen, die sich nicht öffentlich äußern, dies aber unter anderen Umständen tun würden. Ein sekundärer Effekt liegt etwa vor, wenn ein Experte mit heterodoxen Auffassungen die sozialen Sanktionen beobachtet, die andere, sich öffentlich äußernde dissidente Experten erfahren, und aus Furcht vor ähnlichen Sanktionen davon Abstand nimmt, sich selbst ebenfalls öffentlich zu exponieren (wobei es um Exponierung in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit genauso wie in der allgemeinen Öffentlichkeit geht). Sekundäre Effekte ergeben sich gewissermaßen aus der Wahrnehmung, der Beobachtung primärer Effekte: „Reprisals against individuals can have a powerful effect on others who observe what happens if they raise objections or concerns and subsequently become afraid of suffering the same consequences. This can lead to a fear of speaking out against the dominant narrative.“ (Liester 2022)Footnote 42

Sekundäre Effekte sind keine bloße theoretische oder spekulative Möglichkeit; es gibt (und gab bereits zu frühen Zeitpunkten) vielfältige Belege, dass sie tatsächlich in signifikantem Maße während der Corona-Krise aufgetreten sind. So bejahten in der bereits erwähnten Umfrage unter knapp 200 deutschsprachigen Wissenschaftlern aus Virologie und angrenzenden Fachbereichen vom Mai 2020 (Schindler et al. 2020) ca. 30 % das Item „Kritische Stimmen, die Panikmache vorwerfen, werden zu selten gehört oder fertig gemacht“ und ca. 33 % das Item „Ich sehe die freie Meinungsäußerung in der Wissenschaft aktuell bedroht, da bestimmte Meinungen nicht opportun sind“. Der Kommentar des Studienleiters Michael Schindler dazu: „Ein aus unserer Sicht bedenkliches Ergebnis. Wenn sich ein Drittel der Fachkolleginnen und Kollegen in ihrer freien Meinungsäußerung bedroht sieht, sollten wir unsere Diskussionskultur grundsätzlich hinterfragen.“ (Universitätsklinikum Tübingen 2020)Footnote 43

Ein zweites Beispiel: In einem Bericht vom Oktober 2020 diagnostiziert Laurie Clarke eine „Hyper-Polarisierung“ in der Wissenschaft und konstatiert, Wissenschaftler fürchteten die „toxische“ Covid-19-Debatte. Sie berichtet:

Some epidemiologists I approached for this article said they couldn’t speak to me for this reason. One said by email that for someone who, like them, is at an early stage in their career, “putting your head above the parapet is a dangerous thing to do at the moment”. They said growing frustration “means there is a lot of anger, and a lot of the scientific discourse has become very acrimonious and even personal… It’s beginning to feel like open discussion is being stifled.” (Clarke 2020)

Auch die öffentlich sichtbaren dissidenten Experten hatten Ähnliches zu berichten – etwa Jay Bhattacharya: „One of the things that happened with the Great Barrington Declaration is that after we released it I’ve lost track of how many scientists have written to me saying they’ve silenced themselves“ (Bhattacharya 2021), oder Scott Atlas: „I have received hundreds of emails from academics around the country urging me to keep speaking the truth. They say they are too afraid to do it themselves.“ (Atlas 2022)Footnote 44

Ich denke, dass wir neben den Kategorien der primären und sekundären Effekte noch einen weiteren, tertiären Typ von Effekten unterscheiden sollten. Ich meine damit Effekte, die sich als Resultat der primären und sekundären Effekte ergeben, insbesondere auch im Hinblick auf Experten mit einer (bis dato) agnostischen oder zustimmenden Einstellung zum dominanten Narrativ. Sowohl die primären als auch die sekundären Effekte betreffen unmittelbar ja Personen mit einer bereits kritischen Haltung zum dominanten Narrativ, nur dass im einen Fall die Kritik geäußert (und negativ sanktioniert) und im anderen Fall (aus Furcht vor Sanktionen) zurückgehalten wird. Der Punkt ist nun der, dass wenn potentielle Kritik zurückgehalten wird, dies eine Auswirkung auf den Diskurs in der Gemeinschaft insgesamt hat, einschließlich derjenigen Mitglieder mit (bislang) unkritischer Haltung. Tertiäre Effekte haben etwas damit zu tun, dass die Lager innerhalb wissenschaftlicher Gemeinschaften – die Befürworter und Gegner bestimmter Ansätze – nicht unveränderlich oder statisch sind, sondern wachsen und schrumpfen je nachdem, wie sich der wissenschaftliche Diskurs in den fraglichen Gemeinschaften entwickelt. Ich hatte in Abschnitt 12.1.2 auf die wichtigen Funktionen hingewiesen, die mit epistemischer Diversität, Pluralismus und einem freien Diskurs innerhalb der Wissenschaft verbunden sind. Beispielsweise werden die Schwächen theoretischer oder methodischer Ansätze häufig eher von deren Gegnern erkannt als von ihren Anhängern. Wenn Wissenschaftler Kritik an konkurrierenden Ansätzen üben, dann ist das typischerweise ein Anlass für die Anhänger dieser Ansätze, zu versuchen, ihre Ansätze gegen diese Kritik zu verteidigen und sie dadurch zu verbessern, für einige kann es aber auch ein Anlass sein, grundsätzliche Zweifel an ihren bisherigen Ansätzen auszubilden, sich den existierenden alternativen Ansätzen zuzuwenden oder gänzlich neue zu entwickeln. Wenn aber nun künstlich, aufgrund nicht-epistemischer, politischer Faktoren – beispielsweise einem System ungleichmäßig verteilter sozialer Anreize und Sanktionen – bestimmte Lager einen Vor- und andere einen Nachteil bekommen, dann verzerrt das diese Dynamik. Wie wir gesehen hatten, gab es sekundäre Effekte, die darin bestanden, dass die existierende Kritik am dominanten Narrativ oder deren Ausmaß unsichtbar wurde. Tertiäre Effekte sind Konsequenzen, die sich daraus für die (bisherigen) Anhänger des Narrativs oder (bisher) agnostische Wissenschaftler ergaben. Wissenschaftler mit agnostischer oder zustimmender Haltung zum Narrativ, die unter anderen Umständen – angeregt durch die von Kritikern formulierten Einwände – begonnen hätten, am dominanten Narrativ zu zweifeln oder einen alternativen Ansatz zu verfolgen, sahen womöglich gar keinen Anlass dazu, da sie mit der entsprechenden Kritik gar nicht oder nicht in hinreichendem Maße konfrontiert waren. Die Folge ist, dass das Lager der Anhänger des dominanten Narrativs aufgrund der sekundären Effekte nicht nur größer aussah, als es war, sondern es aufgrund der tertiären Effekte auch tatsächlich größer war, als es gewesen wäre, wenn die Dynamik des wissenschaftlichen Diskurses durch rein epistemische Faktoren beeinflusst gewesen wäre.

Welche Schlussfolgerungen sollten wir aus diesen Überlegungen ziehen? Für unsere Belange sind insbesondere die zusätzlichen Schwierigkeiten relevant, die für Versuche resultierten, Mehrheiten in wissenschaftlichen Gemeinschaften als Wahrheitsindikatoren für bestimmte, für das dominante Narrativ einschlägige Propositionen zu verwenden. Ich hatte zunächst auf den leitmedialen Bias zugunsten des dominanten Narrativs verwiesen, dessen Konsequenz darin bestand, dass die Experten, die eine kritische Einstellung zum dominanten Narrativ in der Wissenschaft artikulierten, in den Leitmedien unterrepräsentiert waren. Die sekundären Effekte hatten die zusätzliche Konsequenz, dass der Kreis der Wissenschaftler, die eine kritische Einstellung zum dominanten Narrativ artikuliert haben, wiederum deutlich kleiner war als der Kreis der Wissenschaftler, die eine kritische Einstellung zum Narrativ hatten (da viele davon ihre Kritik aus Angst vor primären Effekten für sich behielten). Und die tertiären Effekte führten schließlich dazu, dass das Lager der Experten mit einer kritischen Einstellung noch einmal kleiner war, als es gewesen wäre, wenn ein nur durch epistemische Faktoren beeinflusster, freier wissenschaftlicher Diskurs stattgefunden hätte. Der leitmediale Bias und die sekundären Effekte hatten zur Folge, dass das kritische Lager kleiner aussah, als es in Wirklichkeit war, was Schwierigkeiten bei der Lösung des einen Teils des Identifikationsproblems, nämlich der Feststellung der wissenschaftlichen Mehrheiten – den potentiellen Wahrheitsindikatoren – mit sich brachte. Tertiäre Effekte hatten die zusätzliche Konsequenz, dass Mehrheiten zugunsten des dominanten Narrativs (einmal unterstellt, dass die Befürworter tatsächlich in der Mehrheit waren) nur bedingt überhaupt wahrheitsindikative Eigenschaften hatten, da sie nicht oder nur bedingt in der epistemisch richtigen Art und Weise – durch einen freien wissenschaftlichen Diskurs – zustande gekommen waren.

Eine in der Literatur zu Pluralismus, epistemischer Diversität und der „Weisheit der Vielen“ artikulierte Grundidee lautet, dass Kollektive oft besser darin sind, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, als selbst die kompetentesten Einzelindividuen, weil die epistemischen Verzerrungen, denen Einzelindividuen unweigerlich unterliegen, auf kollektiver Ebene durch gegenläufige Verzerrungen gewissermaßen ausgeglichen werden. Allerdings gilt dies nur unter geeigneten Bedingungen. Stellen wir uns, um nochmal Galtons Beispiel heranzuziehen, eine Expertengemeinschaft vor, deren Auftrag in der Schätzung des Gewichts eines Ochsens besteht, um ihr Ergebnis dann einer interessierten Öffentlichkeit mitzuteilen. Einige der Experten tendieren in ihrem individuellen Urteil zu einer Unter-, andere zu einer Überschätzung des Gewichts; doch wenn man ihre individuellen Urteile aggregiert, bestünde das Resultat in einer sehr guten Annäherung an den tatsächlichen Wert. Angenommen aber, es gäbe ein System asymmetrischer Anreize, Sanktionen und Verzerrungen, das jene Experten, die zu einer niedrigen Schätzung des Gewichts tendieren, davon abhält, ihr individuelles Urteil zu artikulieren und in den Aggregationsprozess einzubringen, während es zu einer hohen Einschätzung tendierende Experten mit besonderen Incentives belohnt. Unter solchen Voraussetzungen kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Urteilsaggregationsprozess ein akkurates Resultat ergibt. Wenn Experten, die zu einer niedrigen Schätzung tendieren, ihr Urteil zurückhalten, oder wenn ihr Urteil nicht bei der Aggregation berücksichtigt wird, dann ist das nicht deswegen problematisch, weil davon auszugehen wäre, dass ihr Urteil mit höherer Wahrscheinlichkeit der Wahrheit entspricht als das jener Experten, die zu einer hohen Schätzung tendieren. Selbst wenn ihre Schätzungen gemessen am tatsächlichen Gewicht zu niedrig sein sollten, ist es wichtig, dass sie ihre Urteile artikulieren und diese im kollektiven Deliberations- bzw. Urteilsaggregationsprozess berücksichtigt werden, weil sie ein unverzichtbares Korrektiv für jene Expertenurteile sind, die das Gewicht überschätzen. Die soeben skizzierte Variation von Galtons Geschichte scheint mir ein treffendes Bild der epistemischen Konstellation während der Corona-Krise abzugeben. Die Situation, in der sich der Durchschnittsbürger während der Corona-Krise befand, entsprach der einer Person, der gesagt wird, sie solle sich im Hinblick auf die infection fatality rate des Virus, die Effektivität von Lockdowns oder andere Propositionen auf das kollektive Urteil einer Expertengemeinschaft verlassen, während sie zugleich aber erhebliche Indizien zugunsten der Annahme hat, dass die Expertengemeinschaft asymmetrischen Anreizen, Sanktionen und Biases unterliegt, die ihr kollektives Urteil und dessen Artikulation systematisch verzerren.

3 Fazit: Die angemessene epistemische Haltung gegenüber dem dominanten Narrativ

Ich habe in diesem Kapitel argumentiert, dass die angemessene epistemische Haltung gegenüber dem dominanten Corona-Narrativ und der mit dem Slogan „Follow the Science“ verbundenen Behauptung, dieses sei durch die plurale Autorität der Wissenschaft gestützt, von Beginn der Corona-Krise an ein erheblicher Zweifel hätte sein müssen. Ich habe diese These mit drei Typen von Überlegungen zu erhärten versucht, indem ich erstens ausgeführt habe, dass die empirische Wissenschaft als solche das dominante Narrativ gar nicht determinieren konnte, insofern dieses Narrativ auch nicht-empirische (normative, politische) Elemente enthielt; zweitens auf die Komplexität der Gesamtsituation hingewiesen habe – etwa die vielfältigen Konsequenzen der unterschiedlichen politischen Maßnahmen –, deren Beurteilung eine Vielfalt von interdisziplinären Perspektiven erfordert hätte, die über weite Strecken der Krise hinweg nicht hinreichend gewährleistet war; und drittens die verschiedenen epistemischen Verzerrungen untersucht habe, die es zugunsten des dominanten Narrativs sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs gab, und aufgrund derer ein Rekurs auf (vermeintliche) wissenschaftliche Mehrheiten in zweifacher Hinsicht problematisch war: zum einen angesichts von Unklarheiten hinsichtlich des tatsächlichen Ausmaßes der Mehrheiten und zum anderen angesichts von Unklarheiten hinsichtlich der Frage, ob die Mehrheiten (wenn es sie denn gab) in der epistemisch richtigen Art und Weise zustande gekommen sind.

Ich habe mich in meinen Betrachtungen insbesondere auf die frühe Phase der Corona-Krise konzentriert, nämlich das Jahr 2020 und dabei vor allem die ersten Wochen und Monate ab März. Bei einigen der diskutierten Probleme dürfte sich für spätere Phasen der Krise eine gewisse Besserung konstatieren lassen. So lassen etwa spätere Ad-hoc-Stellungnahmen der Leopoldina eine höhere Sensibilität für die Relevanz der Unterscheidung zwischen empirischen und normativen Fragen erkennen, als das in der 7. Stellungnahme vom Dezember 2020 der Fall war (vgl. z. B. Beisbart 2023, 131; Schurz 2023, 160 f.). Auch im Hinblick auf die interdisziplinäre Pluralität hat es im Laufe der Zeit vielleicht zumindest eine gewisse Korrektur der zunächst starken Konzentration auf die virologische und die Modellierer-Perspektive gegeben. Bei anderen Problemen musste allerdings deutlich länger auf Besserung gewartet werden. Die im letzten Abschnitt diskutierten epistemischen Verzerrungen, der leitmediale Bias zugunsten des dominanten Narrativs, das toxische Debattenklima und die damit verbundenen primären, sekundären und tertiären Effekte haben im Wesentlichen auch die Jahre 2021 und (zum Teil) 2022 geprägt und den Diskurs zu der zunehmend in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückenden Frage der Corona-Impfung affiziert.

Die Behauptung, dass ein erheblicher Zweifel bezüglich des dominanten Narrativs die angemessene epistemische Haltung gewesen wäre, bedeutet wohlgemerkt nicht, dass man vom kontradiktorischen Gegenteil der mit diesem Narrativ assoziierten Annahmen hätte überzeugt sein sollen. Es heißt nur, dass der angemessene Glaubensgrad bezüglich dieser Annahmen deutlich niedriger war als der Glaubensgrad, der von Politik und Leitmedien eingefordert wurde. Meine Behauptung lautet auch nicht, dass man statt den öffentlich dominanten Experten schlicht den dissidenten Experten hätte glauben sollen. Kritikern orthodoxer Positionen wird (wie ich in Abschnitt 19.1 am Beispiel der klassischen Impfkritiker ausgeführt hatte) häufig vorgeworfen, sie würden epistemisches „Cherrypicking“ oder „Rosinenpicken“ betreiben, d. h. selektiv genau die (möglicherweise sehr wenigen) Experten herausgreifen und zu alleinigen Autoritäten erheben, die ihre skeptische Sicht stützen. Für eine solche Vorgehensweise soll hier natürlich nicht geworben werden. Zwar gilt hier durchaus – komplementär zu dem gerade gemachten Punkt bezüglich des dominanten Narrativs –, dass eine gewisse Anhebung des Glaubensgrades bezüglich der von dissidenten Experten geäußerten Auffassungen angemessen ist, wenn man guten Grund zu der Annahme hat, dass ihre Position aufgrund verschiedener Biases sowie primärer, sekundärer und tertiärer Effekte schwächer aussieht, als sie eigentlich ist. Der Rekurs auf dissidente Experten hat aber in erster Linie eine andere Funktion. Der für mich entscheidende Punkt ist, dass die Beobachtung dissidenter Experten und vor allem der Art und Weise, wie auf sie reagiert, wie mit ihnen umgegangen wird, höherstufige Evidenz darstellt und man daraus wichtige Rückschlüsse darüber ziehen kann, wie es um den wissenschaftlichen Diskurs und die einschlägigen wissenschaftlichen Mehrheitsverhältnisse bestellt ist.

Die Schlussfolgerung, dass die angemessene epistemische Haltung zum dominanten Narrativ die eines erheblichen Zweifels hätte sein müssen, ohne allerdings dadurch einfach in ein Überzeugtsein von dessen Gegenteil umzuschlagen, könnte den Einwand provozieren, dass man damit ganz praktisch wenig hätte anfangen können: Das ist, wird man vielleicht sagen, nichts Halbes und nichts Ganzes, dessen praktische Konsequenzen unklar sind. Denn wie hätte man sich verhalten, was genau hätte man tun, welche Politik unterstützen sollen? Ohne auch noch auf diesen Aspekt umfassend eingehen zu können, möchte ich zumindest so viel andeuten: Ich glaube nicht, dass eine zweifelnde Haltung praktisch oder politisch folgenlos oder unfruchtbar ist, auch wenn, zugegebenermaßen, jene, die von ihrer Sache fest überzeugt sind, im Allgemeinen eine größere Disposition haben mögen, ihre Überzeugungen in der einen oder anderen Form in die Tat umzusetzen. Aber genau an dieser Stelle kann – in guter sokratischer Tradition – auch das Zweifeln ansetzen, indem es versucht, auch in den allzu Überzeugten den Zweifel zu wecken, um sie (und andere, womöglich ebenfalls betroffene Dritte) vor den möglicherweise ja gravierenden Folgen eines überstürzten Handelns zu bewahren. Darüber hinaus scheint mir auch Folgendes eine praktische normative Konsequenz aus der Einsicht zu sein, dass der epistemisch angemessene Glaubensgrad bezüglich einer wichtigen Menge von Propositionen deutlich niedriger ist, als verbreitet unterstellt wird: dass es geboten ist, Versuche zu unternehmen oder zu unterstützen, um die epistemischen Voraussetzungen zu verbessern, die dafür verantwortlich sind, dass der Glaubensgrad verbreitet so unangemessen hoch ist. Im Falle der Corona-Krise hätte das etwa konkret bedeuten können, die toxische Debattenkultur zu verbessen, die leitmedialen Biases stärker ins allgemeine Bewusstsein zu rücken und die beschriebenen primären, sekundären und tertiären Effekte zu korrigieren.