Ich habe diese Untersuchung bereits als der sozialen Erkenntnistheorie zugehörig charakterisiert. In diesem Kapitel möchte ich diese Zuordnung nun noch etwas weiter präzisieren. Alvin Goldman (2011) hat in einer einfluss- und aufschlussreichen Darstellung drei Strömungen oder Typen der sozialen Erkenntnistheorie bzw. Sozialepistemologie unterschieden. Eine erste Strömung befasst sich mit dem Verhalten individueller doxastischer Akteure, die in ihrem epistemischen Verhalten auf soziale Evidenzen zurückgreifen („individual doxastic agents (IDAS) with social evidence“). Unter sozialen Evidenzen versteht Goldman dabei Evidenzen, die Kommunikationsprozesse oder die Spuren von Kommunikationsprozessen betreffen („acts of communication by others, or traces of such acts such as pages of print or messages on computer screens“, Goldman 2011, 14). Ferner kann soziale Evidenz in Gestalt der doxastischen Einstellungen anderer Personen bestehen („other people’s doxastic states that become known to the agent“, Goldman 2011, 15). In diesen Bereich der Sozialepistemologie fällt beispielsweise die Debatte über Testimonialerkenntnis, aber auch die über das Experten-/Laien-Verhältnis sowie die über epistemische Autorität (eine genauere wechselseitige Abgrenzung dieser drei in die erste Kategorie fallenden Debatten erfolgt in Kapitel 5). Goldmans Einschränkung auf doxastische Akteure bzw. doxastisches Verhalten ist aber sicherlich ungerechtfertigt. Denn auch der kommunikative Transfer nicht-doxastischer Einstellungen kann, sofern sie im weitesten Sinn epistemischer Natur sind, ein Gegenstand der sozialen Erkenntnistheorie sein. Das gilt beispielsweise für den in sozial-kommunikativem Rahmen stattfindenden Erwerb von Verstehen (vgl. dazu ausführlicher unten, Kapitel 9 und Kapitel 16).

Eine zweite Strömung der Sozialepistemologie befasst sich mit kollektiven doxastischen Akteuren („collective doxastic agents (CDAS)“). Damit sind Gruppen, Gemeinschaften oder Kollektive gemeint, die als Träger doxastischer Einstellungen in Erscheinung treten. Dieser Typ von sozialer Erkenntnistheorie befasst sich mit Situationen, in denen von einer Gemeinschaft wie beispielsweise einer Regierung, einer Schulklasse oder einer Scientific Community gesagt wird, sie glaube oder wisse dieses oder jenes. Auch hier ist Goldmans Einschränkung auf doxastische Einstellungen wiederum ungerechtfertigt, denn wir schreiben kollektiven Akteuren manchmal etwa auch Verstehen zu (wir sagen natürlicherweise Dinge wie: „Dank ihrem guten Lehrer hat die Klasse dieses schwierige Thema schnell verstanden“ oder „Wir verstehen heute besser, warum das Melanom nicht abgestoßen wird wie das Organtransplantat eines nichtkompatiblen Spenders“; für eine Analyse solcher Sätze vgl. Hauswald 2019b sowie unten Kapitel 16).

Eine dritte Variante sozialer Erkenntnistheorie bezeichnet Goldman schließlich als „systemorientiert“ („systems-oriented (SYSOR) social epistemology“). Dabei geht es um eine Analyse der Bedingungen, unter denen der „epistemische Output“ oder die „epistemische Performance“ eines sozialen Systems, einer Institution bzw. eines Kollektivs optimiert wird. Wie muss beispielsweise die Wissenschaft organisiert sein, damit sie möglichst effektiv signifikante Wahrheiten findet? Wie muss das Justizsystem organisiert sein, damit es möglichst viele Schuldige identifizieren und bestrafen kann, ohne zugleich Unschuldige zu bestrafen?

Das Thema der vorliegenden Untersuchung fällt in den Überlappungsbereich aller drei Strömungen. Die erste Strömung ist insofern betroffen, als es mir primär um den Transfer von Wissen oder anderen epistemischen Gütern von (pluralen) epistemischen Autoritäten zu anderen Subjekten geht. Es geht mir um Situationen, in denen Subjekte – d. h. individuelle epistemische Akteure – in ihrem epistemischen Verhalten auf soziale Evidenzen zurückgreifen, nämlich Evidenzen, deren Quellen (plurale) epistemische Autoritäten sind. Ich interpretiere dabei den Ausdruck „soziale Evidenz“ noch weiter als Goldman. Einerseits habe ich zwar tatsächlich Situationen vor Augen, in denen soziale Pluralitäten die Träger von Überzeugungen oder anderen epistemischen Einstellungen sein können, an denen sich ein Subjekt in seiner epistemischen Praxis orientieren kann – an dieser Stelle wird auch ersichtlich, inwiefern Goldmans zweite Strömung berührt ist. Andererseits habe ich aber teilweise auch Situationen vor Augen, in denen eine plurale epistemische Autorität keine derartigen Einstellungen besitzt, dafür aber andere Eigenschaften, an denen sich Subjekte gleichwohl orientieren können (ich werde zur Analyse dieser Situationen den Begriff eines „Wahrheitsindikators“ einführen).

Die Relevanz der dritten Strömung ergibt sich daraus, dass nicht einfach jede beliebige soziale Pluralität eine geeignete epistemische Autorität darstellt. Sie muss dazu vielmehr gewisse Bedingungen erfüllen (und beispielsweise auf bestimmte Weise organisiert sein), durch die sie eine Form von „epistemischem Output“ hervorzubringen in der Lage ist, der Subjekten als zuverlässige Orientierung in ihrer epistemischen Praxis dienen kann. Bei diesem Output handelt es sich genau um die gerade erwähnten Überzeugungen, anderen epistemischen Einstellungen oder sonstigen Eigenschaften, die als Wahrheitsindikatoren verwendet werden können. Für die vorliegende Untersuchung ergeben sich daraus zwei Fragen: Welche Organisationsweise – allgemein: welche Menge an Faktoren – begünstigt die Hervorbringung geeigneter epistemischer Outputs? Und ferner: Wie kann ein Subjekt ohne besondere Kenntnisse der thematischen Domäne, für die die Pluralität Autoritätsstatus besitzt, feststellen, ob diese Faktoren vorliegen?