Zur besseren Veranschaulichung dessen, was es heißt, sich auf plurale epistemische Autoritäten zu stützen, aber auch um den einen oder anderen bislang nicht hinreichend beleuchteten systematischen Punkt noch genauer herauszuarbeiten, möchte ich in diesem vierten Teil zwei etwas ausführlichere exemplarische Analysen in Auseinandersetzung mit ganz konkreten Fragen und konkretem Material durchführen. Dazu werde ich im nächsten Kapitel auf die Corona-Krise zu sprechen kommen und in diesem Kapitel zunächst noch einmal den in der Einleitung angesprochenen Fall der Eltern aufgreifen, die vor der Entscheidung stehen, ob und in welcher Form sie ihr Kind gegen klassische Kinderkrankheiten impfen lassen sollten.Footnote 1

Die Ausgangslage ist, wie wir annehmen wollen, die, dass den Eltern erzählt wurde (vielleicht von anderen Eltern), dass das Impfen eine sehr problematische Sache sei, die gut überlegt werden sollte, oder sie sind vielleicht mit anderen Eltern mit ganz unterschiedlichen Auffassungen für und wider das Impfen in Kontakt gekommen und befinden sich nun in einem Zustand der Verwirrung, den sie irgendwie überwinden möchten. Eine Möglichkeit, diese Verwirrung zu überwinden, besteht darin, sich an einschlägigen pluralen epistemischen Autoritäten zu orientieren. Zwei Pluralitäten, denen der Status einer epistemischen Autorität in Bezug auf das Impfen manchmal zu- und manchmal abgesprochen wird, ist einerseits die medizinische Gemeinschaft, insbesondere die vakzinologische, also der Teil, der sich speziell mit Impfstoffen und Impfverfahren befasst, andererseits die Gemeinschaft der Impfkritiker, d. h. die Gemeinschaft jener, die aus im weitesten Sinn medizinischen Gründen dem Impfen gegenüber besonders kritisch eingestellt sind. Navin (2015, 2) trifft eine sinnvolle Unterscheidung zwischen „vaccine denialists“, was im Wesentlichen die Personen sind, die ich „Impfkritiker“ nenne,Footnote 2 und „vaccine refusers“, d. h. den Personen, die eventuell auch aus nicht-medizinischen (beispielsweise religiösen) Gründen das Impfen verweigern. Bevor ich nun in Grundzügen jene Recherche, die die Eltern zur Überwindung ihrer Verwirrung anzustellen haben, sozusagen aus deren Perspektive rekonstruiere, möchte ich zunächst einige allgemeine Bemerkungen darüber voranschicken, mit was für einer Form von Pluralitäten wir es hier zu tun haben und wie ihr Verhältnis zueinander aussieht.

1 Die vakzinologische und die impfkritische Gemeinschaft

Sowohl die vakzinologische als auch die impfkritische Gemeinschaft sind Pluralitäten mit gradueller, teilweise vager Mitgliedschaft. Für die Mitgliedschaft in der ersteren sind insbesondere die Teilnahme an der vakzinologischen Forschung sowie akademische Abschlüsse und andere in der Medizin bzw. Vakzinologie erworbene formale Qualifikationen relevant. Der Grad der Mitgliedschaft entspricht dabei in etwa der von Anderson (2011, 146 f.) vorgelegten Hierarchie. Das Spektrum reicht von Kernmitgliedern über periphere Mitglieder und Grenzfälle („borderline cases“)Footnote 3 bis zu klaren Nicht-Mitgliedern. Der Grad der Mitgliedschaft unterscheidet sich je nachdem, ob jemand (in absteigender Reihenfolge) führender Wissenschaftler im Feld ist, oder Wissenschaftler, der zwar nicht führend, aber dennoch in der entsprechenden Forschung aktiv ist, oder ein gar nicht in der Forschung tätiger Arzt oder eine sonstige in der klinischen Praxis tätige Person oder eine Person, die akademische Abschlüsse (Doktorgrade, Diplome, Bachelorabschlüsse usw.) in dem Bereich erworben hat, aber weder in der Forschung, noch der klinischen Praxis, noch einem sonstigen Bereich mit thematischem Bezug (etwa im Versicherungswesen, bei Gesundheitsbehörden etc.) tätig ist.

Die impfkritische Gemeinschaft kann vielleicht am besten als ideologische und aktivistische Gemeinschaft verstanden werden. Den Begriff der „Ideologie“ möchte ich dabei als wertneutralen, analytischen Begriff verstanden wissen, der bestimmte kohärente Mengen politischer Einstellungen im weitesten Sinn umfasst. Beispiele für „Ideologien“ in diesem Sinn sind Sozialismus, Konservativismus, Feminismus usw. Jeder dieser Ideologien entspricht eine Menge von jeweils charakteristischen propositionalen Einstellungen (Überzeugungen, Pro- und Kontra-Einstellungen, Zieleinstellungen usw.), die mehr oder weniger zentral für die Ideologie sein können (ähnlich wie wissenschaftliche Theorien eher zentrale und eher periphere Annahmen haben). Eine Person ist Mitglied in einer ideologischen Gemeinschaft je nachdem, wie viele der für die Ideologie charakteristischen Einstellungen sie teilt (wobei die Einstellungen umso stärker ins Gewicht fallen, je zentraler sie sind), und je stärker sie sie teilt (je höher ihr Glaubensgrad ist usw.). Im Falle der impfkritischen Ideologie sind entsprechende Einstellungen etwa Überzeugungen wie die, dass Impfungen häufig medizinisch nicht helfen oder schädlich sind bzw. dass der Schaden den eventuellen Nutzen überwiegt; Kontra-Einstellungen gegen das eigene Geimpft-Werden oder das Impfen der eigenen Kinder oder Angehörigen; oder Zieleinstellungen wie die, dass das Impfen zukünftig weniger Rückhalt in Bevölkerung, Politik und Wissenschaft bekommen möge.

Das Teilen der für die impfkritische Community charakteristischen Ideologie ist aber nur eine von zwei relevanten Dimensionen. Es gibt darüber hinaus noch eine aktivistische Dimension. Diese umfasst einschlägige Tätigkeiten, deren Ausführung eine Person als Teil der impfkritischen Gemeinschaft ausweist (jemand kann ein totaler Anhänger der Ideologie sein, ohne irgendetwas zu tun, was ihn als solchen erkennbar werden lässt; ebenso kann jemand die Tätigkeiten ausführen, ohne die ideologischen Einstellungen zu teilen). Entsprechende Tätigkeiten sind: Verweigerung des Impfens, Propagieren der impfkritischen Ideologie in persönlichen Gesprächen, Vernetzung mit anderen Impfkritikern, Teilnahme an impfkritischen Aktionen oder Projekten (oder deren Organisation oder finanzielle Unterstützung), Unterzeichnung impfkritischer Petitionen, Verfassen impfkritischer Publikationen. Ähnlich wie bei der vakzinologischen Gemeinschaft gibt es auch im Zusammenhang mit der impfkritischen Gemeinschaft Kernmitglieder, periphere Mitglieder, Grenzfälle und klare Nicht-Mitglieder, wobei sich der Grad der Mitgliedschaft darüber bestimmt, wie sehr jemand Anhänger der impfkritischen Ideologie und wie ausgeprägt sein aktivistisches Verhalten ist.

Es sollte betont werden, dass die Mitgliedschaft in beiden Pluralitäten sich nicht wechselseitig ausschließt. Auch wenn die meisten Vakzinologen de facto keine Impfkritiker und die meisten Impfkritiker keine Mediziner sein mögen, kann doch im Prinzip jemand peripheres Mitglied oder sogar Kernmitglied in der vakzinologischen Gemeinschaft sein und zugleich (Kern-)Mitglied in der impfkritischen Gemeinschaft. Beispielsweise sind die sogenannten impfkritischen Ärzte Mitglieder beider Pluralitäten. Solche Personen mit doppelter Mitgliedschaft genießen in der impfkritischen Gemeinschaft häufig besonderes Ansehen und übernehmen die Rolle von Meinungsführern. Darin zeigt sich eine gewisse Ambivalenz der impfkritischen Gemeinschaft zur Wissenschaft, die auch bei verschiedenen anderen (aber nicht allen) ideologisch-aktivistischen Gemeinschaften zu beobachten ist. Es handelt sich um einen Typ von Gemeinschaften, die einerseits scharfe Wissenschaftskritik betreiben. Sie behaupten, dass die Wissenschaft insgesamt oder zumindest bestimmte für ihre Belange relevante Bereiche davon korrumpiert sind und keine verlässlichen Ergebnisse produzieren. Andererseits weisen sie aber auch keineswegs prinzipiell den „wissenschaftlichen Erkenntnismodus“ als solchen zurück und propagieren ihren eigenen, abweichenden epistemischen Standpunkt („advance their own claims to expertise from some wholly different epistemological standpoint“, wie Epstein (1996, 13) es mit Blick auf mystizistische oder „New Age“-Philosophien formuliert). Vielmehr halten sie Erkenntnisproduktion auf wissenschaftlichem Weg unter geeigneten Bedingungen prinzipiell für möglich, bestreiten aber, dass diese Bedingungen im konkreten Kontext realisiert sind (was grundsätzlich wohlgemerkt sowohl eine zutreffende als auch eine unzutreffende Einschätzung sein kann). Ein Resultat dieser ambivalenten Haltung zur Wissenschaft kann manchmal etwas sein, was den entsprechenden Personen mitunter den Vorwurf des „epistemischen Rosinenpickens“ einbringt: Die entsprechenden Gemeinschaften „seek to acquire for themselves the cachet of scientific authority by finding the expert who will validate their given political stance“ (Epstein 1996, 13), und dies erklärt das Ansehen jener Personen in der impfkritischen Gemeinschaft, die Mitglied beider Gemeinschaften zugleich sind (vgl. dazu auch Hauswald 2021b, 601).

Charakteristisch für die impfkritische Gemeinschaft und Ideologie ist, dass es sich dabei um so etwas wie eine Gegen-Gemeinschaft, eine Gegen-Ideologie handelt, die sich in starkem Maße über die kritische Auseinandersetzung mit und Abgrenzung vom vakzinologischen Mainstream definiert. Man könnte sagen, dass die von Impfkritikern erhobenen Einwände gegen diesen Mainstream grundsätzlich die Form von rebutting defeaters und die von undercutting defeaters annehmen können (vgl. allgemein zu dieser Unterscheidung Pollock 1986). Kritik in der ersten Variante hat die Struktur: „In der vakzinologischen Gemeinschaft glaubt oder behauptet man, dass p, hier aber sind Evidenzen oder Gründe, die nahelegen, dass non-p der Fall ist“. In diese Kategorie fallen etwa Erfahrungen, die die Personen mit Impfungen gemacht haben und als inkompatibel mit den in der vakzinologischen Gemeinschaft behaupteten Wirkungen ansehen. In Ansätzen findet sogar so etwas wie regelrechte Gegen-Forschung statt. Manche Impfkritiker bilden etwas, was Navin „parent-researcher communities“ nennt; „[v]accine denialists feel entitled to do their own research about vaccines“ (Navin 2015, 12). Navin bewertet die Qualität dieser Forschung für gering: „[T]his tendency leaves them especially vulnerable to a host of cognitive biases“ (Navin 2015, 12). Auch zur Erfahrung von Nebenwirkungen, die nicht auf dem Beipackzettel verzeichnet sind, ist zu sagen, dass die Feststellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen (vermeintlichen) Nebenwirkungen und einer Impfung problematisch sein kann, denn es kann sich ja um zufälligerweise genau nach der Impfung stattfindende, aber auf anderen Ursachen beruhende Reaktionen handeln. Nicht umsonst werden Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten normalerweise unter sehr strengen Bedingungen und an sehr großen Test- und Kontrollgruppen erforscht. Andererseits sollte man meines Erachtens die Bedeutung „anekdotischer Evidenz“ (Navin 2015, 22) auch nicht gänzlich vernachlässigen. Wenn Eltern sowohl bei ihren eigenen Kindern als auch bei sehr vielen Kindern von Bekannten eine bestimmte Reaktion nach einer Impfung feststellen, dann kann das durchaus in verhältnismäßig starkem Maße dafür sprechen, dass es sich um eine echte Nebenwirkung handelt, auch wenn davon nichts auf dem Beipackzettel zu lesen ist. Es gibt hier eine Parallele zu meinem Schwäne-Beispiel (vgl. oben, Abschnitt 8.1). In der Bestätigungslogik reicht ein einziger Fall, um eine Allaussage zu falsifizieren oder eine Existenzaussage zu verifizieren. In der wissenschaftlichen Praxis ist die Lage sicher häufig unübersichtlicher als beim Beobachten von Schwänen, da der Status des Falls als falsifizierender oder als verifizierender selbst unklar sein kann. Dennoch scheint mir der Unterschied zwischen dem artifiziellen Schwäne-Beispiel und dem Beobachten von Impfreaktionen nur ein gradueller zu sein, und Subjekte sind gegenüber Autoritäten auch hier nicht zur bedingungslosen Deferenz verdammt.

Kritik am vakzinologischen Mainstream kann aber auch die Struktur eines undercutting defeaters haben. Dann handelt es sich um ein Argument der Form: „In der vakzinologischen Gemeinschaft glaubt oder behauptet man, dass p, hier aber sind Evidenzen oder Gründe, die nahelegen, dass diese Überzeugung/Behauptung ungerechtfertigt oder unglaubwürdig ist“. Kritik dieser Form geht häufig durchaus mit jenen sozialepistemologischen Reflexionen einher, die der vorliegende Ansatz generell für die Auseinandersetzung mit (mutmaßlichen) pluralen epistemischen Autoritäten empfiehlt. So findet man in von Mitgliedern der impfkritischen Community verfassten Schriften beispielsweise durchaus Verweise auf den Bias, der daraus resultieren kann, dass Forschung zu Impfstoffen häufig von den Herstellern dieser Stoffe finanziert wird. Wenn die in der vakzinologischen Gemeinschaft durchgeführte Forschung zu einem Impfstoff X zu dem Ergebnis kommt, dass es zu X keine Nebenwirkungen gibt, dann könnte eventueller Zweifel daran die Form des folgenden undercutting defeaters haben: „Dieses Ergebnis ist unglaubwürdig, da die Forschung dazu vom Hersteller selbst finanziert wurde“ (ein rebutting defeater wäre demgegenüber: „Dieses Ergebnis ist falsch, da wir von folgenden Nebenwirkungen gehört oder sie selbst festgestellt haben…“).

Wenn ich die impfkritische Community hier als (ansatzweise) fähig und willens darstelle, sozialepistemologische Reflexion zu betreiben (und begrenzt auch fähig und willens, so etwas wie rudimentäre Gegen-Forschung durchzuführen), dann richtet sich das gegen eine verbreitete Vorstellung, der zufolge Impfkritiker in erster Linie komplett unwissend, ignorant, irrational und unaufgeklärt seien und ihr Verhalten aus Mängeln dieser Art erklärt werden kann (zur Kritik dieser Vorstellung vgl. auch Navin 2015 und Goldenberg 2016).Footnote 4 Sofern Impfkritiker zu objektiv falschen Schlussfolgerungen gelangen, dann aus anderen Gründen: etwa weil sie die vom Ansatz her berechtigten sozialepistemologischen Reflexionen sozusagen „nicht zu Ende denken“ oder weil sie nicht adäquat auch sich selbst bzw. ihre Eigengruppe sozialepistemologisch reflektieren.

Auf einen weiteren wichtigen Aspekt macht Navin (2015) aufmerksam, nämlich den Umstand, dass der Konflikt zwischen der vakzinologischen und der impfkritischen Gemeinschaft teilweise auch ein Wertekonflikt ist, der durch medizinische Evidenzen und Fakten überhaupt nur bedingt aufgelöst werden kann.Footnote 5 Das gilt etwa in Bezug auf die Frage, wie solidarisch man beim Aufbau des „Herdenschutzes“ sein und wie viele individuelle Risiken man dafür in Kauf nehmen sollte, oder auch die Frage der Bewertung der durch das Impfen drohenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit, oder auch Fragen wie die, ob Krankheiten aufgrund ihrer „Natürlichkeit“ eine Art Eigenwert besitzen und eine wertvolle Erfahrung darstellen, die zu machen dem Kind durch den künstlichen Eingriff des Impfens verwehrt werde oder ob nicht umgekehrt die Unterlassung des Impfens ein solcher Eingriff ist (manche Impfkritiker vertreten Navin (2015, 97 ff.) zufolge eine „ethics of sanctity/purity“, die ihre Einstellungen und ihr Verhalten teilweise erklärt).

2 Recherchen zur Feststellung des Vorliegens wahrheitsindikativer Tatsachen

Die Eltern in unserem Beispiel haben nun also vielleicht ein Interesse an einer oder mehreren Propositionen aus der Domäne des Impfens. Sie könnten z. B. wissen wollen, ob es bei dieser oder jener konkreten Impfung besondere Nebenwirkungen gibt, beispielsweise ob die MMR-Impfung Autismus hervorrufen kann. Und sie haben aufgrund der sich widersprechenden Empfehlungen anderer Eltern so etwas wie Prima-facie-Evidenz oder Pro-tanto-Gründe anzunehmen, dass die vakzinologische Gemeinschaft und die impfkritische Gemeinschaft plurale epistemische Autoritäten für diese Domäne sind. Als rationale Akteure besteht die Herausforderung nun für sie darin, mit Blick auf beide Gemeinschaften die beiden Identifikationsprobleme zu lösen, also zum einen zu einer adäquaten Einschätzung der epistemischen Performance beider Gemeinschaften zu gelangen und zum anderen herauszufinden, was beide Gemeinschaften zu den sie interessierenden Propositionen „zu sagen haben“.

Im Mittelpunkt der Rechercheleistungen, die die Eltern zur Bewältigung dieser Herausforderung durchzuführen haben, steht so etwas wie eine sozialepistemologische Bewertung der beiden Gemeinschaften entlang der Dimensionen Zusammensetzung, Struktur und Umwelt, deren Basis eine Auswertung soziologischer, historischer usw. Informationen zu den beiden Gemeinschaften ist. Wie im vorigen Abschnitt angedeutet, enthalten impfkritische Schriften häufig selbst solche Informationen und stellen so etwas wie sozialepistemologische Reflexionen an, so dass „neutrale“ Eltern, die zur epistemischen Performance der vakzinologischen Gemeinschaft recherchieren, bei ihren Recherchen mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf derartige Schriften stoßen und mit der Frage konfrontiert werden, wie weit sie sich auf diese Schriften stützen, wie weit sie ihnen vertrauen sollten. Beispielsweise enthält der von vielen Mitgliedern der impfkritischen Gemeinschaft geschätzte Ratgeber Impfen – Pro & Contra: Das Handbuch für die individuelle Impfentscheidung von Martin Hirte neben detaillierten Empfehlungen zu den einzelnen Impfungen auch recht umfangreiche Darstellungen zu den historischen, soziologischen, ökonomischen, politischen usw. Hintergründen des Impfens – Darstellungen, die von Gegnern der Impfkritiker dafür kritisiert werden, zumindest teilweise verzerrt, inakkurat und voreingenommen zu sein (vgl. z. B. Oude-Aost 2018).Footnote 6 Grundsätzlich ist hier sicher ein Abgleich mit einem möglichst breitem Spektrum einschlägiger soziologischer, historischer oder kulturwissenschaftlicher Quellen empfehlenswert (etwa Kitta 2012), insbesondere solchen, die keiner der beiden Pluralitäten zuzuordnen ist. Ein solcher Abgleich wird Differenzen zum Vorschein bringen, aber auch durchaus eine Reihe von Übereinstimmungen, was den Schluss nahelegt, dass von Impfkritikern verfasste Darstellungen häufig zumindest nicht komplett unbrauchbare Quellen sind.

Wie könnten nun die Eltern vorgehen, um festzustellen, welche Meinungen die vakzinologische und die impfkritische Gemeinschaft zum Impfen im Allgemeinen und – sagen wir – zur MMR-Impfung im Speziellen nahelegen? Aufseiten der vakzinologischen Gemeinschaft sind Leitlinien ein wichtiger Anlaufpunkt. In Deutschland werden diese von der „Ständigen Impfkommission (STIKO)“ bzw. in Sachsen von der „Sächsischen Impfkommission SIKO“ herausgegeben. Deren Mitgliedern wird von Impfkritikern häufig vorgeworfen, Interessenkonflikten zu unterliegen: „10 der 17 STIKO-Mitglieder“, schreibt Hirte (2015, 27), „weisen teilweise gravierende Interessenkonflikte auf und nehmen oder nahmen Gelder von Firmen an, über deren Produkte sie entscheiden.“ Was auf den ersten Blick ebenfalls nicht unbedingt offensichtlich sein muss, ist, dass mit der Erstellung der Leitlinien zumindest auch epidemiologische und ökonomische Ziele verfolgt werden (ob es „in erster Linie“ solche Ziele sind, wie Hirte (2015, 15) schreibt, sei dahingestellt). So geht es u. a. darum, bestimmte Krankheiten auszurotten oder einen „Herdenschutz“ zu generieren, von dem insbesondere jene profitieren sollen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Es geht hier wohlgemerkt nicht darum zu bestreiten, dass das legitime Ziele sind. Es geht darum, dass die Eltern fehlgehen würden, wenn sie die Leitlinien so interpretieren würden, als stellten diese auf dem Stand der Forschung oder dem Konsens in der vakzinologischen Gemeinschaft beruhende Empfehlungen ausschließlich dafür dar, was für das einzelne Kind die beste Entscheidung unter Abwägung des individuellen Nutzens und der individuellen Risiken wäre.

Eine Möglichkeit, zu einer besseren Einschätzung zu gelangen, könnte nun in einem Abgleich verschiedener Leitlinien (insbesondere in unterschiedlichen Ländern gültiger Leitlinien) bestehen. Eine Schwierigkeit bei dieser Vorgehensweise besteht darin, diese Leitlinien überhaupt erst einmal zu identifizieren. Das setzt einen gewissen Rechercheaufwand voraus, ist dank dem Internet aber in vielen Fällen sicher möglich. Eine weitere Schwierigkeit sind Sprachbarrieren, die die Auswertung von Leitlinien aus anderen Ländern erschweren oder verunmöglichen können, selbst wenn diese aufgefunden wurden. Wenn man aber etwa zumindest des Deutschen und Englischen mächtig ist, dürfte es bereits eine recht große Reihe von Leitlinien geben, die man vergleichen kann. Die Frage ist freilich, ob die Leitlinien anderer Länder nicht durch dieselben Probleme bedroht sind wie die, die den STIKO-Leitlinien vorgeworfen werden. Was die Frage der Interessenkonflikte betrifft, schreibt Hirte (2015, 29): „In praktisch allen Ländern der Welt und bis in die Spitze der Weltgesundheitsorganisation hinein lässt sich nachweisen, dass Impfexperten finanziell von der Industrie ‚umarmt‘ werden.“ Und auch was die Epidemiologie und den „Herdenschutz“ angeht, dürfte es sich um Ziele handeln, die in mehr oder weniger allen Ländern und von allen Gesundheitsbehörden verfolgt werden. Gleichwohl denke ich, dass ein Abgleich unterschiedlicher Leitlinien nicht gänzlich vergeblich wäre. Immerhin dürfte in verschiedenen Gremien zumindest das Ausmaß der „Umarmung“ der Impfexperten durch die Industrie in gewissem Maße variieren. Und auch wenn überall die gleichen Werte geteilt bzw. Ziele verfolgt werden (Herdenschutz, individueller Schutz usw.), kann doch deren jeweilige Gewichtung unterschiedlich ausfallen.

Statt Leitlinien zu verwenden (oder ergänzend dazu) können die Eltern auch selbst auf Metastudien zurückgreifen. Beispielsweise könnte es sein, dass sie aufgrund des Gerüchts beunruhigt sind, die MMR-Impfung könnte Autismus hervorrufen. Dieses Gerücht geht maßgeblich auf eine Studie zurück, die 1998 von dem Impfkritiker Andrew Wakefield in der renommierten Zeitschrift Lancet veröffentlicht wurde (wo sie allerdings 2010 wegen des inzwischen enthüllten wissenschaftlichen Fehlverhaltens von Wakefield wieder zurückgezogen wurde), und wird teilweise in der impfkritischen Gemeinschaft weiterhin verbreitet (beispielsweise in dem unter Wakefields Regie entstandenen Dokumentarfilm „Vaxxed: From Cover-Up to Catastrophe“ von 2016). Eine Internetrecherche von wenigen Minuten führt zum Auffinden mehrerer neuerer Metastudien zum Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus, etwa Jefferson/Price/Demicheli/Bianco (2003), Demicheli/Jefferson/Rivett/Price (2012) und Taylor/Swerdfeger/Eslick (2014). Diese kommen zu übereinstimmenden Ergebnissen: „[E]xposure to MMR is unlikely to be associated with […] autism“ (Jefferson/Price/Demicheli/Bianco 2003, 3954), „a significant association between autism and MMR exposure was not found“ (Demicheli/Jefferson/Rivett/Price 2012, 20) und „vaccinations are not associated with the development of autism or autism spectrum disorder“ (Taylor/Swerdfeger/Eslick 2014, 3623). Die Metastudien sind an Orten publiziert worden, die in der medizinischen Gemeinschaft ein hohes Renommee haben, nämlich als Cochrane Review und in der Zeitschrift Vaccine, die im thematisch relevanten Feld (Infektionskrankheiten) im besten Quartil gerankt wird (www.scimagojr.com), es besteht also Grund zu der Annahme, dass sie den vierten Wahrheitsindikator (die Tatsache, dass eine Mehrheit der von Mitgliedern der Pluralität publizierten Studien anzeigen, dass die Proposition wahr oder falsch ist) mit recht großer Sicherheit abbilden.

Es bleiben noch Methoden zur Feststellung wahrheitsindikativer Tatsachen, die die Befragung von Mitgliedern beinhalten, wobei diese Befragungen entweder darauf abzielen können, ob die Mitglieder individuell der Meinung sind, dass Impfen im Allgemeinen oder die MMR-Impfung im Speziellen sicher ist, oder darauf, ob sie der Meinung sind, dass in der vakzinologischen Gemeinschaft zu diesen Fragen ein entsprechender Konsens, Forschungsstand oder eine entsprechende Mehrheitsmeinung existiert. Derartige Befragungen (es kommt auch die Lektüre von Publikationen infrage, die von Mitgliedern verfasst wurden) können ergänzend zu den bereits diskutierten sinnvoll sein, in manchen Fragen stellen sie allerdings die einzig gangbaren Möglichkeiten dar (etwa dann, wenn die Fragen so spezifisch sind, dass keine eigenen Leitlinien oder Metastudien dazu existieren). Den Ansprechpartnern, die dabei in erster Linie infrage kommen – den individuellen Ärzten –, wird allerdings nicht selten unterstellt, entweder nicht hinreichend gut informiert zu sein oder zwar informiert zu sein, aber nicht die Wahrheit oder nicht die volle Wahrheit sagen zu wollen. So schreibt Hirte (2015, 20), die Ärzte würden mit einem „Trommelfeuer kostenloser ‚Zeitschriften‘ und Werbebroschüren“ aus den Marketingabteilungen der pharmazeutischen Industrie überzogen, die „voll mit geschönten Informationen zum Impfthema [sind] – ganz zu schweigen davon, dass fast alle ärztlichen Fortbildungen zum Thema Impfungen von Impfstoffherstellern gesponsert sind.“ Jene, die gut informiert sind (sozusagen die Kernmitglieder der vakzinologischen Gemeinschaft), sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, dass sie vielleicht trotz ihres Wissens aufgrund von Interessenkonflikten keine unzweifelhaften Quellen sind. Vor diesem Hintergrund erklärt es sich, dass Personen mit besonders hoher Expertise häufig gefragt werden, ob sie sich selbst oder ihre eigenen Kinder impfen (lassen) würden, da das als besserer Indikator für ihre wahren Überzeugungen angesehen wird als bloß ihr testimoniales Zeugnis darüber, ob sie die Impfung empfehlen können oder nicht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die erwähnte Metastudie von Taylor/Swerdfeger/Eslick (2014), die von einem „Epilog“ abgeschlossen wird, in dem der Hauptautor Guy Eslick sich – in für wissenschaftliche Artikel unüblicher Weise – zu erklären bemüßigt sieht, er habe seine eigenen Kinder allesamt geimpft, und zwar auch das dritte, obwohl die ersten zwei teilweise mit Fieberkrämpfen auf Routineimpfungen reagiert hatten. Hilfreich erweist sich in jedem Fall bei der Lektüre von Publikationen eine Berücksichtigung der in medizinischen Zeitschriften üblichen Erklärung zu möglichen Interessenkonflikten der Autoren.

Soweit zur Feststellung potentiell wahrheitsindikativer Tatsachen über die vakzinologische Gemeinschaft. Die Feststellung potentiell wahrheitsindikativer Tatsachen über die impfkritische Gemeinschaft stellt sich demgegenüber etwas anders dar. Denn die impfkritische Gemeinschaft ist nicht wie eine wissenschaftliche Gemeinschaft organisiert. Studien, Fachjournale, Metastudien, Leitlinien und Ähnliches gibt es hier kaum oder gar nicht. Die impfkritische Gemeinschaft ist wie gesagt in erster Linie eine aktivistisch-ideologische Gegen-Gemeinschaft, die sehr viel informeller strukturiert ist als die vakzinologische Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund bietet sich zur Feststellung potentiell wahrheitsindikativer Tatsachen vorrangig die Befragung von Mitgliedern sowie verwandte Vorgehensweisen wie die Lektüre einschlägiger Publikationen an. Zu letzteren können neben Büchern wie Gerhard Buchwalds (1997) Impfen – Das Geschäft mit der Angst und Zeitschriften wie impf-report auch Filme wie der bereits erwähnte gezählt werden (Wakefield 2016), aber auch Internetforen oder Seiten wie „www.impfkritik.de“.

Eine Schwierigkeit beim Versuch der Feststellung, wie die Mehrheitsmeinung in der impfkritischen Gemeinschaft zu einer Frage wie der nach dem Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus lautet, oder ob es dazu so etwas wie einen Konsens gibt, besteht darin, dass die impfkritische Gemeinschaft weniger klar, arbeitsteilig und hierarchisch strukturiert ist als eine typische wissenschaftliche Gemeinschaft. Bei wissenschaftlichen Gemeinschaften findet sich typischerweise eine relativ klare interne epistemische Arbeitsteilung: Zu vielen relevanten Fragen gibt es besonders kompetente Mitglieder, die sich jeweils mit den Fragen besonders eingehend befasst haben und die somit innerhalb der Expertencommunity noch einmal einen besonderen Expertenstatus besitzen, der für andere Mitglieder verhältnismäßig transparent ist (hierin besteht die für wissenschaftliche Gemeinschaften charakteristische Metaexpertise). Die impfkritische Gemeinschaft ist informeller organsiert und intern weniger stark differenziert. Dies hat Konsequenzen für die Anwendung der Wahrheitsindikatoren. Wenn nämlich unklar ist, welches Mitglied welchen Expertenstatus innerhalb der Gemeinschaft für sich reklamieren kann, dann können die Meinungen der einzelnen Mitglieder nicht sinnvoll gewichtet werden. Wenn wir den Mehrheitsindikator in der vakzinologischen Gemeinschaft anwenden, dann ist klar, dass beispielsweise die Meinung des Autors einer in einem renommierten Journal publizierten Studie zum fraglichen Thema stärker gewichtet werden muss als ein seinen Patienten gelegentlich Impfungen verabreichender niedergelassener Arzt. Aber wie müssen die Meinungen von Mitgliedern der impfkritischen Gemeinschaft gewichtet werden? Sicherlich gibt es auch in dieser so etwas wie „Meinungsführer“, deren Meinungen höher zu gewichten sind als die anderer: Personen, die sich besonders eingehend mit einer Frage beschäftigt haben und die besondere Kompetenzen dafür mitbringen, und die zugleich die impfkritische Ideologie besonders vehement vertreten und mit ihrem aktivistischen Verhalten besonders sichtbar sind. Dennoch scheint die Identifikation solcher Personen schwieriger zu sein, und es handelt sich dabei nicht oder nicht nur um ein Problem der Feststellung von Tatsachen, sondern ein genuines Vagheits- oder Unbestimmtheitsproblem.

Die potentiellen Wahrheitsindikatoren in der vakzinologischen Gemeinschaft weisen recht eindeutig darauf hin, dass es keinen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus gibt. Leitlinien, die von verschiedensten medizinischen Gesellschaften herausgegeben und in verschiedensten Ländern verwendet werden, empfehlen die MMR-Impfung. Metastudien konnten keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen der Impfung und Autismus finden. Die meisten Mitglieder der vakzinologischen Gemeinschaft sind selbst von der Unbedenklichkeit der Impfung überzeugt und glauben auch, dass entsprechende wahrheitsindikative Tatsachen über ihre Gemeinschaft vorhanden sind. Diese Einmütigkeit bei der Anwendung der verschiedenen Methoden spricht recht deutlich dafür, dass potentiell wahrheitsindikative Tatsachen über die vakzinologische Gemeinschaft existieren, die – wenn sie denn tatsächlich wahrheitsindikativ sein sollten – darauf hindeuten, dass Autismus nicht durch die MMR-Impfung hervorgerufen wird.

Was die impfkritische Gemeinschaft betrifft, ist das Bild unschärfer, da verschiedene Methoden (die Verwendung von Leitlinien oder Metastudien) nicht zur Verfügung stehen. Dennoch ist es hinreichend klar, um zumindest sagen zu können, dass die Auffassung, es gebe einen kausalen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus, zumindest weit verbreitet ist. So wird diese Auffassung von impfkritischen Organisationen wie Generation Rescue verteidigt (vgl. Offit 2008) und in den verschiedensten „Leitmedien“ der Gemeinschaft nach wie vor behauptet (etwa in Wakefields Film oder auf der Internetseite www.impfkritik.de, wo von einem „wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung bzw. deren Masernkomponente und der Entstehung von Autismus“ die Rede ist (www.impfkritik.de/autismus/index.html)). Somit kann mit hinreichender Sicherheit gesagt werden, dass im Hinblick auf diese Proposition potentiell wahrheitsindikative Tatsachen über die eine Gemeinschaft das Gegenteil dessen nahelegen, was potentiell wahrheitsindikative Tatsachen über die andere Gemeinschaft nahelegen. Der andere Teil des Identifikationsproblems besteht nun darin, zu eruieren, welche dieser potentiell wahrheitsindikativen Tatsachen wirklich wahrheitsindikativ sind. Daran entscheidet sich, ob die Eltern die Proposition oder ihre Negation glauben sollten (oder präziser: welchen genauen Glaubensgrad sie bezüglich der Proposition ausbilden sollten).

3 Recherchen zur Feststellung der epistemischen Performance der beiden Gemeinschaften

Die Feststellung, welche der potentiell wahrheitsindikativen Tatsachen wirklich wahrheitsindikativ sind, erfordert weitere im weitesten Sinn sozialepistemologische Recherchen, diesmal zur allgemeinen epistemischen Performance der beiden Gemeinschaften. Man sollte sich diese Recherchen freilich nicht als völlig losgelöst von denen vorstellen, die zur Lösung des gerade diskutierten Identifikationsproblems durchzuführen sind, oder als beginnend erst nachdem diese vollständig abgeschlossen sind. Einige der zur Lösung des einen Problems verwendbaren Informationen können für die Lösung des anderen hilfreich sein und umgekehrt. Im besten Fall geht das Licht nach und nach über das Ganze auf.

Zur Abschätzung der epistemischen Performance der beiden Gemeinschaften können die Eltern auf Goldmans Methoden bzw. deren Adaption für plurale epistemische Autoritäten zurückgreifen. Die erste Methode (die Einschätzung der dialektischen Performance) scheint mir, wie gesagt, die am wenigsten aufschlussreiche zu sein: zum einen, weil sie nur auf Kommunikationsprozesse mit oder zwischen Pluralitäten anwendbar ist, die verhältnismäßig selten sind, zum anderen, weil sie schon bei der Einschätzung individueller Experten eher wenig reliabel ist. Das heißt nicht, dass die Berücksichtigung von Kommunikationsprozessen gänzlich irrelevant wäre. Generell ist die Kommunikation zwischen den Mitgliedern beider Gemeinschaften (oder allgemeiner: Mitgliedern der Gemeinschaften und jenen, die ihre grundlegenden Auffassungen nicht teilen) durch ein hohes Maß an Politisierung, Radikalisierung und die Verwendung von Kampfrhetorik geprägt. Impfkritiker werden nicht selten als irrationale Esoteriker oder Verschwörungstheoretiker behandelt, was ihnen, wie ich schon deutlich zu machen versucht habe, nur sehr bedingt gerecht wird. Mitglieder der vakzinologischen Gemeinschaft werden von Impfkritikern demgegenüber häufig dargestellt als lediglich durch finanzielle Interessen motiviert, korrupt und verschlossen gegenüber allem, was dem schulmedizinischen Mainstream widerspricht (was ebenfalls in dieser Generalität inadäquat ist).

Auch auf der Ebene der individuellen Erfahrungen der betroffenen Personen findet sich diese Polarisierung wieder. Es dürfte nicht zu leugnen sein, dass generell die Kommunikationsprozesse zwischen medizinischem Personal und Patienten bzw. Laien häufig paternalistische Züge haben und durch Formen epistemischer Ungerechtigkeit im Sinne von Miranda Fricker geprägt sind (vgl. Fricker 2007 und speziell mit Blick auf den medizinischen Kontext Kidd/Carel 2016). Impfkritiker erleben die „Schulmedizin“ (bei Interaktionen mit Ärzten, Pflegepersonal usw.) häufig als arrogant, übergriffig und unsensibel. Gerade Frauen haben nicht selten schlechte Erfahrungen gemacht: „Women have often been abused in medical contexts, including coercive (interventions in) pregnancy and childbirth, involuntary sterilization, and more general violations of women’s autonomy and informed consent“ (Navin 2015, 24). Ähnliches gilt Navin zufolge auch in Bezug auf das Impfen: „Vaccine denialists often report that their children’s pediatricians failed to be respectful listeners or to offer adequate accounts of the usefulness or safety of vaccines.“ (Navin 2015, 26) Angesichts solcher Erfahrungen vermindere sich der Eindruck der Irrationalität, wenn sie sich weigern, gegenüber der vermeintlichen epistemischen Autorität medizinischer Experten zu deferieren („when they refuse to defer to the (supposed) epistemic authority of medical experts“, Navin 2015, 24).

Die dialektische Performance der Impfkritiker ist aber nicht weniger problematisch. So beobachtet Navin (2015, 43), dass Impfkritiker häufig bestimmte Behauptungen machten, die nach eingehenden wissenschaftlichen Untersuchungen irgendwann als widerlegt gelten. Diese Widerlegungen werden zwar nicht selten selbst von großen Teilen der impfkritischen Gemeinschaft als solche akzeptiert. Statt jedoch ihre Behauptungen fallenzulassen, versuchen sie, sie mit neuen Hilfshypothesen zu retten. Nachdem sich z. B. die Vermutung, Autismus könnte durch das in einigen Impfstoffen enthaltenen Quecksilber verursacht werden, als falsch herausgestellt hat, zogen sie sich auf Behauptungen wie die zurück, Autismus könnte ja vielleicht durch andere enthaltene Inhaltsstoffe wie Aluminium oder Formaldehyd ausgelöst werden: „[V]accine denialists have a history of moving from unjustified confidence in one supposed vaccine-related cause of autism to unjustified confidence in another supposed vaccine-related cause of that disorder“ (Navin 2015, 43). In der Wissenschaftstheorie würde man solche Manöver als „ad-hoc-Modifikationen“ bezeichnen; es wird deutlich, dass die impfkritische Ideologie in diesem Punkt Merkmale dessen aufweist, was Lakatos (1974) ein „degeneriertes Forschungsprogramm“ genannt hat.

Einschlägiger als die Methode der Beurteilung der dialektischen Performance ist meines Erachtens die Einschätzung struktureller Merkmale der Gemeinschaften und die Auswertung kollektiver epistemischer Verzerrungen. Im Mittelpunkt der Argumentation von Impfkritikern steht häufig der Vorwurf, die vakzinologische Gemeinschaft sei durch die Pharmaindustrie korrumpiert. Das ist grundsätzlich kein völlig aus der Luft gegriffenes Argument. Dass sich, allgemein im medizinischen Bereich und darüber hinaus, aufgrund der Dominanz industriefinanzierter Forschung ein Objektivitätsproblem ergibt, ist eine in Sozialepistemologie und Wissenschaftsphilosophie vielfach geteilte Annahme. So verweist Brown (2008, 190 f.) auf verschiedene Untersuchungen, die einen eklatanten Zusammenhang zwischen der Tatsache, wer eine Medikamentenstudie finanziert hat, und dem Ergebnis der Studie aufzeigen: Wenn eine Studie vom Hersteller des Medikaments finanziert wurde, dann kommt sie mit erheblich größerer Wahrscheinlichkeit zu dem Ergebnis, dass das Medikament die erwünschten Wirkungen hat, ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu besitzen, als wenn eine Studie von unabhängiger Quelle finanziert wurde. Verschiedene Erklärungen kommen für diese Beobachtung in Betracht: Simple Fälschung von Daten mag eine Rolle spielen, an Wilholts (2009) etwas subtilere „präferenzinduzierten Einseitigkeiten“ wäre zu denken, und der auf der Ebene der kollektiven Organisationsstruktur der wissenschaftlichen Gemeinschaft anzusiedelnde Publikationsbias dürfte ebenfalls relevant sein (also der Effekt, der sich daraus ergibt, dass Studien nur dann überhaupt publiziert werden, wenn sie aus Sicht des Finanziers erwünschte Ergebnisse erzielt haben, und andernfalls zurückgehalten werden, was zu erheblichen Störungen der Kommunikations- und kollektiven Erkenntnisprozesse der Gemeinschaft führen kann). Solche „Fehlfunktionen der Wissenschaft“ – Fischer (2007) nennt auch Zeitgeistdenken, Dogmatismus, Ingroup-Outgroup-Verhalten, unsachgemäße Kollegenbewertung, Fehlbeurteilung innovativer Forschung und Fehlverhalten gegenüber Nachwuchswissenschaftlern als Beispiele – drohen insbesondere dort, wo Wissenschaft in starkem Maße mit anderen sozialen Systemen wie der Wirtschaft in Kontakt steht und durch diese „kolonisiert“ zu werden bedroht ist.Footnote 7

Ich habe in Kapitel 12 deutlich zu machen versucht, dass individueller Bias – sei es ein auf ökonomischen Interessen beruhender, sei es ein Bias anderer Art – ein Stück weit unvermeidbar ist, zugleich aber die epistemische Performance einer Gemeinschaft nicht nennenswert untergraben muss. Problematisch ist, wenn sich bestimmte Verzerrungen zu einem kollektiven Bias aufsummieren. Solange eine Gemeinschaft hinreichend diversifiziert ist und sich verschiedene Verzerrungen wechselseitig aufheben, stellen diese Verzerrungen ein geringeres oder gar kein epistemisches Problem dar. Aber wenn sie die gesamte Gemeinschaft dominieren, beginnen sie, problematisch zu werden.

Wie ich ebenfalls gezeigt habe (in Abschnitt 12.2.1), gibt es grundsätzlich in der Wissenschaft Anreizmechanismen, die dafür sorgen, dass epistemische Diversität generiert wird. Wenn aber Wissenschaft in starkem Maße Kolonialisierungsversuchen etwa durch die Wirtschaft ausgesetzt ist, greifen oder funktionieren diese Mechanismen häufig nicht mehr optimal. Im Falle der Impfforschung scheinen derartige Kolonialisierungsversuche auf der Hand zu liegen. Hinzu kommt, dass belastbare Studien zu Impfstoffen und anderen Medikamenten aufgrund der erforderlichen Größe der Test- und Kontrollgruppen häufig sehr teuer sind, was dazu führen kann, dass zu einem bestimmten Medikament nur wenige oder gar keine Studien existieren, die nicht industriefinanziert sind.Footnote 8

Derartige Überlegungen lassen erhebliche Bedenken an der Objektivität der vakzinologischen Gemeinschaft durchaus berechtigt erscheinen. Auf der anderen Seite muss in Rechnung gestellt werden, dass die Relevanz des ökonomischen Einflusses im Bereich der Vakzinologie vielleicht zumindest geringer sein könnte als in anderen Bereichen der Medizin, da Impfstoffe im Allgemeinen weniger profitabel sind als etwa Medikamente gegen chronische Krankheiten (vgl. Brown 2008, 203).

Wenn wir uns nun aber möglichen epistemischen Verzerrungen aufseiten der impfkritischen Gemeinschaft zuwenden, so können wir feststellen, dass auch hier erhebliche finanzielle Interessen im Spiel sind. Beispielsweise hat sich herausgestellt, dass Wakefields Studie von 1998 von Kanzleien finanziert wurde, die Eltern autistischer Kinder vertraten und die auf der Suche nach Argumenten waren, mithilfe derer sie die Hersteller von MMR-Impfstoffen auf Schadenersatz hätten verklagen können. Nach wie vor investieren Organisationen wie Generation Rescue erhebliche Summen, um einen vermeintlichen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus zu propagieren und alternative Therapien zu bewerben (vgl. Offit 2009).

Als besonders problematisch dürfte das weitgehende Fehlen diversitätsgenerierender Mechanismen in der impfkritischen Gemeinschaft zu bewerten sein. Eine maßgebliche epistemische Untugend der Impfkritiker besteht darin, dass sie zu einer unkritischen Affirmation ihrer Überzeugungen („uncritical affirmation of their existing beliefs“, Navin 2015, 38) tendieren. Der für die Wissenschaft charakteristische institutionalisierte Skeptizismus ist ihnen eher fremd.Footnote 9 In der vakzinologischen Gemeinschaft mag es, wie wir gesehen hatten, aufgrund der Interpenetration mit der Pharmaindustrie Einschränkungen der diversitätsgenerierenden Anreizmechanismen geben, dennoch sind die in der Wissenschaft üblichen Mechanismen nicht gänzlich außer Kraft. Das dürfte etwa für die aus der Prioritätsregel resultierenden Anreize gelten. Wenn es wirklich einen klaren Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und Autismus geben würde, dann – sollte man meinen – verspricht dessen methodisch sauber geführter Nachweis erhebliche wissenschaftliche Prestige-Gewinne. Angesichts der Tatsache, dass die vakzinologische Gemeinschaft so einmütig von der Abwesenheit eines solchen Zusammenhangs ausgeht (wir hatten gesehen, dass alle potentiellen Wahrheitsindikatoren in dieselbe Richtung weisen), fragt es sich, wieso offensichtlich kein Mitglied diese Gewinne einkassieren möchte. Das scheint die Antwort nahezulegen: Es gibt den Zusammenhang nicht.

Eine weitere Methode zur Abschätzung der epistemischen Performance der Gemeinschaften ist die Betrachtung ihrer Erfolgsbilanzen. Die Geschichte des Impfens scheint sich als beeindruckende Erfolgsgeschichte darzustellen. Stanley Plotkin, eines der Kernmitglieder der vakzinologischen Gemeinschaft, spricht von „[o]ne of the brightest chapters in the history of science“ (Plotkin 2015, 12283). Mehrere schwerwiegende Krankheiten wie Pocken, Polio und Masern konnten durch Impfprogramme ausgerottet oder stark zurückgedrängt werden. Allerdings wird an dieser Stelle wieder das bereits geschilderte Problem akut, dass die Informationen, auf deren Basis die epistemische Performance der Gemeinschaften abgeschätzt werden kann, ihrerseits umstritten sein können. Das gilt auch für die Historie des Impfens. Zum einen dürfte verhältnismäßig unstrittig sein (und zwar innerhalb wie außerhalb der vakzinologischen Gemeinschaft), dass die vakzinologische Erfolgsbilanz zumindest keine gänzlich ungetrübte ist. Viele Impfungen hatten teilweise schwerwiegende Nebenwirkungen, zudem gab es Vorfälle wie das „Lübecker Impfunglück“, bei dem 1930 mehrere Dutzend Neugeborene aufgrund eines unzureichend getesteten Tuberkuloseimpfstoffs zu Tode kamen (vgl. Roloff 2016). Darüber hinaus bestreiten Impfkritiker allerdings nicht selten überhaupt den kausalen Zusammenhang zwischen den Impfprogrammen und dem Rückgang der Krankheiten und führen diesen stattdessen auf andere Ursachen wie verbesserte Hygienebedingungen zurück (vgl. etwa Buchwald 1997).

Welche Möglichkeiten haben die Eltern als „neutrale“ Beobachter, diese divergierenden Darstellungen zu bewerten? Eine Möglichkeit ist, Darstellungen heranzuziehen, die nicht von Mitgliedern von einer der beiden Gemeinschaften verfasst wurden (z. B. medizin- oder kulturhistorische Darstellungen). Die Tatsache, dass diese überwiegend eher das Narrativ der Erfolgsgeschichte als das von den Impfkritikern erzählte teilen, spricht zugunsten des ersteren. Ferner muss der zeitliche Abstand bedacht werden. Impfungen mit besonders krassen Nebenwirkungen sowie Impfunglücke vom Ausmaß des Lübeckers liegen überwiegend viele Jahrzehnte zurück und sollten mit entsprechend verminderter Gewichtung berücksichtigt werden.Footnote 10 Zudem spricht es für das vakzinologische Narrativ, dass diese Nebenwirkungen und Unglücke, so bedauerlich sie sein mögen, in der Regel letztlich als solche anerkannt wurden und man effektive Gegenmaßnahmen ergriffen hat.

Auch die impfkritische Gemeinschaft kann auf ihre Erfolgsbilanz hin untersucht werden. Hier wäre etwa an impfkritischen Aktivismus vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte zu denken, etwa gegen die Pockenimpfungsprogramme des 19. Jahrhunderts, an dem sich auch bedeutende Wissenschaftler wie Alfred Russel Wallace beteiligten (vgl. Shermer 2002; Slotten 2004). Bemerkenswert ist, dass auch Wallace sich bereits auf Argumente wie die Behauptung stützte, die Befürworter des Impfens seien maßgeblich durch finanzielle Interessen motiviert. Auch vermutete er, es seien in erster Linie nicht Impfungen, sondern verbesserte hygienische Bedingungen, die zu einem Sinken von Pockeninfektionen führen würden, und befürchtete eine Gefahr stattdessen gerade durch die unhygienischen Umstände, unter denen die Impfungen oft durchgeführt wurden. Auch wenn derartige Bedenken keineswegs als gänzlich unbegründet abgetan werden sollten, müssen sie doch im Lichte des enormen langfristigen Erfolgs des Pockenimpfungsprogramms relativiert werden.

Die vielleicht stärkste Evidenz, die die Eltern zugunsten der vakzinologischen Gemeinschaft bekommen können, ist die Tatsache, dass es sich dabei um eine als wissenschaftliche anerkannte Gemeinschaft handelt. Diese Anerkennung, in der eine Form von Metaexpertise anderer Wissenschaftler bzw. anderer wissenschaftlicher Gemeinschaften zum Ausdruck kommt, findet die impfkritische Gemeinschaft nicht.

Die Anerkennung einer Gemeinschaft als wissenschaftliche ist für die Eltern nicht nur insofern relevant, als sie direkt etwas über den Status der vakzinologischen bzw. impfkritischen Gemeinschaft aussagt. Sie besitzt auch eine gewisse indirekte Relevanz, insofern sie für die Beurteilung der historischen, soziologischen, ökonomischen usw. Informationen aufschlussreich sein kann, die die Eltern als Grundlage für ihre epistemologische Einschätzung der beiden Gemeinschaften recherchieren müssen. Wenn nämlich eine Information etwa zur Geschichte des Impfens (beispielsweise die Information, dass der Rückgang bestimmter Krankheiten auf Impfprogramme, nicht auf veränderte hygienische Bedingungen zurückzuführen ist), konsensfähig ist in einer als wissenschaftlich anerkannten Gemeinschaft (wie der Gemeinschaft der Medizinhistoriker), dann verleiht das dieser Information einen höheren Wert als wenn sie lediglich in der impfkritischen Gemeinschaft konsensfähig ist, die nicht als wissenschaftliche anerkannt wird.

In diesen Kontext fällt auch die Methode der Berücksichtigung weiterer Quellen. Die vakzinologische Gemeinschaft ist Teil eines Netzes interdisziplinärer Kommunikations- und Austauschprozesse innerhalb der Wissenschaft. Sie übernimmt Ergebnisse anderer wissenschaftlicher Gemeinschaften, und andere wissenschaftliche Gemeinschaften übernehmen umgekehrt Ergebnisse, die sie erzielt hat. Das gilt für andere Teile der Medizin, für Biologie, Physiologie usw. Der epistemische Erfolg dieser anderen Gemeinschaften spricht daher ein Stück weit indirekt auch für den epistemischen Erfolg der vakzinologischen. Für die impfkritische Gemeinschaft lässt sich eine derartige Vernetzung mit anderen epistemisch erfolgreichen Gemeinschaften nicht konstatieren. Wenn sie mit anderen Gemeinschaften vernetzt ist, dann mit solchen, deren epistemische Performance selbst zweifelhaft ist, wie der homöopathischen, anthroposophischen oder esoterischen.

Ich möchte meine Überlegungen zur Impfdebatte damit abschließen. Ihr Ergebnis ist recht eindeutig: Die diskutierten Methoden deuten mehr oder weniger klar darauf hin, dass die vakzinologische Gemeinschaft hinsichtlich ihrer epistemischen Performance der der impfkritischen Gemeinschaft überlegen ist. Da, wie wir gesehen haben, die potentiellen Wahrheitsindikatoren im Falle der vakzinologischen Gemeinschaft klar auf die Falschheit der Proposition hindeuten, dass Autismus durch die MMR-Impfung hervorgerufen wird, besteht die rationale Reaktion für die Eltern darin, diese Proposition nicht zu glauben bzw. ihr einen geringen Glaubensgrad beizumessen.

Es ging mir, dies sei nochmals betont, nicht darum, die Impfdebatte in der größtmöglichen Ausführlichkeit und bis ins letzte Detail zu analysieren, sondern darum, anhand eines konkreten Beispiels anschaulicher zu machen, was es heißt, als Subjekt zwischen konkurrierenden pluralen epistemischen Autoritäten eine gerechtfertigte Wahl zu treffen, um die eigene Meinungsbildung dann auf eine von beiden stützen zu können, ohne sich fachlich in der Domäne der fraglichen Proposition orientieren zu müssen.

Ich möchte an dieser Stelle noch auf zwei Einwände eingehen, die vielleicht gegen die vorgeschlagene Vorgehensweise erhoben werden könnten. Der erste Einwand lautet, dass diese Vorgehensweise Subjekte überfordert, der zweite, dass in meinem Beispiel das Ergebnis im Grunde schon von vornherein vorhersagbar war und der Aufwand, den die Vorgehensweise erfordert, in keinem vernünftigen Verhältnis zu ihrem Nutzen steht.

Der erste Einwand nimmt Bezug auf die vielfältigen Recherche- und Reflexionsleistungen, die die Eltern in meinem Beispiel erbringen mussten, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Wenn der Sinn epistemischer Deferenz darin besteht, dass ein Subjekt keine eigenen aufwändigen Untersuchungen hinsichtlich einer es interessierenden Frage anstellen muss, sondern den Erkenntnisprozess sozusagen abkürzen kann dadurch, dass es sich auf jene stützt, die bereits entsprechende Kenntnisse haben, dann fragt es sich in der Tat, ob nicht angesichts des Aufwands, den die hier vorgeschlagene Vorgehensweise erfordert, die Idee epistemischer Deferenz gewissermaßen ad absurdum geführt wird. Als Replik auf diesen Einwand möchte ich zunächst darauf hinweisen, dass meine Vorgehensweise keinesfalls von den Eltern verlangt, Kenntnisse zu erlangen, die im engeren Sinn in die Domäne des Impfens gehören. Die Eltern sind am Ende ihres Rechercheprozesses nicht weniger Laien hinsichtlich des Impfens als vorher. Es mag sein, dass sie „nebenbei“ gewisse vakzinologische Kenntnisse erworben haben, doch diese sind es nicht, worauf der Recherche- und Reflexionsprozess eigentlich abzielt. Worauf er abzielt, sind Kenntnisse, die nicht zur Domäne des Impfens selbst gehören, sondern Kenntnisse, die soziologischer, historischer, politischer oder epistemologischer Natur sind. Die Eltern wissen am Ende der Recherche mehr über die beiden Gemeinschaften, aber es wird nicht verlangt, dass sie selbst zu Experten hinsichtlich des Impfens werden (also hinsichtlich des Themas, das in den beiden Gemeinschaften diskutiert wird). Nichtsdestoweniger – könnte man weiterhin einwenden –, ist der Recherche- und Reflexionsprozess aufwändig und langwierig, und die Frage ist, ob man diesen Aufwand von einem Subjekt verlangen kann, das doch eigentlich nur möglichst schnell und effizient zu Antworten auf seine Fragen gelangen möchte. Darauf antworte ich, dass es manchmal eben einfach nicht mit weniger Aufwand getan ist. Entweder man verlässt sich „blind“ auf eine mutmaßliche epistemische Autorität, läuft dann aber Gefahr, dass die mutmaßliche keine wirkliche Autorität ist. Oder man versucht, das Identifikationsproblem möglichst gewissenhaft zu lösen, und dann kommt man im Fall pluraler epistemischer Autoritäten nicht um gewisse soziologische usw. Recherchen herum, genauso wenig, wie man im Fall individueller epistemischer Autoritäten manchmal um gewisse Recherchen herum kommt (man muss ja bedenken, dass auch Goldmans Methoden in ihrer ursprünglichen Form auf nicht unerhebliche Recherchen zu den konkurrierenden Experten hinauslaufen).

Aber – und damit komme ich zum zweiten Einwand – hätte man nicht das Ergebnis im Impf-Beispiel auch einfacher haben können? Denn vielleicht gibt es ja wesentlich simplere Heuristiken, die nicht weniger effektiv sind als das hier vorgeschlagene Verfahren. Eine solche simple Heuristik könnte etwa lauten: „Vertraue immer der wissenschaftlichen Gemeinschaft.“ Ich räume ein, dass diese Heuristik, die gewissermaßen auf einer Verkürzung des Verfahrens auf die Metaexpertise-Methode beruht (von der ich ja gesagt habe, dass es vielleicht die stärkste Methode ist), häufig zu korrekten Ergebnissen führen dürfte, wenn es um die Wahl zwischen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft einerseits und einer nicht- oder pseudowissenschaftlichen Gemeinschaft andererseits geht. Andererseits würde selbst eine solche simple Heuristik nicht den Aufwand ersparen, der erforderlich ist, um den anderen Teil des Identifikationsproblems zu lösen (also die Feststellung, worauf die wahrheitsindikativen Tatsachen über die wissenschaftliche Gemeinschaft hindeuten – ob auf p oder non-p). Desweiteren haben wir am Impf-Beispiel gesehen, dass auch wissenschaftliche Gemeinschaften nicht selten weit davon entfernt sind, perfekt zu funktionieren, um sozusagen über jeden Verdacht erhaben zu sein. Unsere Analyse hat mehrere Probleme wie etwa das Problem des kollektiven Bias in der vakzinologischen Gemeinschaft zum Vorschein gebracht, die das epistemische Vertrauen von Subjekten in diese Gemeinschaft zumindest ein Stück weit erschüttern können und rationalerweise sollten. Und manchmal geht es nicht darum, eine Proposition entweder überhaupt zu glauben oder nicht zu glauben, sondern es geht um die genaue Stärke der Überzeugung, den genauen Glaubensgrad. Es kann einen Unterschied machen, ob man p glaubt, weil es einen entsprechenden Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft X gibt, oder ob man p aufgrund dieses Konsenses glaubt, aber gleichwohl gewisse Zweifel aufrechterhält, weil der Konsens in teilweise problematischer Weise zustande gekommen ist, so dass man seinen Glaubensgrad, der andernfalls bei – sagen wir – 0,9 liegen würde, auf vielleicht 0,8 senkt.

Ferner ist es so, dass andere Beispiele gut sehr viel weniger eindeutig ausfallen können als unsere anhand der Proposition „Impfen verursacht Autismus“ durchgeführte Beispielanalyse. Beispielsweise kann es sein, dass die Wahrheitsindikatoren nicht so eindeutig auf die Wahrheit oder Falschheit einer Proposition hindeuten. Man könnte sich etwa einen Fall vorstellen, in dem nur eine knappe Mehrheit der Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft glaubt, dass p, während andere Wahrheitsindikatoren – etwa der Metastudien-Indikator – vielleicht eher auf non-p hindeuten. Wenn es in einem solchen Fall eine nicht-wissenschaftliche Gemeinschaft gibt, in der es einen sehr eindeutigen Konsens für oder wider p gibt, und auch die anderen Wahrheitsindikatoren kohärent mit diesem Ergebnis sind, dann könnte ein genauerer Blick auf die sozialepistemologische Situation der beiden Gemeinschaften durchaus aufschlussreich sein und vielleicht zu dem Ergebnis führen, dass es rational ist, sich epistemisch eher auf die nicht-wissenschaftliche Gemeinschaft zu stützen.

Darüber hinaus lehrt die Wissenschaftsgeschichte, dass wissenschaftliche Gemeinschaften eine noch deutlich schlechtere epistemische Performance aufweisen können als die gegenwärtige vakzinologische Gemeinschaft. Konkrete Beispiele finden sich etwa dort, wo starke politische oder religiöse Kräfte massiven Einfluss auf die Erkenntnisproduktion bestimmter wissenschaftlicher Gemeinschaften genommen haben – man denke an die „Arische Physik“ oder die lyssenkoistische Biologie. Ich meine, dass eine geeignete sozialepistemologische Analyse die negativen Auswirkungen dieser massiven Einflussnahmen auf die epistemische Performance der Gemeinschaften selbst für einen zeitgenössischen Laien ansatzweise hätte sichtbar machen können.

Ein weiterer Aspekt ist, dass der Abstand hinsichtlich der epistemischen Performance zwischen einer wissenschaftlichen und einer konkurrierenden nicht-wissenschaftlichen Gemeinschaft geringer ausfallen kann, als wir das im Impf-Beispiel gesehen hatten. Denn die epistemische Performance einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kann nicht nur schlechter ausfallen als die der vakzinologischen, die Performance einer nicht-wissenschaftlichen Gemeinschaft kann auch besser ausfallen als die der impfkritischen. Ich möchte beispielsweise vermuten, dass die von globalisierungskritischen und verwandten Gemeinschaften geübte Kritik an der Mainstream-Ökonomie berechtigter ist als die von der impfkritischen an der vakzinologischen geübte. Ähnliches dürfte für die von der feministischen Bewegung aufgedeckten epistemischen Verzerrungen gelten, die aus der Dominanz von Männern in vielen wissenschaftlichen Gemeinschaften resultieren.

Schließlich muss bedacht werden, dass die simple Heuristik „Vertraue immer der wissenschaftlichen Gemeinschaft“ allein schon deswegen nicht immer anwendbar ist, weil wir es nicht immer mit Situationen zu tun haben, in denen Subjekte sich zwischen einer wissenschaftlichen und einer nicht-wissenschaftlichen Gemeinschaft zu entscheiden haben. Es können sich auch zwei nicht-wissenschaftliche Gemeinschaften gegenüberstehen oder zwei wissenschaftliche. Als Beispiel für den ersten Fall könnte man an die Pro- und die Anti-Atomkraft-Bewegung denken (vgl. Hauswald 2021b, 602), als Beispiel für den zweiten Fall an die Erforschung menschlichen Verhaltens, die in unterschiedlichen Disziplinen auf teilweise verschiedene Weise durchgeführt wird (vgl. etwa Longino 2013), wobei es durchaus zu abweichenden Einschätzungen kommen kann, etwa wenn es darum geht, wie viel genetische Veranlagung und wie viel soziokulturelle Prägung bestimmten Verhaltensweisen zugrundeliegt (eher biologisch ausgerichtete wissenschaftliche Gemeinschaften kommen diesbezüglich zu partiell anderen Einschätzungen als eher sozialwissenschaftlich ausgerichtete Gemeinschaften).

Außerdem gibt es auch Situationen, in denen das Subjekt nicht mit zwei konkurrierenden (mutmaßlichen) pluralen epistemischen Autoritäten konfrontiert ist, sondern mit nur einer, und sich nun entscheiden muss, ob bzw. in welchem Maße es sich epistemisch auf diese stützen sollte oder nicht. Insbesondere dann, wenn die Anwendung der Wahrheitsindikatoren auf diese Autorität darauf hindeutet, dass p, während das Subjekt unabhängige eigene Evidenzen dafür hat, dass non-p der Fall ist, kann eine ausführliche sozialepistemologische Analyse der Pluralität hilfreich sein, um zu entscheiden, wie es seine eigenen Evidenzen gegen die Autorität gewichten sollte. Diese Situation weist eine ähnliche Struktur auf wie jene „humeanischen Kollisionen“, die wir im Rahmen unserer Überlegungen zum Deferenzproblem (in den Kapiteln 8 und 15) betrachtet hatten.