Ich möchte in diesem Kapitel noch einmal verschiedene bis hierhin entwickelte Argumentationsstränge zusammenführen und die These verteidigen, dass sich die Relevanz pluraler epistemischer Autoritäten für unsere epistemische Praxis daher ergibt, dass die epistemische Autorität von Pluralitäten in mehreren interessanten Hinsichten prioritär gegenüber der von Einzelindividuen ist. Sie ist erstens prioritär in dem Sinne, dass plurale epistemische Autoritäten häufig zuverlässigere und bessere epistemische Quellen sind als individuelle Autoritäten. Zweitens ist sie prioritär in dem Sinne, dass das epistemische Vertrauen in Einzelindividuen in paradigmatischen Fällen derivativ zum epistemischen Vertrauen in jene Pluralitäten ist, deren Mitglieder sie sind, so dass ein Subjekt, auch wenn es sich epistemisch auf eine individuelle Autorität stützt, implizit ein gewisses Vertrauen in eine plurale epistemische Autorität haben muss. Drittens ist es in paradigmatischen Fällen, in denen ein Subjekt sich auf eine individuelle Autorität stützt, so, dass die Autorität dem Subjekt kollektive epistemische Güter vermittelt; in gewissem Sinne ist das Wissen oder Verstehen, das das Subjekt von ihr vermittelt bekommt, nicht ihr „Besitz“, sondern „Besitz“ der Pluralität, deren Mitglied sie ist. Im Folgenden möchte ich diese drei Prioritätsthesen noch etwas genauer entwickeln und verteidigen.

1 Die Zuverlässigkeit pluraler epistemischer Autoritäten

Wir hatten (in Kapitel 12) gesehen, dass epistemische Diversität ein zentrales Strukturmerkmal guter pluraler epistemischer Autoritäten ist. Hinreichend diversifizierte wissenschaftliche Gemeinschaften haben aber mit hoher Wahrscheinlichkeit einige Mitglieder, die falsche oder im Lichte der verfügbaren Evidenzen schlechtbegründete theoretische oder methodische Ansätze verfolgen. Gerade dies macht sie aus unterschiedlichen Gründen zu wertvollen Mitgliedern dieser Gemeinschaften. Aber es disqualifiziert sie möglicherweise auch als individuelle epistemische Autoritäten.

Angesichts dieser Überlegung erweist es sich als rationalste Strategie für ein Subjekt, sich epistemisch auf eine hinreichend diversifizierte Pluralität Pdiv zu stützen. Diese Strategie ist gegenüber drei möglichen Alternativen überlegen:

(1) dem Sich-Stützen auf ein individuelles Mitglied von Pdiv,

(2) dem Sich-Stützen auf eine nicht diversifizierte Pluralität Pnon-div, und

(3) dem Sich-Stützen auf ein individuelles Mitglied von Pnon-div.

Alternative (1) ist problematisch, weil sie das Risiko beinhaltet, dass das Subjekt an jene Mitglieder gerät, die individuell keine guten Quellen darstellen. Alternative (2) ist problematisch, weil die epistemische Performance von Pnon-div aufgrund des Fehlens epistemischer Diversität schlechter ist als die von Pdiv. Pnon-div ist etwas, was Kitcher (1990, 6) eine „irrational community“ nennt, d. h. eine Gemeinschaft individueller epistemischer Nutzenmaximierer, die alle dieselben, am erfolgversprechendsten erscheinenden Ansätze verfolgen, wodurch die Generierung epistemischer Diversität verhindert wird. Alternative (3) vermeidet nun zwar vielleicht das Problem von Alternative (1); ein durchschnittliches Mitglied von Pnon-div ist als epistemischer Nutzenmaximierer vielleicht sogar eine bessere Quelle als so manches Mitglied von Pdiv, denn Pdiv hat ja auch einige Mitglieder, die objektiv falsche oder unbegründete Ansätze verfolgen (es kann sein, dass Pdiv Mitglieder hat, die schlechtere individuelle Quellen darstellen als jedes einzelne Mitglied von Pnon-div). Dennoch ist es als Mitglied einer Pluralität mit schlechter epistemischer Performance eine weniger gute epistemische Quelle als die plurale epistemische Autorität Pdiv.

Allerdings gibt es Situationen, in denen die Interaktion mit individuellen epistemischen Autoritäten aus bestimmten Gründen notwendig ist, etwa weil die Anwendung des Wissens auf das besondere Problem die Urteilskraft individueller Autoritäten und eine ausführliche wechselseitige Kommunikation mit dem Subjekt erfordert. In den Fällen, in denen dies nicht erforderlich ist, ist die vorangehende Überlegung aber, wie ich meine, ein Argument für die Überlegenheit geeigneter pluraler epistemischer Autoritäten gegenüber individuellen.

2 Die Abhängigkeit epistemischen Vertrauens in Individuen vom Vertrauen in Pluralitäten

Die epistemische Autorität von Pluralitäten ist noch in weiteren Hinsichten prioritär gegenüber der von Individuen. Wie ich in diesem und im nächsten Abschnitt zeigen möchte, gibt es nämlich auch eine Priorität der pluralen Autorität gegenüber der individuellen, wenn sich Subjekte auf Individuen stützen. Dazu müssen sie nämlich das Identifikationsproblem lösen, dessen erster Teil darin besteht, eine geeignete epistemische Autorität für Domäne D zu identifizieren. Wir hatten (in Abschnitt 7.1) die Strategien, die das Subjekt zur Lösung dieses Problems anwenden kann, in Anlehnung an Goldmans Überlegungen diskutiert. Einige dieser Strategien – und zwar insbesondere die effektivsten – setzen implizit ein Vertrauen in die Gemeinschaft voraus, deren Mitglied die individuelle Autorität ist. Die vermutlich einschlägigste Strategie ist die Orientierung an formalen Qualifikationen. Ceteris paribus kann diejenige Person als die überlegene epistemische Autorität gelten, die gegenüber einer konkurrierenden höherwertige einschlägige akademische Abschlüsse vorweisen kann, mehr Publikationen in möglichst hoch gerankten Journalen veröffentlicht hat, mehr und renommiertere wissenschaftliche Preise gewonnen hat usw. Wir haben gesehen, dass solche formalen Qualifikationen so etwas wie „geronnene Reputation“ darstellen. In akademischen Abschlüssen spiegelt sich Anerkennung durch andere Mitglieder der Gemeinschaft wieder; wissenschaftliche Publikationen werden durch Peers begutachtet; ebenso wird die Entscheidung, wer einen Preis bekommt, häufig durch Fachkollegen getroffen. Das bedeutet aber, dass ein Subjekt, das formale Qualifikationen heranzieht, um eine epistemische Autorität zu identifizieren, Vertrauen in diese anderen Mitglieder, Peers oder Fachkollegen haben muss, damit die formalen Qualifikationen geeignete Indikatoren für epistemische Qualität sein können. Wenn in der Regel Personen einen Abschluss oder einen Preis bekommen würden, die objektiv nicht qualifiziert sind, während objektiv qualifizierten Personen die Abschlüsse und Preise verwehrt werden; wenn objektiv schlechte Aufsätze das Peer-Review-Verfahren passieren, während gute Aufsätze unpubliziert bleiben oder es nur in weniger angesehene Zeitschriften schaffen: dann würde dies den Wert dieser formalen Qualifikationen als Indikator für epistemische Qualität unterminieren.

Wenn Subjekte individuelle epistemische Autoritäten identifizieren, dann häufig als Mitglieder epistemischer Gemeinschaften, die sie ihrerseits als vertrauenswürdig einschätzen. Das Vertrauen in die Gemeinschaften ist primär, das in ihre Mitglieder lediglich derivativ. Dementsprechend kann es sein, dass wenn das Subjekt eine bestimmte Gemeinschaft als nicht vertrauenswürdig oder besonders vertrauensunwürdig einschätzt, eine Person, die innerhalb dieser Gemeinschaft große Reputation besitzt, als besonders schlechte epistemische Quelle eingeschätzt wird. Wenn etwa die impfkritische Gemeinschaft als vertrauensunwürdig einschätzt wird – ich werde auf dieses Beispiel in Kapitel 19 zurückkommen –, dann ist es naheliegend, dass Personen, die besonders großes Ansehen innerhalb dieser Gemeinschaft genießen (inklusive geronnenen Ansehens in Form formaler Qualifikationen), als entsprechend schlechte epistemische Quellen eingeschätzt werden.

3 Individuelle epistemische Autoritäten als Vermittler epistemischer Kollektivgüter

Es gibt noch eine weitere Hinsicht, in der plurale epistemische Autorität selbst in Situationen relevant ist, in denen sich Subjekte auf individuelle Autoritäten stützen. Ich hatte in Abschnitt 16.1.4 die Situation beschrieben, dass die Rechtfertigung, die für bestimmte epistemische Güter erforderlich ist, lediglich in kooperativer Weise etabliert wird. Es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass diese Situation gerade für wissenschaftliche Gemeinschaften ganz typisch ist (vgl. etwa Ridder 2014).Footnote 1 Wenn Wissenschaftler bestimmte Forschungsergebnisse erzielen, dann setzen sie dabei typischerweise sehr viel als gegeben oder bereits etabliert voraus, was sie nicht selbst überprüft haben und wofür sie nicht selbst individuelle Rechtfertigung besitzen. Wenn beispielsweise ein Mathematiker einen Beweis für die mathematische Behauptung p entwickelt, dann gelingt ihm dies häufig nur dadurch, dass er viele Theoreme als bereits bewiesen voraussetzt, ohne dass er die Beweise dieser Theoreme im Einzelnen kennen würde. Bei empirischen Wissenschaften ist das nicht anders. Eine gewisse justifikatorische Opazität setzt sich bis in die Fachgemeinschaften hinein fort.

Daraus ergeben sich bemerkenswerte Konsequenzen für das Sich-Stützen auf epistemische Autoritäten. Die wichtigste ist, dass das Sich-Stützen auf individuelle epistemische Autoritäten eine Art von Sich-Stützen auf die Pluralität, deren Mitglied die Autorität ist, voraussetzen kann, die den beteiligten Akteuren (der Autorität und dem Subjekt) manchmal bewusst ist und manchmal nicht. Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass Wissenschaftler dies manchmal kenntlich machen, indem sie nicht im Singular sprechen, sondern Formulierungen im Plural verwenden („Wir sind uns mittlerweise sicher, dass Autismus nicht durch Impfungen ausgelöst wird“ usw.), oder aber einfach Propositionen mit behauptender Kraft äußern („Autismus wird nicht durch Impfungen ausgelöst“), obwohl die Rechtfertigung hinter diesen Propositionen ein Produkt der Gemeinschaft ist, nicht einzelner Individuen.

Die Mitglieder der Pluralität sind also wechselseitig voneinander abhängig. Die Legitimität einer epistemischen Behauptung setzt voraus, dass viele Mitglieder der Pluralität gute Arbeit geleistet haben. Wenn ein Wissenschaftler behauptet „Wir wissen, dass p“ oder „Wir verstehen X“, dann behauptet er implizit, dass die epistemischen Voraussetzungen dafür in seiner Gemeinschaft entsprechend erbracht wurden, ohne dies unmittelbar und direkt selbst überprüfen zu können. Er muss ein Stück weit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft in dieser Hinsicht vertrauen. Dieses Vertrauen kann wohlgemerkt angemessen oder unangemessen sein. Denn die Annahme, dass die anderen Mitglieder der Gemeinschaft „gute Arbeit“ geleistet haben, kann korrekt sein oder nicht. Daraus ergibt sich, dass die fragliche epistemische Behauptung („Wir wissen, dass p“, „Wir verstehen X“ usw.) legitim oder illegitim sein kann.

Was bedeutet das aber für ein Subjekt, das dem Wissenschaftler vertraut und ihm gegenüber bzw. gegenüber seiner Behauptung deferiert? Es bedeutet, dass das Vertrauen dieses Subjekts eine Art Meta-Vertrauen involviert: ein Vertrauen darauf, dass das Vertrauen des Wissenschaftlers, das dieser in seine Fachkollegen besitzt (oder allgemein: die Pluralität, zu der er gehört, insgesamt) angemessen ist. Wenn ein Wissenschaftler behauptet „Wir wissen, dass p“ (oder wenn er – den kollektiven Modus verschleiernd oder abkürzend – einfach nur „p“ behauptet), das Subjekt aber die relevante Gemeinschaft als nicht-vertrauenswürdige Gemeinschaft einschätzt (wobei diese Einschätzung wiederum korrekt oder inkorrekt sein mag), dann wird es der Behauptung des Wissenschaftlers keinen Glauben schenken, auch wenn dieser seinerseits ein Vertrauen in seine Fachkollegen besitzt.

Das epistemische Vertrauen eines Subjekts in eine individuelle Autorität kann also in zweierlei Hinsichten ein Vertrauen in die Pluralität voraussetzen, zu der die Autorität gehört. Zum einen kann die Einschätzung des Status der individuellen Autorität als gute Quelle von dem Vertrauen des Subjekts in die Pluralität abhängen; genauer: vom Vertrauen darauf, dass das Zertifizierungssystem der Pluralität in dem Sinne funktioniert, dass es tatsächlich genau die Individuen auszeichnet, die objektiv bestimmte epistemische Leistungen erbracht haben oder zu erbringen imstande sind (diesen Aspekt haben wir im vorherigen Abschnitt 17.2 betrachtet). Zum anderen und zusätzlich dazu kann das Vertrauen in eine individuelle Quelle insofern ein Vertrauen in die Pluralität voraussetzen, als epistemische Behauptungen der individuellen Quelle kollektive epistemische Güter zum Inhalt haben können, deren legitimer Eigentümer gar nicht das Individuum selbst ist. Wenn die Behauptung glaubwürdig ist, dann nur insofern, als verschiedenste Mitglieder der Pluralität insgesamt gute Arbeit geleistet und in geeigneter Weise zusammengewirkt haben (und als das zwischen den Mitgliedern wechselseitig erforderliche epistemische Vertrauen angemessen ist). Wenn das Subjekt der Behauptung vertraut, dann nur insofern, als es implizit oder explizit davon ausgeht, dass diese Bedingung erfüllt ist.