Ich hatte in Teil II (in Kapitel 9) argumentiert, dass individuelle epistemische Autoritäten einen Autoritätsstatus nicht nur im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten über eine thematische Domäne besitzen können, sondern auch im Hinblick auf das Verstehen einer Domäne. Für Subjekte, die die Domäne verstehen möchten, sind solche Verstehens-Autoritäten die richtigen Ansprechpartner. Können plurale epistemische Autoritäten in vergleichbarer Weise als Verstehens-Autoritäten in Erscheinung treten? Um diese Frage soll es in diesem Kapitel gehen. Ich werde zunächst (in Abschnitt 16.1) im Allgemeinen verschiedene Hinsichten diskutieren, in denen epistemische Güter einen kollektiven Charakter haben können, und im Besonderen überlegen, inwiefern auch Verstehen einen derartigen kollektiven Status besitzen kann. Anschließend (in Abschnitt 16.2) geht es darum, inwiefern Pluralitäten ein Verstehen, das sie in kollektiver Weise besitzen, an deferierende Subjekte weitergeben können.

1 Verstehen als kollektives epistemisches Gut

Einige ganz paradigmatische Fälle epistemischen Sich-Stützens auf individuelle Autoritäten sind so beschaffen, dass die individuelle Autorität als Vermittler epistemischer Kollektivgüter fungiert. Mit „epistemischen Kollektivgütern“ meine ich etwa Überzeugungen, Wissen oder Verstehen, deren Träger oder Besitzer in bestimmten, noch näher zu charakterisierenden, Hinsichten Kollektive sind und nicht Einzelindividuen (oder wenn, dann nur in einem derivativen Sinn). Wissenschaftler machen das Vorliegen dieses epistemischen Kollektivmodus manchmal kenntlich, indem sie nicht im Singular sprechen, sondern Formulierungen im Plural verwenden. Sie sagen dann Dinge wie: „Wir sind uns mittlerweise sicher, dass Autismus nicht durch Impfungen ausgelöst wird“, „Dank der Fortschritte in der Genetik verstehen wir die Evolution des Lebens heute viel besser als noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“ oder „Wir gehen davon aus, dass die Erhöhung des Omega-3-Spiegels einen direkten Einfluss auf den Serotoninspiegel hat, den genauen Mechanismus kennen wir allerdings noch nicht“, wobei sich das „wir“ in diesen Formulierungen typischerweise auf die wissenschaftlichen Gemeinschaften bezieht, deren Mitglied der Sprecher ist. Manchmal verwenden sie aber auch andere Formulierungen – z. B. sprechen sie im Singular oder äußern einfach nur eine Propositionen mit behauptender Kraft (z. B.: „Autismus wird nicht durch Impfungen ausgelöst“) – so dass die kollektive Natur des transportierten epistemischen Guts für ihr Publikum weniger offensichtlich ist. Im Folgenden möchte ich nun die Natur epistemischer Kollektivgüter genauer analysieren, um im Zuge dessen diese weitere Hinsicht, in der die epistemische Autorität von Einzelindividuen derivativ zu der von Pluralitäten sein kann, besser verstehen zu können.

Ein Startpunkt zur Analyse der Natur epistemischer Kollektivgüter ist die Sprachpraxis, also Sprechakte, in denen einer Pluralität Überzeugungen, Wissen oder Verstehen zugeschrieben werden: Sprechakte der Form „Wir glauben/wissen, dass p“, „Wir verstehen, warum p“, „Gruppe G glaubt/weiß, dass p“ oder „G versteht, warum p“. Es handelt sich lediglich um einen Startpunkt, weil – wie wir gerade gesehen hatten – Formulierungen manchmal nicht diese Form haben, obwohl trotzdem ein epistemisches Kollektivgut betroffen ist; umgekehrt gibt es auch Situationen, die oberflächengrammatisch eine Pluralform haben, obwohl kein epistemisches Kollektivgut transportiert wird. Es bietet sich an, zunächst einen kurzen Blick auf diese letzteren Situationen zu werfen, bei denen ich von einem „distributiven“ Vorkommen eines epistemischen Guts sprechen möchte. Diese Form möchte ich dann abgrenzen von jenen Situationen, in denen genuine epistemische Kollektivgüter im eigentlichen Sinn vorliegen. Wie zu zeigen sein wird, ist dies keine einheitliche Kategorie, sondern umfasst selbst noch einmal verschiedene Formen; ich werde entsprechend von „gemeinschaftlichen“, „deferentiellen“ und „kooperativen epistemischen Gütern“ sprechen.

1.1 Distributive epistemische Güter

In der sozialepistemologischen und -ontologischen Literatur ist in der Regel von einer „summativen Analyse“ die Rede, wenn epistemische Zuschreibungen an Pluralitäten so interpretiert werden, dass die Zuschreibungen gerechtfertigt sind dadurch, dass das Gut distributiv jedem Mitglied individuell zugeschrieben werden kann (als locus classicus gilt in der Regel Quinton 1975). Zumeist wird die summative Analyse in der Literatur nur diskutiert, um sie sogleich als ungenügend zurückzuweisen, da für das Vorliegen eines kollektiven Glaubens, eines kollektiven Wissens usw. weder hinreichend noch notwendig sei, dass alle Mitglieder einen entsprechenden individuellen Glauben oder ein individuelles Wissen besitzen. Das ist zwar richtig, es sollte aber nicht übersehen werden, dass manchmal Sprechakte der Form „Gruppe G weiß, dass p“ oder „G versteht, warum p“ durchaus vollzogen werden, ohne dass damit mehr gemeint wäre, als dass alle Mitglieder von G jeweils individuell wissen, dass p, oder verstehen, warum p.

Als konkretes Beispiel können wir uns eine Schulklasse vorstellen, die vor den Ferien eine Aufgabe gestellt bekommt, für die die Schüler ein komplexes, bislang nicht behandeltes Thema T bearbeiten müssen, zu dem auch die Proposition p gehört. Angenommen, alle Schüler absolvieren die Aufgabe unabhängig voneinander und erlangen dabei ein Verstehen von T sowie Wissen darüber, dass p wahr ist. Nach den Ferien korrigiert der Lehrer die Aufgaben und sagt zufrieden zu sich: „Die Klasse weiß jetzt, dass p; sie versteht das Thema jetzt.“ Dieser Sprechakt impliziert hier nicht mehr, als dass jeder einzelne Schüler jeweils p weiß und T versteht.

Die Bedingungen, unter denen ein epistemisches Gut in dieser distributiven Weise vorliegt, können variieren. Die Mitglieder einer Pluralität können beispielsweise keinerlei Kenntnis davon haben, dass die anderen Mitglieder dasselbe Wissen oder Verstehen besitzen. Wir könnten in diesen Fall von einem „solitären distributiven epistemischen Gut“ sprechen (z. B. „solitärem distributiven Wissen“ oder „solitärem distributiven Verstehen“). In diese Kategorie fällt auch das, was in der Literatur gemeinhin als „pluralistische Ignoranz“ bezeichnet wird (vgl. z. B. Bicchieri/Fukui 1999; Tuomela 2001, 14039). Als „gemeinsames epistemisches Gut“ sei demgegenüber ein epistemisches Gut bezeichnet, das distributiv unter den Mitgliedern einer Pluralität verteilt ist und dessen distributives Vorliegen den Mitgliedern transparent ist. Beispielsweise können wir uns vorstellen, dass der Lehrer nach den Ferien vor die Klasse tritt und die Ergebnisse bekannt gibt. Wenn alle Schüler aufmerksam sind, dann erfahren sie dadurch nicht nur, dass alle Wissen über p und Verstehen von T erworben haben, sondern sie nehmen auch wahr, wie alle erfahren, dass alle dieses Wissen und Verstehen erworben haben.

Relevanz für die soziale Praxis besitzen gemeinsame epistemische Güter unter anderem als Voraussetzung für den Erfolg von Kooperationen. Beispielsweise denke man an zwei Unternehmer, die eine Geschäftsidee haben, die sie nur kooperativ realisieren können. Für beide ist klar, dass die Kooperation nur erfolgreich sein kann, wenn beide ein hinreichendes Verstehen der avisierten Unternehmung, der Branche und der Wirtschaft allgemein besitzen. Dass dieses Verstehen bei beiden vorhanden ist, reicht daher nicht hin, damit sie sich auf die Kooperation einlassen; sie müssen auch um das Verstehen des jeweils anderen wissen. Dieses Wissen um das Verstehen des anderen – aber auch das Wissen darum, dass der andere weiß, dass man selbst versteht – trägt auch langfristig zur Entwicklung wechselseitigen Vertrauens bei, das ein wichtiger Faktor ist, von dem der Erfolg der Kooperation abhängt (für weitere Beispiele und Überlegungen zur Relevanz gemeinsamer epistemischer Güter vgl. auch List 2014).

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die für gemeinsame epistemische Güter typische Transparenz näher zu charakterisieren, und je nachdem ergeben sich unterschiedliche Subtypen. Wenn γ das fragliche epistemische Gut ist (z. B. Glauben oder Wissen, dass p, oder Verstehen, warum p), dann kann das distributive Vorkommen von γ in Pluralität P in der Weise transparent sein, dass gemeinsamer Glaube (mutual belief) in P darüber besteht, dass γ in P distributiv vorkommt. Alternativ dazu könnte die Transparenz auch über gemeinsames Wissen (common knowledge) etabliert werden: gemeinsames Wissen darüber, dass γ in P distributiv vorkommt.

Damit sind die Möglichkeiten aber noch nicht erschöpft. Betrachten wir den Fall gemeinsamen Verstehens. Ich hatte in Abschnitt 9.1 ausgeführt, dass objektuales und explanatorisches Verstehen vier Komponenten involviert: eine Komponente der epistemischen Pro-Einstellung, eine Rechtfertigungskomponente, eine kognitive Komponente und eine Anbindungskomponente. Ein Subjekt S versteht demnach ein Phänomen X bzw. warum p, genau dann, wenn

  1. (1)

    es eine geeignete epistemische Pro-Einstellung gegenüber einer Repräsentation R von X bzw. der Ursache von p hat (Komponente der epistemischen Pro-Einstellung),

  2. (2)

    Ss epistemische Pro-Einstellung in geeigneter Weise gerechtfertigt ist (Rechtfertigungskomponente),

  3. (3)

    S in der Lage ist, eine charakteristische Menge kognitiver Leistungen in Bezug auf R zu erbringen (kognitive Komponente), und

  4. (4)

    R in einer geeigneten Weise an die Tatsachen angebunden ist (d.h. korrekt ist) (Anbindungskomponente).

Wenn nun alle Mitglieder einer Pluralität P ein Verstehen von X bzw. warum p besitzen, dann könnte diese Situation auch gewissermaßen nur partiell transparent sein. Es könnte z. B. einen gemeinsamen Glauben unter den Mitgliedern von P geben, dass alle Mitglieder die Komponente der epistemischen Pro-Einstellung erfüllen, aber keinen gemeinsamen Glauben darüber, dass auch die anderen Komponenten erfüllt sind. Wenn man nun die betroffenen Komponenten und außerdem die epistemischen Einstellungen weiter variiert (ob die Transparenz als gemeinsamer Glaube oder als gemeinsames Wissen etabliert wird), dann ergibt sich ein breites Spektrum von Formen, das vom solitären distributiven Verstehen bis zur stärksten Form reicht, bei der es gemeinsames Wissen über das Erfülltsein aller Komponenten gibt.

1.2 Gemeinschaftliche epistemische Güter

Manchmal beruhen epistemische Güter auch auf einer gemeinschaftlichen Verpflichtung (joint commitment); entsprechend möchte ich von „gemeinschaftlichen epistemischen Gütern“ („gemeinschaftlichem Glauben“, „gemeinschaftlichem Wissen“, „gemeinschaftlichem Verstehen“ usw.) sprechen. In Bezug auf Glauben und Wissen sowie verschiedene nicht-epistemische Einstellungen hat Margaret Gilbert dies in einer Reihe von Publikationen demonstriert (s. z. B. Gilbert 1989; 2000b; 2014). Im Kern ihres Ansatzes steht die Idee, dass sich die Mitglieder einer Gruppe durch eine Art Übereinkunft dazu einigen können, eine bestimmte Einstellung als die der Gruppe gelten zu lassen. Das setzt weder voraus, dass die Mitglieder individuell diese Einstellung besitzen, noch ist das distributive Vorkommen der Einstellung hinreichend dafür, dass die Gruppe eine derartige gemeinschaftliche Einstellung besitzt.

Auch Verstehen kann nun, wie ich meine, auf einer solchen gemeinschaftlichen Verpflichtung beruhen. Das lässt sich vielleicht am besten an einem Beispiel wie dem folgenden illustrieren:

Die Partei X hat eine herbe Wahlniederlage hinnehmen müssen. Nach eingehenden Beratungen mit dem Präsidium tritt der Parteichef vor die Presse und beginnt seine Verlautbarung mit dem Satz: „Wir haben verstanden, warum uns die Wählerinnen und Wähler das Vertrauen entzogen haben, und sind entschlossen, alle nötigen Konsequenzen zu ziehen.“ Daraufhin gibt er eine Stellungnahme zu den Ursachen und Folgen der Wahlniederlage ab, auf deren Grundzüge sich das Präsidium zuvor geeinigt hatte.

Der Parteichef berichtet hier weder schlicht von seinem individuellen Verstehen der Wahlniederlage, noch vom individuellen Verstehen der anderen Mitglieder des Präsidiums. Er spricht weder von bloßem distributiven Verstehen, noch von gemeinsamem Verstehen. Ich schlage vor, das Szenario vielmehr wie folgt zu analysieren: Die Mitglieder des Präsidiums haben sich auf eine bestimmte Erklärung der Wahlniederlage geeinigt. Genauer: Sie haben sich gemeinschaftlich dazu verpflichtet, eine bestimmte Erklärung – oder allgemein: eine bestimmte Repräsentation – als die von der Gruppe sanktionierte gelten zu lassen.

Nun hat Verstehen auch einen externalistischen Aspekt, welcher durch die Anbindungskomponente etabliert wird. Das Präsidium versteht nur wirklich, warum es zu der Wahlniederlage kam, wenn die Repräsentation auch korrekt ist. (Ähnliches gilt für Wissen: Eine gemeinschaftliche Verpflichtung auf eine bestimmte Überzeugung reicht nicht aus dafür, einer Gruppe gemeinschaftliches Wissen zuzuschreiben, denn dafür muss die Überzeugung auch wahr und in nicht-gettierartiger Weise gerechtfertigt sein.) Außerdem müssen die Mitglieder die Fähigkeiten der kognitiven Bedingung zu erfüllen in der Lage sein. Wäre der Parteichef nicht in der Lage, auf einschlägige Fragen von Journalisten zu antworten, Details und Implikationen der Repräsentation zu erläutern usw., würde man nicht von „Verstehen“ sprechen. Insgesamt legen diese Überlegungen folgende allgemeine Charakterisierung nahe:

Gemeinschaftliches Verstehen von X/warum p in einer Pluralität P liegt vor genau dann, wenn die Mitglieder von P gemeinschaftlich auf eine gerechtfertigte Repräsentation R von X bzw. Erklärung für p verpflichtet sind, R korrekt ist und die Mitglieder in der Lage sind, die in der kognitiven Komponente spezifizierten Leistungen in Bezug auf R zu erbringen.

Ähnlich wie bei gemeinschaftlichem Glauben oder Wissen ist es auch bei gemeinschaftlichem Verstehen denkbar, dass die Pluralität etwas versteht, was die individuellen Mitglieder nicht verstehen. Wenn nämlich die Präsidiumsmitglieder individuell keine epistemische Pro-Einstellung zu der Repräsentation besitzen, auf die sie sich als Mitglieder gemeinschaftlich verpflichtet haben, dann verstehen sie individuell nicht, warum es zu der Wahlniederlage kam.

1.3 Deferentielle epistemische Güter

Manchmal wird einer Pluralität ein epistemisches Gut γ zugeschrieben aufgrund des Umstands, dass es einige geeignete Mitglieder gibt, die γ individuell besitzen. Im Hinblick auf Wissen sind solche Situationen von Alexander Bird (2010) beschrieben worden. Bird hat Situationen vor Augen, in denen Sätze geäußert werden wie: „North Korea knows how to build an atomic bomb“ oder „We know that the Sun’s power source is nuclear fusion“. Solche Situationen eigenen sich offenbar nicht für eine Analyse im Sinne des joint-commitment-Ansatzes. Denn die überwiegende Mehrheit der Nordkoreaner mögen keinerlei Ahnung von Atombomben haben, und auch der zweite Satz lässt sich sinnvoll auch dann äußern, wenn es nur wenige oder gar keine Personen unter denen gibt, auf die sich das „we“ bezieht (nämlich letztlich alle Mitglieder der modernen Gesellschaft), die sich auf die Proposition, dass die Sonnenenergie auf Kernverschmelzung beruht, gemeinschaftlich verpflichtet hätten.

Birds Vorschlag läuft darauf hinaus, die Wissenszuschreibung in solchen Fälle auf das Vorhandensein einer bestimmten Art von funktionaler Integration der Pluralität, der das Wissen zugeschrieben wird, zurückzuführen. Wenn man den Nordkoreanern das für den Bau von Atombomben erforderliche Wissen zuschreibt, dann deswegen, weil es einige, möglicherweise sehr wenige, Nordkoreaner gibt, die dieses Wissen besitzen, und die ihr Wissen gegebenenfalls für die Nordkoreaner (oder die nordkoreanische Führung) zur Verfügung stellen würden. Gleichermaßen gibt es im Rahmen der epistemischen Arbeitsteilung relevante Mitglieder in der modernen Gesellschaft, die wissen, dass Kernfusion die Quelle der Sonnenenergie ist. Auch wenn viele Mitglieder unserer modernen Gesellschaft dieses Wissen nicht besitzen, so gibt es doch jene, die dieses Wissen besitzen, die gegebenenfalls zur Verfügung stehen und gefragt werden können. Diese besonderen Mitglieder, die wir „operative Mitglieder“ nennen wollen, wissen sozusagen „stellvertretend“ für die übrigen (ich möchte den Ausdruck „operative Mitglieder“ nicht als Anspielung auf den Ansatz Tuomelas (2004) verstanden wissen, der dem joint-commitment-Paradigma verpflichtet bleibt). Und weil diese in einer Beziehung epistemischer Deferenz zu den operativen Mitgliedern stehen, möchte ich in diesem Zusammenhang von „deferentiellem Wissen“ (oder, da sich die Idee, wie ich gleich zeigen werde, generalisieren lässt, von „deferentiellen epistemischen Gütern“) sprechen.

Bird geht sogar so weit zu behaupten, dass es kein einziges operatives Mitglied geben muss, dass aktual p weiß, um der Pluralität das Wissen um p zuschreiben zu können. Er illustriert das am (bereits in Abschnitt 11.2 diskutierten) Beispiel von „Dr. N.“, einem Wissenschaftler, der eine Entdeckung macht, publiziert und einige Zeit später verstirbt. Ebenso sterben alle, die einmal von der Entdeckung gewusst haben (z. B. die Peer Reviewer von Ns Publikation), oder vergessen sie wieder. Gleichwohl ist Bird zufolge das Wissen um die Entdeckung immer noch ein Teil des kollektiven Wissens, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass es in Form des publizierten Artikels in der Fachliteratur zugänglich ist. Die Einbindung in den funktional integrierten arbeitsteiligen Kontext ist damit immer noch gegeben, da die Publikation bei Bedarf leicht recherchiert werden könnte. Alles, was nötig ist, ist ein operatives Mitglied, das in der Lage wäre, diese Recherche durchzuführen und das Wissen um p zu aktualisieren.

Das Beispiel von „Dr. N.“ ist so, dass es zumindest einmal Personen gab – nämlich Dr. N., die Peer Reviewer usw. –, die wussten, dass p, nur dass diese verstorben sind oder p wieder vergessen haben. Es ist aber denkbar, dass für eine Wissenszuschreibung noch nicht einmal diese Bedingung erfüllt ist. Bird plausibilisiert diese Behauptung durch Verweis auf automatische Datenergebungsmechanismen, wie sie etwa in der Meteorologie existieren. Automatische Wetterbeobachtungsstationen können Wetterdaten erheben, im Internet publizieren und damit zu einem abrufbaren Teil des kollektiven Wissens machen, ohne das auch nur ein Mensch diese Daten jemals gesichtet haben muss.

Ich denke, dass sich diese Überlegungen auch auf Verstehen übertragen lassen. Man betrachte Aussagen wie „Dank der Fortschritte in der Genetik verstehen wir die Evolution des Lebens heute viel besser als noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“ oder „Wir verstehen heute besser, warum das Melanom nicht abgestoßen wird wie das Organtransplantat eines nichtkompatiblen Spenders“. Diese Aussagen lassen sich sinnvoll tätigen, ohne dass sich dabei das „wir“ auf eine Pluralität beziehen muss, deren Mitglieder alle individuell über entsprechendes Verstehen verfügen müssen. Das „wir“ könnte sich z. B. auf die gesamte wissenschaftliche Gemeinschaft beziehen oder die moderne Gesellschaft insgesamt, auch wenn die Mehrzahl der Mitglieder nicht individuell verstehen, was es mit dem Zusammenhang von Genetik und Evolution oder den Abstoßungsreaktionen bei Organtransplantaten und Melanomen auf sich hat. Wenn die Verstehenszuschreibung dennoch möglich ist, dann offenbar deswegen, weil es operative Mitglieder gibt, die individuelles Verstehen besitzen und gegebenenfalls zur Verfügung stehen, um ihr Verstehen auch jenen zu vermitteln, die es aktual nicht besitzen. Und auch bei deferentiellem Verstehen kann es sein, dass es gar kein operatives Mitglied gibt, das aktual individuelles Verstehen besitzt. Es ist lediglich erforderlich, dass es zum einen in der Fachliteratur zugängliche geeignete Repräsentationen gibt, und zum anderen operative Mitglieder, die diese Repräsentationen bei Bedarf leicht recherchieren und basierend auf ihnen individuelles Verstehen erwerben könnten.

Ich schlage folgende allgemeine Charakterisierung vor:

Deferentielles Verstehen von X/warum p in einer Pluralität P liegt vor genau dann, wenn 1. P operative Mitglieder hat, die individuelles Verstehen von X/warum p besitzen oder anhand publizierter korrekter Repräsentationen von X bzw. Erklärungen für p leicht aktualisieren können; und 2. P so organisiert ist, dass das individuelle Verstehen dieser operativen Mitglieder aufgrund dessen Zugänglichkeit für die übrigen Mitglieder als Verstehen der Gruppe gilt.

1.4 Kooperative epistemische Güter

John Hardwig (1985; 1991) hat Fälle beschrieben, die folgende Struktur aufweisen:

  1. (1)

    Person A weiß, dass p, wobei der Inhalt von p ist, dass folgender inferentieller Zusammenhang besteht: q und r implizieren gemeinsam, dass s. A besitzt selbst individuell und direkt die für das Wissen von p erforderliche Rechtfertigung, nicht aber die für q und r erforderliche Rechtfertigung.

  2. (2)

    Person B weiß, dass q. B besitzt selbst individuell und direkt die für das Wissen von q erforderliche Rechtfertigung, nicht aber die für p und r erforderliche Rechtfertigung.

  3. (3)

    Person C weiß, dass r. C besitzt selbst individuell und direkt die für das Wissen von r erforderliche Rechtfertigung, nicht aber die für p und q erforderliche Rechtfertigung.

Man könnte nun in einem solchen Fall sagen, dass die Rechtfertigung für Proposition s sozusagen über die durch A, B und C gebildete Pluralität verteilt ist. Keine Person hat individuell die gesamte Rechtfertigung, zusammen besitzen sie sie allerdings. Die Proposition s wird, wie ich sagen möchte, auf kooperative Weise gewusst.

Wir können ferner noch unterscheiden, ob den Personen die in (1), (2) und (3) genannten Sachverhalte bekannt sind. In diesem Fall möchte ich von „transparentem kooperativen Wissen“ sprechen. Oder diese Sachverhalte sind den Personen nicht bekannt. Dann sei von „intransparentem kooperativen Wissen“ die Rede. Ein Beispiel für intransparentes kooperatives Wissen dürfte Lackeys Schiffscrew sein, der als Ganzes das Wissen zugeschrieben wird, dass sich das Schiff mit 12 Meilen pro Stunde in nördlicher Richtung bewegt, auch wenn kein einziges Mitglied sich dessen bewusst ist (s. oben, Abschnitt 11.2). Gute Beispiele für transparentes kooperatives Wissen dürften viele Forschergruppen darstellen, die aus mehreren Personen mit jeweils eigenständiger Expertise und vielleicht unterschiedlichen disziplinären Hintergründen gebildet werden und die darauf angewiesen sind, epistemische Beiträge voneinander zu übernehmen, ohne sie selbst überprüfen zu können, etwa weil es sich bei diesen Beiträgen um Wissen handelt, dass für die anderen Mitglieder jeweils justifikatorisch oder semantisch esoterischen Charakter hat.

Auch Verstehen kann nun in dieser kooperativen Weise vorliegen. Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Leistungen der kognitiven Komponente nur gemeinsam von mehreren Personen erbracht werden können, aber von keiner individuell. Man betrachte etwa folgende Konstellation:

X sei ein äußerst komplexes Phänomen, dessen Verstehen eine komplizierte Theorie T sowie Kompetenzen aus drei unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachbereichen erfordert. Bei einem geselligen Beisammensein sitzen die Personen A, B und C zusammen. Jede Person besitzt eine gerechtfertigte epistemische Pro-Einstellung bezüglich T und eingehende Kompetenzen in einem der relevanten Fachbereiche; keine versteht X aber in Gänze. Nun kommt eine weitere, an X besonders interessierte Person D hinzu und fordert A, B und C auf, X zu erklären. A, B und C beginnen daraufhin mit ihren Erklärungen, wobei A mit denjenigen Teilaspekten von X anfängt, die in ihren Fachbereich fallen, woraufhin B die Erläuterung mit den in Bs Fachbereich fallenden Aspekten fortsetzt usw. Mindestens eine der drei erklärenden Personen besitzt einen hinreichenden groben Überblick über das Gesamtphänomen, um die Teilerklärungen zu koordinieren. Am Ende hat D X verstanden. Gleichwohl hat weder A noch B noch C X verstanden, da keine dieser Personen hinreichende intellektuelle Fähigkeiten und/oder ein hinreichendes Vorverständnis der Fachbereiche der jeweils anderen hatte, um deren Erklärungen folgen zu können.

Verstehen könnte aber noch auf eine zweite Weise kooperativen Charakter haben, die eher die Rechtfertigungskomponente betrifft. Wie in Abschnitt 9.1 ausgeführt, unterscheiden sich verschiedene Ansätze dahingehend, welche Form von Rechtfertigung ein Subjekt für seine Pro-Einstellung bezüglich einer Repräsentation braucht, um Verstehen zu besitzen. Und diese Rechtfertigung könnte genau auf dieselbe Weise über eine Pluralität verteilt sein, wie wir es in den von Hardwig beschriebenen Fällen gesehen hatten.

Verstehen kann also kooperativ im Hinblick auf die kognitive Komponente oder im Hinblick auf die Rechtfertigungskomponente oder im Hinblick auf beide sein, und der kooperative Charakter kann wiederum für die Mitglieder transparent oder intransparent sein (vgl. Tabelle 16.1).

Tabelle 16.1 Kooperative Realisierung unterschiedlicher Komponenten des Verstehensbegriffs und deren Transparenz oder Intransparenz

2 Der Erwerb von Verstehen von pluralen Verstehens-Autoritäten

Soweit habe ich verschiedene Hinsichten diskutiert, in denen Verstehen ein kollektives epistemisches Gut sein kann, in denen also Verstehen der Besitz einer Pluralität sein kann. Distributives Verstehen ist ein Sonderfall insofern, als es reduzierbar ist auf das Verstehen der einzelnen Mitglieder. Ein Mitglied kann zwar im Falle distributiven Verstehens auch Äußerungen der Form „Wir verstehen P/warum p“ tätigen, aber diese Äußerungen haben hier bloß distributiven und nicht genuin kollektiven Charakter (zur Unterscheidung eines distributiven und eines kollektiven Gebrauchs des Pronomens „wir“ vgl. auch Ludwig 2014). Bei gemeinschaftlichem, deferentiellem und kooperativem Verstehen liegt das Verstehen dagegen in einer genuin kollektiven Form vor; hier versteht die Pluralität etwas, was die einzelnen Mitglieder unter Umständen nicht verstehen. In diesen Fällen können die Pluralitäten genuine Verstehens-Autoritäten sein, und zwar für Nicht-Mitglieder wie für Mitglieder.

Betrachten wir etwa nochmals das Beispiels des Parteichefs. Ich hatte darauf hingewiesen, dass die Präsidiumsmitglieder unter Umständen keine epistemische Pro-Einstellung zu der Repräsentation haben, auf die sie sich gemeinschaftlich verpflichtet haben und folglich – sofern die Repräsentation korrekt ist – vielleicht kein individuelles Verstehen besitzen, obwohl das Präsidium als solches Verstehen besitzt. Wenn eine Verstehens-Autorität ein Akteur ist, der im Hinblick auf Verstehen epistemisch superior ist, also mehr versteht von einer bestimmten Domäne, dann ist das Präsidium in diesem Fall eine Verstehens-Autorität für die Präsidiumsmitglieder. Und es ist eine Verstehens-Autorität für jene Nicht-Mitglieder, die die Wahlniederlage ebenfalls nicht verstanden haben.

Im Zuge meiner Überlegungen zu individuellen Verstehens-Autoritäten (s. oben, Abschnitt 9.2) hatte ich darauf hingewiesen, dass ein Superioritäts-Verhältnis im Hinblick auf Verstehen noch nicht garantiert, dass man von dem superioren Akteur auch tatsächlich Verstehen erwerben kann. Nur weil der andere Akteur mehr von der Domäne versteht als ich selbst, heißt das noch nicht, dass ich durch seine Hilfe selbst zu Verstehen gelangen kann. Anders gesagt: Das Superioritäts-Verhältnis ist das eine, ein tatsächlicher Transfer von Verstehen etwas anderes, und wir sollten uns auch den Transfer von pluralen Verstehens-Autoritäten zu anderen Akteuren noch einmal genauer anschauen.

Das Beispiel des Parteichefs involvierte bereits einen solchen Transferprozess. Wenn der Parteichef auf der Pressekonferenz die Ursache der Wahlniederlage erläutert, dann kann man sich vorstellen, dass eine diesen Erläuterungen folgende Person dadurch selbst zu einem Verstehen der Wahlniederlage gelangt. Eine Voraussetzung dafür ist, dass der Parteichef in der Lage ist, die Repräsentation auf geeignete Weise zu erläutern, wozu unter anderem Fähigkeiten der kognitiven Komponente erforderlich sind.

Auch ein anderes im vorigen Abschnitt verwendetes Beispiel involvierte bereits einen Verstehens-Transferprozess, nämlich das Beispiel der interdisziplinären Gruppe, die einer weiteren Person eine Erläuterung gibt. In diesem Fall ist nicht nur das Verstehen als solches ein kollektives epistemisches Gut; anders als im Parteichef-Beispiel erfolgt auch der Erläuterungsprozess kooperativ. Hier wird ersichtlich, dass wir unterscheiden sollten zwischen der Verstehens-Autorität auf der einen Seite (also der Pluralität, der das fragliche Verstehen zugeschrieben wird) und dem Akteur, der als Vermittler des Verstehens fungiert, auf der anderen. Im Fall individueller Verstehens-Autoritäten fällt beides typischerweise zusammen. Auch im Fall pluraler Verstehens-Autoritäten kann es zusammenfallen wie im Beispiel der interdisziplinären Runde, wo die Gruppe, die das Verstehen in kooperativer Weise besitzt, auch als kooperativer Vermittler in Erscheinung tritt. Es kann aber auch auseinanderfallen, wie das Beispiel des Parteichefs zeigt: Hier ist die Verstehens-Autorität das Präsidium, der Vermittler ist dagegen der Parteichef, also ein einzelnes Mitglied des Präsidiums. Eine weitere Weise, wie Verstehens-Autorität und Vermittler auseinanderfallen können, ergibt sich aus der Möglichkeit, dass die Rechtfertigungsbedingung kooperativ erfüllt sein kann. Es könnte sein, dass die für die epistemische Pro-Einstellung benötigte Rechtfertigung nur kooperativ erfüllt werden kann. In diesem Sinne könnte man sagen, dass nicht die individuellen Mitglieder, sondern die Pluralität insgesamt das Subjekt des Verstehens und somit die Verstehens-Autorität ist. Gleichwohl kann es sein, dass die individuellen Mitglieder (oder einige davon) die Leistungen der kognitiven Komponente erbringen können und auch in der Lage sind, einem Nicht-Mitglied die Repräsentation soweit zu erläutern, dass dieses zu Verstehen gelangt. Das setzt freilich voraus, dass das Nicht-Mitglied bereits eine gerechtfertigte Pro-Einstellung hinsichtlich der Repräsentation hatte.

Eine interessante Möglichkeit, zu einer Form von Verstehen zu gelangen, ergibt sich aus dem deferentiellen Verstehen. Wenn Verstehen im deferentiellen Modus nämlich einer Pluralität zugeschrieben werden kann allein dadurch, dass sie in geeigneter Weise funktional integriert ist und operative Mitglieder besitzt, die Phänomen X oder warum p individuell verstehen, dann erlangt man dieses Verstehen offenbar lediglich dadurch, dass man Mitglied der Pluralität wird. Man erwirbt freilich nicht automatisch individuelles Verstehen: Man besitzt qua Mitglied der Pluralität weder eine Pro-Einstellung zu einer korrekten Repräsentation von X oder der Ursache von p, noch kann man geeignete kognitive Leistungen erbringen. Gleichwohl ist man berechtigt, Sprechakte der Form „Wir verstehen X/warum p“ zu vollziehen und sich mit dem „wir“ mitgemeint zu fühlen. In diesem Sinne stellt das deferentielle Verstehen einen Sonderfall dar. Ein Subjekt erwirbt auf die beschriebene Weise nicht eigentlich individuelles Verstehen, sondern erwirbt durch Integration in die Pluralität lediglich einen gewissen Zugang zu dem Verstehen dieser Pluralität. Es erwirbt die Berechtigung, Sätze der Form „Wir verstehen X/warum p“ zu äußern, aber es erwirbt noch nicht unmittelbar individuelles Verstehen von X oder warum p. Allerdings erwirbt es ebenfalls die Berechtigung, sich an die operativen Mitglieder der Pluralität zu wenden, um von diesen individuelles Verstehen zu erwerben.