In den letzten Kapiteln stand das Identifikationsproblem im Mittelpunkt. In diesem Kapitel möchte ich noch auf das Deferenzproblem eingehen, d. h. die Frage, wie man sich einer pluralen epistemischen Autorität gegenüber verhalten sollte, sobald man sie – und die relevanten Wahrheitsindikatoren – identifiziert hat. Ich hatte im Zuge meiner Überlegungen zur Deferenzproblematik in Teil II (Kapitel 8) zum einen gegen die Auffassung argumentiert, dass totale Deferenz gegenüber epistemischen Autoritäten immer rational geboten ist, und gezeigt, dass etwas, was ich rationale persistierende Dissense mit epistemischen Autoritäten genannt habe, möglich sind; zum anderen hatte ich mich gegen verschiedene Spielarten des Präemptionismus gewandt. Auch wenn es im Fall pluraler epistemischer Autoritäten einige Besonderheiten zu beachten gilt (auf die ich sogleich zu sprechen kommen werde), ist das Verhältnis gegenüber ihnen in diesen beiden Hinsichten nicht entscheidend anders als das gegenüber individuellen. Auch mit pluralen epistemischen Autoritäten kann es zu so etwas wie rationalen persistierenden Dissensen kommen. Wenn der Begriff eines Dissenses das Vorhandensein von doxastischen Einstellungen auf beiden Seiten voraussetzen sollte, müssen wir freilich gewisse terminologische Anpassungen vornehmen, da plurale epistemische Autoritäten nicht unbedingt doxastische Einstellungen besitzen. Das Äquivalent zu einem rationalen persistierenden Dissens wäre dann eine Situation, in der folgende Bedingungen erfüllt sind:

  1. 1)

    ein Subjekt S besitzt basierend auf einer Menge von Gründen G1…Gn eine doxastische Einstellung DES(p) gegenüber einer Proposition p,

  2. 2)

    eine potentiell wahrheitsindikative Tatsache T über eine plurale epistemische Autorität EA indiziert, dass eine nicht mit DES(p) identische doxastische Einstellung DEEA(p) korrekt ist,

  3. 3)

    das Subjekt hält an einer nicht mit DEEA(p) identischen doxastischen Einstellung fest, auch nachdem es von T Kenntnis erhalten hat, und

  4. 4)

    diese Verhaltensweise des Subjekts ist rational.

Ich werde solche Situationen als „dissensartig“ bezeichnen oder den Ausdruck „Dissens“ in Anführungszeichen setzen, um anzuzeigen, dass der doxastischen Einstellung des Subjekts nicht (oder nicht unbedingt) unmittelbar eine doxastische Einstellung einer Pluralität gegenübersteht, sondern vielmehr eine Tatsache über die Pluralität, die eine bestimmte doxastische Einstellung als korrekt anzeigt.

Dass solche rationalen persistierenden „Dissense“ mit pluralen epistemischen Autoritäten möglich sind, lässt sich leicht demonstrieren. Es könnte etwa sein, dass ich die Fähigkeiten einer Jury, unter – sagen wir – einem Dutzend Verdächtigen den Schuldigen zu identifizieren, für erheblich höher einschätze als meine eigenen. Diese Einschätzung mag prinzipiell völlig berechtigt sein: A priori ist die Wahrscheinlichkeit, dass die von der Jury als schuldig benannte Person tatsächlich schuldig ist, wesentlich höher als die Wahrscheinlichkeit, dass eine von mir als schuldig benannte Person tatsächlich schuldig ist. Dennoch kann es sein, dass ich der Jury in ihrem Ergebnis nicht folge. Wenn die Jury nämlich zum Beispiel zu dem Schluss kommt, dass Person X schuldig ist, ich aber über Gründe verfüge, aufgrund derer ich ausschließen kann, dass X schuldig ist (vielleicht weil ich X zum Tatzeitpunkt beobachtet habe und weiß, dass sich X fernab des Tatgeschehens befand), dann ist es rational für mich, der Jury nicht zu folgen. Ich weiß zwar nicht, welche der anderen elf Personen der Täter ist, und bei jeder anderen Person wäre ich der Jury gefolgt, aber bei X kann ich zumindest ausschließen, dass es sich um den Täter handelt.

Auch im Hinblick auf eine Anwendung des Präemptionismus auf das Verhalten gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten lassen sich prinzipiell ähnliche Einwände formulieren wie die in Abschnitt 8.2 formulierten. Bezogen auf plurale epistemische Autoritäten würde dem Präemptionismus in seiner starken Variante folgende These entsprechen: Das Vorliegen einer potentiell wahrheitsindikativen Tatsache über die plurale epistemische Autorität EA, die eine Überzeugung, dass p, nahelegt, ist ein Grund für ein Subjekt S, p zu glauben, der Ss sonstige für p relevanten Gründe ersetzen und nicht einfach zu diesen hinzugefügt werden sollte.

Die Unhaltbarkeit dieser Präemptionsthese lässt sich wiederum in unmittelbarem Anschluss an das Beispiel des rationalen persistierenden „Dissenses“ demonstrieren: Wenn ich meine für p relevanten Gründe suspendieren müsste, dann auch die entscheidende Überzeugung, dass die Person zum Tatzeitpunkt fernab des Tatgeschehens war. Das aber würde mich meiner rationalen Ressourcen berauben, um die Falschheit des Urteils, dass X der Täter ist, einzusehen. Ich könnte mich nicht auf die Art und Weise epistemisch verhalten, die wir als die vernünftige identifiziert hatten. Die Argumente gegen abgeschwächte Präemptionsthesen, die ich hier nicht mehr alle im Einzelnen rekapitulieren will, ließen sich ebenso entsprechend auf den Fall pluraler epistemischer Autoritäten anwenden.

Das rationalerweise gebotene Deferenzverhalten gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten entspricht aber nicht in jeder Hinsicht dem gegenüber individuellen epistemischen Autoritäten gebotenen. Auf zwei interessante Besonderheiten möchte ich im Folgenden näher eingehen. Zum einen ergeben sich Unterschiede aus dem Umstand, dass plurale epistemische Autoritäten typischerweise nicht in derselben Weise Interaktions- und Kommunikationspartner sein können, wie individuelle Autoritäten es häufig für Subjekte sind. Wenn man als medizinischer Laie zu einem Arzt geht, dann interagiert und kommuniziert man in der Regel unmittelbar mit ihm; man schildert seinen individuellen Fall, stellt Fragen, beantwortet Rückfragen usw. Wie ich in meiner ersten Beispielanalyse (Kapitel 19) noch ausführlicher demonstrieren werde, ist das beim Deferieren gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten typischerweise anders. Ich werde dort noch einmal den zu Beginn der Einleitung erwähnten Fall der Eltern aufgreifen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie ihr Kind gegen die klassischen Kinderkrankheiten impfen lassen sollten – genauer: ob sie konkret die Proposition, dass die MMR-Impfung Autismus hervorrufen kann, glauben sollten –, und dazu den Status der vakzinologischen Gemeinschaft einerseits und der impfkritischen Gemeinschaft andererseits als potentielle plurale epistemische Autoritäten eruieren. In diesem Fall ist es nicht so, dass die Eltern mit der vakzinologischen und der impfkritischen Gemeinschaft im engeren Sinn kommunizieren würden. Sie stellen keine Fragen, beantworten keine Rückfragen usw. Was sie tun ist: Sie ermitteln im weitesten Sinn soziologische Tatsachen über diese Gemeinschaften und verwenden sie als (potentielle oder tatsächliche) Wahrheitsindikatoren. Hier kommt eine wichtige Limitierung der Methode des Sich-Stützens auf plurale epistemische Autoritäten in der beschriebenen Weise zum Vorschein. Die wahrheitsindikativen Tatsachen betreffen in der Regel den allgemeinen Fall, sozusagen den „Durchschnittspatienten“. Der reale Patient entspricht aber nicht unbedingt dem Durchschnitt. Er kann Besonderheiten aufweisen, die die Anwendung des medizinischen Wissens auf seinen individuellen Fall erfordern. Dazu wiederum braucht es medizinische Urteilskraft (namentlich von dem Typ, den Kant „bestimmende Urteilskraft“ nennt),Footnote 1 und deren Vorkommen dürfte bei medizinischen Laien nicht oder nicht in hinreichendem Maß anzunehmen sein. Dieser Punkt entspricht in etwa der Kritik, die verschiedene Autoren gegen die zunehmende Verwendung von Leitlinien und dergleichen in der modernen Medizin vorgetragen haben. In diesem Zusammenhang ist häufig von „Kochbuchmedizin“ die Rede, gegen die etwa Tonelli (1999) das, was er „expert opinion“ nennt, verteidigen möchte, d. h. den Stellenwert des individuellen medizinischen Experten bei der Beurteilung individueller Fälle (für eine weiterführende Analyse vgl. auch Solomon 2015b, 144 ff.).

Ich möchte hier wohlgemerkt nicht behaupten, plurale epistemische Autoritäten seien grundsätzlich unfähig zur Beurteilung individueller Fälle – Geschworenenjurys beispielsweise tun genau dies: Sie versuchen, die Schuldfrage in einem ganz konkreten Fall zu klären. Ebenso möchte ich nicht behaupten, dass das soeben geschilderte Problem niemals auftreten kann, wenn Subjekte sich auf individuelle epistemische Autoritäten stützen: Wenn ein Subjekt etwa lediglich die Publikation eines Experten liest (statt ihn persönlich zu konsultieren), dann stützt es sich auf eine individuelle epistemische Autorität, aber die Anwendung der in der Publikation enthaltenen Informationen auf seinen besonderen Fall müsste es selbst leisten. Was ich vielmehr sagen möchte ist, dass in vielen paradigmatischen Fällen des Sich-Stützens auf individuelle epistemische Autoritäten (etwa Ärzte, Rechts- oder Finanzberater) diese Autoritäten dem Subjekt als persönliche Kommunikations- und Interaktionspartner begegnen, die für Rückfragen, Erläuterungen usw. zur Verfügung stehen und jene – bestimmende Urteilskraft erfordernde – Applikation des allgemeinen Wissens auf seinen besonderen Fall übernehmen können (siehe meine Ausführungen dazu in Abschnitt 8.2.3). Demgegenüber ist es in paradigmatischen Fällen des Sich-Stützens auf plurale epistemische Autoritäten – namentlich in Fällen des Sich-Stützens auf wissenschaftliche Gemeinschaften – so, dass die Pluralitäten nicht in dieser Form als Kommunikations- und Interaktionspartner zur Verfügung stehen. Das entwertet keineswegs diese Form des epistemischen Deferierens. Denn manchmal gibt es gar keinen für das Subjekt relevanten besonderen Fall. Ob es z. B. den Klimawandel gibt oder nicht, ist ein genereller Sachverhalt; es gibt hier nichts auf das individuelle Subjekt anzuwenden. Manchmal ist die Anwendung auf den besonderen Fall auch trivial und beansprucht kein die Fähigkeiten eines Laien überforderndes Maß an Urteilskraft. Wenn es z. B. grundsätzlich so ist, dass die MMR-Impfung keinen Autismus verursacht, dann offenbar trivialerweise auch im Fall der Kinder in unserem Beispiel. Und manchmal hat das Subjekt zwar ein besonderes individuelles Problem, dessen Lösung ein hohes Maß an Urteilskraft erfordert, die das Subjekt nur bei einer individuellen Autorität vorfindet. Gleichwohl können jene Formen von Informationen, die das Subjekt aus den Wahrheitsindikatoren entnehmen kann, auch hier für es nützlich sein. Wenn etwa die Autorität, mit der es persönlich interagiert, die Behauptung macht, p sei der Fall, dann kann es sehr wohl aufschlussreich für das Subjekt sein, dass es seiner Recherche zufolge einen Konsens in der relevanten wissenschaftlichen Gemeinschaft gibt, dass non-p der Fall ist. Es könnte etwa interessant sein, zu beobachten, wie die Autorität reagiert, wenn sie mit diesem Rechercheergebnis konfrontiert wird. Und vielleicht ist es auch empfehlenswert, eine andere individuelle Autorität zu suchen, eine, die non-p glaubt, und dieser die Applikation auf den besonderen Fall des Subjekts zu überantworten.

Ein zweiter interessanter Unterschied zwischen dem Deferenzverhalten gegenüber individuellen und dem gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten ist, dass die deferierende Person im letzteren Fall manchmal selbst Teil der Pluralität ist, gegenüber der sie deferiert (oder eben auch nicht deferiert). Wenn ich beispielsweise selbst Teil der Jury bin, die den Schuldigen unter dem Dutzend Verdächtigen identifizieren soll, dann sollte ich mich dem Urteil der Gruppe normalerweise anschließen, sofern ich der Meinung bin, dass das Urteil der Gruppe eher korrekt ist als mein individuelles. Es kann aber auch sein, dass die Jury fast einstimmig – nur ich habe dagegen gestimmt – zu dem Urteil kommt, dass Person X schuldig ist, ich mich aber mit gutem Grund nicht diesem Urteil anschließe; dann nämlich, wenn ich wie in dem obigen Beispiel sehr starke Evidenzen dafür habe, dass X unschuldig ist. Auch wenn die Gruppe zu einem anderen Urteil kommt, kann es rational für mich als Mitglied sein, an meiner individuellen Meinung festzuhalten (denn vielleicht wurden meine Evidenzen gar nicht zur Kenntnis genommen; vielleicht wurden sie zur Kenntnis genommen, aber als unglaubwürdig abgetan; vielleicht ist beim Aggregationsvorgang bzw. der Bildung der Kollektiv-Überzeugung etwas „schief gegangen“ usw.).

Um die Frage der Deferenz oder Nicht-Deferenz gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten, deren Mitglied man selbst ist, genauer analysieren zu können, ist die folgende begriffliche Unterscheidung sinnvoll: Als „apriorische individuelle Meinung“ (oder „apriorische Überzeugung“ oder „apriorisches Urteil“) eines Mitglieds sei die Meinung des Mitglieds zur fraglichen Proposition bezeichnet, die das Mitglied vor der Bildung der Kollektiv-Überzeugung besitzt (allgemeiner: bevor die potentiell wahrheitsindikative Tatsache zustande kommt). Als „aposteriorische individuelle Meinung“ sei die Meinung des Mitglieds bezeichnet, die es besitzt, nachdem die Kollektiv-Überzeugung gebildet wurde (bzw. die Tatsache zustande gekommen ist) und dem Mitglied zur Kenntnis gekommen ist. Meine apriorische Überzeugung könnte zum Beispiel gewesen sein, dass X unschuldig ist; das Kollektiv-Urteil ist dann vielleicht, dass X der Täter ist; und meine aposteriorische Überzeugung kann dann entweder durch Übernahme des Kollektiv-Urteils gebildet werden (wenn ich der Meinung bin, dass die Jury mit höherer Wahrscheinlichkeit das korrekte Urteil gefunden hat als ich individuell), oder dadurch, dass ich an meiner apriorischen Überzeugung festhalte (etwa weil ich entsprechend starke Evidenzen zu haben glaube).

Bemerkenswert ist der Fall, in dem die deferierende oder nicht-deferierende Person selbst Mitglied der pluralen epistemischen Autorität ist, insbesondere deswegen, weil die apriorische Meinung des Mitglieds in typischen Fällen einerseits epistemisch defizitär gegenüber dem Kollektiv-Urteil sein mag, weswegen es rational ist, dass das Mitglied (sofern es nicht starke Gegen-Evidenzen besitzt) seine aposteriorische Meinung dem Kollektiv-Urteil anpasst. Andererseits beruht die Kollektiv-Überzeugung auf der apriorischen Meinung des Mitglieds und den apriorischen Meinungen der anderen Mitglieder; sie ist ja durch deren Aggregation zustande gekommen. Dieser Umstand verleiht der apriorischen Meinung, selbst wenn diese sehr inadäquat war, ein besonderes epistemisches Gewicht. Betrachten wir etwa nochmals Galtons Beispiel der Schätzung des Ochsen-Gewichts. Für einen individuellen Schätzer ist es angesichts der höheren Adäquatheit des Mittelwerts (den wir als eine Art Kollektiv-Urteil betrachten wollen) rational, seine aposteriorische Überzeugung nach dem Mittelwert auszurichten. Gleichwohl besitzt die individuelle Schätzung der Person (also ihre apriorische Meinung bezüglich des Gewichts) einen epistemischen Wert, selbst wenn sie weit vom tatsächlichen Gewicht entfernt war, oder vielleicht gerade dann: Ohne diese – vielleicht deutlich zu hohe – Schätzung wäre der Mittelwert womöglich weiter vom tatsächlichen Gewicht entfernt gewesen, weil er dann stärker durch eine deutlich zu niedrige Schätzung eines anderen Schätzers verzerrt gewesen wäre. Wenn die Adäquatheit des Gruppenurteils in Galtons Beispiel auf dem Prinzip beruht, dass sich zu hohe und zu niedrige Abweichungen gegenseitig ausgleichen, dann beruht der Wert gerade sehr stark abweichender Schätzungen darin, dass sie ein Gegengewicht gegen sehr stark in entgegengesetzte Richtungen abweichende Schätzungen darstellen.

Besondere Aufmerksamkeit verdient der Fall, bei dem eine Gemeinschaft nicht wie Galtons Schätzergruppe oder die Geschworenenjury ein einmaliges Urteil bildet und sich danach auflöst, sondern Subjekt eines fortwährenden kollektiven Deliberationsprozesses ist. Dies ist der Fall etwa bei wissenschaftlichen Gemeinschaften. Solche Gemeinschaften bilden zwar auch Konsense oder Kollektiv-Überzeugungen aus, doch diese sind immer vorläufig. So gut ein wissenschaftlicher Konsens auch abgesichert sein mag, eine wissenschaftliche Gemeinschaft ist immer offen für neue Evidenzen und Argumente (oder sollte es sein), die den Konsens infrage stellen könnten. In diesem Sinne kommt der wissenschaftliche Erkenntnisprozess nicht zu einem Abschluss: Nicht nur wenden sich wissenschaftliche Gemeinschaften immer wieder neuen Fragen zu, auch die auf alte Fragen gegebenen Antworten sind niemals endgültige.

Nun spielt, wie ich schon mehrfach betont habe, epistemische Diversität für die Wissenschaft eine zentrale Rolle. Ähnlich wie in Galtons Beispiel können es gerade die Abweichler sein, diejenigen, die heterodoxe (und womöglich falsche) Auffassungen vertreten, denen wissenschaftliche Gemeinschaften ihre gute epistemische Performance verdanken. Dies wirft die Deferenzproblematik nochmals mit neuer Schärfe auf: Sollte nämlich das Mitglied einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, das eine von der Mehrheitsmeinung abweichende Auffassung vertritt, sich der Mehrheitsmeinung anpassen oder an seiner heterodoxen Auffassung festhalten? Einerseits scheint es typischerweise auch für das einzelne Mitglied rational zu sein, sich nach der Mehrheitsmeinung zu richten. Denn wissenschaftliche Gemeinschaften stellen in der Regel auch für ihre individuellen Mitglieder plurale epistemische Autoritäten dar. So schreibt etwa Coady (2012, 33): „Surely a mediocre mathematician should prefer the consensus of the mathematical community to his or her own reasoning about whether Fermat’s Last Theorem is true“. Und selbst wenn ein Experte nicht „mittelmäßige“, sondern überdurchschnittliche kognitive Fähigkeiten haben sollte, scheint ein auf die richtige Art und Weise zustande gekommener wissenschaftlicher Konsens doch ein zuverlässigerer Wahrheitsindikator zu sein als seine, womöglich vom Konsens abweichende, individuelle Meinung. Wenn es einen wissenschaftlichen Konsens gibt, dass p, und ein einzelner, wenn auch renommierter Experte die Meinung vertritt, dass non-p, dann wird es normalerweise der Konsens sein, auf den sich die Öffentlichkeit und politische, juristische oder sonstige Entscheidungsträger stützen, und zwar mit Recht.

Andererseits scheint die Forderung, Vertreter heterodoxer Positionen sollten sich stets der Mehrheitsmeinung anschließen, klarerweise inadäquat zu sein. Denn es sind wie gesagt genau diese Abweichler, die eine entscheidende Rolle für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess spielen. Ohne sie würde jene Instanz fehlen, die den Mainstream, die Orthodoxie, immer wieder mit wertvoller Kritik konfrontiert und durch die ein wissenschaftlicher Konsens überhaupt erst seinen besonderen Autoritätsstatus bekommt.Footnote 2 Ich denke, dass diese Überlegung ein weiteres, speziell für den Fall pluraler epistemischer Autoritäten einschlägiges Argument gegen den Präemptionismus und die Forderung nach totaler Deferenz gegenüber epistemischen Autoritäten darstellt.