Intuitiv besteht der Unterschied zwischen einer gut funktionierenden wissenschaftlichen Gemeinschaft und einer pseudowissenschaftlichen Gemeinschaft darin, dass ein Konsens, eine Mehrheitsmeinung usw., der/die in der ersteren besteht, gute wahrheitsindikative Eigenschaften besitzt (d. h. man kann mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass p der Fall ist, wenn es einen Konsens, eine Mehrheitsmeinung usw. in der Gemeinschaft gibt), wohingegen ein Konsens, eine Mehrheitsmeinung usw. in der letzteren weniger zuverlässig die Wahrheit anzeigt. Um diesen Unterschied begrifflich zu fassen, werde ich auch sagen, dass erstere einen „epistemischen Output“ hervorbringt, den man (z. B. als Laie) zur Wahrheitsfeststellung verwenden kann, letztere dagegen nicht, wobei „epistemischer Output“ eine auf alle Wahrheitsindikatoren anwendbare Sammelbezeichnung ist. Dass die wissenschaftliche Gemeinschaft einen solchen verwendbaren Output hervorbringt, die pseudowissenschaftliche aber nicht, liegt daran, dass – wie ich auch sagen werde – diese eine schlechte „epistemische Performance“ an den Tag legt, jene eine gute. Aber woran liegt das? Wie muss eine Pluralität im Allgemeinen beschaffen sein, damit sie eine gute epistemische Performance zeigt und einen zur Wahrheitsfeststellung tauglichen epistemischen Output hervorbringen kann? Der Versuch einer Beantwortung dieser Fragen geht mit mehreren Schwierigkeiten einher. Ein Faktor ist die Vielfalt unterschiedlicher Pluralitäten, die auf die eine oder andere Art und Weise einen epistemischen Output hervorbringen können. Hinzu kommt die Vielfalt der möglichen Wahrheitsindikatoren, durch die sich das Bild weiter verkompliziert. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Frage teilweise empirischen Charakter hat und sich allein mit philosophischen Mitteln gar nicht umfassend beantworten lässt. Gleichwohl lassen sich, wie ich im Folgenden demonstrieren möchte, einige allgemeine Feststellungen treffen.

Wenn wir überlegen, welcher Art die Faktoren sein könnten, die dafür verantwortlich sind, ob eine Pluralität einen wahrheitsindikativen epistemischen Output zu generieren in der Lage ist, dann kommen, wie ich meine, drei Dimensionen in Betracht, die ich Zusammensetzung, Struktur und Umwelt nennen möchte. Mit „Zusammensetzung“ beziehe ich mich auf die Mitgliedschaft, also die Personen, aus denen eine Pluralität besteht. „Struktur“ bezeichnet die Art der Integration der Pluralität. Wie ist sie organisiert? Wie interagieren die Mitglieder miteinander? Dies ist wohlgemerkt eine Dimension, die im Gegensatz zur Dimension Zusammensetzung nicht für alle Typen von Pluralitäten einschlägig ist. Alle Pluralitäten haben zwar Mitglieder, aber nicht alle sind intern strukturiert. Klassen oder Mengen sind gar nicht integriert, und auch bei Kollektiven mit externer Kohärenz gibt es nicht notwendigerweise Interaktionen oder sonstigen Beziehungen zwischen den Mitgliedern, sondern nur eine indirekte Verbundenheit, die durch ein drittes Element hergestellt wird. Die Unterscheidung der Dimensionen Zusammensetzung und Struktur könnte man vielleicht als entfernte Verwandte der klassischen aristotelischen Dualität von Materie und Form betrachten. Wie materielle Einzeldinge – und Kollektive stellen ja nichts anderes dar als einen speziellen Typ materieller Einzeldinge mit pluraler Existenzweise – bestehen Kollektive aus einer bestimmten „Materie“, einem bestimmten „Stoff“, der auf eine bestimmte Weise geformt ist: Die einzelnen Menschen sind auf eine bestimmte Weise zu einem Ganzen organisiert (zum Konzept eines „sozialen Ganzen“ vgl. Simons (2005) sowie meine daran anschließenden Analysen in Hauswald (2014, 42 ff.)). Aber damit sind die Faktoren, die einen Einfluss auf die Existenzweise eines Dings haben können, noch nicht erschöpft. Auch die Umwelt spielt eine entscheidende Rolle: Wo in der Welt ist die Pluralität positioniert? In welchen Beziehungen steht sie zu anderen Objekten? Welche extrinsischen, relationalen Eigenschaften besitzt sie? Dieser Aspekt umfasst sowohl die natürliche Umgebung der Pluralität als auch ihre soziale Umgebung, also den Zusammenhang der Pluralität mit anderen Pluralitäten und ihre Integration in die Gesellschaft insgesamt. Im Folgenden werde ich etwas genauer versuchen, einige der zu diesen drei Dimensionen gehörenden Faktoren zu analysieren, die einen Einfluss auf die epistemische Performance einer Pluralität haben können.

1 Zusammensetzung

1.1 Allgemeine Bemerkungen zur Zusammensetzung von Pluralitäten

Mehrere Autoren haben betont, dass die epistemische Performance eines Kollektivs nicht auf die ihrer Mitglieder reduziert werden kann. Mit Blick auf Galtons Beispiel stellt etwa Tollefsen (2007, 306) fest: „We can imagine that the individuals at the fair in Plymouth were generally very unreliable at predicting the weight of an ox, and yet aggregating their decisions produced a result that was strikingly reliable.“ Und Wilholt (2016, 220) betont, dass die epistemische Vertrauenswürdigkeit einer Gruppe nicht auf der epistemischen Vertrauenswürdigkeit ihrer Mitglieder superveniert. Ich stimme beiden Behauptungen ausdrücklich zu, denn die zur Dimension Struktur gehörenden Faktoren haben einen entscheidenden Einfluss auf die epistemische Performance einer Pluralität. Man kann eine Anzahl von Personen auf eine Weise zu einer Pluralität organisieren, so dass die epistemische Performance der Pluralität gut ist, und man kann dieselben Personen auf eine andere Weise organisieren, so dass die Performance der Pluralität schlecht ist. Auf die Details werde ich weiter unten noch genauer eingehen. An dieser Stelle möchte ich aber betonen, dass daraus nicht folgt, dass die Dimension Zusammensetzung keinerlei Einfluss auf die epistemische Performance einer Pluralität haben würde (es ist nicht so, dass jede beliebige Pluralität von Menschen zu jeder epistemischen Leistung in der Lage wäre, solange nur die Struktur, die Organisation, die Integration dieser Vielheit entsprechend aussieht).

Überdies muss bedacht werden, dass manche Pluralitäten (z. B. Mengen und Klassen) gar keine Integration aufweisen, so dass die Dimension Struktur gar keinen Einfluss auf die epistemische Performance dieser Pluralitäten haben kann. Aber auch bei Pluralitäten mit Integration gilt, dass etwa die Mitglieder typischerweise ein gewisses Minimum an epistemischer Leistungsfähigkeit besitzen müssen, damit eine durch sie gebildete Pluralität eine bestimmte epistemische Performance erbringen kann. Wenn man beispielsweise das Personal einer gut funktionierenden wissenschaftlichen Gemeinschaft oder Forschergruppe durch Personen ersetzen würde, die komplette Laien in der relevanten thematischen Domäne sind, dann dürfte das die epistemische Performance dieser Pluralitäten beträchtlich beeinträchtigen. Damit eine Forschergruppe oder eine wissenschaftliche Gemeinschaft funktionieren kann, müssen ihre Mitglieder etwa hinreichende propositionale Kenntnisse der thematischen Domänen besitzen, ein hinreichendes Verständnis der relevanten Grundkonzepte sowie gewisse methodische Fähigkeiten.

Ein ähnlicher Punkt lässt sich auch ausgehend von Condorcets Jury-Theorem geltend machen, das in Diskussionen über die „Weisheit der Vielen“ häufig angeführt wird. Das Theorem besagt, dass eine Jury, die sich per Mehrheitsentscheid zwischen zwei Alternativen zu entscheiden hat, mit umso höherer Wahrscheinlichkeit die korrekte Wahl trifft, je größer sie ist, und zwar auch dann, wenn jedes einzelne Mitglieder die korrekte Wahl individuell mit sehr viel geringerer Wahrscheinlichkeit zu treffen in der Lage ist. Dieser Zusammenhang gilt aber nur unter einer Bedingung: Die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Mitglied die korrekte Wahl trifft, muss größer sein als 0,5. Ist diese Wahrscheinlichkeit geringer als 0,5, dann kehrt sich der Zusammenhang um, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Jury sich richtig entscheidet, sinkt mit zunehmender Mitgliederzahl.

Auch die Teilnehmer an Galtons Gewinnspiels können als Kollektiv nur dadurch einen so guten epistemischen Output liefern, dass sie individuell gewisse Bedingungen erfüllen. Beispielsweise brauchen auch sie bestimmte kognitive Minimalkompetenzen: Sie müssen in der Lage sein, den Ochsen überhaupt als solchen zu erkennen, sie brauchen ein Konzept dessen, was ein „Gewicht“ ist, und müssen fähig sein, ein entsprechendes Schätzurteil abzugeben. Vor allem aber müssen sie, wie Surowiecki (2004) betont, hinreichend verschieden sein. Der Mittelwert der Schätzungen ist nur deswegen so akkurat, weil sich die individuellen Abweichungen sozusagen gegenseitig aufheben. Manche Schätzer hatten, aus welchen Gründen auch immer, eine Disposition, das Gewicht zu gering einzuschätzen, andere tendierten eher zu einem zu hohen Schätzwert. Hätten nur ausschließlich diese eine Schätzung abgegeben, oder nur ausschließlich jene, dann wäre der Mittelwert entweder deutlich niedriger oder deutlich höher ausgefallen. Diese Überlegungen führen uns zu einem der Faktoren, der innerhalb der Dimension Zusammensetzung entscheidenden Einfluss auf die epistemische Performance einer Pluralität hat, nämlich soziale und epistemische Diversität.

1.2 Soziale und epistemische Diversität

An dieser Stelle mag ein Wort der Klärung zum Unterschied zwischen „sozialer“ und „epistemischer Diversität“ angebracht sein. Eine Pluralität ist sozial – also im Hinblick auf ihre Mitgliedschaft – in dem Maße diversifiziert, in dem ihre Mitglieder unterschiedlich sind, d. h. unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Das kann Eigenschaften ganz unterschiedlichen Typs betreffen. Epistemische Diversität kann demgegenüber verstanden werden als Vielfalt im Hinblick auf bestimmte, unmittelbar epistemisch einschlägige Eigenschaften. Bei einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kann sich epistemische Diversität etwa auf die in der Gemeinschaft geteilten Überzeugungen, verfolgten Theorien, untersuchten Forschungsfragen, verwendeten Methoden usw. beziehen. Grundsätzlich lässt sich Diversität im Hinblick auf ein Merkmal X als Funktion von drei Dimensionen rekonstruieren: X-Vielfalt, X-Äquität und X-Unterschiedlichkeit, wobei die X-Diversität umso größer ist, je größer jeder dieser drei Faktoren ist (vgl. Hauswald 2017). Wenn X sich beispielsweise auf Theorien bezieht, dann ist die Theorien-Diversität umso größer, je größer die Theorien-Vielfalt in der fraglichen Gemeinschaft ist, d. h. je größer die Anzahl der von Mitgliedern der Gemeinschaft verfolgten Theorien ist. X-Äquität betrifft das Ausmaß, in dem die fraglichen Xe gleichverteilt bzw. -repräsentiert sind. Im Fall von Theorien könnte man etwa sagen, dass zwei Theorien in einem Forschungsfeld gleich repräsentiert sind, wenn sie beispielsweise (ceteris paribus) von jeweils derselben Anzahl von Wissenschaftlern verfolgt und mit denselben finanziellen Zuwendungen bedacht werden. Die Äquität ist dagegen gering, wenn fast alle Wissenschaftler eine der Theorien verfolgen und die Zuwendungen nur dieser zugutekommen. Der Faktor X-Unterschiedlichkeit betrifft schließlich die durchschnittliche Verschiedenheit zwischen den Xen. Wenn beispielsweise alle von einer Scientific Community verfolgten Theorien lediglich geringfügige Variationen voneinander sind, so ist dieser Faktor geringer, als wenn die Theorien fundamentale Unterschiede aufweisen.

Wie ist nun das Verhältnis zwischen sozialer und epistemischer Diversität? Epistemische Diversität bringt eine gewisse soziale Diversität typischerweise automatisch mit sich. Denn wenn epistemische Diversität beispielsweise darin besteht, dass zwei Mitglieder M1 und M2 zwei unterschiedliche Theorien T1 und T2 vertreten, dann sind M1 und M2 ja in dieser Hinsicht verschieden: M1 hat die Eigenschaft, T1 zu vertreten, und M2 hat die Eigenschaft, T2 zu vertreten. Ich hatte soziale Diversität ja sehr weit bestimmt: Soziale Diversität betrifft einfach beliebige Eigenschaften, und epistemische Diversität betrifft den Sonderfall epistemischer Eigenschaften.

Epistemische Diversität setzt allerdings nicht zwangsläufig eine Verschiedenheit der Personen im Hinblick auf klassische sozioökonomische Kategorien wie Alter, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit usw. voraus (diese bilden zusammen eine weitere besondere Teilklasse jener Eigenschaften, in denen Menschen sich unterscheiden können). Zwei Personen können in diesem sozioökonomischen Sinn gleich sein und dennoch sehr unterschiedliche Theorien verfolgen usw. Genauso können sozioökonomisch sehr verschiedene Personen ein sehr ähnliches epistemisches Verhalten an den Tag legen.

Allerdings wird häufig (und berechtigterweise) angenommen, dass soziale Diversität im sozioökonomischen Sinn zumindest die Tendenz hat, epistemische Diversität zu befördern. Das liegt u. a. daran, dass Personen mit verschiedenen sozioökonomischen Hintergründen häufig unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, unterschiedliche Fähigkeiten kultivieren konnten, unterschiedliche epistemische Dispositionen und Intuitionen erworben haben usw. und dementsprechend unterschiedliche Perspektiven auf viele Fragen haben. Vor diesem Hintergrund ist der Wert sozialer Diversität in jüngeren wissenschaftsphilosophischen Debatten in zunehmendem Maße betont worden. So lautet ein Grundgedanke des Wissenschaftspluralismus, dass epistemische Diversität für den epistemischen Erfolg der Wissenschaft von zentraler Bedeutung ist, und dass soziale Diversität (im sozioökonomischen und im erweiterten Sinn) ein wichtiges Mittel ist, um diese zu befördern. Als Konsequenz wird häufig die Forderung abgeleitet, wissenschaftliche Gemeinschaften stärker auch für jene Teile der Bevölkerung zu öffnen, die traditionell eher unterrepräsentiert in ihnen waren. Dahinter steht nicht (nur) die Idee, dass bestimmte Aspekte sozialer Gerechtigkeit so besser realisiert werden können, sondern (auch) die Idee, dass die epistemische Performance der Wissenschaft selbst dadurch verbessert wird.

Wie genau soll epistemische Diversität nun zu positiven Effekten für die Wissenschaft führen? Mit Hasok Chang (2012, 253 ff.) können wir diese Effekte in zwei Kategorien einteilen: „benefits of toleration“ und „benefits of interaction“. Zu letzteren gehört etwa der Umstand, dass epistemische Diversität dazu führt, dass im Rahmen wissenschaftlicher Debatten sehr unterschiedliche Perspektiven aufeinanderprallen und so argumentative Schwächen usw. wechselseitig erkannt werden können. Das ermöglicht etwa in wissenschaftlichen Gemeinschaften die Weiterentwicklung und Verbesserung von Theorien und Forschungsansätzen. Zur ersten Kategorie zählen solche Effekte der Diversität, die sich einstellen, auch ohne dass es dazu Interaktionen zwischen den Anhängern konkurrierender Forschungsansätze geben müsste. Einer dieser Effekte kommt dadurch zustande, dass Diversität ein erfolgversprechendes Mittel ist, um individuelle epistemische Verzerrungen und Einseitigkeiten zu kontrollieren und die Objektivität der Wissenschaft als Ganzes zu sichern. Kein Wissenschaftler kann seine Subjektivität aus dem Erkenntnisprozess komplett heraushalten und an die Wirklichkeit völlig unvoreingenommen herantreten. Dass gilt auch für jene, die das Baconsche Ideal des neutralen und unbefangenen Forschers zu erreichen versuchen (vgl. Carrier 2013) (ich hatte derartige Verzerrungen in unserer Diskussion der Kriterien Goldmans als wichtigen Faktor beschrieben, der die epistemische Autorität individueller Experten in Mitleidenschaft ziehen kann). Gleichwohl lässt sich Wissenschaft womöglich als zumindest approximativ objektives und epistemisch erfolgreiches Unternehmen denken, sofern man nicht individuelle Wissenschaftler, sondern die Ebene wissenschaftlicher Gemeinschaften als primären Ort der Realisierung von Objektivitätsnormen ins Auge fasst. Sind nämlich wissenschaftliche Gemeinschaften hinreichend diversifiziert – so das pluralistische Argument –, so heben sich die individuellen Einseitigkeiten und Verzerrungen gleichsam wechselseitig auf, ähnlich wie sich die Abweichungen der zu hohen und zu geringen Schätzungen des Gewichts des Ochsen in Galtons Beispiel wechselseitig aufheben. Bei einer Gesamtschau der wissenschaftlichen Auffassungen zu einem Themenkomplex (wie sie z. B. in Metastudien anzustreben versucht wird), kann dann gleichsam der Durchschnitt dieser Auffassungen erzeugt und eine Bereinigung der individuellen Verzerrungen erreicht werden.

Einen besonderen Schwerpunkt auf diese ausgleichende Funktion von Diversität legt auch Solomon mit ihrem „Social Empiricism“ (Solomon 2001). Sie argumentiert, dass Präferenzen von Wissenschaftlern für Theorien oder Methoden nicht nur von „empirischen“, sondern häufig (oder gar unweigerlich) auch von nicht-empirischen „Entscheidungsvektoren“ („decision vectors“) beeinflusst sind. Mit „empirischen Entscheidungsvektoren“ meint sie Präferenzen, die auf evidentiellen Vorteilen beruhen (d. h. eine Theorie wird bevorzugt, weil sie besser durch die verfügbaren Evidenzen gestützt wird oder diese Evidenzen besser erklärt). Nicht-empirische Entscheidungsvektoren können ganz unterschiedliche Hintergründe haben. Manche Wissenschaftler sind von ihrer Psychologie her risikofreudiger, andere konservativer. Oder es ergeben sich aufgrund des unterschiedlichen Alters von Forschern Unterschiede hinsichtlich der Risikofreudigkeit und Innovationsoffenheit. Solche Vektoren hält sie alle grundsätzlich für legitim (deshalb möchte sie auch nicht von „biases“ sprechen) oder sogar für produktiv, solange sie nicht in der Gemeinschaft ungünstig verteilt sind: „[S]cientific rationality is socially emergent and not dependent on such conditions as individual clear thinking, rational decision making or reasonable inferences. Instead, it is a matter of having a particular distribution of decision vectors across the scientific community.“ (Solomon 2001, 12) Die epistemisch optimale Situation ist ihres Erachtens, wenn die nicht-empirischen Vektoren zugunsten und zuungunsten konkurrierender Ansätze ausgeglichen sind, so dass sie sich gleichsam wechselseitig aufheben und die empirischen Entscheidungsvektoren bzw. der empirische Erfolg des jeweiligen Ansatzes den Ausschlag gibt, wie viel Raum und Geltung ihm in den Fachdebatten unterm Strich eingeräumt wird.

Auf einen weiteren „benefit of toleration“ hat Philip Kitcher in seinem für die jüngere Diskussion zu diesem Problemkomplex mittlerweise klassischen Beitrag zur „kognitiven Arbeitsteilung“ hingewiesen (Kitcher 1990). Kitcher spielt auf die Erfahrung aus der Wissenschaftsgeschichte an, dass man nie sicher sein kann, dass Forschungsansätze, auch wenn sie zu einem bestimmten Zeitpunkt aussichtsreich erscheinen, sich tatsächlich als zutreffend erweisen werden. Umgekehrt erschienen gerade progressive Ansätze, die sich später als korrekt erwiesen haben, zu Beginn häufig Konkurrenzansätzen gegenüber durchaus unterlegen. Kitcher verweist etwa auf Alfred Wegeners Theorie der Kontinentaldrift, die sich in den ersten Jahrzehnten mit schier unüberwindbaren Schwierigkeiten konfrontiert sah. Man könnte auch an die Kopernikanische Revolution denken, die sich – keineswegs nur aufgrund religiöser Widerstände – über mehr als ein Jahrhundert hingezogen hat.Footnote 1 Vor diesem Hintergrund scheint es eine sinnvolle Empfehlung zu sein, dass Wissenschaftler ihre „Wetten absichern“ sollten („hedge their bets“), d. h. eine wissenschaftliche Gemeinschaft sollte möglichst viele alternative Ansätze offen halten, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass unter diesen auch ein zutreffender ist.

Gleichwohl scheint es mir angebracht zu sein, auf eine gewisse Spannung zwischen der pluralistischen Forderung nach mehr Diversität einerseits und anderen, ebenfalls legitimen Anforderungen andererseits hinzuweisen. Ich hatte schon ausgeführt, dass die Mitglieder einer Pluralität individuell gewisse kognitive Voraussetzungen erfüllen müssen, damit die Pluralität epistemisch erfolgreich sein kann. Im Hinblick auf wissenschaftliche Gemeinschaften haben Thomas Kuhn und andere gezeigt, dass erfolgreiche Forschung ein hohes Maß an Spezialisierung erfordert und mit einer sehr selektiven Auswahl der Individuen als auch mit einer Sozialisierung dieser Individuen innerhalb der jeweiligen Fachdisziplin einhergeht. Die Folge dieser Selektions- und Sozialisationsprozesse ist ein Homogenisierungseffekt innerhalb der einzelnen Fachbereiche, der sich nur teilweise mit der Forderung nach sozialer Diversifizierung vereinbaren lässt. Daraus ergibt sich ein Trade-Off zwischen Diversität und homogenisierender Spezialisierung.

Ein weiterer Trade-Off ergibt sich aus dem Umstand, dass die für Wissenschaft (wie für jede sonstige Unternehmung) zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind. Dass ein Forschungsfeld diversifiziert sein sollte, heißt nicht, dass es durch einen maximal möglichen Grad an epistemischer Diversität charakterisiert sein sollte. Bestimmte theoretische oder methodische Forschungsansätze werden gerechtfertigterweise als so aussichtslos oder fehlgeleitet eingeschätzt, dass die Ressourcen, die für ihre Berücksichtigung nötig wären, in keinem vernünftigen Verhältnis zum epistemischen Nutzen stehen, den die Ansätze versprechen (vgl. dazu z. B. Intemann/de Melo-Martín 2014; Biddle/Leuschner 2015; zum Konzept der Trade-Offs im Zusammenhang mit dem Wissenschaftspluralismus allgemein vgl. Hauswald 2017).

2 Struktur

2.1 Allgemeine Bemerkungen zur Struktur von Pluralitäten

Unter der Dimension Struktur fasse ich alle Faktoren zusammen, die die Integration oder Organisation der Pluralität betreffen. Das betrifft, wie gesagt, freilich nur solche Pluralitäten, die überhaupt integriert sind (also insbesondere Kollektive mit interner Kohärenz). Es sollte beachtet werden, dass die drei Dimensionen keineswegs komplett unabhängig voneinander sind. Beispielsweise gibt es einen Zusammenhang zwischen Strukturfaktoren und sowohl der Dimension Zusammensetzung als auch der Dimension Umwelt, nämlich insofern, als Pluralitäten durch bestimmte Organisationsprinzipien einen Einfluss darauf nehmen können, welche Mitglieder sie akquirieren. Beispielsweise kann es besondere, sich aus der Struktur der Pluralität ergebende Anreize geben, die Personen mit bestimmten Eigenschaften besonders motivieren, Mitglieder der Pluralität zu werden, während andere demotiviert werden. Auf diese Weise kann eine Pluralität einen Einfluss beispielsweise darauf nehmen, wie sehr oder wenig diversifiziert ihre Mitgliedschaft ist. Man könnte diese Einflussnahme „Grenzmanagement“ nennen: Es findet eine Selektion statt, die dazu führen kann, dass manche Bevölkerungsgruppen über-, andere unterrepräsentiert sind. Die Einflussnahme muss aber nicht in jedem Fall geplant oder intendiert sein, sondern kann auch die Form nicht-intendierter Folgen besitzen. Die Unterrepräsentation etwa von Frauen in vielen wissenschaftlichen Gemeinschaften (oder auch die von Männern in bestimmten anderen) ist (häufig) kein gewolltes Phänomen, sondern eines, das sich sogar gezielten Gegenmaßnahmen zum Trotz einstellt.Footnote 2

An dieser Stelle wird auch der Zusammenhang zur dritten Dimension, der Dimension Umwelt deutlich. Denn die allgemeine Bevölkerung, oder auch spezielle andere Pluralitäten, bilden sozusagen das Reservoir an potentiellen Mitgliedern, aus dem eine Pluralität ihre Mitglieder akquirieren kann. Wenn beispielsweise Personen mit bestimmten Eigenschaften in der allgemeinen Bevölkerung schlicht nicht vorkommen, kann eine Pluralität auch keine Mitglieder mit diesen Eigenschaften akquirieren, mögen die Anreize sein, wie sie wollen. Das Grenzmanagement einer Pluralität kann aber auch in der Exklusion von Mitgliedern bestehen. So kann es etwa bei „schwerem wissenschaftlichen Fehlverhalten“ oder „parteischädigendem Verhalten“ zu einem Ausschluss aus einer wissenschaftlichen Gemeinschaft oder politischen Partei kommen.

In der jüngeren Wissenschaftsphilosophie und Sozialepistemologie ist die Bedeutung von Strukturmerkmalen für den epistemischen Erfolg wissenschaftlicher Pluralitäten von einer Reihe von Autoren betont worden. Dabei sind zu unterschiedlichen Typen von Pluralitäten – etwa großen wissenschaftlichen Gemeinschaften im Unterschied zu kleineren Kollektiven wie Forschergruppen – teilweise unterschiedliche und teilweise ähnliche Dinge zu sagen. Ein Beispiel für einen besonderen Typ kleiner Kollektive mag instruktiv sein: medizinische „Konsenskonferenzen“ (detaillierte epistemologische Untersuchungen dazu hat Solomon (2015b) vorgelegt). Bei den bis 2013 von der amerikanischen Gesundheitsbehörde organisierten Konsenskonferenzen handelte es sich um Gruppen, die aus Klinikern, Forschern, Methodologen und Patientenvertretern bestanden, und die die Aufgabe hatten, gemeinsam aktuelle medizinische Fragen zu diskutieren und Konsenspapiere zu Erstellung entsprechender Leitlinien für die klinische Praxis etc. auszuarbeiten. Das typische Verfahren war, dass ca. zwei Dutzend Spezialisten zu den jeweiligen Fragen eingeladen wurden, um vor der eigentlichen Gruppe zu referieren, woraufhin diese sich zurückzog, um sich in einem nicht-öffentlichen Rahmen zu beraten und in einem mehrstufigen Verfahren zu einer Urteilsbildung zu gelangen. Solomon untersucht eine Reihe von strukturellen Bedingungen, die die epistemische Qualität dieses Verfahrens gefördert oder behindert haben. Eine Gefahr sieht sie etwa in sozialpsychologischen Effekten wie der Tendenz zum „groupthink“, also der Unterdrückung von Widerspruch und dem Druck zur Erzeugung von Einmütigkeit (vgl. dazu auch bereits Solomon 2005; vgl. auch Allen/Howell 2020). Dieser Gefahr lässt sich etwa durch geeignetes Moderieren der Debatte oder auch der Installation eines „institutionellen Advocatus Diaboli“ und ähnliche Verfahren ein Stück weit entgegenwirken. Problematisch ist auch der „Ankereffekt“: das Phänomen, dass die Person, die als erste in einer Diskussion spricht, die Diskussion in überproportionaler Weise bestimmt. Solomon betont den Wert der Diversität als Gegenmittel für derartige Effekte. Denn wenn eine Gruppe in hohem Maße diversifiziert ist, dann wirkt das homogenisierenden Prozessen wie dem „groupthink“ oder dem Ankereffekt entgegen. Interessanterweise waren Konsenskonferenzen in der Regel nicht mit denjenigen Personen besetzt, die die höchstmögliche Expertise hinsichtlich des fraglichen Themas hatten. Grund war der Versuch, den „intellectual bias“ zu minimieren, d. h. das Phänomen, dass jemand, gerade weil er ein absoluter Spezialist im Hinblick auf eine bestimmte Frage und tief in die entsprechenden Fachdebatten involviert ist, selbst dazu forscht usw., starke Präferenzen für diese oder jene Theorien, Forschungsansätze oder Methoden haben kann, die sein objektives Urteil gegenüber Konkurrenztheorien usw. beeinträchtigen. Stattdessen hat man lieber auf solche Personen zurückgegriffen, die in angrenzenden Feldern Experten waren, Personen also, von denen erwartet wurde, dass sie immer noch recht gute Kenntnisse in dem eigentlichen Feld haben, ohne in die Fachdebatten desselben verstrickt zu sein.

Auch mit Blick auf größere Kollektive, insbesondere ganze wissenschaftliche Gemeinschaften, ist in der jüngeren sozialepistemologischen Wissenschaftsphilosophie die Bedeutung struktureller Aspekte herausgestellt und versucht worden, epistemisch förderliche Regeln, Institutionen und Prinzipien zu identifizieren. Helen Longino hat in diesem Sinne den Standpunkt vertreten, dass die Objektivität der Wissenschaft durch den sozialen Charakter der Forschung gewährleistet wird („the objectivity of science is secured by the social character of inquiry“, Longino 1990, 62). Longino argumentiert, dass dazu insbesondere etwas ausschlaggebend ist, was sie „transformative Kritik“ („transformative criticism“) nennt, deren Möglichkeitsbedingungen in vier Anforderungen an die Organisation einer wissenschaftlichen (oder allgemein auf Erkenntnisproduktion hin ausgerichteten) Pluralität bestehen. Die erste lautet, dass es anerkannte Verfahrensweisen des Kritisierens („recognized avenues for criticism“) gibt, d. h. es muss den Mitgliedern der Pluralität möglich sein, die Überzeugungen, Hintergrundannahmen, Methoden usw. anderer Mitglieder zu kritisieren. Die zweite lautet, dass es gemeinsame Standards gibt, an denen sich die Kritik orientieren kann. Andernfalls würde die Kritik womöglich ins Leere laufen. Die dritte lautet, dass es eine gemeinschaftliche Reaktion („community response“) auf die Kritik geben muss, d. h. dass die Kritik in der Lage sein muss, langfristig eine Wirkung zu erzielen (beispielsweise dadurch, dass Theorien modifiziert werden usw.). Die vierte Anforderung schließlich lautet, dass die Mitglieder gleiche „intellektuelle Autorität“ besitzen („equality of intellectual authority“). Dieser Begriff fällt nicht mit dem der „epistemischen Autorität“ zusammen, so wie ich diesen Begriff hier verwende. Vielmehr versteht Longino darunter die Wirkung, die ein Mitglied mit einem kritischen Beitrag bei anderen Mitgliedern erzielen kann. Wenn jemand ein gutes Argument hat, dann sollte es gehört werden und eine Wirkung erzielen unabhängig davon, wer es entwickelt hat oder vorträgt. Auch hier kann man die Forderung, dass eine Pluralität möglichst diversifiziert ist, als eine Art Meta-Anforderung zu den vier genannten betrachten. Denn wenn niemand auch nur auf die Idee kommt oder motiviert ist, Kritik zu formulieren, dann laufen die vier Anforderungen von Longino gewissermaßen ins Leere.

Aber wie kann Diversität realisiert werden? Der im vorigen Abschnitt bereits erwähnte Aufsatz von Kitcher (1990) ist auch in dieser Hinsicht aufschlussreich. Kitcher argumentiert nämlich, dass es ein besonderes Anreizsystem gebe, eine „unsichtbare Hand“, die zur Herstellung epistemischer Diversität in wissenschaftlichen Gemeinschaften führt. Dieses Anreizsystem beruht darauf, dass die einzelnen Wissenschaftler motiviert sind, Reputation zu erlangen. Die Prioritätsregel führt dazu, dass sie Reputation insbesondere dann erlangen, wenn sie Entdeckungen machen, neue Theorien entwickeln oder Einsichten erlangen, die vor ihnen noch niemand hatte. Die Wahrscheinlichkeit, eine Entdeckung zu machen, maximieren sie aber nicht unbedingt dadurch, dass sie Forschungsprogramme verfolgen, die die größten intrinsischen Erfolgsaussichten haben. Wenn nämlich diese Forschungsprogramme bereits von vielen anderen Wissenschaftlern verfolgt werden, dann sinkt für jeden einzelnen darunter die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet er es sein wird, der die Entdeckung macht. Somit kann es eine in diesem Sinne rationale Strategie sein, intrinsisch weniger erfolgversprechende Forschungsprogramme zu verfolgen, weil die Wahrscheinlichkeit dort aufgrund der geringeren Konkurrenz gleichwohl höher sein kann, reputationsversprechende Entdeckungen zu machen. Auf diese Weise kommt es Kitcher zufolge quasi automatisch dazu, dass eine wissenschaftliche Gemeinschaft nicht zu einer „irrational community“ (Kitcher 1990, 6) entartet, d. h. einer Gemeinschaft, in der alle Mitglieder denselben, intrinsisch erfolgversprechendsten Ansatz verfolgen, was zwar von einer bestimmten, individuellen Perspektive her betrachtet rational erscheinen könnte (denn wenn ein Wissenschaftler den intrinsisch erfolgversprechendsten Ansatz verfolgt, dann erhöht er ja damit die Chance, sein individuelles epistemisches Ziel zu erreichen, die Wahrheit zu finden und das Falsche zu vermeiden), für die Erkenntnisproduktion der Gemeinschaft insgesamt aber schädlich ist, weil diese dann vollkommen homogen und nicht durch jene epistemische Diversität gekennzeichnet wäre, die für den kollektiven Erkenntnisprozess so wichtig ist. Kitcher (1990, 6) konstatiert vor diesem Hintergrund eine Diskrepanz zwischen der individuellen und der kollektiven Rationalität („mismatch between the demands of individual rationality and those of collective (or community) rationality“) und zieht die Konsequenz: „[W]e sometimes want to maintain cognitive diversity even in instances where it would be reasonable for all to agree that one of two theories was inferior to its rival, and we may be grateful to the stubborn minority who continue to advocate problematic ideas“ (Kitcher 1990, 7).

Kitcher (dessen Überlegungen zur Prioritätsregel von anderen Autoren wie etwa Strevens (2003) aufgegriffen und weiterentwickelt wurden) ist nicht der einzige Autor, der die Existenz von diversitätserzeugenden Mechanismen, die in gewisser Weise in die Wissenschaft eingebaut sind, postuliert hat. Beispielsweise ist Giere (1988, 277) der Meinung, es seien Zufälligkeiten bei Ausbildungsprozessen und gemachten Erfahrungen („accidents of training and experience“), die Wissenschaftler dazu bewegen, Evidenzen und Konkurrenzansätze unterschiedlich einzuschätzen, mit dem Resultat, das epistemische Diversität erzeugt wird. Thagard (1993) zufolge ergibt sich ein diversitätserzeugender Effekt dadurch, dass Informationen unterschiedlich schnell in der Gemeinschaft diffundieren und Wissenschaftler deshalb aufgrund unterschiedlicher evidentieller Grundlagen abweichende Schlussfolgerungen ziehen (eine ähnliche Stoßrichtung hat Zollmans (2007) Ansatz).

Ich möchte dazu zwei Anmerkungen machen. Die erste Anmerkung lautet, dass ich einerseits denke, dass Kitchers „invisible hand“-Mechanismus durchaus eine wichtige Rolle für die Organisation wissenschaftlicher Gemeinschaften spielt. Andererseits scheint er mir von seiner Reichweite her gewissen Begrenzungen unterworfen zu sein. Diese ergeben sich daraus, dass er aus unterschiedlichen Gründen nicht immer funktioniert, oder daraus, dass verschiedene andere Anreizmechanismen existieren, die mit Kitchers Mechanismus interferieren. Als Konsequenz kann es sein, dass die Generierung epistemisch förderlicher Diversität verhindert wird und Einseitigkeiten auf kollektiver Ebene entstehen. Ein konkretes Beispiel sind gesellschaftliche Tabus, die Wissenschaftler davon abhalten, Forschungsansätze zu vertreten, obwohl sie epistemischen Wert haben und eine Bereicherung für das in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft vertretene Theorienspektrum darstellen würden. Beispielsweise ist die wissenschaftliche Forschung zu Homosexualität über Jahrzehnte (wenn nicht Jahrhunderte) hinweg von starken homophoben Ressentiments und Tabus beeinträchtigt worden, mit dem Resultat, dass beispielsweise Homosexualität bis ins späte 20. Jahrhundert hinein als psychiatrische Störung klassifiziert wurde. Solche Ressentiments und Tabus können auf unterschiedlichen Wegen einen Einfluss auf die Erkenntnisproduktion in den entsprechenden wissenschaftlichen Gemeinschaften haben (in diesem Fall etwa die psychiatrische, psychologische oder soziologische Gemeinschaft). Beispielsweise können sie dazu führen, dass Wissenschaftler aus Furcht vor sozialen Sanktionen (ganz zu schweigen von juristischen oder politischen Sanktionen) davon abgehalten werden, Forschungsansätze zu vertreten, die, obwohl sie epistemischen Wert besitzen, die Ressentiments und Tabus infrage stellen. Ferner können sie auch einen eher indirekten Einfluss dadurch entfalten, dass sie über das Grenzmanagement der fraglichen wissenschaftlichen Gemeinschaft wirken. Sie können nämlich bestimmte Personen davon abhalten, überhaupt eine Mitgliedschaft in der Gemeinschaft anzustreben – etwa Homosexuelle mit einem prinzipiellen Interesse daran, nicht als psychisch krank zu gelten, bzw. einem Interesse, allgemein bestimmte inkorrekte und unheilvolle Vorstellungen über Homosexualität richtig zu stellen. Denn wenn man den Eindruck hat, dass man die Auffassungen, die man für richtig befindet, ohnehin nicht in die Fachdebatte einbringen könnte, kann das von Anfang an demotivierend wirken (für weiterführende Ausführungen zu „collective biases“ im Allgemeinen und dem Beispiel der Forschung zu Homosexualität im Besonderen, vgl. Hauswald 2021b; ich werde auch in meiner Beispielanalyse in Kapitel 20 noch einmal genauer auf konkrete Mechanismen zu sprechen können, die eine Entfaltung epistemischer Diversität in wissenschaftlichen Gemeinschaften erschweren oder behindern können).

Die zweite Anmerkung bezieht sich auf die Konsequenzen, die sich aus Kitchers Überlegungen zu jener Diskrepanz („mismatch“) zwischen individueller und kollektiver Rationalität für jene Subjekte ergeben, die sich auf eine wissenschaftliche Gemeinschaft als plurale epistemische Autoritäten stützen möchten. Kitcher und andere Wissenschaftspluralisten argumentieren zu Recht, dass langfristig gesehen solche Gemeinschaften epistemisch am erfolgreichsten sind, in denen ein breiteres Spektrum konkurrierender Theorien verfolgt wird statt lediglich die momentan am aussichtsreichsten erscheinende. Ob diese Diversität nun durch Kitchers unsichtbare Hand oder andere Mechanismen hergestellt wird: Es bedeutet in jedem Fall, dass gerade die epistemisch erfolgreichen, leistungsfähigen Gemeinschaften auch Mitglieder haben werden, die weniger aussichtsreiche oder gar falsche Theorien vertreten. Ein Subjekt bzw. Laie, der sich auf ein individuelles Mitglied einer solchen Gemeinschaft als epistemische Autorität stützt, geht das Risiko ein, dass dieses Mitglied einen der falschen Ansätze verfolgt. Das macht dieses Mitglied einerseits zu einer weniger geeigneten individuellen epistemischen Autorität, andererseits liefert es genau dadurch einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnisproduktion der Pluralität insgesamt. Ich denke, dass in diesem Zusammenhang ein wichtiger Grund dafür liegt, wieso plurale epistemische Autoritäten individuellen gegenüber nicht selten überlegen sind und bessere epistemische Quellen darstellen (ich komme auf diesen Aspekt noch einmal ausführlicher in Abschnitt 17.1 zurück).

2.2 Strukturmerkmale und die Hervorbringung potentiell wahrheitsindikativer Tatsachen

Eine besondere Relevanz der Organisationsweise bzw. Organisationsstruktur von Pluralitäten ergibt sich auch daraus, dass die Hervorbringung einiger potentiell wahrheitsindikativer Tatsachen selbst das Resultat sozialer Ereignisse in der Pluralität sein kann, deren konkreter Ablauf durch Strukturmerkmale beeinflusst sein kann. Dieser Punkt lässt sich am besten an einem Beispiel vor Augen führen.

T sei eine potentiell wahrheitsindikative Tatsache über die Pluralität P (etwa die Tatsache, dass es in der Pluralität P eine Kollektiv-Überzeugung gibt, dass p). Unsere allgemeine Frage lautet nun: Wie muss P beschaffen sein, damit T ein guter Indikator dafür ist, dass eine Proposition p wahr ist? Nun können Strukturmerkmale in diesem Zusammenhang in zweierlei Hinsicht relevant werden. Angenommen, P sei eine Jury von Geschworenen, die feststellen soll, ob ein Angeklagter schuldig ist (=p) oder nicht. Das Verfahren sei so, dass die Jury zunächst über einen bestimmten Zeitraum hinweg unter diesen oder jenen Bedingungen Evidenzen auswerten, diskutieren und sozusagen kollektiv über den Fall deliberieren muss. Wenn dieser Deliberationsprozess abgeschlossen ist, muss die Jury zu einem gemeinsamen Urteil gelangen, d. h. es soll eine Art Kollektiv-Überzeugung gebildet werden, die in diesem Fall die Tatsache T ist, die als Wahrheitsindikator verwendet werden soll. Wir müssen nun zwei Aspekte unserer Frage bzw. zwei Teilfragen unterscheiden. Die erste lautet: Wie sollte der Prozess der Bildung der Kollektiv-Überzeugung aussehen, damit die Kollektiv-Überzeugung möglichst verlässlich die Wahrheit von p indiziert? Wir können uns beispielsweise vorstellen, dass die Kollektiv-Überzeugung hinsichtlich p durch eine Form von Aggregation der individuellen Überzeugungen hinsichtlich p zustande kommt, und die Frage ist dann: Wie sollte diese Aggregation ablaufen? Wie sollte das, was List/Pettit (2011) „judgment aggregation function“ und Goldman (2014) „belief aggregation function (BAF)“ nennen, aussehen? Diesbezüglich gibt es verschiedene Möglichkeiten: Beispielsweise könnte die BAF darin bestehen, dass die Kollektiv-Überzeugung per Mehrheitsentscheid festgelegt wird, oder so, dass die individuelle Meinung eines bestimmten Mitglieds als für die Gruppe verbindlich gilt (hier existieren wiederum verschiedene Möglichkeiten, wie dieses Mitglied festgelegt werden könnte – beispielsweise könnte es eine Abstimmung unter den Mitgliedern darüber geben, welches Mitglied als am kompetentesten angesehen wird). Eine Kollektiv-Überzeugung hinsichtlich p muss aber nicht zwingend durch eine irgendwie geartete Aggregation der individuellen Überzeugungen hinsichtlich p selbst zustande kommen. Die BAF könnte auch prämissenorientiert sein (zum Unterschied zwischen konklusions- und prämissenorientierten Aggregationsverfahren, vgl. Pettit 2003). Wenn der Angeklagte z. B. dann als schuldig einzustufen ist, wenn fünf Bedingungen erfüllt sind,Footnote 3 dann könnten die Jurymitglieder zunächst darüber abstimmen, ob jede der fünf Bedingungen erfüllt ist (vgl. Abbildung 12.1: A, B, C, D und E stellen hier die Jurymitglieder dar; 1, 2, 3, 4 und 5 die Bedingungen, über die abgestimmt wird). Jede einzelne Bedingung könnte von den Mitgliedern beispielsweise mehrheitlich als erfüllt betrachtet werden. Wenn das Jury-Urteil durch prämissenorientierte Aggregation generiert wird, bedeutet das, dass das Urteil in dieser Situation „schuldig“ lauten müsste (die Grundlage oder der Input für die Aggregation sind hier also nicht die individuellen Überzeugungen hinsichtlich p, sondern die individuellen Überzeugungen hinsichtlich des Erfüllt-Seins der Bedingungen). Wie Pettit (2003) demonstriert hat, ist es gleichwohl gut möglich, dass die Jurymitglieder in derselben Situation mehrheitlich oder sogar einstimmig der Meinung sind, dass der Angeklagte unschuldig ist. Das durch ein konklusionsorientiertes Verfahren erzeugte Ergebnis wäre dann also dem durch das prämissenorientierte Verfahren erzeugten Ergebnis entgegengesetzt.Footnote 4 Welches Verfahren aus epistemischer Sicht besser ist, lässt sich pauschal nicht sagen, was unter anderem daran liegt, dass es diesbezüglich eine Abhängigkeit von der zweiten Frage gibt, der ich mich im Folgenden zuwende.

Abbildung 12.1
figure 1

Prämissen- und konklusionsorientierte Aggregation

Nun also zur zweiten der beiden Teilfragen. Diese lautet: Wie sollten die Deliberationsprozesse im Vorfeld der Festlegung der Kollektiv-Überzeugung ablaufen? Wie sollte die Pluralität beschaffen sein, um einen möglichst günstigen Einfluss auf die Bildung der individuellen Meinungen zu nehmen (seien es die individuellen Meinungen hinsichtlich p oder die Meinungen hinsichtlich des Vorliegens der Prämissen), bevor diese dann aggregiert werden können? Diese Teilfrage ist freilich nicht unabhängig von der ersten. Denn die Art der BAF ist relevant dafür, welche Deliberationsprozesse günstiger sind und welche ungünstiger. Wenn die Kollektiv-Überzeugung zum Beispiel konklusionsbasiert per absoluter Mehrheitsabstimmung festgelegt wird, dann sollten die Deliberationsprozesse möglichst zu dem Ergebnis führen, dass mindestens die Hälfte der Mitglieder individuell die Wahrheit über die fragliche Proposition glaubt. Wie kann das erreicht werden? Sollte die Jury vielleicht von vornherein personell bereits auf eine bestimmte Weise zusammengesetzt werden? (Das würde dann primär die Dimension Zusammensetzung betreffen.) Nach welchen Regeln sollte die Auswertung der Evidenzen, nach welchen Regeln sollte die Diskussion erfolgen usw.? Auch wenn beide Teilfragen miteinander zusammenhängen, scheint es mir in jedem Fall notwendig zu sein, sie analytisch zu trennen. Immerhin kann es beispielsweise sein, dass eine Pluralität im Hinblick auf die Deliberationsprozesse, die einen Einfluss auf die individuelle Meinungsbildung haben, optimal organisiert ist, wohingegen die Kollektiv-Überzeugung aber nach einer denkbar ungünstigen BAF gebildet wird (etwa per Festlegung durch das am wenigsten kompetente Mitglied oder nach dem Zufallsprinzip). Jeder Teilfrage entspricht eine Hinsicht, in der Strukturmerkmale für den epistemischen Output einer Pluralität relevant werden können. Es ist ein Strukturmerkmal der Pluralität, ob diese oder jene BAF in ihr implementiert ist, und ferner gibt es verschiedenste Faktoren, die zu den Dimensionen Zusammensetzung, Struktur und Umwelt gehören, die darüber hinaus einen Einfluss auf die epistemische Qualität der wahrheitsindikativen Tatsache haben (bzw. auf das Ausmaß, in der die Tatsache tatsächlich wahrheitsindikativ ist).

3 Umwelt

Unter Umwelt fasse ich all jene sozusagen externen Faktoren zusammen, die weder die Mitglieder noch die interne Struktur der fraglichen Pluralität betreffen, gleichwohl aber einen Einfluss auf die Qualität ihres epistemischen Outputs haben können. Aus den erkenntnistheoretischen Diskussionen zum Gettier-Problem und zum epistemischen Zufall ist das Phänomen bekannt, dass Erkenntnisbemühungen untergraben werden oder ins Leere laufen können, wenn sie in epistemisch ungünstigen Umgebungen stattfinden. Goldmans (1976) „Fake-Barn-Land“ ist ein Beispiel für eine solche Umgebung, in der die Evidenzen systematisch täuschen. In den meisten Fällen, in denen ein Besucher eine Überzeugung wie „Dies ist eine Scheune“ aufgrund der ihm vorliegenden Evidenzen bildet, handelt es sich um eine falsche Überzeugung, und wenn es doch eine korrekte Überzeugung sein sollte, dann ist sie wahr nur dank „environmental luck“, das nicht mit Wissen kompatibel ist. Auch von skeptischen Szenarien her sind epistemisch unfreundliche Umgebungen bekannt. Das Gehirn im Tank mag noch so scharfsinnig und epistemisch gewissenhaft sein: In der Situation, in der es sich befindet, wird es aufgrund der ihm vorliegenden Evidenzen nicht zu wahren Überzeugungen oder Wissen gelangen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich die Relevanz der Umwelt für die epistemische Performance einer Pluralität unmittelbar einsehen. Selbst wenn eine Pluralität in epistemisch optimaler Weise mit Personal zusammengesetzt und besonders gut organisiert ist, wird sie in einer epistemisch ungünstigen Umgebung keinen zuverlässigen epistemischen Output generieren können. Im „Fake-Ox-Land“, in dem die Bauern nicht durch Scheunenattrappen Wohlstand vortäuschen, sondern durch Ochsen, die viel größer und schwerer erscheinen, als sie wirklich sind, wären die Schätzungen in Galtons Gewinnspiel vielleicht auch bei identischer Teilnehmerschaft und gleichem Abstimmungsverfahren sehr viel weniger akkurat gewesen.

Zur Umwelt einer Pluralität rechne ich insbesondere auch ihre soziale Umwelt, d. h. andere Pluralitäten, andere gesellschaftliche Subsysteme bzw. die Gesellschaft insgesamt. Ich habe in den vorherigen Abschnitten schon angedeutet, inwieweit die soziale Umwelt Einfluss auf die epistemische Performance einer Pluralität haben kann. Beispielsweise gibt es einen Zusammenhang zur Dimension Zusammensetzung, insofern als die allgemeine Bevölkerung sozusagen das Reservoir potentieller Mitglieder darstellt. Eine Konsequenz ist, dass es für eine Pluralität möglicherweise prinzipiell unmöglich ist, Mitglieder mit bestimmten Eigenschaften zu haben, wenn es Personen mit diesen Eigenschaften in der allgemeinen Bevölkerung nicht gibt. Ich sage „möglicherweise“, weil es in gewissem Rahmen möglich sein kann, Personen, die Mitglieder einer Pluralität geworden sind, mit bestimmten Eigenschaften auszustatten, die sie vorher nicht hatten. So etwas passiert in wissenschaftlichen Gemeinschaften permanent: Neben jenen Selektionsprozessen, die ich unter die Kategorie „Grenzmanagement“ subsumiert hatte (bei dem es unter anderem darum geht, dass Personen mit bestimmten Eigenschaften motiviert, andere demotiviert werden, zu Mitgliedern zu werden), finden auch Sozialisationsprozesse statt, die dazu führen, dass neue Mitglieder mit gewissen Fähigkeiten ausgestattet und auf bestimmte Weise geformt, diszipliniert und an jene „common“ oder „community culture“ angepasst werden, die für unterschiedliche wissenschaftliche (Sub-)Disziplinen jeweils charakteristisch ist (Becher/Trowler (2001) sprechen in diesem Zusammenhang von „academic tribes“). Eine solche Formung ist aber nur in bestimmten Grenzen möglich (eine Pluralität kann z. B. keine Mitglieder mit einer Körpergröße oder einem IQ oder von mehr als 250 cm bzw. Punkten haben, da es keine solchen Personen in der allgemeinen Bevölkerung gibt und auch keine entsprechende „Formung“ möglich ist), so dass die soziale Umwelt als „personelles Reservoir“ ein restringierender Faktor bleibt.

Ferner müssen wir Effekte wie die in Rechnung stellen, die in der systemtheoretisch orientierten Wissenschaftsphilosophie als „Interpenetration zwischen gesellschaftlichen Subsystemen“ oder auch als „Kolonialisierungsversuche“ oder „Störungen“ der Funktion eines Subsystems durch ein anderes beschrieben werden (vgl. z. B. Fischer 2005). Der Begriff der Interpenetration bezieht sich eigentlich auf ein unumgängliches Phänomen in der modernen Gesellschaft: Gesellschaftliche Teilsysteme können nämlich ihre jeweils spezifischen Funktionen für die anderen Systeme bzw. die Gesamtgesellschaft nur erfüllen, wenn es so etwas wie Kommunikation, einen Austausch zwischen den Teilsystemen gibt. Wenn etwa die Funktion der Wissenschaft darin besteht, epistemische Güter wie Wissen oder Verstehen bereitzustellen, dann muss es einen Transfer dieser Güter in jene anderen Bereiche geben, in denen sie gebraucht werden (z. B. in die Politik, Justiz oder Wirtschaft), und dazu muss es Bereiche geben, in denen die Systeme interagieren. Auch wenn die Systeme bis zu einem gewissen Grad autonom und „autopoietisch“ sind (wie Luhmann (1992) sagt), ergibt sich aufgrund solcher Interpenetration auch das Potential der wechselseitigen Störung des Funktionierens der Subsysteme durch andere. Ein konkretes Beispiel hatte ich im vorherigen Abschnitt bereits genannt: Die aus der Prioritätsregel resultierende und als diversitätsgenerierender Mechanismus epistemisch wichtige Aufteilung der Mitglieder wissenschaftlicher Gemeinschaften auf konkurrierende Forschungsansätze kann durch wissenschaftsexterne Einflüsse verzerrt oder verunmöglicht werden. Manche Forschungsansätze können z. B. dem allgemeinen Zeitgeist so stark entgegenkommen, dass daraus zusätzliche, wissenschaftsexterne Anreize für Wissenschaftler resultieren, sie zu verfolgen. Andere, dem Zeitgeist widersprechende Ansätze können so stark tabuisiert sein, dass sie trotz ihres epistemischen Potentials von keinem Wissenschaftler verfolgt werden (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die wissenssoziologischen Untersuchungen zu „verbotenem“ bzw. „kryptodoxen Wissen“ in Kempner/Merz/Bos 2011 und Schetsche 2019). Wie ich meine, sollte man in diesem Zusammenhang allerdings wissenschaftsexterne Kräfte nicht ausschließlich als die Erkenntnisproduktion störend interpretieren. Wie es wissenschaftsexterne gesellschaftliche Tabus gibt, die verhindern, dass bestimmte Forschungsansätze verfolgt werden, so gibt es auch wissenschaftsexterne Kräfte, die dazu beitragen können, diese Tabus zu lösen, um damit indirekt die Forschung zu diesen Ansätzen anzuregen, oder sie können auch sogar auf direkterem Wege in die Wissenschaft entsprechend eingreifen. Das lässt sich am bereits eingeführten Beispiel der Forschungen zur Homosexualität weiter illustrieren (vgl. nochmals Hauswald 2021b, 611 f.). Denn es waren letztlich ganz wesentlich außerwissenschaftliche Kräfte, die dazu beigetragen haben, dass die kollektiven Einseitigkeiten in den entsprechenden wissenschaftlichen Gemeinschaften reduziert worden sind. Das ist beispielsweise dadurch geschehen, dass durch aktivistische Bemühungen das allgemeine gesellschaftliche Klima sich gewandelt hat, so dass sich die Tabus und Ressentiments verringert haben, die Forscher davon abgehalten haben, bestimmte Ansätze zu entwickeln und zu verteidigen. In Gestalt von „scholar-activists“ haben diese Emanzipationsbewegungen sogar bis tief hinein in die wissenschaftlichen Gemeinschaften gewirkt. Beispielsweise haben „scholar-activists“ eine wichtige Rolle dabei gespielt, die APA (American Psychiatric Association) dazu zu bewegen, Homosexualität aus dem DSM (dem Katalog der psychischen Störungen) zu entfernen. Als Schlüsselereignis wird gemeinhin etwa die Rede des „scholar-activist“ John Fryer angesehen, die dieser auf der Konferenz der APA 1972 gehalten hat und durch die vielen Psychiatern im Publikum zum ersten Mal bewusst wurde, dass es homosexuelle Fachkollegen überhaupt gibt und dass diese sich nicht notwendigerweise als krank erleben. Und für viele homosexuelle Wissenschaftler war die Rede eine Motivation, wissenschaftliche Ansätze zu entwickeln, die den psychiatrischen Mainstream infrage stellten, und offensiver pro-homosexuelle Auffassungen zu vertreten bzw. sich zu ihrer eigenen Homosexualität zu bekennen.

Damit möchte ich meine Betrachtungen zu den Dimensionen Zusammensetzung, Struktur und Umwelt abschließen. Es ist klar, dass ich dieses höchst umfassende Thema eher angerissen als erschöpfend diskutiert habe. Eine erschöpfende Diskussion ist für unsere Zwecke auch gar nicht unbedingt erforderlich; es genügt, zumindest andeutungsweise klar gemacht zu haben, welche Faktoren die epistemische Performance einer Pluralität beeinflussen. Um noch einmal das Wichtigste zusammenzufassen: Für eine gute epistemische Performance ist zum einen ausschlaggebend, dass die Pluralität auf eine günstige Art und Weise mit Personal zusammengesetzt ist. Die Mitglieder müssen zumindest gewisse minimale Kompetenzen im Hinblick auf die relevante thematische Domäne besitzen. Darüber hinaus sind weitere Faktoren relevant. Insbesondere spielt in der Regel die epistemische sowie die soziale (inklusive der sozioökonomischen) Diversität eine wichtige Rolle. Ferner ist die Organisationsstruktur der Pluralität relevant. Dazu können institutionell verankerte Mechanismen zählen, die sich auf die Kompetenz oder die Diversität der Mitglieder auswirken (hier gibt es eine Wechselbeziehung zwischen den Dimensionen Struktur und Zusammensetzung), aber auch das Grenzmanagement der Pluralität betreffen können (hier gibt es eine Wechselbeziehung zwischen den Dimensionen Struktur und Umwelt). Desweiteren können bestimmte Strukturmerkmale einerseits direkt die Genese der potentiell wahrheitsindikativen Tatsachen betreffen oder andererseits die im Vorfeld stattfindenden kollektiven Deliberationsprozesse im weitesten Sinn beeinflussen. Schließlich ist die Umwelt der Pluralität von Belang. Dabei ist insbesondere der Umstand relevant, dass Pluralitäten ihre Mitglieder in der Regel von außerhalb rekrutieren müssen. Ferner ist daran zu denken, dass verschiedenste äußere Einflüsse mit den internen Mechanismen der Pluralität interferieren und dabei die epistemische Performance der Pluralität stören, umgekehrt aber auch manchmal Fehlfunktionen korrigieren können.