Im dritten Teil der Untersuchung wende ich mich nun pluralen epistemischen Autoritäten zu. Damit sind soziale Pluralitäten gemeint, die in unserer epistemischen Praxis ähnliche Rollen einnehmen können wie individuelle epistemische Autoritäten. Ein wesentliches Ziel meiner Überlegungen wird im Folgenden in der Untersuchung bestehen, worin epistemische Deferenz gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten eigentlich besteht und wie Subjekte sich gegenüber diesen rationalerweise verhalten sollten. Ich möchte demonstrieren, dass sie dabei ähnliche Herausforderungen zu bewältigen haben wie bei individuellen Autoritäten: Sie müssen Identifikationsprobleme lösen, sind unter Umständen mit Situationen konfrontiert, die Ähnlichkeiten mit Goldmans „novice/2-expert“-Problem besitzen, und stehen wiederum einem Deferenzproblem gegenüber. Die Strategien, die sie zur Bewältigung dieser Herausforderungen anwenden können, differieren allerdings partiell von denen, die wir im zweiten Teil der Untersuchung diskutiert hatten, und ein Hauptaugenmerk wird darauf liegen, diese Differenzen herauszuarbeiten. Im Anschluss daran werde ich zu zeigen versuchen, dass soziale Pluralitäten auch als Verstehens-Autoritäten in Erscheinung treten können. Abschließend gehe ich noch einmal gesondert auf die Relevanz pluraler epistemischer Autoritäten für unsere epistemische Praxis ein und möchte dabei die These vertreten, dass es in mehrerlei Hinsicht eine Priorität der epistemischen Autorität von Pluralitäten gegenüber derjenigen von Individuen gibt. Zunächst ist aber eine genauere Bestimmung der Begriffe „soziale Pluralität“ und „plurale epistemische Autorität“ angezeigt.

1 Soziale Pluralitäten

Den Ausdruck „soziale Pluralität“ (im Folgenden auch einfach nur „Pluralität“) verwende ich als sehr weiten Begriff, der eine Sammelbezeichnung für alle Vielheiten von Menschen sein soll.Footnote 1 Wann immer wir uns auf mehrere Menschen als irgendwie zusammengehörig beziehen – sei es aus der Innenperspektive unter Verwendung der ersten Person Plural, sei es aus der Außenperspektive unter Verwendung der zweiten oder dritten Person Plural oder eines Eigennamens –, beziehen wir uns auf eine soziale Pluralität. Beispiele für Pluralitäten reichen von wissenschaftlichen Gemeinschaften, über Forschergruppen, Schulklassen oder Geschworenenjurys bis hin zu geographischen Kollektiven („die Borkumer“) oder Pluralitäten wie der Vielheit der Anhänger einer bestimmten philosophischen Schule oder Strömung („die Neukantianer“), der Vielheit der Menschen, die eine bestimmte Krankheit haben, der Vielheit der Menschen, die an einem Dienstag geboren sind oder der Menge {Shirley Williams, W. V. O. Quine, Brigitte Bardot}.

Von einem kategorialontologischen Standpunkt aus betrachtet sind Pluralitäten in drei Kategorien anzutreffen: Eine Pluralität ist entweder ein plurales Individuum (dann spreche ich von einem „Kollektiv“), eine Klasse oder eine Menge. Ein Kollektiv ist eine konkrete, raumzeitlich verortete Vielheit von Menschen. Es ist vergleichbar einem materiellen Einzelding, besitzt im Unterschied zu diesem aber eine plurale Existenzweise, d. h. es besteht aus Teilen, zwischen denen es eine räumliche Distanz gibt (bzw. geben kann, ohne dass diese räumliche Distribution der Teile auf eine Existenzunterbrechung hinauslaufen würde). Es fängt irgendwann zu existieren an, persistiert eine Zeitlang und hört später wieder zu existieren auf. Beispiele sind Freundeskreise, Spaziergänger-Paare, Forschergruppen oder wissenschaftliche Gemeinschaften. Solche Kollektive sind in einem charakteristischen Sinne „integriert“. Das heißt, dass einschlägige Beziehungen existieren (typischerweise – aber nicht zwingend – zwischen den Mitgliedern), die konstitutiv für das Kollektiv sind. In diesem Sinne kann man sagen, dass ein Kollektiv „mehr“ ist als die Summe seiner Teile, d. h. mehr als die Menschen, aus denen es besteht. Freundeskreise, Spaziergänger-Paare, Forschergruppen oder wissenschaftliche GemeinschaftenFootnote 2 können aufhören zu existieren, ohne dass auch nur eines ihrer Mitglieder aufhören muss zu existieren (es wären dann freilich keine Mitglieder mehr), denn auch bei einem Wegfall der integrierenden Beziehungen würde das Kollektiv sich auflösen.Footnote 3 Umgekehrt ist es ebenfalls möglich, dass ein Kollektiv einen gewissen (im Extremfall vollständigen) Austausch seiner Mitglieder überdauert. Eine wissenschaftliche Gemeinschaft etwa weist hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft eine permanente Fluktuation auf, und nach einigen Jahrzehnten hat sie keines der Mitglieder mehr, das sie früher hatte. Dennoch kann es sinnvoll sein davon zu reden, dass es über alle Fluktuationen hinweg dieselbe Gemeinschaft bleibt. (Die Situation ist nicht unähnlich derjenigen, die wir im Fall biologischer Organismen vorfinden: Das biologische Material wird durch Stoffwechselprozesse im Laufe der Zeit vollständig ausgetauscht, gleichwohl persistiert der Organismus, solange seine charakteristische Integration erhalten bleibt.) Freilich sind bei unterschiedlichen Kollektiven die integrierenden Beziehungen nicht unbedingt dieselben. Typischerweise kennen sich etwa die Mitglieder einer Forschergruppe persönlich, sie teilen das Ziel, ein konkretes gemeinsames Projekt zu bewältigen, und interagieren regelmäßig, um dies zu erreichen. Die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft (d. h. einer „specialty community“) kennen sich demgegenüber zwar typischerweise ebenfalls (sei es von ihren Publikationen oder gemeinsamen Konferenzbesuchen her), und auch sie interagieren regelmäßig, aber es handelt sich um andere Interaktionsformen als bei Forschergruppen (typische Interaktionen sind etwa die wechselseitige Lektüre ihrer Publikationen, deren Kritik und Zitation).Footnote 4

Die für ein Kollektiv konstitutive Integration kann sich durch „interne“ oder durch „externe Kohärenz“ ergeben (vgl. Abbildung 11.1). Die Kohärenz ist intern, wenn die integrierenden Beziehungen zwischen den Mitgliedern bestehen. Ein Freundeskreis ist beispielsweise dadurch konstituiert, dass die einzelnen Mitglieder sich wechselseitig kennen, regelmäßig interagieren, bestimmte charakteristische wechselseitige intentionale Einstellungen haben usw. Integration kann aber auch auf externer Kohärenz beruhen. Das ist dann der Fall, wenn die Beziehungen nicht zwischen den einzelnen Mitgliedern wechselseitig bestehen, sondern jeweils zwischen jedem einzelnen Mitglied auf der einen Seite und einem weiteren Individuum auf der anderen (gemeint ist ein Individuum im erweiterten ontologischen Sinn – das kann ein Mensch sein oder auch ein sonstiges Objekt wie beispielsweise eine Insel). Beispielsweise handelt es sich bei der Gesamtheit aller Bewohner einer Insel (z. B. „die Borkumer“) um ein raumzeitlich konkretes Kollektiv, für das aber nicht Beziehungen zwischen den einzelnen Bewohnern konstitutiv sind (sei es etabliert durch Verwandtschaft oder durch Bekanntschaft oder durch sonstige intentionale Einstellungen). Vielmehr sind für dieses Kollektiv die Beziehungen konstitutiv, die zwischen den einzelnen Bewohnern und der Insel bestehen (zwischen jedem Bewohner B und der Insel I besteht die B_bewohnt_I-Relation). Auch die Teilnehmer an dem von Galton beschriebenen Gewinnspiel (s. o., Kapitel 1) bilden ein Kollektiv mit externer Kohärenz: Der Ochse, dessen Gewicht jeder geschätzt hat, ist das Element, das sie alle zu einem Kollektiv verbindet.

Abbildung 11.1
figure 1

Kollektive mit interner und externer Kohärenz

Klassen bilden die zweite Grundkategorie sozialer Pluralitäten. Im Gegensatz zu Kollektiven sind Klassen abstrakte Individuen, also nicht raumzeitlich verortet. Klassen sind Vielheiten von Menschen, die eine bestimmte Gemeinsamkeit (oder Menge von Gemeinsamkeiten) aufweisen. Beispiele sind: die Vielheit der Menschen, die eine bestimmte Krankheit haben; die Vielheit von Menschen, die eine bestimmte Art von Erlebnis hatten; oder die Vielheit der Menschen, die der Überzeugung sind, dass p (wobei p eine beliebige generelle Proposition ist). Klassen sind die extensionalen Korrelate zu Universalien/Eigenschaften, die von Menschen exemplifiziert werden können, oder von Prädikaten, die auf Menschen zutreffen können. Ähnlich wie Kollektive mit externer Kohärenz gibt es zwischen den zu einer Klasse gehörenden Menschen nicht notwendigerweise jene Formen von wechselseitigen Beziehungen, die konstitutiv für Kollektive mit interner Kohärenz sind; vielmehr sind auch Klassenmitglieder auf indirekte Weise miteinander verbunden, nämlich dadurch, dass die Mitglieder in der Exemplifizierungsrelation zu einer bestimmten Universalie stehen oder in der semantischen Relation des Fallens unter ein Prädikat (bei Kollektiven mit externer Kohärenz ist das andere Relatum demgegenüber keine Universalie und kein Prädikat, sondern ein konkretes Individuum).Footnote 5 Eine Form von Beziehung zwischen den Mitgliedern ergibt sich daraus allerdings, nämlich Ähnlichkeit. Wenn ich Mitglied der Klasse K bin, dann gibt es mindestens eine Hinsicht, in der ich eine Ähnlichkeit mit den anderen Mitgliedern von K aufweise.

Die dritte Grundkategorie sozialer Pluralitäten bilden die Mengen. Wie eine Klasse ist eine Menge ein abstraktes Individuum. Während aber für Klassen Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten zwischen den Mitgliedern konstitutiv sind, sind Mengen rein extensional individuiert. Man kann eine Menge einfach durch Auflistung von Mitgliedern bilden. Beispielsweise ist die Menge {Shirley Williams, W.V.O. Quine, Brigitte Bardot} keine Klasse, da es (vermutlich) keine Eigenschaft gibt, die diese Personen gemeinsam haben (außer solche, die sie auch mit anderen teilen, wie die Eigenschaft, menschlich zu sein). Solange es keine integrierenden Beziehungen gibt, ist es auch kein Kollektiv (das ist es, was Gilbert (1989, 149 f.) am Beispiel dieser Menge illustrieren wollte).Footnote 6

2 Die epistemische Signifikanz sozialer Pluralitäten

Soziale Pluralitäten können in verschiedenen Hinsichten epistemische Signifikanz oder Relevanz gewinnen, d. h. ganz allgemein auf die eine oder andere Weise epistemisch bedeutsam sein. Beispielsweise schreiben wir manchmal Pluralitäten epistemische Einstellungen wie Überzeugungen, Wissen oder Verstehen zu. Manchmal hat eine Pluralität auch epistemische Ziele oder soll einen epistemischen Zweck erfüllen. Ferner können Pluralitäten auch die Relata epistemischer Relationen sein, zum Beispiel können sie als testimoniale Quellen oder als epistemische Autoritäten für andere Akteure in Erscheinung treten. Diese Hinsichten müssen nicht koinzidieren (d. h. eine Pluralität kann z. B. ein epistemisches Ziel besitzen, ohne testimoniale Quelle oder epistemische Autorität sein zu müssen), aber manchmal koinzidieren sie. Wissenschaftliche Gemeinschaften dürften gute Beispiele für diesen Fall abgeben. Beispielsweise sind wissenschaftliche Gemeinschaften Träger epistemischer Einstellungen (Wissenschaftler sagen oft Dinge wie: „Wir wissen heute, dass Kernfusion die Quelle der Sonnenenergie ist“, wobei sich dieses „wir“ auf die fragliche wissenschaftliche Gemeinschaft insgesamt bezieht). Wissenschaftliche Gemeinschaften haben auch epistemische Ziele, Funktionen oder Zwecke, nämlich die Produktion von Wissen und Verstehen. Schließlich sind wissenschaftliche Gemeinschaften auch testimoniale Quellen und epistemische Autoritäten: Wenn es einen „wissenschaftlichen Konsens“ gibt, dass p, dann hat das gemeinhin für gesellschaftliche Entscheidungsprozesse ein großes Gewicht (das das Gewicht jeder einzelnen individuellen Autorität normalerweise übersteigt).

Die genannten epistemisch relevanten Hinsichten sind in unterschiedlichem Maße in den verschiedenen Pluralitätstypen realisiert. Damit wir beispielsweise einer Pluralität als solcher eine bestimmte Überzeugung oder Wissen oder Verstehen zuschreiben können, muss diese Pluralität eine gewisse interne Integration aufweisen, die nur bei Kollektiven mit interner Kohärenz anzutreffen ist. Dasselbe dürfte für die Zuschreibung epistemischer Ziele gelten. Und wenn der Status, eine testimoniale Quelle zu sein, voraussetzen sollte, dass die Quelle eigene Überzeugungen hat, dann dürften Kollektive mit interner Kohärenz auch die einzigen Pluralitäten sein, die als testimoniale Quellen in Frage kommen. Vermutlich müssen darüber hinaus weitere Bedingungen erfüllt sein – z. B. die Bedingung, dass die Quelle kommunikative Akte tätigen kann –, die ebenfalls nur bei Kollektiven mit interner Kohärenz realisierbar sind. Der Status, eine epistemische Autorität zu sein, setzt (jedenfalls der von mir vorgeschlagenen Begriffsbestimmung zufolge) demgegenüber nicht das Vorhandensein von Überzeugungen voraus, sondern lediglich das Vorhandensein wahrheitsindikativer Tatsachen, und diese Voraussetzung dürfte auch bei anderen Typen von Pluralitäten grundsätzlich erfüllbar sein. Eine solche wahrheitsindikative Tatsache könnte z. B. sein, dass die Mehrheit der Mitglieder der Pluralität glaubt, dass p. Solche Mehrheiten kann es in allen Pluralitätsformen geben, so dass entsprechend Pluralitäten aus allen Typen prinzipiell als epistemische Autoritäten in Frage kommen.

In der Sozialontologie und -epistemologie sind die Hinsichten, in denen Pluralitäten epistemisch signifikant sein können, mit unterschiedlicher Intensität untersucht worden. Eine relativ breite Diskussion gibt es bereits seit einigen Jahrzehnten zu der Frage, inwiefern Pluralitäten geeignete Zuschreibungsobjekte für epistemische Einstellungen wie Überzeugungen oder Wissen sind. Diese Diskussion fällt in die zweite der drei von Goldman identifizierten Strömungen der Sozialepistemologie („collective doxastic agents (CDAS)“, siehe oben, Kapitel 2). Unter den zahlreichen Beiträgen sind einige wichtige etwa Gilbert (1989), Thagard (1997), Tuomela (2004), Bird (2010) oder Lackey (2014); so gut wie gar nicht diskutiert worden ist allerdings, inwiefern Pluralitäten auch Verstehen zugeschrieben werden kann – vgl. aber unten, Kapitel 16, sowie Boyd (2019), Hauswald (2019b) und Malfatti (2022).

Ein wichtiges Ergebnis dieser Diskussion ist, dass eine summative Analyse inadäquat ist oder zumindest vielen relevanten Fällen nicht Rechnung tragen kann (also eine Analyse, der zufolge ein Kollektiv glaubt oder weiß, dass p, genau dann, wenn alle Mitglieder individuell glauben oder wissen, dass p). Darüber hinaus hat sich herausgestellt, dass die nicht-summativ zu analysierenden Fälle unterschiedlich strukturiert sein können. Margaret Gilbert ist etwa vor allem durch ihre Analyse von Fällen in Erscheinung getreten, in denen eine Kollektiv-Überzeugung auf einer gemeinschaftlichen Verpflichtung („joint commitment“) beruht. Ihre Grundidee ist, dass die Mitglieder eines Kollektivs sich darauf einigen können, eine bestimmte Auffassung als Meinung der Gruppe gelten zu lassen und nach außen hin zu verteidigen, was nicht unbedingt voraussetzt, dass die Mitglieder sozusagen „persönlich“ diese Meinung auch haben müssen. Ein Beispiel ist ein Parteipräsidium, das sich auf eine bestimmte Meinung geeinigt hat. Wenn ein Mitglied vor die Presse tritt und verlautbart: „Wir glauben, dass das-und-das Gesetz die Konjunktur ankurbeln wird“, dann ist es denkbar, dass das Mitglied korrekt die Überzeugung des Präsidiums zum Ausdruck bringt, selbst wenn jedes einzelne Mitglied insgeheim nicht glaubt, dass das Gesetz effektiv sein wird. Gleichwohl setzen die von Gilbert diskutierten Fälle voraus, dass die einzelnen Mitglieder eine bestimmte Form von epistemischer Einstellung zu der Proposition besitzen, die als Überzeugung dem Kollektiv zugeschrieben wird, eben nämlich eine Art Verpflichtung („commitment“).

Demgegenüber scheint kollektives Wissen in anderen Fällen keine derartige epistemische Beziehung der Mitglieder zu der fraglichen Proposition vorauszusetzen. Beispielsweise beschreibt Lackey (2014), bezugnehmend auf Edwin Hutchins, den Fall einer Schiffscrew, der das Wissen um die Proposition „Das Schiff bewegt sich mit 12 Meilen pro Stunde nordwärts“ zugeschrieben wird, obwohl es nicht nur kein einzelnes Mitglied gibt, dass dieses Wissen oder diese Überzeugung hat, sondern auch keines, das auch nur irgendeine Art von Einstellung zu dieser Proposition hat, auch keine Verpflichtung im Sinne Gilberts:

Each crew member is responsible for tracking and recording the location of a different landmark, which is then entered into a system that determines the ship’s position and course. In such a case, the ship’s behavior as it safely travels into the port is clearly well-informed and deliberate, leading to the conclusion that there is collective knowledge present […] even though no single crew member knows [that the ship is traveling north at 12 miles per hour]. (Lackey 2014, 282)

Noch einmal andere Fälle sind von Bird (2010) beschrieben worden – Fälle, in denen einem Kollektiv ein Wissen zugeschrieben wird, das nicht einmal auf irgendwelchen mentalen Einstellungen der Mitglieder superveniert (die Mitglieder von Lackeys Schiffscrew haben zwar keine epistemische Einstellung zu der fraglichen Proposition, aber sie sind doch dafür verantwortlich, die Umgebung und bestimmte Veränderungen zu beobachten, sie haben also mentale Einstellungen, auf denen das kollektive Wissen der Crew superveniert). Bird diskutiert etwa den Fall von „Dr. N.“, einem Wissenschaftler, der eine Entdeckung macht, publiziert und einige Zeit später verstirbt. Ebenso haben alle, die einmal von der Entdeckung gewusst haben (z. B. die Peer Reviewer von Ns Publikation) diese entweder vergessen oder sind auch verstorben. Gleichwohl ist Bird zufolge das Wissen um die Entdeckung immer noch ein Teil des kollektiven Wissens der wissenschaftlichen Gemeinschaft, und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass es in Form des publizierten Artikels in der Fachliteratur zugänglich ist. Diese Zugänglichkeit, nicht irgendwelche mentalen Einstellungen von Kollektivmitgliedern, liegt in diesem Fall dem kollektiven Wissen zugrunde.

Im Gegensatz zur Diskussion über „collective doxastic agents“ ist diejenige über soziale Pluralitäten als testimoniale Quellen deutlich weniger umfangreich (einschlägige Beiträge dazu sind Tollefsen 2007; 2011; Fricker 2012; Hawley 2017; Faulkner 2018; Lackey 2018b). Wie gesagt erfüllen wohl nur bestimmte Kollektive mit interner Kohärenz die Bedingungen, die erforderlich sind, damit eine Entität eine testimoniale Quelle sein kann. Denn das Kollektiv muss zum einen bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich der ihm zuschreibbaren epistemischen Einstellungen erfüllen. Beispielsweise argumentiert Tollefsen (2011), dass es hinreichende „doxastische Stabilität“ aufweisen muss, d. h. seine Überzeugungen dürfen nicht zufällige Fluktuationen aufweisen (man kann vermutlich sagen, dass eine Entität überhaupt nur als epistemischer Akteur erkennbar ist, sofern es keine derartigen Fluktuationen gibt). Ferner muss es auch in der Lage sein, seine doxastischen Einstellungen nach außen zu kommunizieren. Das kann – so argumentiert Lackey (2018a) – auf zwei Weisen passieren: in Form einer koordinierten Gruppen-Behauptung oder in Form einer Autoritäts-basierten Gruppen-Behauptung. Im ersten Fall äußern die Mitglieder durch eine koordinierte Handlung einen bestimmten propositionalen Inhalt, im zweiten Fall tätigt ein autorisierter Sprecher (spokesperson) die Äußerung.

3 Wahrheitsindikatoren und plurale epistemische Autoritäten

Noch weniger umfangreich als die Diskussion über soziale Pluralitäten als testimoniale Quellen ist die über Pluralitäten als epistemische Autoritäten: Es gibt sie nämlich praktisch noch gar nicht (außer insofern, als in den Texten über plurale testimoniale Quellen der Spezialfall epistemisch superiorer Quellen hier und da tangiert wird). Ein wesentlicher Beitrag, den ich mit dieser Untersuchung liefern möchte, besteht darin, dieses Desiderat zu beheben. Denn ich denke, dass die epistemische Autorität sozialer Pluralitäten aus mehreren Gründen ein wichtiges Thema ist, das erkenntnistheoretische Aufmerksamkeit verdient. Einer davon ist, dass wir in unserer epistemischen Praxis – und zwar mit guten Gründen – häufig soziale Pluralitäten als epistemische Autoritäten behandeln. Das gilt für gesellschaftliche Institutionen genauso wie für Einzelpersonen. Wenn politische Institutionen oder Gerichte, oder wenn wir als Laien unser Handeln im Privatbereich mit Verweis z. B. darauf begründen, dass es einen „wissenschaftlichen Konsens“ in dieser oder jener Angelegenheit gibt, dann ist die fragliche wissenschaftliche Gemeinschaft unsere epistemische Autorität, nicht irgendein individueller Experte.

Ich hatte (in Abschnitt 6.4) eine auf dem Begriff des Wahrheitsindikators basierende Bestimmung des Begriffs „epistemische Autorität“ vorgeschlagen, die auch auf verschiedene Typen sozialer Pluralitäten anwendbar ist. Demnach ist EA im Hinblick auf die Kenntnis propositionaler Wahrheiten bezüglich D für S eine epistemische Autorität genau dann, wenn in Bezug auf D und verglichen mit S die als Wahrheitsindikatoren verwendeten Tatsachen über EA in hinreichend vielen Fällen die Wahrheit der entsprechenden Propositionen korrekt und nicht in unverhältnismäßig vielen Fällen inkorrekt anzeigen. Bei individuellen Autoritäten erfüllen deren Überzeugungen typischerweise die Rolle der Wahrheitsindikatoren. Wir sollten nun zunächst genauer überlegen, welches Gegenstück die Überzeugungen auf pluraler Ebene besitzen, d. h. welche Tatsachen über soziale Pluralitäten prinzipiell als Wahrheitsindikatoren infrage kommen könnten. Eine Liste der in Frage kommenden Tatsachen (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt), könnte die folgenden Einträge enthalten:

  1. 1.

    die Tatsache, dass eine (relative oder qualifizierte) Mehrheit der Mitglieder der Pluralität P der Meinung ist, dass p

  2. 2.

    die Tatsache, dass es eine Kollektiv-Überzeugung in P gibt, dass p

  3. 3.

    die Tatsache, dass es einen Konsens in P gibt, dass p

  4. 4.

    die Tatsache, dass eine (relative oder qualifizierte) Mehrheit der für p relevanten Publikationen, die von Mitgliedern von P veröffentlicht wurden, zu dem Ergebnis kommt, dass p.

Um Missverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle noch einmal betont, dass diese Tatsachen nicht sozusagen „automatisch“ wahrheitsindikativ sind. Aus der Tatsache, dass es in irgendeiner beliebigen Pluralität P einen Konsens darüber gibt, dass p der Fall ist, kann noch nicht (auch nicht probabilistisch) darauf geschlossen werden, dass p der Fall ist. Das ist beim individuellen Fall wohlgemerkt genauso: Die Tatsache, dass irgendeine beliebige Person die Überzeugung hat, dass p, lässt noch keinen Schluss auf die Wahrheit von p zu. Man könnte vielleicht sagen, dass Überzeugungen „potentielle Wahrheitsindikatoren“ sind; sie werden zu tatsächlichen Wahrheitsindikatoren erst unter geeigneten Bedingungen – nämlich insbesondere dann, wenn es epistemische Autoritäten sind, die die Überzeugungen besitzen. In vergleichbarer Weise sind auch die aufgelisteten Tatsachen 1 bis 4 als solche zunächst lediglich potentiell wahrheitsindikativ. Tatsächlich wahrheitsindikativ sind sie nur unter geeigneten Bedingungen – insbesondere dann, wenn es Tatsachen über geeignete plurale epistemische Autoritäten sind (wenn es also in einer pluralen Autorität einen Konsens gibt usw.). Was genau eine Pluralität zu einer epistemischen Autorität macht, werde ich in Kapitel 12 untersuchen. Zunächst sind aber noch einige erläuternde Anmerkungen zu den (potentiellen) Wahrheitsindikatoren als solchen angezeigt (im Folgenden wird es also zunächst lediglich darum gehen, was überhaupt eine Mehrheitsmeinung, ein Konsens usw. ist; die Bedingungen, unter denen diese tatsächlich wahrheitsindikative Eigenschaften haben, werden in späteren Kapiteln untersucht werden).

Beim ersten Indikator – dem Vorliegen einer Mehrheit in P – kann man noch einmal danach differenzieren, welche Art von Mehrheit vorliegt. Wenn es in P eine relative Mehrheit zugunsten einer bestimmten doxastischen Einstellung DE zu p gibt, dann ist DE diejenige doxastische Einstellung, die häufiger von P-Mitgliedern geteilt wird als jede alternative. Beispielsweise gibt es eine relative Mehrheit zugunsten von p, wenn 40 % der Mitglieder p glauben, 30 % non-p glauben und weitere 30 % agnostisch eingestellt sind. Wenn es eine qualifizierte Mehrheit für DE gibt, dann ist ein bestimmter Schwellenwert überschritten. Bei einer absoluten Mehrheit etwa wird DE von mehr als der Hälfte der Mitglieder geteilt, bei einer einstimmigen Mehrheit von allen. Es kann eine Mehrheit in einer Pluralität geben, sogar eine einstimmige, von der die Mitglieder keinerlei Kenntnis haben. Dies ist gegeben im Fall der „pluralistischen Ignoranz“ (die Mitglieder stimmen überein, sind sich dessen aber nicht bewusst).Footnote 7 Umgekehrt kann es auch ein wechselseitiges Gewahrsein der geteilten Meinung im Modus eines mutual beliefs geben (d. h. alle glauben, dass p, und alle glauben, dass alle glauben, dass p, usw.).

Der zweite Wahrheitsindikator scheint am ehesten ein Äquivalent zum individuellen Fall darzustellen. So wie man sich auf die Tatsache stützen kann, dass eine individuelle epistemische Autorität der Überzeugung ist, dass p, kann man sich offenbar auch auf die Tatsache stützen, dass eine Pluralität glaubt, dass p. Wie bereits angedeutet, scheinen die Fälle, in denen wir Pluralitäten Überzeugungen zuschreiben, aber unterschiedlicher Natur sein zu können, so dass wir innerhalb des zweiten Indikators noch einmal zwischen Kollektiv-Überzeugungen im Sinne Gilberts, Lackeys oder Birds unterscheiden könnten.

Von einem „wissenschaftlichen Konsens“ (dritter Indikator) ist häufig die Rede in Situationen, in denen man sich auf wissenschaftliche Gemeinschaften als epistemische Autoritäten stützt.Footnote 8 Was mit einem „wissenschaftlichen Konsens“ dabei genau gemeint ist, ist allerdings gar nicht so leicht zu sagen. Ein Anhaltspunkt lässt sich vielleicht durch die Betrachtung von Versuchen gewinnen, bei denen das Ausmaß wissenschaftlicher Konsense (etwa bezüglich der Proposition, dass es einen anthropogenen Klimawandel gibt) szientometrisch quantifiziert werden soll. Dabei werden standardmäßig zwei Typen von Methoden eingesetzt: Meinungsumfragen unter Wissenschaftlern und Untersuchungen der Fachliteratur (vgl. Powell 2016b, 157 f.). Beim ersten Typ werden Wissenschaftler direkt nach der Proposition p befragt, beim zweiten Typ werden Aufsätze in Fachjournalen daraufhin untersucht, wie sie sich hinsichtlich p positionieren. Beide Methoden sind mit gewissen Schwierigkeiten konfrontiert. Eine Schwierigkeit der ersten ist, dass Mitglieder einer wissenschaftlichen Gemeinschaft sich womöglich nicht selbst eingehend mit p befasst haben und entsprechend zurückhaltend sind, eine Meinung zu p zu äußern oder aber eine Positionierung bezüglich p sozusagen aus epistemischer Vorsicht ablehnen. Diese Schwierigkeit lässt sich ein Stück weit durch geeignete Gewichtung abmildern: Die Meinungen jener Mitglieder der Gemeinschaft mit besonders einschlägiger Expertise können dann höher gewichtet werden als die von Mitgliedern mit geringerer Expertise. Es bietet sich etwa an, die Meinungen derjenigen Personen, die in begutachteten Journalen zur fraglichen Proposition publiziert haben, höher zu gewichten als die Meinungen von Personen, die noch nicht zu der Proposition publiziert haben (vgl. etwa Cook et al. 2016). Eine Schwierigkeit der zweiten Methode ist, dass Autoren von Fachaufsätzen sich häufig gerade zu jenen Annahmen, die grundlegenden Charakter haben oder als selbstverständlich in der Gemeinschaft erachtet werden, gar nicht explizit positionieren. Nur diejenigen Artikel als einen Konsens infrage stellend zu klassifizieren, die den Konsens explizit bestreiten (wie Powell (2016a) es macht), ist aber auch problematisch, weil sich bei genauerer Betrachtung herausstellt, dass Aufsätze, die zu p nicht explizit Stellung nehmen, weder eindeutig als den Konsens befürwortend noch als ihn ablehnend charakterisiert werden können (Skuce et al. 2016). In jedem Fall sollte aber beachtet werden, dass die Frage, wie ein Konsens festgestellt oder quantifiziert wird, nicht identisch ist mit der Frage, worin ein Konsens besteht. Auch wenn etwa eine Literaturauswertung eine geeignete Methode zur Feststellung eines Konsenses darstellen sollte, heißt das nicht, dass ein Konsens darin besteht, dass sich in der Fachliteratur ein bestimmtes Bild abzeichnet (wobei das aber durchaus ein eigenständiger Wahrheitsindikator sein kann – siehe die unten folgenden Anmerkungen zum vierten Indikator); und es kann durchaus sein, dass es letztlich epistemische Einstellungen von Personen sind, die für einen Konsens konstitutiv sind.

Was nun die Definitionsfrage selbst angeht, besteht eine prima facie attraktive Möglichkeit, darin, den Konsens-Begriff mit in P vorkommenden Kollektiv-Überzeugungen (zumindest bestimmter Typen) zu identifizieren, so dass sich der dritte Indikator letztlich als Spezialfall des zweiten (oder als deckungsgleich mit diesem) erweisen würde. Eine solche Strategie wird von einigen Autoren tatsächlich verfolgt. Gilbert (2000a) argumentiert etwa, dass ein wissenschaftlicher Konsens, dass p, genau dann vorliege, wenn es in der relevanten wissenschaftlichen Gemeinschaft ein joint commitment gibt, p als Haltung der Gemeinschaft gelten zu lassen (andere Autoren sind Gilbert in diesem Punkt gefolgt, vgl. etwa Moore/Beatty 2010 oder Miller 2013). Auch wenn es sicherlich Ähnlichkeiten zwischen einem Konsens und einer Kollektiv-Überzeugung im Sinne Gilberts gibt, gibt es im Hinblick auf eine Gleichsetzung beider aber auch Anlass zu Skepsis. Ein kritischer Punkt ist, dass Gilbert wissenschaftliche Konsense und Kuhnsche Paradigmen gleichermaßen als joint commitments analysiert (so auch in Weatherall/Gilbert 2016), obwohl zwischen beiden intuitiv ein Unterschied zu bestehen scheint. Kuhnsche Paradigmen betreffen die fundamentalen Annahmen einer wissenschaftlichen Gemeinschaft, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg der Forschung in einer Disziplin zugrundeliegen und stillschweigend vorausgesetzt und für unhintergehbar gehalten werden. Ein Konsens scheint demgegenüber etwas zu sein, was auch weniger fundamentalen Charakter besitzen kann. Es hat sich zum Beispiel in der Medizin ein Konsens darüber eingestellt, dass Rauchen krebserregend ist. Aber dabei handelt es sich nicht um eine Annahme, die Teil eines Paradigmas der Medizin im Sinne Kuhns darstellt. Vielmehr hat es eine spezielle Fachdebatte zu dieser Frage gegeben, die nunmehr in diesen Konsens gemündet ist (die Debatte ist – einstweilen – „beigelegt“ („settled“), wie manchmal gesagt wird).Footnote 9

Überhaupt scheint es in der Wissenschaft normativ bindende Überzeugungs-Festlegungs-Prozeduren, wie Gilbert sie vorschweben, nicht zu geben. Ridder (2014, 41) weist meines Erachtens zu Recht darauf hin, dass wissenschaftliche Konsensbildung normalerweise organischer bzw. in einer eher „emergenten“ Weise vonstatten geht: „When an individual scientist is convinced she has good reasons to reject the [consensus] view, she is not under any obligation to refrain from doing so, at least not solely in virtue of her being a member of a collective.“ Daraus folgt, dass Gilberts joint-commitment-Ansatz lediglich begrenzte Anwendung in der Wissenschaft hat:

The use of procedures to form a collective view which are reliably aimed at truth and normatively binding is at best rare in scientific contexts. Research teams may sometimes have them, but certainly not scientific subfields or disciplines as a whole. In general, scientists do not have decision procedures, let alone formally established ones, to generate a collective view. (Ridder 2014, 41)

Dass joint commitments auf der Ebene ganzer wissenschaftlicher Gemeinschaften praktisch keine Rolle spielen, schließt aber, wie Ridder zu Recht betont, nicht aus, dass sie an einigen Stellen in der Wissenschaft relevant sind. Hier wäre nicht zuletzt auch an sogenannte Konsenskonferenzen („consensus conferences“) zu denken, die besonders in der Medizin eine wichtige Rolle spielen, und in denen der hergestellte Konsens tatsächlich eher den Charakter eines joint beliefs im Sinne Gilberts hat (ich komme auf Konsenskonferenzen noch einmal ausführlicher zu sprechen in Abschnitt 12.2.1).

Überzeugende Einwände gegen Gilberts Theorie wissenschaftlicher Konsense hat auch Bouvier (2010) vorgelegt, der Gilberts verpflichtungsbasiertem Ansatz den Begriff eines „passiven Konsenses“ gegenüberstellt. Er illustriert diesen Begriff an dem (auch von Gilbert (2000a) diskutierten, aber anders interpretierten) Beispiel der Überzeugung, dass Bakterien in sehr sauren Umgebungen wie im menschlichen Magen nicht überleben können. Diese, heute als falsch erwiesene, Überzeugung wurde über Jahrzehnte hinweg von den Mitgliedern der gastroenterologischen Gemeinschaft allgemein geteilt. Konferenzbeiträge der späteren Nobelpreisträger J. Robin Warren und Barry Marshall, in denen diese das Gegenteil behaupteten, wurden noch zu Beginn der 80er Jahre von Peer Reviewern als nicht diskussionswürdig abgelehnt. Anders als Gilbert sollte man dieses Verhalten aber wohl nicht durch eine vermeintliche normative Bindung der Reviewer an ein joint commitment hinsichtlich der Überzeugung erklären. Vielmehr ist es Bouvier zufolge so gewesen, dass die Mitglieder der Gemeinschaft diese Überzeugung bereits in ihrer Ausbildung erworben hatten und als wohletabliert hinnahmen:

Most of them had just learned this from their professors or textbooks without being able to personally verify it, so it was a passive belief, something they believed in without more examination, merely trusting their professors. […] [T]here is no reason to think that those who rejected Marshall’s first paper about the role of Helicobacter pylori in the development of gastric ulcer did it because they felt jointly committed with the rest of the medical community to some other hypothesis. A more plausible account is that most scientists shared common views on this issue, without having thoroughly examined these views. Thus, most scientists passively “believed” what they had learned at university, which is an example of what I call a consensus or, to avoid any ambiguity, a passive consensus. (Bouvier 2010, 188; Hervorh. i. O.)

Ich möchte mich hier nicht an einer präzisen Definition des Ausdrucks „wissenschaftlicher Konsens“ unter Angabe notwendiger und hinreichender Bedingungen versuchen. Ausgehend von paradigmatischen Beispielen – wie dem (bis in die 1980er Jahre bestehenden) Konsens in der gastroenterologischen Gemeinschaft, dass Bakterien im sauren Milieu des Magens nicht überleben, dem klimawissenschaftlichen Konsens bezüglich der Existenz des Klimawandels oder dem Konsens unter den Onkologen, dass Rauchen krebserregend ist – fallen aber zumindest einige charakteristische Merkmale ins Auge. Von einem wissenschaftlichen Konsens, dass p, ist typischerweise dann die Rede, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: (1) Die Mitglieder der relevanten Gemeinschaft sind mit großer Mehrheit (aber nicht unbedingt einstimmig) der Meinung, dass p. (2) p ist eine relevante, in die fragliche Domäne fallende Proposition, zu der es normalerweise eine umfassende Fachdebatte in der fraglichen Gemeinschaft gegeben hat (die Proposition, dass sich die Erde um die Sonne dreht, würde man demgegenüber eher nicht als Gegenstand eines „Konsenses unter den Mathematikern“ oder gar eines „mathematischen Konsenses“ bezeichnen, auch wenn die Mathematiker weit überwiegend der Meinung sind, dass diese Proposition wahr ist). Diese Debatte (die wie im Helicobacter-Beispiel auch mehrere Jahrzehnte zurückliegen kann) ist nun weitgehend beendet; die Frage, ob p der Fall ist, wird in der fraglichen Gemeinschaft weit überwiegend als beigelegt („settled“) wahrgenommen (vgl. auch Skuce et al. 2016). (3) Es besteht gemeinsames Wissen (common knowledge) in der fraglichen Gemeinschaft hinsichtlich der Tatsachen (1) und (2). An der dritten Bedingung liegt es, dass sich bei einem Konsens für die Fachdebatte eine charakteristische dialektische Situation ergibt. Beispielsweise müssen Wissenschaftler in Fachpublikationen nicht unbedingt explizit betonen, dass sie der Meinung sind, dass p, sondern können unter Umständen stillschweigend voraussetzen, dass alle diese Überzeugung als „etablierte“ Wahrheit teilen. Wenn es einen Konsens gibt, dann hat das Auswirkungen auf die Verteilung der Beweislasten. Wenn man p vertreten möchte, muss man das nicht explizit tun; von jenen, die p bestreiten wollen, wird dagegen erwartet, dass sie dies kenntlich machen und hinreichend gut begründen.

Ich möchte noch kurz auf den vierten Wahrheitsindikator eingehen – die Tatsache, dass eine (relative oder qualifizierte) Mehrheit der für p relevanten Publikationen, die von Mitgliedern von P veröffentlicht wurden, zu dem Ergebnis kommt, dass p. Jedes Subjekt, das Metastudien studiert, um auf dieser Grundlage seine Meinung zu bilden, verwendet diesen Indikator. Ein Vorteil gegenüber dem ersten Indikator (dem Mehrheitsmeinungs-Indikator) besteht prima facie darin, dass dieser auch die Meinungen jener Mitglieder der Pluralität berücksichtigt, die sich kaum oder gar nicht mit der fraglichen Proposition beschäftigt haben. Wer eine Publikation verfasst, beschäftigt sich demgegenüber normalerweise eingehend mit den darin behandelten Fragen, so dass der vierte Indikator indirekt eine Teilmenge jener Mitglieder herausgreift, die besonders kompetent im Hinblick auf die fragliche Proposition sind.

Der vierte Indikator ist auch auf Birds Beispiel anwendbar. Angenommen, ein Subjekt interessiert sich für p, recherchiert gründlich in der einschlägigen Fachliteratur und findet die Publikation von Dr. N. Weiter sei angenommen, diese Publikation komme zu dem Ergebnis, dass p, und sie sei überhaupt die einzige, in der die Frage, ob p, untersucht wird. Wenn nun das Subjekt aufgrund seiner Lektüre die Überzeugung, dass p, annimmt, dann kann man diesen Fall unter Umständen so beschreiben, dass es sich auf die Tatsache stützt, dass die einschlägige von Mitgliedern der relevanten wissenschaftlichen Gemeinschaft verfasste Literatur (die in diesem Fall identisch ist mit Dr. Ns Publikation), auf die Wahrheit von p hindeutet.Footnote 10

Nicht jeder der genannten Wahrheitsindikatoren ist auf jede soziale Pluralität anwendbar. Die Indikatoren 2, 3 und 4 sind in ihrer Anwendbarkeit verhältnismäßig eingeschränkt. Der zweite Indikator ist nur auf Pluralitäten anwendbar, die über Kollektiv-Überzeugungen verfügen, der dritte ist nur auf Pluralitäten anwendbar, in denen sich ein Konsens herausbilden kann, der vierte ist nur auf Pluralitäten anwendbar, in denen Publikationen verfasst werden. Der erste Indikator ist allerdings breiter anwendbar: nämlich nicht nur auf Kollektive mit interner Kohärenz, sondern durchaus auch auf Kollektive mit externer Kohärenz sowie auf Klassen und auf Mengen. Wenn z. B. W. V. O. Quine und Brigitte Bardot der Meinung sind, dass p, während Shirley Williams der Meinung ist, dass non-p, dann gibt es eine Zweidrittelmehrheit in der Menge {Shirley Williams, W. V. O. Quine, Brigitte Bardot} zugunsten von p. Freilich dürfte man mit einer solchen Zweidrittelmehrheit nicht allzu viel anfangen können, denn es handelt sich ja um eine willkürlich zusammengestellte Menge von drei Menschen. Klarer dürfte die potentielle epistemische Signifikanz dagegen bei Mehrheiten in Kollektiven mit externer Kohärenz und Klassen sein. Angenommen, wir recherchieren zur Geschichte einer Insel und stoßen dabei auf eine merkwürdig erscheinende Behauptung eines Inselbewohners über einen bestimmten die Insel betreffenden Sachverhalt oder ein bestimmtes Ereignis, das auf der Insel angeblich stattgefunden hat (z. B. dass die Temperaturen in einem Winter besonders niedrig waren oder dergleichen). Weil es sich um ein unwahrscheinlich erscheinendes Ereignis handelt, sind wir zunächst skeptisch. Vielleicht hat sich der Bewohner falsch erinnert oder bringt irgendetwas durcheinander? Wenn sich aber herausstellt, dass eine große Mehrheit der Inselbewohner ähnliche Angaben macht, dann beginnen wir vielleicht, ebenfalls an die Existenz des Ereignisses zu glauben. In diesem Fall wenden wir den ersten Wahrheitsindikator auf ein Kollektiv mit externer Kohärenz an. Wir glauben, dass p, weil eine Mehrheit in dem Kollektiv p glaubt.

Hier ist noch ein ähnliches Beispiel, das eine Klasse betrifft. Angenommen, wir fragen uns, ob das Leiden an einer bestimmten Krankheit mit bestimmten Erfahrungen, einer bestimmten Erlebnisqualität einhergeht (z. B. charakteristischen Schmerzen). Auch hier kann es wieder sein, dass uns die Angaben einer einzelnen Person, die die Krankheit schon gehabt hat, unzureichend erscheinen (beispielsweise weil wir wiederum das Gedächtnis der Person anzweifeln oder die Vermutung hegen, dass die Schmerzen bloß zufällig in zeitlichem Zusammenhang mit der Krankheit aufgetreten sind). Wenn aber eine hinreichend große Mehrheit von Mitgliedern jener Klasse von Personen, die die Krankheit schon hatten, die Angaben bestätigt, dann mag das für uns ein stärkeres bzw. hinreichend starkes Indiz dafür sein, dass es den Zusammenhang tatsächlich gibt.

Auch wenn die Anwendung eines Wahrheitsindikators auf eine gegebene Pluralität prinzipiell möglich ist – z. B. weil es in der Pluralität so etwas wie Kollektiv-Überzeugungen oder Mehrheiten gibt –, so führt die Anwendung des entsprechenden Wahrheitsindikators wie gesagt noch nicht automatisch zu einem epistemisch wertvollen Ergebnis. Die Pluralität muss bestimmte Bedingungen erfüllen, damit man beispielsweise von der Tatsache, dass es eine Kollektiv-Überzeugung gibt, dass p, mit einiger Sicherheit auf die Wahrheit von p schließen kann. So wie man im individuellen Fall zunächst möglichst sicherstellen sollte, dass die Person, deren Überzeugung man als Wahrheitsindikator verwendet, tatsächlich eine echte (und nicht bloß vermeintliche) epistemische Autorität ist, so sollte man auch im pluralen Fall eine ähnliche Form von Prüfung vornehmen. Manche Pluralitäten sind eher als epistemische Autoritäten geeignet als andere. Beispielsweise dürfte die Flat Earth Society wohl geringere epistemische Autorität im Hinblick auf die Form der Erde besitzen als die einschlägige wissenschaftliche (d. h. hier die geographische oder die astronomische) Community. Entsprechend eignet sich eine eventuelle Kollektiv-Überzeugung oder ein Konsens in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft in vielen Fällen eher als Indikator für die Wahrheit einer Proposition als eine gleichlautende Kollektiv-Überzeugung in einer nicht-wissenschaftlichen Gemeinschaft. Es gibt auch im pluralen Fall eine Entsprechung zum „novice/2-expert“-Problem, das das Subjekt vor ähnliche Herausforderungen stellt. Es handelt sich dabei nicht zwangsläufig um Fälle von „Meinungsverschiedenheiten zwischen Pluralitäten“ (zu diesem Spezialfall vgl. z. B. Carter 2014), sondern um Fälle, in denen eine als Wahrheitsindikator verwendete Tatsache über Pluralität P1 die Wahrheit von p anzeigt, während eine als Wahrheitsindikator verwendete Tatsache über Pluralität P2 die Falschheit von p anzeigt. Bei diesen Tatsachen kann es sich um kollektive Meinungen oder Überzeugungen handeln, muss es aber nicht, d. h. es kann sich auch um das Bestehen einer Mehrheitsmeinung, eines Konsenses oder einer entsprechenden Publikationslage handeln.

Diese Überlegungen führen uns zu vier Fragen, die eine Art Leitfaden für die folgenden Kapitel darstellen werden. Wir müssen erstens untersuchen, unter welchen Bedingungen eine soziale Pluralität überhaupt den Charakter einer epistemischen Autorität besitzt. Woran liegt es, dass der Konsens in der wissenschaftlichen Gemeinschaft wahrheitsindikativen Charakter besitzt, der in der Flat Earth Society dagegen nicht? Darum soll es im folgenden Kapitel 12 gehen. Zweitens stellt sich die Frage, ob und wie ein Subjekt feststellen kann, ob eine bestimmte Pluralität als epistemische Autorität für eine bestimmte Domäne in Frage kommt. Denn ähnlich wie im individuellen Fall kann das Subjekt ja nur dann einen Gewinn für seine eigene epistemische Praxis ziehen, wenn es echte plurale epistemische Autorität mit einer gewissen Zuverlässigkeit von bloß vermeintlichen unterscheiden kann (Kapitel 13). Drittens müssen wir klären, ob und wie ein Subjekt das Vorliegen einer mutmaßlich wahrheitsindikativen Tatsache in einer Pluralität feststellen kann. Welche Methoden kann es anwenden, um festzustellen, ob es z. B. in einer wissenschaftlichen Gemeinschaft einen Konsens gibt, dass p? (Kapitel 14) Diese Fragen entsprechen dem Identifikationsproblem auf pluraler Ebene. Schließlich sollten wir uns, viertens, auch noch der Deferenzproblematik zuwenden und überlegen, inwieweit sich das rationale Deferenzverhalten gegenüber pluralen epistemischen Autoritäten von dem gegenüber individuellen unterscheiden könnte (Kapitel 15).