Für Millionen junger Eltern stellt sich jedes Jahr die Frage, ob und wenn ja in welcher Form sie ihre Kinder gegen die klassischen Kinderkrankheiten impfen lassen sollten. Sofern sie nicht selbst über entsprechende medizinische Kenntnisse verfügen sollten, ist es in dieser Situation – wie in vielen anderen – sicher vernünftig, eine geeignete epistemische Autorität zu konsultieren, also jemanden, der sich im Hinblick auf einen bestimmten thematischen Bereich sehr viel besser auskennt als man selbst. In diesem Fall dürfte es für die Eltern naheliegend erscheinen, zunächst den Rat ihres Kinderarztes einzuholen. Dessen Empfehlung wird womöglich darin bestehen, dem Kind diese oder jene Impfung zu diesem oder jenem Zeitpunkt zu geben, vielleicht aber auch darin, das Kind gar nicht zu impfen. Angesichts der Wichtigkeit dieser Entscheidung und ihrer (zumindest mancherorts) kontroversen Natur dürfte dieser Rat, wie auch immer er inhaltlich genau ausfallen mag, vielen Eltern jedoch nicht genügen. Immerhin besteht die Gefahr, dass der Arzt inkompetent ist, sich auf veraltete oder anderweitig fehlgeleitete medizinische Theorien stützt oder aus irgendwelchen Gründen wider besseres Wissen eine suboptimale Empfehlung gibt.

Was sich vor diesem Hintergrund anbietet, ist das Einholen einer „zweiten Meinung“. Das Risiko, dass auch diese inadäquat ist, besteht freilich nach wie vor. Zudem besteht eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass der Rat des zweiten Arztes zumindest partiell von dem des ersten abweicht; im Extremfall läuft er auf das genaue Gegenteil dessen hinaus, was der erste geraten hatte. In diesem Fall haben die Eltern ein „novice/2-expert“-Problem. Dieses Problem besitzt eine besondere Brisanz deswegen, weil man tendenziell in einer umso schlechteren Position zu sein scheint, es vernünftig zu lösen, je weniger man sich selbst in dem fraglichen Thema auskennt, je nötiger man unter Umständen also den Rat einer Autorität hat. Alvin Goldman hat sich in seinem einflussreichen Aufsatz „Experts: Which Ones Should You Trust“ (Goldman 2001) mit diesem Problemtyp auseinandergesetzt und eine Reihe von Methoden zu formulieren versucht, die Laien gleichwohl anwenden können, um die richtigen, wahren Experten von den falschen, lediglich vermeintlichen unterscheiden zu können. Beispielsweise könne sich der Laie an den formalen Qualifikationen der (mutmaßlichen) Experten orientieren oder an Indizien, die auf eventuell problematische Interessenkonflikte hindeuten. Nun haben diese Methoden (die ich in Abschnitt 7.1 genauer diskutieren werde) zweifellos einen gewissen Nutzen, doch man sollte diesen auch nicht überschätzen. Denn zum einen ist es gut möglich, dass die Methoden kein eindeutiges Ergebnis liefern (beispielsweise deswegen, weil beide Ärzte gleich abschneiden oder weil die Anwendung von einigen der Methoden zugunsten des einen Arztes spricht, während die Anwendung anderer ein konträres Resultat ergibt, und unklar ist, wie die Methoden in einem solchen Fall gewichtet werden sollten). Doch selbst wenn die Methoden ein eindeutiges Ergebnis liefern, ist dies alles andere als eine Garantie dafür, dass damit wirklich ein vertrauenswürdiger Arzt (oder auch nur der vertrauenswürdigere unter den beiden) identifiziert wurde.

Im Bewusstsein der beschriebenen Probleme und Gefahren recherchieren viele Eltern oder ganz allgemein medizinische Laien heutzutage zumindest auch im Internet und ziehen etwa medizinische Leitlinien, Lehrbücher oder gar Metastudien zu RateFootnote 1 – eine Praxis, die man zumindest manchmal beschreiben kann als den Versuch, sich auf den in der medizinischen Gemeinschaft insgesamt erreichten Forschungsstand zu stützen statt lediglich auf einen individuellen Arzt. Sie möchten sich lieber auf so etwas wie eine „herrschende Meinung“ oder einen „wissenschaftlichen Konsens“ stützen statt auf den Rat von Einzelpersonen, bei denen man beispielsweise das Risiko eingeht, dass sie von der herrschenden Meinung oder dem Konsens abweichende Überzeugungen vertreten (was nicht heißen soll, dass es nicht Situationen geben kann, in denen gleichwohl genau dies die angemessene epistemische Vorgehensweise ist). Die vorliegende Arbeit kann als Versuch einer sozialepistemologischen Rekonstruktion, Reflexion und Bewertung dieser sich zunehmend verbreitenden Praxis verstanden werden. Ich möchte zeigen, dass die epistemische Autorität geeigneter Gemeinschaften insgesamt tatsächlich häufig größer ist als die ihrer Mitglieder (sogar größer als die jedes einzelnen Mitglieds individuell), so dass die besagte Praxis zumindest der Grundidee nach eine durchaus rationale zu sein verspricht. Zugleich ergeben sich aber auch eine Reihe von schwierigen Fragen: Kann ein durchschnittliches Subjekt tatsächlich auf die epistemische Autorität einer ganzen Gemeinschaft zugreifen und sie sich zunutze machen? Und was genau hieße das überhaupt? Einen individuellen Arzt kann man einfach um Rat fragen; aber wie geht man vor, wenn man sich epistemisch auf eine Gruppe oder ein Kollektiv, auf eine – wie ich sagen werde – „plurale epistemische Autorität“ – stützen möchte? Zudem scheinen sich zumindest einige der Probleme, mit denen Subjekte sich bei ihrer Auseinandersetzung mit individuellen epistemischen Autoritäten konfrontiert sehen, auf kollektiver Ebene zu wiederholen. Immerhin kann es sich widersprechende plurale epistemische Autoritäten genauso geben, wie es sich widersprechende individuelle epistemische Autoritäten gibt. Die herrschende Meinung unter den Vakzinologen (also den auf das Impfen spezialisierten Medizinern) dürfte etwa in vielen Punkten radikal von der in der impfkritischen Community vorherrschenden Meinung abweichen. Das „novice/2-expert“-Problem hat also eine Entsprechung auf kollektiver Ebene, und somit stellt sich auch die Frage, ob und wie ein Subjekt feststellen kann, welcher pluralen epistemischen Autorität es denn im Zweifelsfall vertrauen sollte.

So etwas wie die epistemische Autorität von Gruppen, Gemeinschaften oder Kollektiven ist ein von verschiedenen Debatten her im Prinzip durchaus vertrauter Topos. Zu seiner Popularisierung hat James Surowiecki mit seinem viel rezipierten Buch The wisdom of crowds (Surowiecki 2004) wohl wie kaum ein anderer beigetragen.Footnote 2 Surowieckis vielleicht bekanntestes Beispiel ist ein eindrucksvolles: Es handelt von Francis Galton, der 1906 die Ergebnisse eines Gewinnspiels bei einer Landwirtschaftsmesse auswertete, bei dem Besucher das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten. Galton stellte fest, dass der Mittelwert der knapp 800 Schätzungen fast genau dem tatsächlichen Gewicht entsprach (1197 im Gegensatz zu 1198 Pfund). Keine der individuellen Schätzungen, die insgesamt eine breite Streuung aufwiesen, war vergleichbar exakt, auch nicht die von Metzgern, Bauern oder anderen Teilnehmern mit einschlägiger Expertise.

Die Idee, dass durch Aggregation ein spezifisch epistemischer Mehrwert erzeugt wird, spielt auch in der Politiktheorie eine wichtige Rolle, hier insbesondere unter der Bezeichnung „epistemic democracy“ (vgl. z. B. Goodin/Spiekermann 2018). Vertreter dieses Ansatzes halten die Demokratie für überlegen gegenüber alternativen Regierungsformen einschließlich aller Formen von Epistokratie, Expertokratie oder Technokratie, weil und insofern sie in epistemischer Hinsicht bessere Resultate als diese erziele. Damit verbunden ist die Idee, dass aufgrund bestimmter Mechanismen, deren einfachstes und bekanntestes Condorcets Jury-Theorem ist,Footnote 3 die Identifikation der besten politischen Maßnahmen zuverlässiger dadurch möglich ist, dass die Stimmen aller Bürger berücksichtigt und aggregiert werden, als dadurch, dass einzelne Experten oder Philosophenkönige auf Grundlage ihrer vermeintlich überlegenen Kenntnisse und Einsichten die Entscheidungen treffen.

Auch in der Justiz sind verwandte Ideen einflussreich gewesen. Die Tatsache, dass man etwa im angelsächsischen Rechtssystem die Urteilsfindung lieber einer Jury von Laien als einem individuellen Richter überantwortet, hat zumindest auch epistemische Gründe. Man vertraut darauf, dass das Mehrheitsurteil der Laien tendenziell eher mit der Wahrheit übereinstimmt als das Urteil einer einzelnen Person, so gut ausgebildet, scharfsinnig und kompetent diese auch sein mag.

Die Aggregation von Laien-Überzeugungen ist aber sicher nicht in jedem Fall die optimale Methode zur Wahrheitsfindung. Bestimmte Fragen sind so anspruchsvoll, so voraussetzungsreich, dass Personen ohne ein gewisses Maß an einschlägiger Expertise noch nicht einmal ihren Inhalt erfassen können. Um beispielsweise ein schwieriges Problem der gegenwärtigen Mathematik, Physik oder Medizin zu lösen, dürfte es in der Regel keine sonderlich vielversprechende Strategie sein, mathematische, physikalische oder medizinische Laien abstimmen zu lassen und ihre unweigerlich mehr oder weniger willkürlichen Urteile zu aggregieren.Footnote 4 Das heißt aber nicht, dass die Aggregationsmethode nicht auch hier ihre Berechtigung hätte. Die epistemische Autorität eines Kollektivs von Laien mag hier geringer sein als die eines einzelnen Experten, doch kann ein Kollektiv von Experten sehr wohl eine noch größere epistemische Autorität besitzen. Wann immer ein „Expertenkonsens“ oder eine „herrschende Meinung in der Wissenschaft“ als Entscheidungsgrundlage herangezogen wird – was heutzutage in der Politik, vor Gericht und in vielen anderen Bereichen häufig der Fall ist –, kommt eine Kombination zweier Ideen zum Tragen: die Idee, dass die Experten aufgrund der ihnen zukommenden epistemischen Autorität, die größer als die von Laien ist, gehört werden sollten; und die Idee, dass durch geeignete Aggregation von Urteilen ein höheres Maß an epistemischer Autorität erreichbar ist, als wenn nur eine individuelle Meinung berücksichtigt wird. Ob in Fragen des Klimawandels oder im Hinblick auf die Wirksamkeit und Sicherheit medizinischer Therapien: Ein „Expertenkonsens“ oder eine „herrschende Meinung unter den Experten“ wird häufig als verlässlicher und schwerer wiegend eingeschätzt als die individuelle Meinung auch des renommiertesten Einzelexperten – und zwar häufig zu Recht.

Natürlich gibt es auch in Fällen großer Einigkeit unter Experten keine Wahrheitsgarantien. Die Wissenschaftsgeschichte liefert zahlreiche Beispiele für wissenschaftliche Konsense, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben. Bertrand Russell wird oft mit der zweifellos richtigen Bemerkung zitiert: „Even when the experts all agree, they may well be mistaken.“ (Russell 2004, 2) Weniger oft wird allerdings beachtet, dass Russell sich an dieser Stelle beeilt hinzuzufügen: „Nevertheless the opinion of experts, when it is unanimous, must be accepted by non-experts as more likely to be right than the opposite opinion.“ Zwar denke ich, dass hier durchaus weitere Qualifikationen nötig sind, und eine Aufgabe dieser Untersuchung besteht nicht zuletzt darin, diese genauer zu spezifizieren. Beispielsweise kann es berechtigten Anlass zum Zweifel geben, ob ein behaupteter Expertenkonsens auch tatsächlich existiert, oder ob er, falls er existiert, auf die richtige Art und Weise zustande gekommen ist. Gleichwohl scheint mir die Einsicht richtig und wichtig zu sein, dass aus der Tatsache der Fallibilität auch des stärksten Expertenkonsenses nicht folgt, dass Expertenkonsense, sofern sie unter geeigneten Bedingungen zustande gekommen sind, nicht erhebliche epistemische Autorität besitzen würden.

Mein Zugang zu diesem Problemkomplex in diesem Buch ist ein sozialepistemologischer. Genauer gesagt möchte ich ihn im Kontext jener Debatten untersuchen, die zu Experten bzw. Expertise und insbesondere zu epistemischer Autorität und epistemischen Autoritäten in den letzten Jahren in der sozialen Erkenntnistheorie geführt wurden. Dieser Vorgehensweise liegt auf der einen Seite die Diagnose zugrunde, dass es in diesen Debatten ein eklatantes Desiderat gibt. Eine Berücksichtigung pluraler epistemischer Autoritäten findet sich nämlich – ihrer zentralen Relevanz für unsere epistemische Praxis zum Trotz – hier praktisch überhaupt nicht. Auf der anderen Seite verspreche ich mir für unser Verständnis der mit der „Weisheit der Vielen“ verbundenen Phänomene allgemein einen Gewinn, wenn man sie konsequent aus der Perspektive der Debatten zu Expertise und epistemischer Autorität in den Blick nimmt.

Man kann diese Perspektive gut illustrieren, wenn man Bernhard von Chartres’ Gleichnis von den Zwergen, die auf den Schultern von Riesen sitzen, variiert. Die Zwerge – die einzelnen Experten – haben es geschafft, dem Riesen – der wissenschaftlichen Tradition – auf die Schultern zu klettern, und können nun von dieser Position aus etwas weiter sehen als dieser. Das ist nicht nur für sie selbst vorteilhaft, sondern auch für die am Boden gebliebenen Zwerge – die Laien –, die sich so Informationen zu Dingen erfragen können, die sie von unten aus nicht selbst sehen können. Es ist deren Blickwinkel, der für unsere Überlegungen primäre Relevanz besitzt. Wie genau sollten sie vorgehen, wenn sie trotz ihrer eingeschränkten Sicht mehr über die Welt erfahren wollen? Wie sollten sie sich gegenüber jenen Zwergen hoch über ihnen verhalten? Und die zentrale Hypothese, der wir nachgehen wollen, lautet, dass sie wohl am besten beraten sind, wenn sie zu einer für sie interessanten Frage nicht nur einen einzelnen Zwerg fragen, der auf den Schultern des Riesen sitzt, sondern wenn sie irgendwie das Meinungsbild aller oder vieler der auf den Schultern sitzenden Zwerge einholen könnten. Dann würden sie nämlich beispielsweise das Risiko minimieren, zufällig an einen kurzsichtigen, unaufmerksamen oder böswillig täuschenden Zwerg zu geraten.