Vor der Transformation des großen Ganzen stehen kleinere oder auch größere Transitionen, die verschiedene Zustände oder Bedingungen der Ernährungssysteme schrittweise in etwas anderes überführen. Das beinhaltet u. a. politische, soziokulturelle, ökonomische, ökologische und technologische Veränderungen, die sich wiederum bspw. in veränderten Werten, Normen, Regeln, Institutionen und Praktiken zeigen (HLPE, 2019). Was in einer Nische klein beginnt, kann während einer Transitionsphase derart wachsen, dass die vormals dominierenden Modelle und Denkstrukturen zunehmend inkompatibel mit den neuen Erwartungen und Haltungen werden. Zug- und Schubkräfte von außerhalb oder innerhalb des Systems, wie bspw. der Klimawandel, Bodenerosion oder Jugend- und andere zivile Bewegungen wie bspw. ‚Fridays for Future‘ befördern Transitionen auch in Ernährungssystemen.

Für die allumfassende Transformation des globalen Ernährungssystems bedarf es jedoch zahlreicher Transitionen u. a. von Produktions- und Konsumpraktiken entlang der Wertschöpfungskette von Lebensmitteln, sowie wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen, die tiefgreifend verändern was und wie produziert, weiterverarbeitet, transportiert und konsumiert wird (HLPE, 2019). Das beinhaltet dann auch eine Neuverhandlung der darin inkludierten Werte und dazugehörigen Haltungen, was auch die Wandlung zu fairen Ernährungsumgebungen befördert.

In den Diskursen um die Transformation des Ernährungssystems kann es mitunter förderlich sein, auch Mikrotransitionen wertzuschätzen und diese „Keimlinge“ als Katalysatoren für die Transformation anzuerkennen. Der Blick auf, sowie die Kommunikation über ‚Best Practices‘ und positive Haltungen auf dem Weg zu nachhaltigen Ernährungssystemen unterstützt Akteur*innen aller Wertschöpfungsstufen, bei (a) der Verbesserung ihrer Ressourceneffizienz, (b) der Stärkung ihrer Resilienz und (c) befördert soziale Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit. Diese drei Aspekte werden als zentrale Elemente der Transition angesehen (HLPE, 2019), sodass durch positive Beispiele Zugkräfte entstehen, die gesellschaftliche Werte und daraus abgeleitete Normen neu konstruieren können. Spielräume des Machbaren eröffnen „Transitionstüren“ zur Mitnahme von Akteur*innen unterschiedlicher Stufen der Wertschöpfungskette und unterschiedlicher sozialer Lagen, ohne dass die Zukunft bereits unter normativ formulierten Zielsetzungen eingegrenzt wird.

Es scheint also für alle Diskursbeteiligten empfehlenswert, zwischen sog. positiven Aussagen durch objektive, wertfreie Beobachtungen, und normativen Aussagen, die eine Bewertung inkludieren, zu differenzieren. Normative Aussagen werden von Einstellungen und Werten beeinflusst, die nicht vollständig quantifiziert werden können. Als Mindestanforderung gilt es, Werte durch die Diskurse beeinflusst sind, zu bestimmen und zu kommunizieren (vgl. Müller, 2017). Die persönliche oder gemeinsame Reflektion über Wert- und Moralvorstellungen, Ziele und Methoden kann relevante Fragen aufwerfen: Wessen Interessen vertreten wir? Und in welchem Sinne sind diese Interessen rein? Wie können wir Isolationen von unterschiedlichen Kontexten, bspw. dem soziokulturellen, ökonomischen oder religiös-spirituellen Kontext, verhindern?

Askegaard et al. (2014) regen einen wissenschaftlichen Diskurs an, der Lebensmittel und entsprechende Produktionsprozesse, Weiterverarbeitungsschritte und Alltagspraktiken nicht mit bestimmten Idealen gleichsetzt und diese per se idealisiert und moralisiert. Ein nützliches Konzept für dieses Vorgehen ist das ‚Food Well-Being‘, also das „ernährungsbezogene Wohlergehen“ (Höhl, 2023). Mit seinem ganzheitlichen und inklusiven Blick auf positive Motivationsfaktoren und Ansatzpunkte zur Handlungs- und Haltungsänderung auf verschiedenen Akteursstufen findet es bisher im Transformationsdiskurs zu selten Anwendung.

Ein zentraler Begriff der Transformation ist an das Konzept ‚Food Well-Being‘ direkt anschlussfähig: Die Suffizienz. Dieses der ökonomischen Philosophie entlehnte Paradigma zur nachhaltigen Entwicklung von Gesellschaften und Systemen zielt direkt auf die Förderung und Stärkung des menschlichen Wohlergehens (Mongsawad, 2010). Wohlergehen ist damit ein Schlüsselelement von Transformation. Suffizienz betont angemessenes Verhalten von Gesellschaften als „gesunden Mittelweg“ und nimmt Individuen, soziale Gruppen (z. B. Familien), die Gesellschaft sowie Staaten in die Verantwortung für die Transformation. In Abb. 5.1 sind die drei zentralen und verflochtenen Elemente von Suffizienz Mäßigung, Angemessenheit und Resilienz dargestellt.

Abb. 5.1
figure 1

(Eig. Darstellung nach Mongsawad, 2010)

Die drei Elemente von Suffizienz.

Somit sind alle Akteur*innen aufgerufen, ihre Entscheidungen und Praktiken selbstreflektiert und kompetent zu regulieren und damit extremes Übermaß im Verhalten oder Prozessen zu unterlassen. Die Stärkung des Mitgefühls sowie der Empathie fördert angemessenes Verhalten und orientiert sich am Gemeinwohl sowie dem Vorsorgeprinzip, also den Interessen aller. Um auch gegenüber unvorhersagbaren Störfaktoren von außen resistent und anpassungsfähig zu sein, bedarf es einer grundlegenden Zuversicht (Mongsawad, 2010). Das heißt im Umkehrschluss, dass die dafür notwendigen Werte entlang der gesamten Lebensmittelwertschöpfungskette auf dem Prüfstand stehen. Denn die Ziele der globalen Agenda 2030 (Vereinte Nationen [UN], 2015) wird es nicht ohne eine konsequent geführte, ehrliche und in die Lebenswelt transferierte Debatte um Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Solidarität, Fürsorge, Empathie, Verantwortung und damit eine Abwendung von egozentrischen Motiven geben. Das betrifft die Ausrichtung staatlicher Wohlfahrtsprogramme mit einer Ausrichtung auf den Abbau sozialer Ungleichheiten (vgl. Ribanszki et al., 2022) und alle am Ernährungssystem beteiligten Akteur*innen sowie ihr Handeln.

Eine wertgeleitete Debatte im Ernährungskontext bedingt Kompromissbereitschaft von allen Handelnden und schließt Imperative von vornherein aus. Es geht nicht um Interessenvertretung, sondern um die Aushandlung eines Konsenses, der sich an konsensfähigen Leitwerten orientiert – und im Grundgesetz verankerte Grundwerte nicht außer Acht lässt – ohne Abwertungen, Ausgrenzungen oder Stigmatisierungen anderer Akteur*innen.