Mit der fortschreitenden Verankerung (autonomer) digitaler Systeme im alltäglichen Leben nehmen diese zunehmend Einfluss auf Entscheidungen, Gesetzgebung, Verhalten und Werte einer sich in ständigem Wandel befindlichen Gesellschaft. So haben sich mit der Digitalisierung des Konsums auch die Konsumgewohnheiten und -möglichkeiten verändert (s. Kap. 1). Dies hat nicht nur Auswirkungen auf Marktbeziehungen und Machtverteilung (s. Kap. 3) oder auf Aspekte wie Privatsphäre und IT-Sicherheit der Verbraucher:innen (s. Kap. 4), sondern verändert auch grundlegend die Strukturen unserer Gesellschaft. Die damit einhergehenden Veränderungen haben folglich direkte Auswirkungen auf das Leben der Menschen, was im Bereich der Technikfolgenabschätzung bzw. der angewandten Informatik unter dem Stichwort ELSI (Ethical, Legal and Social Implications of Technology) diskutiert wird (Boden et al. 2021). Dieses Kapitel wird daher im Folgenden Ethik und Fairness im Kontext der Verbraucherinformatik vorstellen. Dabei werden neben grundlegenden Begriffen auch Umsetzungsformen vorgestellt, wie sich die ELSI-Implikationen von Verbraucher:innen gestalterisch adressieren lassen. Hier wird insbesondere auf den Aspekt automatisierter Entscheidungen eingegangen, denen Verbraucher:innen zunehmend in ihrem Alltag ausgesetzt sind.

Jedoch hat sich das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein in den letzten Jahren nicht nur in Bezug auf künstliche Intelligenz und automatisierte Entscheidungen stark gewandelt. Insbesondere die Besorgnis über ökologische Auswirkungen hat zugenommen und zu einem gesteigerten Nachhaltigkeitstrend unter Verbraucher:innen geführt. Während sich der Begriff der Nachhaltigkeit ursprünglich nur auf seinen ökologischen Aspekt konzentrierte (Atkinson 2000; Rees 2002), wird Nachhaltigkeit heute überwiegend als mehrseitiges Konzept verstanden, das die drei Dimensionen ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit umfasst und stets als wechselseitig zu betrachten ist (Elkington 1998). Demnach ist eine Gesellschaft sozial nachhaltig, wenn es eine globale Verteilungsgerechtigkeit gibt. Diese Verteilungsgerechtigkeit soll zum einen intergenerational strukturiert sein, also die Bedürfnisse der heutigen Generation genauso berücksichtigen wie die Bedürfnisse kommender Generationen; zum anderen soll sie intragenerationale Verhältnisse berücksichtigen, also eine Verteilungsgerechtigkeit zwischen Armen und Reichen herstellen (Littig und Grießler 2004). Nach einer grundlegenden Einführung in das Thema werden diese Aspekte in diesem Kapitel anhand des Beispielbereichs „Sharing Economy“ allgemein sowie des spezifischen Anwendungsfeldes Shared Mobility vertieft.

FormalPara Lernziele

Im Rahmen dieses Kapitels werden Ihnen folgende Inhalte vermittelt:

  • Sie sollen grundlegend verstehen, wie uns ethische Fragestellungen bei der Auseinandersetzung mit neuen Technologien tangieren und wo die Berührungspunkte sind.

  • Sie kennen ausgewählte Methoden, die sie bei der verantwortungsvollen Technikgestaltung und Entwicklung anwenden können.

  • Sie sollen den Begriff der Nachhaltigkeit sowie die drei Säulen der Nachhaltigkeit verstehen.

  • Sie sollen verstehen, wie Konsum aussehen müsste, damit die drei Säulen der Nachhaltigkeit berücksichtigt werden können.

  • Sie sollen unterschiedliche Bereiche der Sharing Economy kennen lernen und kritisch hinterfragen können, inwiefern diese tatsächlich zu einem nachhaltigeren Konsum beitragen können.

5.1 Ethik und Fairness in der Verbraucherinformatik

Da Technologie zunehmend in unseren Alltag integriert wird und die Gesellschaft samt ihren Entscheidungen und Normen entsprechend beeinflusst, ist eine ethische Auseinandersetzung mit der Frage, was Technologie können darf und soll, obligatorisch. Ein prominentes Beispiel und theoretisches Gedankenexperiment zur Diskussion solcher Aspekte befasst sich mit der Handlungsweise eines autonomen Fahrzeugs im Falle eines unvermeidbaren Unfalls. Himmelreich (2018) beschreibt in einer Variante des sogenannten Trolley-Problems ein autonomes Fahrzeug, das in einen Tunnel fährt. Plötzlich kreuzt ein:e Passant:in seinen Weg. Da ein Unfall unvermeidbar ist, bieten sich dem Algorithmus des Fahrzeugs zwei mögliche Lösungen: Entweder erfasst das Fahrzeug die Person auf der Fahrbahn und tötet sie dabei, oder das Fahrzeug vermeidet einen Aufprall, indem es in die Tunnelwand schwenkt. Letzteres gefährdet oder tötet die Insassen des Fahrzeugs. Was wäre nun die korrekte Entscheidung? Wie würde es sich auf die Entscheidung auswirken, wenn die Person auf der Fahrbahn ein Elternteil mit Kleinkind wäre, das Auto aber mit einer Person im Alter von 89 Jahren besetzt ist? Welche (rechtlichen) Konsequenzen hat die vom Fahrzeug getroffene Entscheidung auf Überlebende? Wer haftet für die Entscheidung des Algorithmus? Ist der Ausgang eines solchen Unfalls anders zu bewerten, weil das Fahrzeug nicht von einem Menschen geführt wurde?

Das Trolley-Problem (in abgewandelter Form oben und in Abb. 5.1 beschrieben) ist eine verständliche Annäherung an die Frage, wie Technologie unseren Alltag beeinflussen kann und darf und welche Rolle sie in der Gesellschaft einnehmen soll. Allerdings vernachlässigt dieses Beispiel weitaus subtilere Folgen digitaler Systeme für den Menschen als Individuum und die Gesellschaft als Ganzes, da nicht immer die körperliche Unversehrtheit auf dem Spiel steht:

Abb. 5.1
figure 1

Eine andere Variante des Trolley-Problems: Wer soll in diesem Szenario den größten Schaden nehmen? Die Insassen des Fahrzeugs, das Kleinkind, oder die alte Dame? Wie rechtfertigen wir die Konsequenzen dieser Entscheidung?

So können zum Beispiel auch automatisierte Einstellungsverfahren, die automatisierte Vergabe von Mietverträgen und die gesetzliche Überwachung zur Strafverfolgung und Strafverhinderung (Najibi 2020) schwerwiegende Folgen für Verbraucher:innen haben. Weitere diskriminierende oder rassistische Folgen automatisierter Bilderkennungsalgorithmen traten 2015 in Erscheinung. Damals stellte ein Softwareentwickler fest, dass der Algorithmus zum automatisierten Markieren und Labeln von Bildern in der App Google Photos seinen schwarzen Freund als „Gorilla“ erkannt und entsprechend abgelegt hatte (Metz 2021). Obwohl die Debatte um rassistische und voreingenommene Algorithmen zu diesem Zeitpunkt nicht neu war, hat dieses Ereignis gezeigt, dass auch große Softwarefirmen wie Google mit entsprechenden Problemen ihrer Algorithmen zu kämpfen haben. Ein weiteres Beispiel ist die Existenz sogenannter Dark Patterns, also bewusst und strategisch eingesetzter Designlösungen zur Manipulation von Nutzenden oder Kund:innen eines (digitalen) Service, der zu deren Nachteil führt (siehe Kap. 4). Es gibt aber auch Systeme, die bewusst zu aus gesellschaftlicher Sicht ethischem Verhalten führen sollen. Diese könnten jedoch den:die Nutzende:n als Individuum in seiner:ihrer Entscheidungsfreiheit manipulieren und gegebenenfalls einschränken (z. B. White Pattern, Nudging). Letztlich müssen wir uns also die Frage stellen, wie weit Technologie gehen darf und soll und wer im Falle negativer oder ungewollter Auswirkungen haftbar ist.

Betrachtet man nun die Beziehung zwischen Menschen und Technologie, eröffnen sich drei theoretische Perspektiven: Die instrumentalistische Perspektive beschreibt Technologie als ein willen- und zielloses Mittel zum Zweck – also als ein neutrales Werkzeug, das durch den Gebrauch einen Menschen bei der Durchführung von Handlungen unterstützt (Fernandez 2021). In diesem Fall wäre der Mensch alleinig für (un-)ethische Folgen verantwortlich, die durch den Einsatz von Technologie auftreten. Im Gegensatz dazu versteht die deterministische Perspektive Technologie als eigenständige Entität, die durch ihre Existenz (und Handlungen) Einfluss auf Menschen, technologischen Fortschritt und Gesellschaften nehmen kann und – in ihrer extremsten Form – die Menschheit unterwirft oder gar vernichtet (Fernandez 2021). Die interaktionistische Perspektive geht hingegen von einem Wechselspiel von gesellschaftlichen und technischen Einflüssen aus, die sich gegenseitig formen und beeinflussen (Orlikowski 2000).

In diesem Sinne versteht auch die Mediation Theory Technologie als Medium, durch das wir unsere Umwelt erleben und formen (Verbeek 2015). Dadurch beeinflusst sie unser Handeln, unsere Wahrnehmung, unsere Gesellschaft und unsere Interaktionen mit der Umwelt und anderen Mitmenschen. Laut Cennydd Bowles war Technologie also „niemals neutral; sie ist sozial, politisch und moralische Auswirkungen sind schmerzhaft deutlich geworden“ (Bowles 2018). Deshalb widmet sich dieses Kapitel der genaueren Betrachtung von ethischen und moralischen Fragestellungen der Mensch-Technik-Interaktion im Allgemeinen und spezifisch mit dem Anwendungsfall der Verbraucherinformatik. Ein besonderer Schwerpunkt liegt hierbei auf dem Kernwert Fairness im Bezug auf Technologien sowie deren Auswirkung, Entwicklung und Bewertung.

Gemäß der Mediation Theory führen das alltägliche Leben und die Interaktion mit Technik und intelligenten Systemen unweigerlich auch zu einem Wandel unserer Alltagspraktiken (siehe Kap. 2). Dabei formt die Entwicklung der Technik den Menschen in seiner Wahrnehmung von sich selbst, aber auch von seiner Umwelt. Im gleichen Zug müssen demnach auch die ethischen Vorstellungen, Normen und Werte der Gesellschaft bei der Entwicklung von Technik berücksichtigt werden. In diesem Kapitel definieren wir die wichtigsten Grundlagen und Begriffe in diesem Spannungsfeld. Außerdem erläutern und diskutieren wir Wechselwirkungen und -beziehungen zwischen den verschiedenen Konzepten.

5.2 Grundlagen von Ethik und Moralphilosophie

Ethik wird als eine Disziplin der Philosophie auch Sittenlehre oder Moralphilosophie genannt (Duden 2023). Als solche befasst sie sich – vereinfacht ausgedrückt – mit der Frage, ob unser oder das Handeln Dritter gemessen an gesellschaftlichen Wertekriterien gut oder schlecht, richtig oder falsch, moralisch oder unmoralisch ist (Lillie 2020). Um solche Bewertungen jedoch anstellen zu können, benötigt man ein dafür geeignetes Wertesystem. Im Allgemeinen werden diese Werte und entsprechende Verhaltensregeln in ihrer Gesamtheit als Moral oder Moralsystem bezeichnet. Ethik ist also „das Studium der Moral“ (Tavani 2015) oder „die Praktik, über solche Werte, deren Ursprung und deren Anwendung zu reflektieren“ (Bowles 2018). Obwohl heute Moral und Ethik oft synonym verwendet werden (Bowles 2018), gibt es also durchaus Unterschiede (Tavani 2015).

Betrachtet man ein Moralsystem nun genauer, stellt man fest, dass es nicht nur einen Leitfaden zum Zusammenleben darstellt, der Schaden abwenden und das Aufblühen der Gesellschaft ermöglichen soll (Tavani 2015). Es ist auch ein System, das allen Betroffenen bekannt und damit sowohl öffentlich als auch informell ist. Ein solches System ist also nicht bis ins kleinste Detail festgeschrieben und dadurch in einigen Fällen uneindeutig (Gert 2006). Das führt dazu, dass moralische Fragestellungen selten eine einzige korrekte Antwort haben und zur Lösung eines Konflikts Verhandlungen und/oder das Eingehen von Kompromissen erfordern (Gert 2006) – insbesondere auch deshalb, weil Menschen sich Technik aneignen und sie mitunter ganz anders benutzen, als die Gestalter dies beabsichtigt hatten (Dourish 2003; Draxler et al. 2012). Sofern eine (temporäre) eindeutige Bewertung einer solcher Fragestellung notwendig ist und selbige eine entsprechende Tragweite hat, greift in der Praxis zum Beispiel die Gesetzgebung ein, um Entscheidungen oder moralische Prinzipien herzuleiten, zu begründen und daraus Konsequenzen abzuleiten. In diesem Kontext häufig diskutierte Fragestellungen ohne eindeutige moralische Auflösung sind die aktive Sterbehilfe oder Recht und Unrecht von Abtreibung.

Beispiel zur Technikaneignung

Der Begriff der Aneignung beschreibt, dass Technik nicht immer so genutzt wird, wie es vom Designer oder Hersteller vorgesehen ist. Stattdessen handelt es sich bei der Technikaneignung (engl. appropriation) um einen sozialen Prozess, bei dem Menschen Technik in ihr Leben integrieren und entsprechende Nutzungspraktiken kennenlernen bzw. entwickeln. Dabei werden technische Werkzeuge z. B. nach individuellen Präferenzen konfiguriert, aber mitunter auch angepasst (engl. tayloring) bzw. zweckentfremdet (Draxler et al. 2012). Statt von einem Technikdeterminismus auszugehen, bei der z. B. eine „richtig“ gestaltete Software bestimmte vorher geplante Effekte in einer Organisation oder einem Privathaushalt hat, schaut die Aneignungsperspektive daher eher auf die gegenseitige Beeinflussung von Technik und Umwelt, die sich erst nach der Einführung beobachten lässt.

Aneignung lässt sich gut am Beispiel der E-Mail verdeutlichen. So wurde die E-Mail als digitales Pendant zum papierbasierten Brief oder Telegramm entwickelt. Dabei waren die Entwickler von dem großen Erfolg der Technologie überrascht, die maßgeblich zur Verbreitung des Internets beigetragen hat. Das lag unter anderem auch daran, dass E-Mail von den Nutzer:innen für viel weitreichendere Anwendungsfälle genutzt wird als eigentlich vorgesehen: So nutzen Anwender:innen E-Mails nicht nur zur Kommunikation, sondern auch als Dateiablage/Backup für wichtige Dokumente sowie als To-Do-Liste und Projektmanagement-Tool (Dabbish und Kraut 2006). Dabei gibt es sehr unterschiedliche Formen der Aneignung durch die Nutzer:innen, die bei der Gestaltung nicht im Voraus vollständig antizipiert und geplant werden konnten, die aus einer ethischen Perspektive jedoch wichtig werden können. So stellt E-Mail beispielsweise durch die zentrale Bedeutung und das hohe Aufkommen einen großen Stressfaktor für Mitarbeitende in Organisationen dar, z. B. durch Spam oder weil das Management, Filtern und Nachhalten der Nachrichten aufwendiger ist.

Selbstreflexion

Überlegen Sie sich ein Beispiel für Technikaneignung aus dem Kontext der Verbraucherinformatik, wie etwa die Nutzung von Instant Messengers für die Organisation von privaten Partys und das Teilen von Fotos im Nachgang davon.

  • Welche Aspekte davon erscheinen Ihnen im Vergleich zu E-Mail relevant? Welche Unterschiede lassen sich ggf. beobachten?

  • Welche gesellschaftlichen Folgen könnten sich aus der Aneignung der Technik ergeben, die nicht bei der Gestaltung der Technik intendiert bzw. vorhergesehen wurden?

  • Was bedeutet die Sichtweise, dass sich gesellschaftliche Folgen von Technik nicht vollständig im Rahmen der Gestaltung vorhersehen lassen, für die Entwicklung von Technik?

Tavani führt zusätzlich zur Gesetzgebung auch noch Religion und Philosophie als mögliche Quelle für moralische Prinzipien und die Begründung entsprechender Konsequenzen an (Tavani 2015) (siehe Abb. 5.2).

Abb. 5.2
figure 2

Schematische Darstellung der Komponenten eines Moralsystems

In diesem Rahmen unterscheidet Tavani auch zwischen Verhaltensregeln und Evaluationsprinzipien: Erstere umfassen Direktiven oder soziale Grundsätze als handlungsleitende Regeln, Letztere dienen als bewertende Standards zur Begründung von Verhaltensregeln (Tavani 2015). Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung wird in folgendem Beispiel klar:

Sowohl nach den Zehn Geboten der christlichen Religion als auch nach der deutschen Gesetzgebung ist Mord ein unmoralisches Vergehen. Würde man Mord nun nach beiden Wertesystemen beurteilen und eine entsprechende, in diesem Beispiel stark vereinfachte Begründung für das Vorliegen eines Vergehens liefern, könnte das entsprechend so aussehen:

Zehn Gebote

  • Verhaltensregel: Mord ist ein Vergehen.

  • Evaluation: Die Handlung widerspricht der göttlichen Anweisung (5. Gebot).

Gesetzgebung

  • Verhaltensregel: Mord ist ein Vergehen.

  • Evaluation: Die Handlung verletzt die aktuelle Gesetzeslage (Artikel 2 Deutsches Grundgesetz; Strafgesetzbuch § 211 Mord).

Als Quelle solcher moralischen Regeln und Prinzipien dienen sogenannte Kernwerte, allerdings ist sich die Literatur über die konkrete Zusammensetzung eben dieser uneins. Zahlreiche Definitionen von Moral, Ethik und ethischem Verhalten nennen aber zum Beispiel Fairness, Verantwortung, Aufgabe („duty“), Verpflichtung („obligation“), Respekt und Persönlichkeit (Falbe et al. 2020).

5.3 Fairness als Kernwert digitaler Systeme

Fairness. Im Allgemeinen wird Fairness als philosophisches Konzept (oder als Kernwert von Ethik) betrachtet, welches das Zusammenleben nach ethischen Maßstäben einrichten soll (Dimitriou und Schweiger 2015). Diese ethischen Maßstäbe können unabhängig davon gelten, welche Regeln beispielsweise per Gesetz und Rechtsordnungen definiert sind. Vielmehr orientiert sich Fairness an gesellschaftlichen Regeln, die fortan von der Gesellschaft geprägt werden. Ein Beispiel: Ein:e Spieler:in verletzt sich beim Fußballspielen, woraufhin die gegnerische Mannschaft den Ball ins Aus spielt. Nach der Verletzungspause wirft die Mannschaft des:der verletzten Spieler:in mit dem Einwurf der gegnerischen Mannschaft wieder den Ball zu (laut offiziellen Fußballregeln muss die Mannschaft dies nicht tun, macht es aber aus Fairplay-Gedanken). Während es im Sport vermeintlich oft noch leichtfällt, „Fairplay-Regeln“ zu definieren, ist es in der Praxis oft schwierig, die Grenze zwischen moralisch richtigem Handeln und moralisch falschem Handeln zu definieren. Wenn wir den Begriff Fairness weiterhin als moralisches Konzept betrachten, wird er häufiger in Anlehnung an den Gerechtigkeitsbegriff nach John Rawls genutzt, der definiert: „... ein gesellschaftlicher Zustand ist dann gerecht, wenn er fair ist.“ (Rawls 2005)

5.3.1 Grundlegende Herausforderungen

Mensch versus Maschine. In unserer Gesellschaft herrscht zum Teil ein ambivalentes Bild, welche Entscheidungen von Menschen und welche von Maschinen getroffen werden dürfen. Aber es gibt eine Tendenz, dass algorithmische Entscheidungen und menschliche Entscheidungen bei Aufgaben, die eher technischer Natur sind, als gleich fair betrachtet werden, während bei Aufgaben, die ein hohes Maß an menschlichen Fähigkeiten erfordert, auch die menschliche Entscheidung als fairer beurteilt wird (Lee 2018). Illustrieren lassen sich diese menschlichen Fähigkeiten an Aufgaben, die eher subjektive Kriterien zur Bewertung heranziehen, wie beispielsweise die Benotung einer Kunstarbeit. Technische Fähigkeiten sind im Gegenzug eher objektiver Natur wie beispielsweise die theoretische Führerscheinprüfung. Technik wird demnach oft die Fähigkeit abgesprochen, Artefakte selbstständig zu produzieren und selbst zu bewerten. Dies zeigt sich aktuell auch im Beispiel generativer KI wie Dall-E oder ChatGPT, deren Ausgaben derzeit als nicht urheberrechtlich geschützt gelten. Während das menschliche Individuum, wie im Kunstbeispiel die lehrende Person, ein eigenes Gütesystem entwickelt, um eine Arbeit zu bewerten, fehlt diese Fähigkeit nach Laienansicht Technik oftmals.

Eine weitere Begründung ist, dass sich Mensch und Maschine nicht auf Augenhöhe begegnen. Während es Konsens ist, dass Menschen Fehler zugestanden werden, so gilt dies bei Algorithmen weniger, und Fehler von Algorithmen gehen mit einem stärkeren Vertrauensverlust einher (Dietvorst et al. 2015). Das kann in der Praxis so weit gehen, dass Menschen sogar eher den Entscheidungen von Menschen als denen von Software vertrauen, auch wenn der Algorithmus nachweislich bessere Entscheidungen treffen kann (Castelo et al. 2019).

Das Problem der Algorithm Aversion: Das Phänomen, dass Nutzer:innen bereits eine voreingenommene und ablehnende Einstellung gegenüber technischen Systemen und Algorithmen besitzen, heißt auch Algorithm Aversion (Filiz et al. 2021). Die Hintergründe für die grundsätzliche Abneigung werden in fünf Ursachen eingeordnet: falsche Erwartungen, fehlende Entscheidungskontrolle, fehlende Anreize, Intuition und widersprüchliche Auffassungen von Rationalität (Burton et al. 2020) (Tab. 5.1).

Tab. 5.1 Ursachen und Lösungen von Algorithm Aversion

Wie zunächst angeführt, sind die Maßstäbe, mit denen wir Fairness messen, nicht auf einen einheitlichen Konsens zu bringen. So sehen wir uns mit grundsätzlichen Problematiken konfrontiert, deren Entstehung nicht zwangsweise mit Technik zu tun hat (Abb. 5.3).

Abb. 5.3
figure 3

Grafische Darstellung der Gerechtigkeitsproblematiken

Gleichbehandlung und Gleichberechtigung. Die vorab angesprochene Entstehung von Gerechtigkeitsproblematiken lässt sich durch die englischen Begriffe „equality“ (Gleichbehandlung) und „equity“ (Gleichberechtigung) verdeutlichen. Während wir bei Gleichbehandlung alle Menschen „gleich“ behandeln würden und nicht aktiv eingreifen, könnte das dazu führen, dass der Nachteil, den beispielsweise ethische Minderheiten oder People of Colour in Entscheidungssitzungen haben, nicht ausgeglichen wird. Um den Nachteilsausgleich zu adressieren und Gleichberechtigung zu schaffen, müssen wir als Menschen aktiv in die Entscheidung der Systeme eingreifen. Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir einem der Wege folgen müssen und Gleichbehandlung und Gleichberechtigung nicht zusammen funktionieren. Ein populäres und vieldiskutiertes Beispiel hierzu ist die Frauenquote. Im Kontext von Fairness finden wir Hinweise darauf, dass diese Fairness oft mit Gerechtigkeit (Kasinidou et al. 2021), wie bereits beschrieben, gleichgesetzt wird, weshalb wir das Prinzip der Gleichberechtigung auch als Maßstab für faire Algorithmen ansetzen.

Wahrnehmung von Fairness. Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Wahrnehmung von Fairness durch den Menschen kompliziert und nuanciert sein kann. So fand eine Studie heraus, dass verschiedene Interessengruppen unterschiedliche Vorstellungen von Fairness bei demselben algorithmischen System haben können (Lee 2018). Auch spielen demografische Hintergründe und der Wissensstand wie Algorithmic Literacy eine relevante Rolle bei der Beurteilung von Fairness (Pierson 2017).

5.3.2 Dimensionen von Fairness

Nicht nur die grundlegende Einstellung und Vorstellung von Fairnessprinzipien bei demselben automatisierten System ist zu hinterfragen. Auch bilden sich eigene mentale Modelle der Verbraucher:innen zur Funktionsweise von Systemen, unabhängig davon, wie sie beispielsweise technisch umgesetzt werden. Die Ursache hierfür ist, dass nicht alle Funktionsweisen, die hinter einem technischen System liegen, für Nutzende transparent und verständlich dargestellt werden (können). So kann die technische Komplexität in Erklärungen dazu führen, dass Laien den Prozess oder die Entscheidung eines Systems nicht verstehen und daher eigene Urteile zur Bewertung bilden. Allgegenwärtig sind diese mentalen Modelle in der Forschung zu explainable AI (xAI), die versucht, zum einen auf technischer Seite Systeme erklärbar zu machen und auf der anderen Seite ein Verständnis für die Ergebnisse und Verfahren von Systemen aufzubauen, um das Vertrauen der Menschen zu stärken und die den Entscheidungen des Systems zugrunde liegenden Ursachen aufzudecken (Ehsan et al. 2022; Adhikari et al. 2022). In diesem Zusammenhang wird Fairness häufiger mit den Gerechtigkeitsdimensionen nach John Greenberg genannt, dessen Modell seinen Ursprung in der Arbeits- und Organisationspsychologie hat (Greenberg 1987) (Abb. 5.4).

Abb. 5.4
figure 4

Fairnessprinzipien

Im Zuge von automatisierten Systemen werden insbesondere die Auswirkungen von Erklärungen auf Interpersonale Gerechtigkeit, Informationsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und Ergebnisgerechtigkeit untersucht.

Interpersonale Gerechtigkeit. Diese Dimension beschreibt den Grad, mit dem der Mensch, der einer Entscheidung ausgesetzt ist, mit Respekt und Würde behandelt wird (Tyler und Bies 1971). In diesem Kontext wird auch vom zwischenmenschlichen Umgang in der Entscheidungsfindung gesprochen. Besonders interessant ist diese Dimension vor dem Hintergrund der Diskussion, ob Algorithmen und Techniksysteme als Entscheidungsträger überhaupt die Fähigkeit besitzen können, dem Menschen in dieser sozialen Interaktion Respekt und Würde entgegenzubringen (Narayanan et al. 2023). Im Vergleich zu menschlichen Entscheidungsträgern herrscht an dieser Stelle ein größerer Konsens darüber, dass Entscheidungen von KI-Systemen als weniger interpersonell fair wahrgenommen werden (Narayanan et al. 2023).

Informationsgerechtigkeit. Informationsgerechtigkeit bezieht sich auf die faire und gerechte Verteilung von Informationen, die sich im Kontext von automatisierten Entscheidungen zudem auch auf die Beurteilung dieser Informationen beziehen. Die Problematik der Informationsgerechtigkeit zeigt sich hierbei durch den unterschiedlichen Wissensstand, den die Gesellschaft in Bezug auf Technik besitzt und mit den vorhandenen Informationen beurteilen kann, welche Systeme und Eigenschaften aus ihrer Sicht fair sind. So können bei Gleichverteilung von Informationen einzelne Personen nicht gerecht behandelt werden, weil sie diese Informationen aufgrund der Komplexität nicht verstehen. Daher müssen Erklärungen auch auf die verschiedenen Bedürfnisse des Individuums angepasst werden, um Informationsgerechtigkeit herzustellen (Binns et al. 2018; Colquitt und Rodell 2015).

Verfahrensgerechtigkeit. Verfahrensgerechtigkeit beschäftigt sich mit der Fairness und der Logik hinter den algorithmischen Entscheidungssystemen (Binns et al. 2018). Ergebnisse aus der sozialwissenschaftlichen Forschung zeigen, dass beispielsweise eine Beteiligung der Nutzer:innen am Prozess zu einer größeren Akzeptanz der Ergebnisse führen kann (Greenberg und Folger 1983). Insbesondere wirkt sich das Verfahren positiv auf die Wahrnehmung des Outputs aus (Lind und Earley 1992; van den Bos et al. 1997). Sofern Verbraucher:innen keine Information über das Ergebnisse anderer besitzen und den Durst nach sozialer Vergleichbarkeit nicht bedienen können, verlassen sie sich auf das Verfahren, um sich ein Fairnessurteil zu bilden. Dies offenbart jedoch mehrere Probleme: Zum einen kann nicht jeder Prozess vollständig sichtbar gemacht werden; denn für Unternehmen könnte es beispielsweise ein zu großes Risiko bergen, ihre Systeme dem Wettbewerb zu offenbaren. Außerdem müssen wir die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven adressieren: zum einen die subjektive Wahrnehmung mit der moralischen Frage, ob es angemessen ist, dass eine Variable X in einem Verfahren/Prozess genutzt wird; zum anderen die objektive Wahrnehmung mit der Frage, ob eine Variable X auch wirklich das misst, was sie messen soll, und für die Entscheidung ursächlich ist (Grgic-Hlaca et al. 2018).

Ergebnisgerechtigkeit. Ergebnisgerechtigkeit versucht im Kontext von automatisierten Entscheidungen, die Auswirkungen gleichmäßig und gerecht auf alle Betroffenen zu verteilen, unabhängig von ihren persönlichen Merkmalen. Jedoch handelt der Mensch bei der Bewertung von Ergebnisgerechtigkeit oftmals egoistisch. Beispielsweise zeigt eine Studie, dass Teilnehmer:innen, die ein nicht favorisiertes Ergebnis erhielten, ein System auch weniger fair bewerteten, als diejenigen Teilnehmer:innen, die mit ihrem Ergebnis zufrieden waren (Grgic-Hlaca et al. 2018). Auch ist es ein Problem, dass oftmals keine Möglichkeit der Vergleichbarkeit gegeben ist, da Ergebnisse von anderen, wie im Kreditbeispiel angeführt, nicht gegeben sind.

Beispiel zur individuellen Wahrnehmung von Fairness

In den USA wird in einigen Bundesstaaten ein Programm mit dem Akronym COMPAS (Correctional Offender Management Profiling for Alternative Sanctions) zur Beurteilung der Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftäter:innen eingesetzt. Diese Informationen und Risikobeurteilungen sollen beispielsweise Richter:innen helfen zu beurteilen, ob Straftäter:innen aufgrund ihrer geringen Wahrscheinlichkeit, wieder eine Straftat zu begehen, eine frühzeitige Haftentlassung erhalten (Räz 2022). Neben dem sensiblen Anwendungskontext stellt sich grundsätzlich die Frage, auf welcher Basis das Modell die Rückfallwahrscheinlichkeit berechnet. Hierzu gibt es eine Vielzahl von Studien, die auf bereits in diesem Kapitel beschriebene Problematiken aufmerksam machen. Neben der unterschiedlichen Fehlerrate für schwarze und weiße Menschen ist nicht klar, wie die bis zu 137 Variablen im Modell zusammenhängen. Jedoch fließen in die Berechnung nicht nur eigene Vorstrafen, sondern auch beispielsweise die Kriminalhistorie von Familienmitgliedern wie Eltern oder Geschwistern oder die Erkenntnisse zu sozialen Bindungen, Wohnort- oder Beschäftigungswechseln ein.

Selbstreflexion:

Überlegen Sie anhand des Beispiels COMPAS, warum es wichtig ist, Fairnessproblematiken vor der Nutzung zu diskutieren.

  • Welche Aspekte scheinen Ihnen besonders relevant zu sein? Wie ordnen Sie Ihre Aspekte in die vier Fairnessdimensionen ein?

  • Welche gesellschaftlichen Folgen könnten sich ergeben, wenn Fairness wie im Rahmen des Beispiels COMPAS nicht diskutiert wird?

  • Überlegen Sie sich Beispiele aus Ihrem Alltag, auf die sich Ihre Überlegungen übertragen lassen.

In der Forschung werden die Wechselwirkungen zwischen den Gerechtigkeitsdimensionen vielseitig diskutiert, denn alle sind für die Bildung von Fairness-Heuristiken bedeutsam. Keine vollständige Einigkeit herrscht darüber, ob die Verteilungsgerechtigkeit (van den Bos et al. 1997) oder die Verfahrensgerechtigkeit (Lind und Earley 1992) bei der Beurteilung der Fairness mehr Gewicht hat. In Konsequenz lässt sich aber sagen, dass die Herstellung von Fairness in einer Gerechtigkeitsdimension nicht automatisch zu Fairness in den anderen Gerechtigkeitsdimensionen führt. So können Verbrauchende beispielsweise identische Ergebnisse aufgrund der Verfahren, die zu ihnen geführt haben, als ungerecht empfinden, während selbst ungünstige Ergebnisse aufgrund der beteiligten Verfahren als gerecht empfunden werden können (Lee et al. 2019).

5.4 Umsetzung digitaler Ethik

Die Umsetzung digitaler Ethik umfasst alle Berührungspunkte, die wir täglich mit Technologie und deren Auswirkungen haben. Durch die Verwendung von Technologie interagieren wir direkt oder indirekt mit anderen Menschen und unserer Umwelt (Verbeek 2015) – entsprechend wird digitale Ethik zur Ethik des alltäglichen Lebens, auch weil Technologie ungewollte und unabschätzbare Folgen haben kann. Diese können zum Beispiel auftreten, wenn Systeme angeeignet werden oder wenn sie wissentlich oder unwissentlich fehlbedient oder anderweitig zweckentfremdet werden (siehe obiges Beispiel zur Technikaneignung). Dadurch können für den Designer unvorhergesehene Wechselwirkungen mit anderen Technologien und Systemen auftreten oder Schwachstellen in Systemen absichtlich zum Nachteil Dritter ausgenutzt werden. Genauso gut kann es aber sein, dass eine Technologie absichtlich unmoralisch entworfen und umgesetzt wird. Dark Patterns werden zum Beispiel im Regelfall bewusst eingesetzt, um an Nutzerdaten zu gelangen oder Kaufentscheidungen zu beeinflussen (Gray et al. 2018). In einer extremen Form basieren ganze Firmen auf moralisch kritisch zu betrachtenden Geschäftsmodellen, zum Beispiel in Form von Überwachungskapitalismus (Zuboff 2020). Solche Businessmodelle sehen das gezielte Sammeln, Auswerten und Anbieten von Nutzerdaten und Profilen zu Marketingzwecken vor, weshalb angebotene Services und Produkte für diese Zwecke optimiert werden (siehe Kap. 4).

Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit der Umsetzung von digitaler Ethik aus zwei Perspektiven: Abschn. 5.4.1 beschreibt eine menschzentrierte Perspektive, die das Spannungsfeld Nutzer:innen, Designer:innen und Firmen diskutiert. Abschn. 5.4.2 hingegen nimmt eine technische Perspektive als ergänzenden Ansatz zur Umsetzung von Ethik in Technologie ein.

5.4.1 Der Faktor Mensch in der Systemgestaltung

Wie bereits beschrieben, gestaltet sich die Frage, wer nun ausschlaggebend für (un-)ethische Technologie verantwortlich ist und wie man bessere Systeme schaffen kann, in der Realität durch die Vielzahl an Faktoren und involvierten Interessengruppen komplex. Aktuelle Diskurse fordern zum Beispiel, dass Designer:innen als direkte Gestalter:innen von Technologie eine besondere Verantwortung obliegt, da „Design (…) angewandte Ethik“ ist (Bowles 2018) – oder zumindest das Potenzial dazu hat. Deshalb müssten Entwickler:innen und Designer:innen in ihrem kritischen Denken nachdrücklicher geschult und so befähigt werden, ethische Konfliktpotenziale besser zu erkennen und entsprechende Maßnahmen rechtzeitig bereits im Designprozess zu ergreifen (Gray et al. 2018). Hierfür müsse die Designcommunity als Gemeinschaft aber „Standards für sich selbst setzen“ (Narayanan et al. 2020) auch um „umständliche Regulierungen zu verhindern und weil es das Richtige ist“ (Narayanan et al. 2020).

Dennoch ist nicht zu vernachlässigen, dass Designer:innen durch ein Angestelltenverhältnis möglicherweise nicht die Freiheit haben, ihre moralischen Grundsätze frei in ihrer Arbeit zu äußern und auszuleben (Gray und Chivukula 2019; Krauß et al. 2023). Entsprechend wird Produkt- und Servicedesign auch maßgeblich von Firmenpolitik und Businessmodellen beeinflusst, auf die ein:e Designer:in nur bedingt einwirken kann. Folglich muss nicht nur (wirtschaftliches) Design als Disziplin eine Form der Emanzipation auf mehreren Ebenen durchlaufen, die bei der grundlegenden Firmenphilosophie beginnt und auch die Einstellungskriterien für neue Mitarbeitende mit einschließt (Krauß et al. 2023).

Auch der Gesetzgebung obliegt eine gewisse Verantwortung, regulatorisch in unmoralische Konzern- und Marktgefüge einzugreifen sowie daraus hervorgehende Praktiken zu unterbinden und zu ahnden. Gesetzliche Regulatorien sind jedoch häufig langsam im Vergleich zur technologischen Entwicklung am Markt. Das kann dazu führen, dass gesellschaftlich unmoralische Praktiken bereits in Systemen etabliert und dadurch nur noch schwer zu regulieren sind. Eine Möglichkeit der vorbeugenden Intervention eröffnet sich durch die Verwendung spekulativerer Ansätze, wie zum Beispiel im Bereich der Technikfolgenabschätzung, die den Einfluss von Technologie auf die Gesellschaft auf Basis möglichst detaillierter Analysen und Beobachtungen des Marktgeschehens, potenzieller Anwendungsgebiete und Stakeholder einzuschätzen versuchen (Matthews et al. 2019). Diese Ansätze unterliegen jedoch dem Collingridge-Dilemma (Collingridge 1982) (siehe Abb. 5.5).

Abb. 5.5
figure 5

Das Collingridge-Dilemma: Anfangs ist der Einfluss neuer Technologien auf das Individuum und die Gesellschaft schwer abzuschätzen. Später sinken aber die Möglichkeiten der Einflussnahme, da eine Technologie bereits etabliert ist.

Das Collingridge-Dilemma beschreibt, dass sich die Vorhersage der gesellschaftlichen Auswirkungen einer noch nicht weitverbreiteten Technologie als zu spekulativ erweisen kann. Es kann aber auch zu spät oder zu schwierig sein, die Auswirkungen der Technologie zu beeinflussen, abzumildern oder ihr entgegenzuwirken, wenn sie erst einmal etabliert ist (Kudina und Verbeek 2018).

Beispiel zum Collingridge-Dilemma

Dark Patterns sind bestimmte Designaspekte einer Benutzerschnittstelle, die Anwender:innen zu Handlungen verleiten sollen, die deren eigentliche Motivation untergräbt (siehe Kap. 4). Ein bekanntes Dark Pattern, das unter anderem auch von Amazon eingesetzt wurde, ist das Roach Motel (Brignull et al. 2023) – ein Pattern, das Prozesse so verschachtelt, dass ein eigentlich einfacher Vorgang für Endanwender:innen unübersichtlich und sehr nervenaufreibend wird und diese dadurch die Motivation für das Durchlaufen des Vorgangs verlieren sollen. Zum Beispiel hatte Amazon zeitweise den Löschvorgang des eigenen Accounts hinter mehreren Menüebenen und Bestätigungslinks versteckt. Endanwender:innen, die diesen Prozess dennoch bis zum Ende durchlaufen haben, mussten am Ende feststellen, dass sie ihren eigenen Account gar nicht selbstständig löschen können. Die endgültige Löschung erfolgte nur nach einer Kontaktaufnahme mit dem Kundenservice.

Als Dark Patterns erstmalig in der Literatur beschrieben wurden, waren diese schon sehr weitverbreitet und bei vielen Web-Service-Anbietern fest in Gestaltungspraktiken und Businessmodellen verankert (Gray et al. 2018). Eine Regulierung gestaltet sich aufgrund der zahlreichen Ausprägungen und einer unklaren Definition und Klassifizierung (Gray et al. 2018) dieser Gestaltungspraktiken nach wie vor schwierig (Mathur und Mayer 2021), auch weil es zu immer neuen Ausprägungen von Dark Patterns kommt und diese mittlerweile auch in anderen Technologien und Endanwendungen etabliert sind. Aus diesem Grund versucht die Forschungsgemeinschaft der Ausweitung solcher Designpraktiken auf entstehende Technologien, zum Beispiel in erweiterten Realitäten und künstlicher Intelligenz, zuvorzukommen und untersucht mithilfe spekulativer Ansätze mögliche Auswirkungen von Dark Patterns auf die Gesellschaft. Diese Ansätze könnten jedoch zur Überregulierung der Technologie und damit zu verminderter Innovation führen, da sie Anwendungsfälle oder Funktionen unterbinden wollen, bevor diese überhaupt entwickelt werden können.

Selbstreflexion:

Überlegen Sie, welche Bespiele für das Collingridge-Dilemma Sie aus Ihrem Alltag kennen. Denken Sie dabei auch an aktuelle Beispiele aus dem Anwendungsbereich, zum Beispiel Social Media.

  • Welche Technologien oder Anwendungen können betroffen sein?

  • Welche waren es in der Vergangenheit?

  • Fällt Ihnen eine Technologie oder Anwendung ein, die überreguliert wurde oder zum Zeitpunkt ihrer Regulierung bereits sehr weitverbreitet war?

  • Was wäre rückblickend betrachtet ein besserer Ansatz zur Regulierung betroffener Technologien oder Anwendungen gewesen?

Für Technologien gibt es bereits verschiedene Designansätze, die deren Entwicklung unter Berücksichtigung ethischer Kernwerte ermöglichen sollen. Diese folgen zum einen dem Ansatz einer ganzheitlicheren Betrachtung des System- und Nutzungskontextes und den potenziellen Veränderungen, die das neue System herbeiführen könnte. Entsprechende Designansätze sind zum Beispiel Participatory Design oder Co-Design (siehe Kap. 6), in denen Nutzer:innen des zu entwickelnden Systems selbst zu Designer:innen werden und selbiges aktiv mitgestalten. Jedoch zeigen sich ethische, rechtliche und soziale Implikationen (ELSI) „oft erst in der Aneignung von Technologien in der Praxis und lassen sich nicht vollständig technisch auflösen“ (Boden et al. 2021). Entsprechend endet Design also nicht mit der finalen Gestaltung und Entwicklung eines Produkts, sondern geht darüber hinaus (Kimbell 2011). Folglich sind auch Anwender:innen im Umfang ihrer Fähigkeiten in gewisser Art und Weise für den ethischen Gebrauch von Technologie im Alltag mit verantwortlich, und das vollständige Entmündigen von Nutzenden ist durchaus auch kritisch zu betrachten.

5.4.2 Erkenntnisse aus technischer Perspektive

Biased Reality: Die Basis von vielen technischen Systemen sind (Trainings-)Daten. Doch sind die Datensätze zunächst nur eine Darstellung der Realität, die dann von einem System genutzt werden, um beispielsweise Zusammenhänge zu analysieren oder Prognosen zu treffen. Dabei stoßen wir auf die Problematik, dass bereits unsere Realität nicht frei von Diskriminierung und strukturellem Rassismus ist. Wenn wir nun diese Datensätze aus der Realität auf unsere Systeme übertragen, übertragen wir auch unsere bereits bestehenden gesellschaftlichen Probleme. Das Phänomen der „Biased Reality“ lässt sich durch die folgenden Beispiele (siehe Abb. 5.6) verdeutlichen:

Abb. 5.6
figure 6

Ein Beispiel für das Phänomen der Biased Reality

Eine Gesichtserkennungssoftware soll erkennen, wer potenziell einen Mord begehen wird. Aus den ursprünglichen Daten lässt sich ablesen, dass 96 % der Morde von Männern begangen werden. Nun werden insgesamt 100 Personen von der Software als potenzielle Mörder:innen identifiziert. 96 Männer und 40 Frauen. Die Vorhersagegenauigkeit beträgt 75 %, was wiederum dazu führt, dass mehr Männer als Frauen falsch positiv als potenzielle Mörder:innen identifiziert werden. Das hat aber nichts mit dem Algorithmus zu tun, sondern spiegelt im Wesentlichen die zugrunde liegende Datenbasis sowie die statistischen Wahrscheinlichkeiten wider (Fry 2018).

Mathematische Fairness/Maßstäbe/Vorgaben: Um der Problematik der Biased Reality entgegenzuwirken, gibt es eine Vielzahl von mathematischen Fairnessmaßstäben, die ihre Anwendung finden. Dabei geht es insbesondere darum, Fairness durch statistische Lösungen zu schaffen. Die Metriken lassen sich in Pre-Processing, In-Processing und Post-Processing unterscheiden (Weerts 2021; Joos und Meding 2022; Castelnovo et al. 2021).

Pre-Processing: Diese Techniken versuchen, Daten im Vorfeld der aktiven Nutzung zu transformieren, um Diskriminierung durch Daten zu minimieren.

In-Processing: Diese Techniken modifizieren Datensätze im Lernprozess des Systems durch Änderungen von Bedingungen und Auferlegung von Beschränkungen.

Post-Processing: Diese Technik kommt insbesondere zur Anwendung, wenn das genaue Lernmodell nur als Black-Box zur Verfügung steht. So müssen die Ergebnisse geprüft und ihnen möglicherweise neue Bedingungen auferlegt werden.

Neben der zeitlichen Einordnung der mathematischen Lösungen möchten wir im Folgenden ausgewählte konkrete Metriken und ihre Unterschiede vorstellen. Diese Metriken werden kontinuierlich durch neue Forschungsarbeiten erweitert; es geht daher in der folgenden Übersicht nicht um eine Vollständigkeit der Metriken, sondern vielmehr um eine erste Einordnung und um die Herausforderungen, die uns bei mathematischer Fairness begegnen. Um die Unterschiede der Metriken deutlich zu machen, nutzen wir das Fallbeispiel der Kreditvergabe.

1. Gruppenbasierte Metriken: Wie der Name bereits vermuten lässt, fokussieren gruppenbasierte Metriken das Ziel, eine Gruppe als Ganzes und ein Individuum als Teil einer Gruppe nicht zu diskriminieren. Ein Kriterium ist hier die gleiche Ergebnisverteilung für Gruppen („demographic parity“). Im Kreditbeispiel würde das bedeuten, dass zwei Gruppen (A & B) betrachtet und in beiden Gruppen Personen in gleichen Teilen als kreditwürdig eingeteilt werden. Als Resultat bekommen 20 % in beiden Gruppen den Kredit. Eine Erweiterung dieses Ansatzes ist die „conditional parity“, bei der eine zusätzliche Kontrollvariable zu den Gruppen hinzugefügt wird, wie beispielsweise die vorherige Zuverlässigkeit bei der Zurückzahlung von Kreditraten. Während sich die vorangegangen Metriken auf die Unabhängigkeit („independence“) und die Ergebnisverteilung konzentrierten, gibt es eine weitere Gruppe von gruppenbasierten Metriken, die auf die Trennung („separation“) und auf die Chancengleichheit („equality of odds“) und Fehlerraten fokussiert. Dabei ist die Bedingung dieser Metrik, dass die korrekten Vorhersagen für beide Untergruppen (A&B) gleich sind und die gleiche Anzahl an False Positives und False Negatives für beide Untergruppen gleich sein müssen. Vorteil der gruppenbasierten Metriken ist sicherlich auf der einen Seite, dass wir Gruppen im Gesamten gleichbehandeln, jedoch ist die Kritik, dass das Problem der Biased Reality verstärkt werden kann und wir sensible Untergruppen wie das Alter oder das Geschlecht erst einmal definieren müssen.

2. Individualbasierte Metriken: Die individuellen Fairness-Metriken fokussieren das einzelne Individuum und vergleichen individuelle Datensätze und Output-Ergebnisse. Das Prinzip hier heißt, dass ähnliche Personen auch ähnliche Ergebnisse erzielen müssen. Sind beispielsweise die Inputdaten von zwei Personen im Rahmen einer Kreditprüfung sehr ähnlich, aber der Output (Person A erhält den Kredit, und Person B erhält den Kredit nicht) unterschiedlich, so wäre die Entscheidung möglicherweise unfair. Jedoch gilt es an dieser Stelle erst einmal zu definieren, in welcher Form sich Person A und Person B ähnlich sind, welche Merkmale sich möglicherweise unterscheiden und wie diese zu bewerten sind.

3. Kausalbasierte Fairness: Nicht alle Kriterien können auch mathematisch erfasst werden, daher hinterfragt die Counterfactual-Fairness-Metrik die Kausalketten und die Mechanismen, wie Daten erzeugt werden. So würde nach diesem Prinzip beispielsweise erst die Frage beantwortet werden, wie die Kreditentscheidung aussehen würde, wenn Person A ein anderes Geschlecht hätte? Sie versucht daher mit Expertenwissen zunächst eine zufällige Struktur zur Beantwortung des Problems wie der Kreditvergabe zu finden. Damit wird jedoch auch der Nachteil dieser Methodik sichtbar: Sie ist weniger robust und mehr subjektiver Natur.

Das Debiasing von Datensätzen ist demnach ein wichtiger Ansatz, um sicherzustellen, dass resultierende Daten und Ergebnisse keinen strukturellen Rassismus aufweisen. Dies gestaltet sich jedoch insbesondere bei solchen Daten als anspruchsvoll, bei denen die Verarbeitung sensibler Informationen erforderlich ist. In solchen Fällen ist es oft notwendig, dass wichtige Entscheidungen während der Entwicklung von technischen Systemen getroffen werden, da sich gesellschaftliche Regeln diesbezüglich erst etablieren müssen.

5.5 Werkzeuge für die Gestaltung ethischer Systeme

Aus den vorherigen Kapiteln lässt sich verdeutlichen, dass ethisches Design und Technikgestaltung eine Herausforderung sind, bei der es bei einigen Konflikten nicht immer eine klare Lösung gibt. Weiterhin lässt sich die ethische Bewertung von Technologiegestaltung nicht einfach auf andere Anwendungsbereiche übertragen und erfordert somit die systematische Bewertung des Einzelfalls mit den betroffenen Interessengruppen. Die folgenden vier Leitlinien und Methoden stehen dabei exemplarisch für eine Vielzahl von Umsetzungsmöglichkeiten, wie die Verbraucherinformatik ethische Fragestellungen in der Technikgestaltung zu berücksichtigen versucht.

5.5.1 Leitlinien der EU

Zunächst betrachten wir die Umsetzung von ethischen Leitlinien der Europäischen Union (EU), die unter dem Namen Assessment List for Trustworthy AI (ALTAI) (AI HLEG 2020) veröffentlicht ist. In dieser Hinsicht hat die EU Ethikleitlinien für intelligente Systeme publiziert, mit denen ethische Prinzipien erfüllt werden sollen und die als Grundsätze für die Gestaltung von Technik von Unternehmen Anwendung finden sollen (Abb. 5.7).

Abb. 5.7
figure 7

Die Leitlinien vertrauenswürdiger KI in Anlehnung an die Hochrangige Expertengruppe für künstliche Intelligenz

Das Fundament hierzu bilden die vier ethischen Grundsätze:

  • Achtung der menschlichen Autonomie: Der Mensch muss die Möglichkeit haben, vollständig über sich selbst bestimmen zu können, und Systeme sollen nur dazu dienen, die Fähigkeiten des Menschen zu stärken bzw. diese zu ergänzen und nicht zu ersetzen.

  • Schadensverhütung: Zur Schadensverhütung zählt insbesondere die geistige und körperliche Unversehrtheit und der Schutz der Menschenwürde, der durch KI-Systeme kein Schaden zugefügt werden darf.

  • Fairness: Fairness als ethischer Grundsatz hat hier zwei Dimensionen. Die substanzielle Dimension soll Menschen vor unfairer Besserstellung bzw. Diskriminierung schützen, während die verfahrenstechnische Dimension Menschen die Möglichkeit bieten soll, sich gegen Entscheidungen von KI-Systemen zu wehren.

    Erklärbarkeit: Dieser Grundsatz beschäftigt sich damit, Vertrauen zu schaffen und zu gewährleisten, dass Prozesse transparent sind. Insbesondere muss der Zweck von Systemen kommuniziert und den betroffenen Menschen verständlich erklärt werden.

Um diese Grundsätze zu verwirklichen, gibt es weiterhin sieben definierte Kernanforderungen an vertrauenswürdige Systeme (Tab. 5.2):

Tab. 5.2 Die sieben Kernanforderungen an vertrauenswürdige Systeme

Um diese Anforderungen zu erfüllen, wird eine Bewertungsliste für vertrauenswürdige KI beschrieben, die einen einfachen Zugang zu diesen sieben Anforderungen für Entwickler:innen und Anwender:innen bieten soll. Die Bewertungsliste enthält dabei praktische Fragestellungen, die berücksichtigt werden müssen, wie beispielsweise:

  • Verbessert oder erweitert das KI-System die menschlichen Fähigkeiten?

  • Haben Sie den Schaden bewertet, der entstehen würde, wenn das KI-System ungenaue Vorhersagen machen würde?

Insgesamt besitzt die Checkliste über 75 Fragen und bietet den Vorteil, dass sich ein künftiger Rechtsrahmen für intelligente Systeme (AI Act) (AI HLEG 2020) an diesen Leitlinien orientieren wird. Unternehmen haben so die Möglichkeit, sich bereits jetzt auf diesen vorzubereiten und sicherzustellen, dass sie die möglichen Vorgaben aus rechtlicher Sicht umsetzen.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ALTAI eine Möglichkeit für Unternehmen bietet, technische Innovationen und KI-Systeme unter Berücksichtigung der Ethikleitlinien der Europäischen Union zu hinterfragen.

5.5.2 Ethics Canvas

Die Methode des Ethics Canvas ist eine Brainstorming-Methode, die an den Business-Model-Canvas-Ansatz von Osterwalder und Pigneuer angelehnt ist (Osterwalder und Pigneur 2011). Beide Ansätze verfolgen das Ziel, Geschäftsmodelle auf Basis von definierten Themenblöcken zu diskutieren. Während beim Business Model Canvas die Visualisierung und Strukturierung des eigenen Geschäftsmodells im Fokus steht, fokussiert der Ethics Canvas (Lewis et al. 2018) die ethischen Aspekte der Technologiegestaltung. Die Methode bietet die Möglichkeit, sich ein erstes Bild über die moralischen Aspekte von Systemen zu verschaffen und dabei in den gemeinsamen Austausch mit den betroffenen Interessengruppen zu kommen. Betroffene Interessengruppen können in diesem Fall beispielsweise zukünftige Nutzer:innen, politische Akteur:innen, oder Entwickler:innen sein. Dabei profitiert die Methode davon, die unterschiedlichen Perspektiven der Akteur:innen auf einen Anwendungskontext zu beleuchten und zu zeigen, welche normativen Urteile, Werte und Vorstellungen der beteiligten Personen bei der Entwicklung zugrunde gelegt werden. Der Ethics Canvas nähert sich über neun Themenblöcke (s. Abb. 5.8) drei zentralen Fragestellungen.

Abb. 5.8
figure 8

Die Methode des Ethics Canvas und seine Bausteine. Lizensiert als CC-BY-SA 3.0 Business Model Foundry AG (https://www.ethicscanvas.org/)

  1. (1)

    Wer? Welche Individuen und welche Personengruppen sind von der Technik betroffen?

Individuen: Wer kann ein System, das Produkt oder den Service nutzen? Gibt es beispielsweise verschiedene Altersgruppen, Geschlechter, vulnerable Personen? Nicht immer ist nur der:die tatsächliche Nutzende betroffen, auch Personen in seinem:ihrem Umfeld können betroffen sein.

Gruppen: Welche Gruppen sind von einem System betroffen? Wer ist an der Systementwicklung beteiligt? Welche Interessengruppen gibt es? Beispielsweise können Unternehmen mit wirtschaftlichem Erfolgsinteresse hier Unternehmen ohne wirtschaftliches Erfolgsinteresse gegenüberstehen.

  1. (2)

    Wie? In welcher Form sind Individuen und Personengruppen von der Technik betroffen? Zu der zweiten Frage gehören die Themenblöcke Verhalten und Beziehungen auf der Mikroebene, Weltansichten und Gruppenkonflikte auf der Makroebene und Produktfehler und Ressourcennutzung auf der nicht-menschlichen Ebene. Die Mikroebene beschäftigt sich mit Auswirkungen auf das alltägliche Leben von Verbraucher:innen, die ein System nutzen oder sich in dessen Umgebung befinden. Die Makroebene beschäftigt sich mit den Auswirkungen auf das Kollektiv und die sozialen Strukturen. Dabei können sie sich auf politische Strukturen oder auf kulturelle Wertesysteme beziehen. Weiterhin gibt es Auswirkungen, die nicht durch die Wertevorstellungen der menschlichen Akteur:innen entstehen, jedoch den Menschen in seinem Leben mit der Technik beeinflussen, wie beispielsweise durch Systemfehler des Produktes.

Verhalten: Wie verändert sich das Verhalten von Individuen durch das Produkt oder den Service? Können Auswirkungen auf die Gewohnheiten, Zeitpläne oder Aktivitäten eintreten?

Beziehungen: Wie verändern sich die Beziehungen zwischen den Individuen aufgrund der neuen Technologie? Welche Beziehungen ändern sich wie genau?

Weltansichten: Wie beeinflussen Weltansichten von Menschen die Entwicklung eines Produkts oder einer Technologie? Haben ihre Vorstellungen von Zusammenleben, Konsum, Arbeit oder sonstigen Elementen Einfluss auf die Gestaltung und Entwicklung?

Interessenkonflikte: Welche Gruppenkonflikte können entstehen, und wie beeinflussen diese die Technologie? Können beispielsweise einzelne Personengruppen von der Technologie ausgeschlossen werden?

Fehler: Welche potenziellen negativen Auswirkungen und Konsequenzen hat der Ausfall einer Technologie? Was passiert bei technischen oder sicherheitsrelevanten Fehlern?

Ressourcen: Die problematische Nutzung von Ressourcen bezieht sich insbesondere auf den Konsum unserer Gesellschaft. Dabei werden „allgemeinere“ Elemente wie die Folgen für das Klima, Energienutzung oder Finanzstrukturen diskutiert.

  1. (3)

    Was? Was können wir tun, um diese Problematiken und Konflikte zu adressieren und zu lösen? Zu der dritten Ebene gehört die Diskussion der Auswirkungen der im Vorfeld identifizierten Konflikte.

Zunächst steht hier eine Reflexion der im Vorfeld analysierten Themenblöcke an, um weiterhin die aus Sicht der diskutierenden Gruppe größten ethischen Konflikte einer Technologie oder eines Systems zu identifizieren. Sofern diese identifiziert sind, sollen Lösungsvorschläge entwickelt werden, die Unternehmen oder Organisationen bei der Gestaltung der Technologie berücksichtigen sollen. Was können wir in Bezug auf die ethischen Auswirkungen tun? Welche müssen gelöst werden?

Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Ethics Canvas eine intuitive Methode ist, die es ermöglicht, die ethischen Auswirkungen partizipativ mit allen Interessengruppen zu diskutieren, ohne ein explizites Vorwissen vorauszusetzen.

5.5.3 MEESTAR-Methode

Die MEESTAR-Methode (Modell zur ethischen Evaluation sozio-technischer Arrangements) fokussiert, wie der Name bereits verrät, die partizipative Evaluation der Konsequenzen von Technologie. Sie fußt auf einem vom BMBF geförderten Projekt aus dem Jahr 2012 mit dem Zweck, Konfliktpotenziale des Einsatzes altersgerechter Assistenzsysteme zu identifizieren und Lösungsansätze zu finden. Die von Manzeschke et al. (Manzeschke et al. 2013) entwickelte Methode kann jedoch als Werkzeug für weitere Anwendungskontexte genutzt werden und bietet somit die Möglichkeit, Technik ethisch zu evaluieren.

Das Modell besteht aus drei Achsen (Dimensionen, Perspektiven und Bewertungssensibilität), die in interdisziplinären Workshops bewertet werden. Alle Dimensionen können angepasst werden und wurden ursprünglich im Kontext von Assistenzsystemen für ältere Menschen entwickelt, die wir im Folgenden als Beispiel ebenfalls zur Erklärung nutzen.

Fürsorge: Die Fürsorge fokussiert insbesondere die Fürsorge für weitere Personen. Diese können möglicherweise bedürftig sein, weil sie aufgrund ihres Alters oder einer Behinderung nicht (mehr) in der Lage sind, Aktivitäten in ihrem Alltag allein durchzuführen. Sie sind demnach auf die Fürsorge anderer Personen angewiesen, die möglicherweise durch technische Assistenzsysteme ersetzt wird. Dabei wird jedoch die zwischenmenschliche Beziehung angetastet, und es stellt sich die Frage nach dem Ausmaß der technologischen Unterstützung. Gleichzeitig sollte die Frage nach dem Grad der Abhängigkeit gestellt werden.

Selbstbestimmung: Selbstbestimmung wird häufiger mit dem Begriff der Autonomie gleichgesetzt und bezieht sich auf die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit von Individuen. Insbesondere im Kontext von Inklusion hat die Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert in Deutschland und ist im Grundgesetz verankert. Die Förderung von Selbstbestimmung kann beispielsweise durch den Einsatz von Technologien gestärkt werden, denn durch Assistenzsysteme sind beispielsweise blinde Menschen in der Lage, mehr Dinge selbstständig zu erledigen (z. B: Screenreader). Dies wiederum kann auch im Konflikt zu Fürsorge stehen, da zwischenmenschliche Beziehungen sich verändern und die direkte persönliche Unterstützung durch andere Personen reduziert wird.

Sicherheit: Sicherheit kann als Zustand der Gefahrenbewältigung unter bestimmten Bedingungen wie beispielsweise der Zeit oder Umgebung beschrieben werden. Dabei kann Sicherheit nicht von einem Individuum vollständig allein hergestellt werden, sondern ist vielmehr das Resultat von sozialer Interaktion, wie Menschen miteinander umgehen (Heesen 2014). Im Grunde sollen technische Systeme die Gefahrenbewältigung unterstützen und Schutz vor Schaden bringen, beispielsweise die Erinnerung an die Einnahme von Medikamenten oder ein Alarmknopf für ältere Menschen, der automatisch Notfallsignale aussenden kann. Jedoch kann zwischen objektiver Sicherheit und subjektivem Sicherheitsgefühl unterschieden werden, das auch den möglichen Konflikt dieser Dimension beleuchtet. Was passiert, wenn beispielsweise das subjektive Sicherheitsgefühl zwar erhöht wird, jedoch objektiv ein System nicht mehr Sicherheit bringt? Weiterhin kann es passieren, dass sich Menschen aufgrund dessen auf Technik verlassen und möglicherweise eigene Fähigkeiten verlernen (Manzeschke et al. 2013).

Gerechtigkeit: Die Dimension der Gerechtigkeit beschreibt im MEESTAR-Modell insbesondere den Zugang zur Technik und damit die soziale Gerechtigkeit. Zum einen kann es gerecht sein, dass Verbraucher:innen selbst entscheiden, wie viele Ressourcen sie aufbringen wollen, um sich ein Assistenzsystem zu kaufen. Ein solches Marktmodell ist aber oft nicht solidarisch, und so kann Gerechtigkeit auch mit dem Prinzip der Bedürftigkeit verankert werden. Demnach stellt sich hier die Frage, ob jene Verbraucher:innen, denen ein finanzieller Zugang nicht möglich ist, die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Beispielsweise stellt sich die Frage, ob es nur gerecht ist, wenn sich jeder die Technik leisten kann. Dabei können ökonomische Interessen im Konflikt mit den Interessen von Unternehmen stehen (Koch 2014a).

Privatheit: Privatheit beschäftigt sich mit selbstgesetzten privaten Lebensbereichen, deren Grenzen zu schützen sind. Nach dieser Deutung sind alle Lebensbereiche privat, zu denen ein Individuum nicht ohne Zustimmung Zugang gewährt (Koch 2014b). Diese Grenzen gelten gleichwohl als Garantie der individuellen Freiheit und Autonomie. Im Kontext von digitalen Systemen wird Privatheit auch öfter mit digitalen und privaten Daten aufgeführt, da sie oft auf der Erhebung und Verwertung personenbezogener Daten fußen. Daher gilt es die unterschiedlichen Grenzen von Privatheit zu diskutieren und Lösungen für deren Schutz anzubieten.

Teilhabe: Teilhabe bezieht sich auf den Zugang zur Gesellschaft, der es ermöglicht, mit anderen Menschen zusammenzuleben und Rechte, Dienstleistungen, Güter in Anspruch zu nehmen. Essenziell für das menschliche Individuum wird der Begriff der Teilhabe auch in Diskussionen über die Inklusion und Integration von Menschen mit Behinderung geführt. Dabei darf kein Mensch von diesen Rechten, Gütern und dem Zugang hierzu ausgeschlossen werden, und es muss berücksichtigt werden, ob wir mit Assistenzsystemen möglicherweise Menschen Teilhabe ermöglichen und in welcher Form wir diese Teilhabe beispielsweise durch altersgerechte Assistenzsysteme anstreben oder sogar verhindern.

Selbstverständnis: Selbstverständnis ist ein subjektiver Bewertungszustand der eigenen Person und die Art und Weise der eigenen Wahrnehmung. Dem steht der objektive Zustand der eigenen Person gegenüber, der davon abweichen kann. Beispielsweise ist die Frage, wann jemand vor dem Gesetz als „blind“ gilt, von vielen Faktoren abhängig, die der subjektiven Selbstwahrnehmung widersprechen können. Die individuelle Perspektive und Wahrnehmung sind bei der Entwicklung von technologischen Assistenzsystemen vonnöten, um die Bedürfnisse angemessen unterstützen zu können und sich nicht nur an formalen Faktoren zu orientieren.

Die Perspektiven bieten die Möglichkeit, die Dimensionen nicht nur unter Berücksichtigung der Auswirkungen auf das Individuum zu bewerten, sondern vielmehr auch die gesellschaftliche und organisatorische Verantwortung zu diskutieren.

  • Individuelle Perspektive: Diese Ebene beschäftigt sich mit den Auswirkungen auf das Individuum, das von dem Assistenzsystem betroffen ist. Im Beispiel der Dimension Privatsphäre könnte es passieren, dass ein Individuum private Daten wie den Standort nicht teilen möchte, diese Information aber für bestimmte Funktionen notwendig ist.

  • Institutionelle Perspektive: Diese Ebene beschäftigt sich mit der Verantwortung von Organisationen und Unternehmen, denn insbesondere diese müssen ihre Handlungen rechtfertigen. Im Beispiel der Dimension Privatsphäre könnte es aus Sicht des Unternehmens passieren, dass personenbezogene Daten notwendig sind, um die Sicherheit von Betroffenen zu gewährleisten, diese Daten aber nicht verfügbar sind.

  • Gesellschaftliche Perspektive: Diese Ebene betrifft insbesondere die Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft, deren Verantwortung damit auch bei politischen Akteur:innen liegt. Im Beispiel der Dimension Privatsphäre könnte der Konflikt der Regulierung von personenbezogenen Daten eine Rolle spielen, so dass beispielsweise eine unerlaubte Nutzung (Überwachungsstaat) durch nicht-autorisierte Personen erfolgt.

Die Bewertungsmatrix wird in vier Stufen (s. Abb. 5.9) eingeteilt und soll eine Einschätzung liefern, bei welchen Systemen welche ethischen Probleme auftreten und wie diese zu bewerten sind. Die erste Stufe beinhaltet dabei Anwendungen und Konflikte, die aus ethischer Sicht unbedenklich sind, während die Stufe 4 Anwendungen und Konflikte aus ethischer Sicht so kritisch betrachtet, dass sie abzulehnen sind. Zunächst sind also die Ebenen und relevante Fragestellungen innerhalb dieser Ebenen zu definieren. Im Anschluss sollen die Situationen, Fragen und Konflikte aus unterschiedlicher Betrachtungsweise (die Perspektiven) mithilfe der Bewertungsmatrix bewertet werden, so dass sich ein Bild darüber ergibt, wie eine Anwendung und ihre Funktionen zu regulieren sind.

Abb. 5.9
figure 9

Die MEESTAR-Methode in Anlehnung an Manzeschke et al. (2013). Lizensiert als CC-BY-SA 4.0 (https://dl.gi.de/server/api/core/bitstreams/8bd1c152-7de9-4487-a422-c5dd66ecfcc0/content)

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die MEESTAR-Methode es ermöglicht, die Bewertung und Evaluation von ethischen Konflikten und Auswirkungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten.

5.5.4 ELSI Co-Design

Diese Methode wurde im Rahmen der Kriseninformatik entwickelt, um sicherzustellen, dass ethische, rechtliche und soziale Aspekte (ELSI) bereits frühzeitig in die Entwicklung von IT-Systemen einbezogen werden. Diese werden zudem gleichrangig mit funktionalen und weiteren technischen und regulatorischen Anforderungen behandelt. Dadurch soll vermieden werden, dass unerwünschte Nebeneffekte auftreten, die sich mitunter erst bei der späteren Nutzung im Einsatz zeigen, wenn das Design bereits abgeschlossen wurde. Ethische Aspekte sollen vielmehr möglichst frühzeitig sichtbar und zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen mit Stakeholdern (wie Entwicklern, Rettungskräften, Zivilgesellschaft etc.) gemacht werden (Boden et al. 2021; Al-Akkad et al. 2014). Obwohl der Ansatz aus einer speziellen, ethisch sehr sensiblen Domäne stammt, ist er auch für weitere Anwendungsbereiche geeignet (Perng et al. 2021).

Für die Umsetzung schlagen die Forscher einen iterativen und experimentellen Entwicklungsprozess vor, bei dem ethische Aspekte durch flankierende ethnografische Feldforschung bzw. im Rahmen von Co-Design-Sessions mit Stakeholdern identifiziert und sichtbar gemacht werden sollen. Das Vorgehen orientiert sich dabei an einem Mix aus klassischen Co-Design-Methoden (s. a. Kap. 6) und „Disclosive Ethics“-Ansätzen (Introna 2005), wobei das ELSI Co-Design besonders frühzeitig in der Entwicklung angewendet wird. Da es nicht realistisch erscheint, alle relevanten Stakeholder von Anfang an tief mit einzubeziehen (wie etwa zivilgesellschaftliche Akteure) wird die Rolle einer Ethik-Fachperson etabliert, die im Projekt die entsprechende Perspektive einnimmt und Abstimmungsprozesse initiiert und leitet.

Dabei liegt der Fokus stets auf Aushandlungsprozessen, die im Zusammenspiel zwischen Menschen bzw. deren Praktiken (s. a. Kap. 2), Technikentwicklung und ethischen Aspekten wie Werten und rechtlichen Aspekten entstehen können (siehe Abb. 5.10). Diese werden im Rahmen des Projekts immer wieder auf ihre Relevanz für ethische Aspekte wie mögliche Einflüsse auf Würde, Menschlichkeit, Solidarität, Autonomie und Inklusion überprüft und mit den Stakeholdern des Entwicklungsprozesses diskutiert. Dazu wurden im Rahmen der Forschung verschiedene Werkzeuge mit ethischen Aspekten und Maßnahmen identifiziert, die im Rahmen des ELSI Co-Designs thematisiert werden können.Footnote 1

Abb. 5.10
figure 10

ELSI-Co-Design als iterativer, experimenteller Forschungs- und Entwicklungsprozess

In Anlehnung an gängige Vorgehensweisen bei der Technikgestaltung folgt die Umsetzung des ELSI Co-Designs einem Dreischritt aus empirischen Vorstudien und Co-Design-Sessions (in der Regel unter aktiver Einbeziehung von Anwender:innen), dem Durchführen von spezifischen ELSI-Workshops mit Stakeholdern sowie der Untersuchung von Aneignungseffekten bei der praktischen Anwendung im Feld bzw. im Labor.

Phase I: Hier werden vor allem die entsprechenden Rollen etabliert sowie Werkzeuge für die Umsetzung eingerichtet. So hat sich in der Praxis etwa die Nutzung von Wiki-Systemen bewährt, um die gefundenen ethischen Aspekte zu dokumentieren. Des Weiteren werden in dieser Phase Stakeholder identifiziert und kontaktiert sowie bestehende Nutzungspraktiken, Werkzeuge und Infrastrukturen identifiziert und dokumentiert. Falls nicht alle Stakeholder zu einem Dialog bereit sind, müssen ggf. Experten oder Repräsentanten gefunden werden.

Phase II: In dieser Phase finden die Technikentwicklung sowie vertiefende Domänenanalysen statt, die immer wieder durch Ethik-Workshops mit den in Phase I identifizierten Stakeholdern sowie auch den Entwickler:innen im Projekt durchgeführt werden. Hier haben sich etwa Formate wie Zukunftswerkstätten, Design Fictions, aber auch erste Prototyp-Tests als hilfreich erwiesen. Die dabei identifizierten Themen und möglichen ethischen Probleme werden dokumentiert und wiederum an die Entwickler:innen zurückgespielt, damit diese auf sie reagieren und entsprechende Maßnahmen zur Behebung implementieren können. Dabei auftretende Ziel- und Interessenkonflikte können nicht immer vollständig aufgelöst werden, sie werden so aber immerhin sichtbar gemacht und dokumentiert.

Phase III: In der letzten Phase werden die identifizierten Ethikaspekte im Rahmen der Projektevaluation nochmals geprüft. Hier soll einerseits sichergestellt werden, dass die in Phase II durchgeführten Anpassungen erfolgreich waren. Andererseits sollen auch die zuvor identifizierten ethischen Aspekte nochmals verfeinert und mit Blick auf weitere Aneignungseffekte überprüft werden. Dadurch sollen die ethischen Auswirkungen der entwickelten Technologie sowie die bereits getroffenen Gegenmaßnahmen transparent gemacht werden.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die ELSI-Co-Design-Methode es ermöglicht, die Aushandlung von ethischen Aspekten bereits während der Entwicklung von Technologie vorzunehmen.

Nachdem das Thema Ethik und Fairness nun abschließend umrissen wurde, soll im folgenden Abschnitt auf den Themenbereich Nachhaltigkeit im Kontext der Verbraucherinformatik eingegangen werden.

5.6 Der Begriff der Nachhaltigkeit – die drei Säulen

Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED) definiert nachhaltige Entwicklung als eine Entwicklung, welche „die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Brundtland 1987). Nach dieser oft zitierten Definition haben heutige Generationen eine besondere Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen (Kloepffer 2008). Ziel einer nachhaltigen Entwicklung ist es, die Lebensgrundlage aller Menschen in der Gegenwart und in der Zukunft zu sichern (Dillard et al. 2008). Während sich der Begriff der Nachhaltigkeit ursprünglich nur auf seinen ökologischen Aspekt konzentrierte (Atkinson 2000; Rees 2002), wird Nachhaltigkeit heute überwiegend als mehrseitiges Konzept verstanden, das die drei Dimensionen ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit umfasst und stets als wechselseitig betrachtet wird (Elkington 1998). Demnach kann Nachhaltigkeit langfristig nur erreicht werden, wenn neben ökologischen Aspekten auch ökonomische und soziale Aspekte berücksichtigt werden, da sich diese drei Dimensionen nicht gegenseitig ausschließen, sondern voneinander abhängig sind und sich gegenseitig beeinflussen (United Nations General Assembly 2005). Daher gilt auch umgekehrt, dass ökonomische und soziale Nachhaltigkeit nur auf Basis von ökologischer Nachhaltigkeit existieren kann.

5.6.1 Ökologische Nachhaltigkeit

Ökologische Nachhaltigkeit bezieht sich auf eine Lebensweise oder wirtschaftliches Handeln, das die Natur oder die natürlichen Ressourcen des Lebens nur in dem Maße beansprucht, in dem sie sich regenerieren können. Im Hinblick auf ökologisch nachhaltiges Wirtschaften unterscheidet die Literatur zwischen dem produktionsorientierten Ansatz und dem konsumorientierten Ansatz (Clark 2007; Nash 2009). Produktionsorientierte Konzepte verfolgen das Ziel eines geringen Ressourcenverbrauchs, der durch eine effizientere Nutzung von Energie und Rohstoffen bei der Produktion von Gütern oder Dienstleistungen erreicht werden soll (O’Brien 1999; Veleva und Ellenbecker 2001). Der konsumorientierte Ansatz hingegen berücksichtigt unterdessen das Konsumverhalten und insbesondere Rebound-Effekte (Hertwich 2005; Tukker et al. 2008). Diese Rebound-Effekte treten auf, wenn innovative Technologien, die eigentlich das Potenzial haben, die Effizienz von Ressourcen zu steigern, in einer Weise verwendet werden, die zu einem erhöhten Verbrauch von Ressourcen führt (Saunders 1992; Binswanger 2001). Rebound-Effekte werden insbesondere durch sinkende Preise infolge einer effizienteren Produktion ausgelöst, die zu einer erhöhten Nachfrage durch Verbraucher:innen führen.

5.6.2 Ökonomische Nachhaltigkeit

Ökonomische Nachhaltigkeit bezieht sich auf die Fähigkeit eines wirtschaftlichen Systems, langfristig funktionsfähig zu bleiben, während gleichzeitig die Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesellschaft berücksichtigt werden. Dies umfasst Maßnahmen, die ökonomisches Wachstum, Stabilität und Wohlstand fördern, ohne dabei natürliche Ressourcen zu erschöpfen oder soziale Ungleichheiten zu schaffen. Hierzu zählen unter anderem ein fairer Handel und faire Arbeitspraktiken in Unternehmen sowie ein auf Nachhaltigkeit ausgelegtes Ressourcenmanagement. Auch die Förderung von Innovationen und die Entwicklung nachhaltiger Technologien können zur wirtschaftlichen Nachhaltigkeit beitragen. Technologien, welche die Energieeffizienz fördern, Abfälle reduzieren und die Ressourcennutzung verbessern, sind für die langfristige wirtschaftliche Lebensfähigkeit von entscheidender Bedeutung (Brundtland 1987; Hansen et al. 2011).

5.6.3 Soziale Nachhaltigkeit

Eine Gesellschaft ist sozial nachhaltig, wenn es eine globale Verteilungsgerechtigkeit gibt. Diese Verteilungsgerechtigkeit soll zum einen intergenerational strukturiert sein, also die Bedürfnisse der heutigen Generation genauso berücksichtigen wie die Bedürfnisse kommender Generationen; zum anderen soll sie intragenerationale Verhältnisse berücksichtigen, also eine Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Armen und den Reichen herstellen (Littig und Grießler 2004). Dazu gehören neben der Armutsbekämpfung und der Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse auch ein fairer Zugang zu Chancen und Bildung, die gerechte Verteilung von Ressourcen unabhängig von Generation, Status und Ort sowie die Gleichberechtigung der Geschlechter. Soziale Nachhaltigkeit umfasst darüber hinaus den Einfluss von Unternehmen auf Menschen und Gesellschaft. Unternehmen handeln sozial, wenn sie sichere Arbeitsbedingungen und ein Gehalt bieten, das die Lebenshaltungskosten ihrer Mitarbeitenden deckt (Kropp 2019).

5.6.4 Zentrale Handlungsfelder

Für viele Institutionen und Akteur:innen ist die Idee der nachhaltigen Entwicklung mittlerweile zum Modell für politisches, ökonomisches und ökologisches Handeln geworden. Im Jahr 2001 hat die Bundesregierung den Rat für Nachhaltige Entwicklung berufen. Im Rahmen der im April 2002 verabschiedeten Nachhaltigkeitsstrategie „Perspektiven für Deutschland“ wurden drei Handlungsfelder definiert, in denen Aktivitäten als besonders notwendig erachtet werden: „Klimaschutz und Energiepolitik“, „Umwelt, Ernährung und Gesundheit“ sowie „Umweltverträgliche Mobilität“ (Die Bundesregierung 2002).

Hier wird deutlich, dass insbesondere der Bereich der Mobilität ein wichtiges Element einer nachhaltigen Entwicklung darstellt. Die CO2-Emissionen im Verkehrssektor stellen eine große Belastung für die Umwelt und zugleich eine Bedrohung für die menschliche Gesundheit dar (Kennedy 2002; Krzyzanowski et al. 2005). Gleichzeitig ist Mobilität auch eine zentrale Voraussetzung für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung moderner Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften. Das starke Wachstum der Verkehrsdienstleistungen und die damit verbundenen Umweltauswirkungen des Verkehrs stellen eine Herausforderung für die Akteure auf allen Ebenen dar. Nach dem oben beschriebenen Verständnis von Nachhaltigkeit handelt die Gesellschaft sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart nicht nachhaltig. Dies zeigt sich in der Luftverschmutzung, den CO2-Emissionen und der Lärmbelästigung durch den Verkehr, Gesundheitsprobleme der Anwohner:innen, Flächenprobleme in Innenstädten durch geparkte und fahrende Autos sowie Versiegelung, Bodenschäden und Fragmentierung der Landschaft durch Straßen.

5.6.5 Nachhaltiger Konsum

Durch den Konsum unterschiedlicher materieller und immaterieller Güter können Konsument:innen ihre individuellen Bedürfnisse befriedigen. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass dieser Konsum nicht nur einen Einfluss auf die ökonomische und soziale Situation der Konsument:innen hat, sondern ebenso auf den Zustand ihrer Umwelt. Welches Ausmaß die Folgen eines ungeregelten Konsums annehmen können, sieht man bereits heute, wenn man beispielsweise die aktuelle Entwicklung des Klimawandels, das Artensterben bei Tieren und Pflanzen sowie die Vergiftung von Böden und Gewässern betrachtet (Umweltbundesamt 2023a; Krapf und Wehlau 2009).

So lag laut Veröffentlichungen des deutschen Umweltbundesamtes im Jahr 2019 der summierte Verbrauch an Rohstoffen im Bereich Konsum bei rund 16 t pro Kopf. Hinzu kommt, dass die Haushalte allein rund ein Viertel des gesamten Verbrauchs an Energie ausmachten. Darüber hinaus liegt der summierte CO2-Fußabdruck pro Person in Deutschland aktuell bei 10,5 t pro Jahr. Dieser setzt sich zusammen aus den Bereichen Wohnen, Strom, Mobilität, Ernährung, Nutzung öffentlicher Infrastruktur und dem sonstigen Konsum, wobei insbesondere die Bereiche Wohnen, Mobilität und sonstiger Konsum besonders ins Gewicht fallen (siehe Abb. 5.11) (Umweltbundesamt 2023b).

Abb. 5.11
figure 11

CO2-Fußabdruck pro Kopf in Deutschland (Umweltbundesamt 2023c). Lizensiert als CC 4.0 (https://www.bmuv.de/fileadmin/Daten_BMU/Bilder_Infografiken/co2_fussabdruck_deutschland.jpg)

Auch wenn der Aspekt der Attribuierung des CO2-Ausstoßes auf der Seite von Konsument:innen statt den produzierenden Unternehmen kritisch gesehen werden kann, wird deutlich, welches Potenzial zur Verringerung der Umweltbelastung im Konsumverhalten eines jeden Individuums liegt. Hier gewinnt der Begriff des nachhaltigen Konsums zunehmend an Bedeutung. Dieser Begriff wird definiert als ein Konsumverhalten, das es sowohl heutigen als auch nachfolgenden Generationen ermöglicht, ihre jeweiligen Bedürfnisse zu befriedigen, und gleichzeitig die Belastbarkeitsgrenzen des Planeten berücksichtigt.

In der Praxis wird jedoch oft beobachtet, dass Einzelpersonen mit der Einhaltung nachhaltiger Verhaltensmuster überfordert sind. Dies kann unter anderem daran liegen, dass unser alltägliches individuelles Konsumverhalten als Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse in normativen und strukturellen Rahmenbedingungen verankert ist. Nachhaltiger Konsum liegt demnach nicht nur in der Hand des Individuums. Vielmehr handelt es sich um ein umfassendes Handlungsfeld, das einer integrierten Strategie zur Unterstützung nachhaltigen Verhaltens von Politik, Unternehmen, Gesellschaft und Individuum bedarf. So wurde 2002 die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie veröffentlicht, die sich auf die Erreichung diverser Nachhaltigkeitsziele fokussiert und seitdem fortlaufend weiterentwickelt wird. Im Rahmen dieser Nachhaltigkeitsstrategie werden sechs relevante Transformationsbereiche definiert, die in Zukunft von der Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung in Angriff genommen werden sollen. Neben Bereichen wie der sozialen Gerechtigkeit, der Energiewende und nachhaltigen Agrar- und Ernährungssystemen ist auch die Etablierung einer Kreislaufwirtschaft Bestandteil der Nachhaltigkeitsstrategie (BMUV 2022). Der Begriff Kreislaufwirtschaft beschreibt hierbei ein Wirtschaftssystem, bei dem Ressourcen möglichst lange genutzt werden sollen, bevor sie entsorgt werden. Dies wird beispielsweise durch eine Wiederverwertung oder eine geteilte Nutzung von Ressourcen ermöglicht (Holzinger 2020).

Digitale Technik wird vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit im Konsumbereich zwiespältig diskutiert (Kannengießer 2022). Einerseits bietet sie große Potenziale für die effiziente Organisation der Gesellschaft als Hilfsmittel für aktuelle Herausforderungen und die Verbraucherbildung (Ehsan et al. 2022). Auf der anderen Seite kann sie durch ihren eigenen Ressourcenbedarf sowie andere Effekte wie Dark Patterns und Fake News selbst als Teil des Nachhaltigkeitsproblems betrachtet werden. Die Verbraucherinformatik vertritt daher die Position, dass technische Innovationen nur dann erfolgreich zum Thema Nachhaltigkeit beitragen können, wenn die gesellschaftlichen Aneignungs- und Nebeneffekte (siehe oben) angemessen in die sozio-technische Gestaltung mit einbezogen werden (Liegl et al. 2016).

Dies soll im Folgenden anhand des im Bereich des nachhaltigen Konsums zentralen Themas der Sharing Economy dargestellt werden.

5.7 Nutzen statt Besitzen – Sharing Economy

Die Idee des gemeinschaftlichen Konsums, oft bezeichnet durch Ausdrücke wie „Nutzen statt Besitzen“, „Collaborative Consumption“ oder „Sharing“, hat in jüngster Zeit Verbreitung unter Teilen der Bevölkerung, Unternehmen und staatlichen Organisationen gehalten. Diese Begriffe stehen für alltägliche Handlungsweisen, die darauf abzielen, verschiedene Produkte und Dienstleistungen gemeinschaftlich zu nutzen, anstatt sie individuell zu besitzen (Baedeker et al. 2018).

Basierend auf dieser Idee des Gemeinschaftskonsums hat sich die Sharing Economy (auch „Shareconomy“ oder „Share Economy“ genannt) entwickelt. Die Sharing Economy wird von Richter et al. als ein ökonomisches Modell beschrieben, das mithilfe von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) das Teilen von sowohl digitalen als auch physischen Gütern ermöglicht (Richter et al. 2015). Anders als bei herkömmlichen Geschäftsmodellen wird der Nachfrager hierbei nicht zum Eigentümer des nachgefragten Gutes. Vielmehr liegt der Fokus dieses Sammelbegriffs auf einer geteilten, temporären Nutzung von Gütern. Vorteile des somit erzielten Gemeinschaftskonsums sind unter anderem eine höhere Auslastung von Ressourcen und damit einhergehend eine Schonung der Umwelt. Außerdem erhalten Interessengruppen Zugriff auf Güter, die unter anderen Bedingungen gegebenenfalls finanziell nicht erschwinglich wären (Shaheen et al. 1998). Die Idee, Güter zu teilen, statt sie zu verkaufen, existiert bereits seit langer Zeit. Neu an dem Konzept der Sharing Economy ist die Einbeziehung von digitalen Technologien in das Geschäftsmodell (Busch et al. 2018). So findet man typischerweise Unternehmen vor, die eine digitale Plattform, meist in Form einer App, bereitstellen. Über diese können die Kunden Transaktionen tätigen oder benötigte Informationen über vorliegende Güter erhalten und somit binnen Sekunden Nutzungsrechte an einem geteilten Gut erwerben.

5.7.1 Merkmale der Sharing Economy

Laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie hat das Interesse an der Sharing Economy in Deutschland seit dem Jahr 2013 stark zugenommen, sodass sich im Laufe der Zeit ein breitgefächerter Wirtschaftsbereich daraus entwickeln konnte. Trotz der steigenden Beliebtheit und weiten Verbreitung gibt es jedoch immer noch keine einheitliche Definition für den Begriff der Sharing Economy (Busch et al. 2018). Es lassen sich jedoch folgende Kernelemente bezüglich der Geschäftsmodelle feststellen:

  • Die Sharing Economy zielt auf eine sequenzielle, mehrfache Nutzung von Gütern ab. Eine Eigentumsübertragung gibt es hingegen nicht. Stattdessen findet eine temporäre Übertragung von Nutzungsrechten statt, wobei dies häufig im Austausch gegen eine Bezahlung geschieht.

  • Informations- und Kommunikationstechnologien stellen einen zentralen Bestandteil der Sharing Economy dar. Die gesamte Transaktion, sprich: die Suche nach dem Gut, dessen Buchung oder Reservierung, sowie die Zahlung finden online statt. Dazu werden vom Sharing-Unternehmen meist entsprechende Plattformen in Form von Apps oder entsprechenden Internetseiten zur Verfügung gestellt. Sharing-Plattformen können als mehrseitige Märkte beschrieben werden. Das Sharing-Unternehmen dient hierbei als Intermediär, der die Nutzer:innengruppe der Nachfrager:innen und die Nutzer:innengruppe der Anbieter:innen über die bereitgestellte Online-Plattform zusammenführt.

  • Die Nachfrager sind Endkonsument:innen. Hier unterscheidet man zwischen Peer-to-Peer (P2P)- und Business-to-Consumer (B2C)-Modellen. Bei P2P-Modellen ist sowohl der:die Anbieter:in des Gutes als auch der:die Nachfrager:in eine Privatperson. Das Sharing-Unternehmen fungiert hier nur als Intermediär, der beide Marktseiten zusammenführt. Bei B2C-Modellen stellt das Sharing-Unternehmen selbst die zu teilenden Güter zur Verfügung (Busch et al. 2018).

5.7.2 Unterschiedliche Sektoren der Sharing Economy

Die Sharing Economy hat in den letzten Jahren ein enormes Wachstum erfahren. Dies wurde insbesondere durch die zunehmende Verfügbarkeit des Internets sowie durch die wachsenden digitalen Geschäftsmodelle begünstigt (Ganapati und Reddick 2018). So haben sich im Laufe der Jahre unterschiedliche Sektoren herausgebildet. Zu diesen zählen beispielsweise die Sektoren Unterkunft, Alltagsgegenstände und Mobilität.

Im Bereich Unterkunft werden Immobilien für eine geteilte Nutzung angeboten. Existierende Angebote stellen beispielsweise Büroräume für gewerbliche Zwecke temporär zur Verfügung. Man spricht hierbei auch von sogenannten Shared Offices. Für Unternehmen birgt dieses Geschäftsmodell das Potenzial erheblicher Einsparungen im Bereich des Facility Managements, da hohe Fixkosten für die traditionelle Miete von Immobilien umgangen werden können. Andere Angebote stellen private Zimmer, Apartments oder ganze Häuser für Wohnzwecke zur Verfügung. Bedeutsam für die Abgrenzung zur traditionellen Miete ist stets die Tatsache, dass die Wohneinheiten nur temporär für kurze Zeitabschnitte bereitgestellt werden, beispielsweise an einzelnen Wochenenden, an denen der eigentliche Inhaber des Wohnraums diesen selbst nicht nutzt. Man spricht in diesem Kontext auch von Homesharing (Busch et al. 2018).

Im Bereich Alltagsgegenstände existieren Geschäftsmodelle, die sich auf eine geteilte Nutzung von Konsumgütern des privaten Umfelds beziehen. Merkmal dieser Alltagsgegenstände ist, dass sie beim eigentlichen Besitzer des Gutes zwar zur generellen Nutzung zur Verfügung stehen, aber nicht gebraucht oder verwendet werden. Hierzu zählen beispielsweise Kleider, Spielzeug, Werkzeuge oder Elektrogeräte. Der:die Besitzer:in bietet anderen Privatpersonen die Verwendung dieser Gebrauchsgegenstände für einen befristeten Zeitraum an.

Einen weiteren sehr verbreiteten Bereich der Sharing Economy stellen Medien- und Unterhaltungsplattformen dar. Bekannte Plattformen sind SoundCloud, eine Plattform zum Teilen von Musik, YouTube als größte Videoplattform, Castbox zum Teilen von Podcasts und viele mehr. Diese Plattformen zeichnen sich häufig durch ein Freemium-Geschäftsmodell aus (Clement et al. 2019), das einen kostenlosen Basisdienst und Premium-Funktionen bietet, die es z. B. ermöglichen, Inhalte herunterzuladen und offline anzuhören.

Zugehörig zum Mobilitätssektor beschreibt Shared Mobility die geteilte Nutzung von Fahrzeugen unterschiedlicher Art. Seit dem Aufkommen der ersten Projekte bereits in den 1940er-Jahren (s.u.) hat sich mittlerweile, ermöglicht durch die Digitalisierung, eine Vielzahl an unterschiedlichen Shared-Mobility-Modellen entwickelt (Shaheen et al. 1998). Alle diese Modelle fokussieren auf einen Gemeinschaftskonsum von Fahrzeugen. Welche Fahrzeuge auf welche Art und Weise dabei geteilt werden, unterscheidet sich jedoch von Modell zu Modell. In der Literatur werden drei Kategorien von Shared Mobility unterschieden, die sich wiederum in Unterkategorien einteilen lassen. Die erste Kategorie wird als Vehicle Sharing bezeichnet. Hierbei werden den Konsument:innen der Angebote Fahrzeuge zur alleinigen Nutzung zur Verfügung gestellt, so dass diese ihre Mobilitätsbedürfnisse decken können, ohne ein eigenes Auto besitzen zu müssen. Die zweite Kategorie wird als Ridesharing bezeichnet. Hierbei wird nicht das Fahrzeug als solches geteilt. Sharing-Gegenstand bei diesen Modellen sind Fahrten. Das bedeutet, dass Konsument:innen zu Mitfahrer:innen von privaten oder kommerziellen Fahrten werden. Die dritte Kategorie beschreibt Modelle, bei denen Privatpersonen als Lieferant:innen für andere Personen aktiv werden können. Oftmals handelt es sich bei den Liefergegenständen um Essen, das Privatpersonen beispielsweise bei einem Restaurant oder einem Lebensmittelgeschäft bestellen und sich dann von anderen Privatpersonen mit dem Fahrrad, mit dem Auto oder zu Fuß liefern lassen (Shaheen et al. 2016).

Durch den Gemeinschaftskonsum soll neben der oben bereits erwähnten Schonung vorliegender Ressourcen noch eine Vielzahl weiterer positiver Effekte für die Nachhaltigkeit erzielt werden. Dabei ist anzumerken, dass es auch kritische Sichtweisen auf die Nachhaltigkeit der Sharing Economy gibt (siehe Kap. 1). Da dem Sektor Mobilität eine besonders hohe Bedeutung für einen nachhaltigen Konsum zugeschrieben wird, soll im folgenden Kapitel das Phänomen der Shared Mobility genauer betrachtet werden.

Fallbeispiel: Allgegenwärtigkeit der Share Economy

Markus begeistert sich für das Konzept einer geteilten Nutzung von Gütern und überlegt, in welchen Lebensbereichen er selbst schon Nutzer von Angeboten der Sharing Economy ist: Während seines letzten Urlaubs in Italien hat er auf ein Hotel verzichtet und sich stattdessen ein Apartment über Airbnb gemietet. Das war viel günstiger und zudem auch besser ausgestattet. Zudem braucht Markus kaum noch sein eigenes Auto, seitdem er entdeckt hat, dass direkt neben seiner Wohnung eine Nextbike-Station steht. Hier kann er sich bequem jeden Morgen ein Fahrrad leihen und damit zur Hochschule fahren.

Selbstkontrolle:

Überlegen Sie, ob es in Ihrem Alltag ebenfalls bereits Bereiche gibt, in denen Sie die Möglichkeiten der Sharing Economy nutzen. In diesem Unterkapitel haben Sie bereits einen Einblick in einige Sektoren bekommen. Doch es gibt noch weitere, die hier nicht erwähnt wurden. Fallen Ihnen weitere Sektoren ein?

5.8 Shared Mobility

Aufgrund der zunehmenden Urbanisierung und den damit einhergehenden steigenden Anforderungen an die Infrastruktur kämpfen Städte verstärkt mit verkehrsbezogenen Problemen. Immer häufiger kommt es zu Überlastungen des Straßenverkehrs sowie des öffentlichen Personennahverkehrs. Daraus resultieren häufige Staus, eine Einschränkung der Mobilität und ein allgemeiner Mangel an Parkplätzen. Begleitet werden diese Probleme durch eine erhöhte Schadstoffemission, die nicht mehr mit heutigen Umweltanforderungen an eine Optimierung der Energieeffizienz und den Klimaschutz in Einklang zu bringen ist (Schmidt und Hellali-Milani 2016). Daher gewinnt der Begriff der Mobilitätswende zunehmend an Bedeutung. Interessengruppen aus Politik, Forschung und Wirtschaft verfolgen hierbei die Zukunftsvision neuer Mobilitätsmuster, unter denen Menschen ihre Bedürfnisse nach Mobilität einfacher und nachhaltiger befriedigen können. Vor diesem Hintergrund werden unter anderem neue Mobilitätstechnologien erforscht (Hagebölling und Josipovic 2018). Eine besonders vielversprechende Technologie hierbei ist Shared Mobility. Verfügbare Angebote existieren in unterschiedlichen Ausprägungen.

5.8.1 Vehicle Sharing

Innerhalb des Vehicle Sharing erhält der:die Nutzer:in temporär den alleinigen Zugriff auf ein Fahrzeug (S. Shaheen et al. 2020). Er:Sie hat somit die Möglichkeit, seine:ihre Mobilitätsbedürfnisse flexibel zu decken, ohne dabei ein eigenes Fahrzeug besitzen zu müssen. Um die Nutzungsrechte zu erhalten, muss das Fahrzeug vorher gebucht werden. Je nach Modell und Anbieter kann diese Buchung über das Telefon, das Internet oder entsprechende Apps auf dem Smartphone erfolgen. Je nachdem, welches Fahrzeug geteilt wird, lässt sich Vehicle Sharing in weitere Unterkategorien aufteilen, namentlich Carsharing, Bikesharing und Scootersharing (Abb. 5.12).

Abb. 5.12
figure 12

Formen des Vehicle Sharing

5.8.1.1 Carsharing

Beim Carsharing haben Nutzer:innen die Möglichkeit, Fahrzeuge aus einer Pkw-Flotte temporär zu nutzen (Shaheen et al. 2016). Anbieter von Carsharing sind meistens kommerziell orientierte Unternehmen. In Deutschland gibt es aber auch eine Vielzahl an Genossenschaften und Vereinen, die Fahrzeuge für den Gemeinschaftskonsum in ihrer Kommune zur Verfügung stellen (Nehrke 2016). Angebote finden sich sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum. Je nach Anbieter sind die zur Verfügung gestellten Pkw-Flotten unterschiedlich aufgebaut. So sind vom Kleinstwagen bis hin zum Transporter fast alle Fahrzeugklassen vertreten. Da der Aspekt der Nachhaltigkeit im Bereich der Shared Mobility eine große Rolle spielt, konzentrieren sich viele Anbieter zudem auf Elektroautos.

Das erste Carsharing-Projekt gab es bereits im Jahr 1946 in Zürich (Schweiz). Motiviert durch die hohen Kosten, die der Besitz eines eigenen Autos mit sich trägt, sollte durch das Projekt auch solchen Personen der Zugriff auf ein Auto ermöglicht werden, die sich keinen eigenen Pkw leisten konnten (Shaheen et al. 1998). Neben den mindernden Auswirkungen auf die Umweltbelastung sind diese monetären Aspekte auch heute noch ein Argument für die Nutzung von Carsharing-Angeboten. Weitere Vorteile von Carsharing liegen in einer allgemeinen Entlastung des Straßenverkehrs und der geförderten Anwendung von multimodalen Strategien.

Bestehende Angebote können weiter unterteilt werden in „Roundtrip“- und „One-way“-Varianten. Beim Roundtrip-Carsharing stehen die Fahrzeuge an fest definierten Standorten. Durch die Buchung erhält der:die Nutzer:in ein temporäres Nutzungsrecht. Nachdem das Auto genutzt wurde, muss es wieder an denselben Standort zurückgebracht werden (S. Shaheen et al. 2016). Diese Variante besteht schon seit geraumer Zeit, sodass bereits vielzählige Studien durchgeführt werden konnten, welche die ökonomischen und ökologischen Auswirkungen des Roundtrip-Carsharings untersuchen. Der Bundesverband Carsharing beispielsweise hat 2019 eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Haushalte, die Roundtrip-Carsharing-Angebote nutzen, dazu tendieren, ihr eigenes Auto zu verkaufen (Bundesverband CarSharing e.V. 2019).

Bei One-way-Modellen hingegen können Nutzer:innen das Auto an einer Stelle abholen und ihre Fahrt an einer anderen Stelle beenden. In der flexibelsten Form spricht man von Freefloating-Carsharing. Dabei gibt es keine festen Stationen, an denen die Autos abgeholt und abgestellt werden müssen, stattdessen wird vom Anbieter ein Gebiet definiert (oftmals das gesamte Stadtgebiet, in dem das Angebot Gültigkeit hat). Innerhalb dieses Gebietes können die Benutzer:innen das Auto an jeder beliebigen Stelle abstellen und ihre Fahrt beenden. Im Vergleich zum Roundtrip-Carsharing ermöglicht diese Variante eine wesentlich flexiblere Art der Fortbewegung und ist deswegen insbesondere in urbanen Gebieten beliebt und weitverbreitet.

Neben Carsharing-Modellen, bei denen die Flotte durch ein Unternehmen bereitgestellt wird, gibt es noch diverse Arten, bei denen Privatpersonen ihr Fahrzeug zur Verfügung stellen. Hier spricht man auch von „Personal Vehicle Sharing“. In der reinsten Form fungiert das Unternehmen hier nur als Intermediär, der Nutzer:innen eine entsprechende Plattform anbietet, auf der Anbieter:innen und Nachfrager:innen zusammenkommen können.

Daneben gibt es noch einige Nischenmodelle wie das Hybrid P2P-traditional Carsharing, bei dem Unternehmen sowohl ihre eigene Flotte zur Verfügung stellen als auch P2P-Sharing ermöglichen. Ein weiteres Beispiel ist das Fractional-Ownership-Modell, bei dem mehrere Personen ein partielles Nutzungsrecht an einem Auto erhalten, indem sie einen Teil der Kosten tragen (Shaheen et al. 2016).

5.8.1.2 Bikesharing

Die zweite Unterkategorie des Vehicle Sharing wird als Bikesharing bezeichnet. Hier haben Nutzer:innen Zugriff auf eine Fahrzeugflotte, die aus Fahrrädern besteht. Anbieter sind überwiegend Unternehmen oder auch Stadtwerke. Oftmals bestehen auch Kooperationen zwischen beiden. Angebote finden sich hauptsächlich in urbanen Gebieten. Einige Anbieter fokussieren neben herkömmlichen Fahrrädern auf elektromotorisierte Räder, die auch als Pedelecs bezeichnet werden (Monheim et al. 2012).

Das erste Bikesharing Projekt wurde 1965 in Amsterdam ins Leben gerufen und bestand aus 50 Fahrrädern, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Dieses und viele weitere Projekte scheiterten jedoch aufgrund des Fehlens geeigneter Technologien, welche die Fahrräder vor Diebstahl und Vandalismus schützen. Durch technische Fortschritte im Bereich der Informationsverarbeitung und Datenübertragung konnten viele dieser Probleme weitestgehend behoben werden, was zu einer weiten Verbreitung von Bikesharing in Europa, Amerika und Asien führte (Shaheen et al. 2010).

Ähnlich wie beim Carsharing wird auch hier zwischen Freefloating-Modellen und stationsbasierten Modellen unterschieden. Eine Besonderheit von Bikesharing ist das Konzept des Bicycle-Redistribution-Systems. Demnach gibt es Anbieter, welche die Fahrräder ihrer Flotte in regelmäßigen Abständen einsammeln und dann, je nach festgestelltem oder prognostiziertem Bedarf, innerhalb des Angebotgebietes verteilen. Somit soll eine optimale Allokation der Fahrzeuge erreicht werden, so dass die Nutzung der Fahrräder gefördert wird und eine möglichst hohe Auslastung der Flotte erreicht werden kann. Konkret kann solch ein Redistributionssystem durch einen Lkw realisiert werden, der nachts die Fahrräder einsammelt und an entsprechenden Stellen innerhalb der Freefloating-Zone wieder abstellt.

In der Literatur wird Bikesharing zusätzlich noch in drei Unterkategorien unterteilt: Public Bikesharing, Closed Campus Bikesharing und P2P-Bikesharing. Während Public Bikesharing Angebote bezeichnet, deren Flotten für die gesamte Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden, bezeichnet Closed Campus Bikesharing solche Angebote, die nur bestimmten Personenkreisen zugänglich sind. In den meisten Fälle werden solche Angebote von Hochschulen oder Universitäten geführt und sollen ausschließlich den Studierenden zur Verfügung stehen. Die dritte Unterkategorie, das P2P-Bikesharing, bezeichnet Sharing-Modelle, in denen sowohl die Gruppe der Anbieter:innen als auch die Gruppe der Nutzer:innen aus Privatpersonen besteht (Shaheen et al. 2016).

5.8.1.3 Scootersharing

Die jüngste Form des Vehicle Sharing wird als Scootersharing bezeichnet und beschreibt Angebote, die eine Flotte aus Scootern zur Verfügung stellen. Der Begriff Scooter umfasst zwei Arten von Fahrzeugen. Zum einen sind hier E-Scooter gemeint. Solche Fahrzeuge werden im Stehen bedient und mit einem Elektromotor betrieben. Zum anderen gibt es auch Scooter, die im Sitzen bedient werden. In der Literatur werden diese Fahrzeuge auch Moped-Style-Scooter genannt (Shaheen et al. 2020).

Beide Fahrzeugarten bieten eine agile Fortbewegungsmöglichkeit und benötigen nur wenig Platz zum Parken. Zudem können E-Scooter teilweise auch zusammengeklappt werden und sind somit auch in öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus und Bahn transportierbar (Krauss et al. 2020). Daher stellen sie insbesondere in urbanen Gebieten ein beliebtes Fortbewegungsmittel dar.

Auch hier wird wieder zwischen stationsbasierten Modellen und Freefloating-Modellen unterschieden. Überwiegend findet man jedoch Angebote vor, bei denen die Scooter nach dem Freefloating-Konzept überall im Geschäftsgebiet abgestellt werden können.

5.8.2 Ridesharing

Teilen sich mehrere Personen während der Fahrt ein und dasselbe Fahrzeug, so spricht man von Ridesharing. Konsument:innen solcher Angebote werden zu Fahrgästen und können somit ihr Reiseziel erreichen, ohne selbst ein Fahrzeug besitzen oder fahren zu müssen. Die Rolle des:der Fahrer:in kann hierbei durch Vertreter:innen unterschiedlicher Interessengruppen eingenommen werden. So gibt es Angebote, bei denen auch die Fahrer:innen Privatpersonen sein können, die ihre eigenen Reisekosten senken oder Geld verdienen wollen. Ridesharing lässt sich weiter unterteilen in traditionelles Ridesharing, On-Demand Ride Services und Microtransits ( Shaheen et al. 2016) (Abb. 5.13).

Abb. 5.13
figure 13

Formen des Ridesharings

Beim traditionellen Ridesharing teilt sich eine Gruppe von Personen ein Auto (Carpooling) oder einen Van (Vanpooling), um die jeweiligen Bedürfnisse nach Mobilität zu decken. Grundvoraussetzung hierfür ist, dass die Teilnehmenden, Fahrer:innen und Fahrgäste, entweder das gleiche Reiseziel haben oder dass sich die individuellen Reiseziele wirtschaftlich mit einer gemeinsamen Fahrt abdecken lassen.

Diese Form des Gemeinschaftskonsums meint jedoch nicht nur kommerzielle Shared-Mobility-Modelle. Auch eine Gruppe von Familienmitgliedern, Nachbar:innen oder Arbeitskolleg:innen, die sich privat eine Fahrt teilen, kann theoretisch als eine Form von Ridesharing betrachtet werden. Man spricht in diesem Kontext von „Acquaintance-based Ridesharing“. Im Gegensatz dazu meint „Organized-based Ridesharing“ kommerzielle Angebote, bei denen Unternehmen das Car- oder Vanpooling organisieren. Nutzer:innen haben hierbei die Möglichkeit, sich über das Internet an solchen Angeboten zu beteiligen.

On-Demand Ride Services zeichnen sich dadurch aus, dass Fahrten von potenziellen Fahrgästen mehr oder weniger kurzfristig angefragt werden können. Häufig existieren solche Ridesourcing-Modelle in Form von zweiseitigen Märkten, bestehend aus der Teilnehmer:innengruppe der Fahrer:innen auf der einen Seite und der Gruppe der Fahrgäste auf der anderen Seite. Unternehmen übernehmen hier die Rolle der Intermediäre und bieten Internetseiten oder Apps an, die als gemeinsame Plattformen dienen und auf denen beide Interessengruppen zusammenfinden können (Chan und Shaheen 2012).

Häufig findet man in diesem Kontext auch Dienstleistungen, die auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sind. So gibt es in den USA beispielsweise Angebote, die sich auf Fahrten für ältere Menschen und Personen mit körperlichen Einschränkungen fokussieren. Die Fahrzeuge sind hierbei so ausgestattet, dass auch Rollstuhlfahrer:innen mitgenommen werden können. Zusätzlich sind die Fahrer:innen meistens geschulte Fachkräfte für den Umgang mit pflegebedürftigen Interessengruppen (Shaheen et al. 2016).

Teilen sich mehrere Fahrgäste ein Fahrzeug und die Gebühren für die Fahrt, so spricht man in diesem Kontext von Ridesplitting. Dabei werden die Anfragen mehrerer Nutzer:innen dynamisch gebündelt, so dass Nachfrager:innen mit ähnlichen Reisezielen in Echtzeit dem:der gleichen Fahrer:in zugeordnet werden können. Dadurch kann die Anzahl an benötigten Fahrzeugen weiter reduziert werden, zugleich können Fahrer:innen ihre Arbeitszeit effektiver nutzen, während die Bedürfnisse der Kund:innen flexibler erfüllt werden können (Furuhata et al. 2013).

Eine dritte Form wird als E-Hail-Service bezeichnet. Hier bieten Taxi-Unternehmen ihre Dienste über das Internet oder Apps an, so dass Kund:innen flexibel von diesen Gebrauch machen können. Microtransit-Modelle sind ähnlich aufgebaut wie öffentliche Transitdienste, verbinden diese aber mit den Möglichkeiten einer flexiblen Routenplanung und/oder einer flexiblen Fahrplangestaltung, gesteuert über den Bedarf potenzieller Fahrgäste. Über das Internet oder entsprechende Apps können Nutzer:innen Fahrten buchen und, je nach Anbieter, darüber hinaus eigene Haltestellen vorschlagen. Anders als bei öffentlichen Verkehrsmitteln wie Bus oder Bahn werden die gefahrenen Strecken dynamisch an die Wünsche der Kund:innen angepasst. Der Grad der Dynamik und der Entscheidungsfreiheit variiert jedoch von Angebot zu Angebot, so dass unterschiedliche Modelle wie Fixed Routes and Fixed Scheduling Microtransits oder Flexible Routes and On-Demand-Scheduling-Angebote entstanden sind (Shaheen et al. 2020).

5.8.3 Delivery Sharing

Die letzte Kategorie beschreibt ein relativ junges Shared-Mobility-Konzept und umfasst Geschäftsmodelle, die sich auf die Auslieferung von Gütern wie beispielsweise Lebensmitteln fokussieren. Solche Courier Network Services bestehen aktuell in zwei unterschiedlichen Formen. Die erste Variante wird als P2P Delivery Services bezeichnet und besteht in Form von zweiseitigen Märkten. Unternehmen fungieren hier, ähnlich wie bei Ridesourcing-Modellen, als Intermediäre, die eine Plattform zur Verfügung stellen. Auf dieser können Privatpersonen die Lieferung von bestimmten Gütern beauftragen. Die Aufträge können von Privatpersonen angenommen werden, die somit als Kurier:innen fungieren und eine entsprechende monetäre Entlohnung für ihre Dienste erhalten. Dabei kann jede:r Kurier:in selbst entscheiden, ob er:sie die Ware mit dem Auto, dem Fahrrad oder sogar zu Fuß ausliefert (Shaheen et al. 2020).

Ein Beispiel für solch einen P2P-Delivery-Service ist das US-amerikanische Unternehmen DoorDash. Das Unternehmen wirbt damit, dass Kund:innen Fertiggerichte aus einer Vielzahl von Restaurants aus über 4000 Städten in den USA, Kanada und Australien bestellen können. Die Bestellaufträge werden von Privatpersonen, sogenannten Dashern, angenommen und ausgeliefert. Jeder, der über ein eigenes Fahrzeug und die entsprechende DoorDash-App verfügt, kann ein:e Kurier:in werden und bestimmt somit selbst über seine:ihre Arbeitszeiten und seinen:ihren Arbeitsort („DoorDash“ 2023).

Die zweite Variante der Courier Network Services beschreibt Ridesharing-Modelle, die sich neben dem Transport von Fahrgästen auch auf die Auslieferung von bestellten Gütern fokussieren. Diese Kombination wird als Paired On-Demand Passenger Ride and Courier Services bezeichnet. In den meisten Fällen gibt es für die Einstellung und Erfüllung von Lieferaufträgen eine eigene, separate Plattform. So hat das Unternehmen Uber beispielsweise eine App, auf der Reisende sich wie bei herkömmlichen On-Demand Ride Services ein Fahrzeug rufen können. Für Kund:innen, die hingegen Fertiggerichte aus einem Restaurant bestellen wollen, gibt es die App Uber Eats (Shaheen et al. 2020).

Fallbeispiel: Shared-Mobility-Angebote in Köln

Insbesondere in urbanen Regionen erfreuen sich die Angebote einer geteilten Fahrzeugnutzung zunehmender Beliebtheit. In Köln beispielsweise gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Anbietern, die ihre Flotten für eine geteilte Nutzung bereitstellen. Insbesondere Scootersharing-Angebote sind hierbei stark vertreten.

Selbstkontrolle:

Gibt es in Ihrem Wohnort Shared-Mobility-Angebote? Wenn ja, welche und wie viele? Versuchen Sie, die jeweiligen Angebote einem der oben beschriebenen Modelle der geteilten Fahrzeugnutzung zuzuordnen.

5.8.4 Erweiterung von Shared Mobility durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKTs)

Wie bereits erwähnt, stellt die Verwendung von IKTs ein zentrales Merkmal der Shared Mobility dar. So werden entsprechende Angebote über eine Online-Plattform, in Form einer Smartphone-App oder über eine Internetseite bereitgestellt. Darüber hinaus sind Sharing-Fahrzeuge zumeist mit Sensoren ausgestattet. Gemäß des Konzepts des Internet of Things (IoT) können dadurch kontinuierlich Zustandsdaten wie beispielsweise die geografische Position, der Batteriezustand oder der aktuelle Betriebszustand eines jeden Fahrzeugs abgerufen werden. Diese Daten können im Anschluss dazu genutzt werden, die Angebotsqualität auf unterschiedliche Weise zu erhöhen. Nachfolgend sollen einige Erweiterungsmöglichkeiten beschrieben werden, die durch den Einsatz ausgewählter IKTs ermöglicht werden.

5.8.4.1 Mobility as a Service

Mobility as a Service (MaaS) beschreibt ein relativ junges Konzept, das verschiedene Transportmittel zu einem auf den Anwendenden maßgeschneiderten Mobilitätspaket zusammenschnürt. Im Fokus stehen hierbei geteilte Fortbewegungsmittel wie der ÖPNV, Ridesharing- und Vehicle-Sharing-Angebote (Hensher 2020). MaaS-Anbieter bündeln hierbei vorliegende Mobilitätsangebote und bieten ihrer Kundschaft eine nahezu nahtlose Kombination aller Verkehrsträger an. Die Dienstleistungen werden hierbei über eine Smartphone-App bereitgestellt. Um auf den Dienst zuzugreifen, werden die Reisenden gebeten, sich zu registrieren oder ein Konto einzurichten sowie ein monatliches Abonnement abzuschließen. Ergänzt wird dieses Leistungsbündel durch weitere Dienstleistungen im Bereich der Mobilität, darunter beispielsweise eine intermodale bzw. multimodale Routenplanung, Buchungsdienste und Bezahlungsmöglichkeiten.

Voraussetzung für die Aggregation möglichst vieler unterschiedlicher Mobilitätsangebote ist die Bereitstellung entsprechender Schnittstellen durch die jeweiligen Mobilitätsanbieter. MaaS-Anbieter können über diese Schnittstellen Angebotsdaten abgreifen und in die eigene App integrieren, wobei hier unterschiedliche Integrationslevel denkbar sind. So können Angebote beispielsweise auf einer rein informatorischen Ebene eingebunden werden. Der Nutzen steigt für den:die Anwender:innen, wenn Angebote tiefenintegriert werden, sodass diese über die entsprechende MaaS-App direkt gebucht werden können. Wichtig bei der Bereitstellung der Daten durch die Anbieter ist hierbei stets, dass die Angebotsdaten entsprechend einem in der Branche verbreiteten Datenstandard wiedergegeben werden. Bezüglich der Mobilität lassen sich unterschiedliche Standards identifizieren, die sich insbesondere in Amerika, nach und nach jedoch auch in Europa zunehmend etablieren. Hierzu zählen beispielsweise die General Bikeshare Feed Specification (GBFS) und die Mobility Data Specification (MDS) (Open Mobility Foundation 2022; North American Bikeshare Association 2021).

5.8.4.2 Einsatz von Machine-Learning-Methoden

Darüber hinaus können Angebotsdaten über längere Zeiträume gesammelt und ausgewertet werden. Die dadurch entstehenden historischen Datensätze können beispielsweise dazu verwendet werden, bestehende Angebote weiter zu optimieren. Werden Fahrzeugpositionen und das Nutzer:innenverhalten einzelner Angebote beispielsweise über einen längeren Zeitraum gesammelt und ausgewertet, so lassen sich anhand historischer Daten Machine Learning-Modelle darauf trainieren, auch zukünftige Zustände bezüglich des Bedarfs an Fahrzeugen innerhalb eines Geschäftsgebietes vorherzusagen. Diese Informationen können anschließend von Betreibern entsprechender Angebote dazu genutzt werden, Fahrzeuge im Rahmen von Redistributionssystemen so zu verteilen, dass sie besser auf die Bedürfnisse der Kund:innen zugeschnitten sind (Kostic et al. 2021).

Besonders wirksam werden diese datengetriebenen Auswertungen, wenn sie im Rahmen von Kooperationen zwischen unterschiedlichen entscheidungsrelevanten Akteuren geteilt und nutzbar gemacht werden. Im Rahmen staatlich geförderter Mobilitätsprojekte wird in Deutschland daran gearbeitet, Shared-Mobility-Daten mit ÖPNV- und Umgebungsdaten zu einer standardisierten Entscheidungsgrundlage zusammenzuführen und beispielsweise über ein Dashboard nutzbar zu machen. Solche Dashboards können Entscheidungsträger:innen in Städten und Kommunen als Cockpit dienen, das als zentraler Datenzugang fungiert und nötige Analysewerkzeuge bietet. So kann eine datengetriebene Entscheidungsfindung zur Planung der Gesamtmobilität ermöglicht werden, was letzten Endes in einer Optimierung des lokalen Mobilitätsangebots sowie der Nachhaltigkeit vorliegender Angebote münden kann.

5.8.4.3 Verwendung der Blockchain-Technologie

Eine Blockchain lässt sich definieren als eine Form von Datenbank, deren grundlegende Funktion es ist, Transaktionen, wie beispielsweise Buchungsinformationen, zu speichern und sie zu Blöcken zu gruppieren. Diese Blöcke sind untereinander verknüpft und bilden eine fortlaufende Datensequenz. Die Verknüpfung ist hierbei so gestaltet, dass Blöcke nicht manipuliert werden können. Darüber hinaus wird die Blockchain nicht auf einem zentralen Server gespeichert, sondern durch die Teilnehmer:innen eines verteilten Rechnernetzes verwaltet (Condos et al. 2016). Hieraus ergeben sich Eigenschaften, welche die Blockchain-Technologie zu einer attraktiven Grundlage für unterschiedliche Anwendungen machen. Zu diesen Eigenschaften zählt zum einen die Dezentralität der Blockchain. Diese Eigenschaft stellt eine potenzielle Lösung für fehlende Shared-Mobility-Plattformen im ländlichen Raum dar (Bossauer et al. 2020).

Obwohl ein hoher Bedarf an Mobilitätsangeboten wie der Shared Mobility, insbesondere im ländlichen Raum, besteht, ist eine mangelnde Wirtschaftlichkeit ein Hindernis für die Etablierung solcher Dienste. Für einen wirtschaftlichen Betrieb ist es notwendig, dass die Sharing-Fahrzeuge ausreichend ausgelastet sind, so dass der Umsatz die Kosten des Betriebs einer entsprechenden Sharing-Plattform deckt. In dichter besiedelten Regionen ist es einfacher, höhere Auslastungsraten zu erreichen, weshalb größere Städte auch für Shared-Mobility-Anbieter attraktiver sind. Eine mögliche Lösung für das Angebot von Shared-Mobility-Dienstleistungen trotz fehlender Wirtschaftlichkeit wäre, dass lokale öffentliche Einrichtungen die Shared-Mobility-Dienstleistung selbst anbieten. Die Hürden für den Betrieb einer Plattform für Shared-Mobility-Dienstleistungen sind jedoch hoch, da Städten und Gemeinden oft das technische Know-how oder das Geld für die Bereitstellung und Wartung einer entsprechenden Sharing-Plattform fehlt.

Die Blockchain-Technologie stellt eine mögliche Lösung für diese Probleme dar, indem der Informations- und Wertetransfer, der im Rahmen der geteilten Fahrzeugnutzung entsteht, sicher und dezentral organisiert wird und somit viele Funktionen traditioneller Intermediäre obsolet werden. Eine Blockchain könnte als Bestandteil einer lokalen Infrastruktur dabei helfen, die Übertragung von Informationen und Werten auf sichere und dezentrale Weise zu organisieren und viele der Funktionen traditioneller Vermittler, wie z. B. die Buchung von Transaktionen, zu automatisieren. Somit könnten die Hürden für die Anbieter verringert werden, wodurch ein Bottom-up-Wachstum der geteilten Mobilitätsdienste ermöglicht würde.

Anzumerken ist hierbei, dass solch eine auf der Blockchain basierende Sharing-Plattform zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht existiert. Es wurden jedoch bereits entsprechende Konzepte und Proof-of-Concepts erarbeitet. So lässt sich der gesamte Buchungsprozess mit allen Teilprozessen (Buchung, Vergabe von Zugriffsrechten, Bezahlung, Bewertung etc.) theoretisch komplett über die Funktionalitäten einer Blockchain abdecken. Zur Durchführung dieser Teilprozesse eignen sich sogenannte Smart Contracts. Diese ermöglichen die Integration von Bedingungen in Form von Codes innerhalb der einzelnen Transaktionen. Auf diese Weise können bestimmte Ereignisse durch Transaktionen ausgelöst und Nutzungsrechte elektronisch vergeben werden. Smart Contracts werden als eine wegweisende Technologie angesehen, die dank der Blockchain zahlreiche neue Anwendungsfelder in der Praxis eröffnet (Bossauer et al. 2020).

5.8.5 Auswirkungen von Shared Mobility auf die Nachhaltigkeit

Trotz des Vorhandenseins der vielen unterschiedlichen Formen der Shared Mobility sind Angebote noch nicht flächendeckend in Deutschland verbreitet und Nutzerzahlen zudem relativ gering. So weisen beispielsweise die Carsharing-Angebote in Deutschland im Jahr 2023 im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch immer keinen hohen Nutzungsanteil auf. Während zu Beginn des Jahres 2023 in Deutschland über 60 Mio. Autos zugelassen waren, gab es lediglich knapp 4,5 Mio. Carsharing-Nutzer:innen (Kraftfahrt-Bundesamt 2023; Bundesverband CarSharing e.V. 2023). Neben dem Mangel an Carsharing-Angeboten außerhalb von Großstädten mit gut ausgebauten öffentlichen Verkehrssystemen mangelt es dem Carsharing im Vergleich zum privaten Pkw zusätzlich an Flexibilität und sofortiger Verfügbarkeit, was einer breiten Akzeptanz entgegensteht (Sanchez 2016). Ähnliches lässt sich auch für andere Formen der Shared Mobility festhalten.

Aufgrund der geringen Verbreitung und Akzeptanz der Angebote einer geteilten Fahrzeugnutzung lassen sich zum jetzigen Zeitpunkt die Effekte auf die Nachhaltigkeit nur schwer quantifizieren. Im Rahmen vergangener wissenschaftlicher Bestrebungen konnten dennoch einige positive Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten der Bevölkerung festgestellt werden.

So haben beispielsweise Studien des Bundesverbands CarSharing die verkehrsentlastende Wirkung von stationsbasiertem Carsharing in Berlin untersucht. Es stellte sich heraus, dass die Nutzung solcher Angebote eine hohe Entlastung für den lokalen Verkehr zur Folge hat. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass viele Haushalte, welche die lokal verfügbaren Sharing-Angebote nutzen, ihren eigenen Pkw verkaufen und ausschließlich die Fahrzeuge der Carsharing-Anbieter verwenden. Hinzu kommt, dass stationsbasiertes Carsharing die Wahrscheinlichkeit verringert, dass Haushalte sich neue Autos zulegen. So konnte festgestellt werden, dass ein Sharing-Auto bis zu neun private Pkw ersetzen kann. Dadurch kommt es zu einer Reduzierung der Gesamtanzahl an genutzten Fahrzeugen, was wiederum eine entlastende Wirkung auf den Verkehr hat und dementsprechend auch die Umweltbelastung senken kann (Nehrke 2016).

Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass Shared Mobility zu einer positiven Verschiebung des Modal Splits führen kann. Der Begriff „Modal Split“ beschreibt hierbei die Verteilung der Verkehrsmittelwahl oder des Verkehrsmittelanteils auf verschiedene Transportarten in einer bestimmten Region, Stadt oder Land. Betrachtet man die Verteilung für Deutschland im Jahr 2020, so fällt auf, dass der motorisierte Individualverkehr (MIV) mit über 80 % einen Großteil des Modal Splits ausmacht (Bundesministerium für Digitales und Verkehr 2022). Der Umweltverbund, also alle nachhaltigen Fortbewegungsmodi wie beispielsweise Fußverkehr, Fahrradverkehr und ÖPNV, machen summiert hingegen lediglich knapp 18 % aus. Dadurch kommt es zu einer Überlastung des Straßennetzes in stark urbanisierten Gebieten sowie zu erhöhten Schadstoffemissionen lokaler und auch globaler Natur (Umweltbundesamt 2023a).

Expert:innen gehen davon aus, dass insbesondere Scootersharing wie auch Bikesharing eine mögliche Lösung für das sogenannte Erste-und-letzte-Meile-Problem des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) darstellen kann (Nigro et al. 2022). Gemeint ist hierbei die Überbrückung der Distanz zwischen dem eigentlichen Start (bzw. Endpunkt) einer Reise und der nächstgelegenen Haltestelle. Es wird davon ausgegangen, dass diese Distanz für viele Bürger:innen ein Hindernis darstellt, den ÖPNV zu nutzen (Kåresdotter et al. 2022). Shared Mobility birgt hierbei das Potenzial, die Überbrückung dieser Distanz zu vereinfachen und somit zu einer Verschiebung des Modal Splits zugunsten des ÖPNV für ein nachhaltigeres Mobilitätsverhalten zu führen (Abb. 5.14).

Abb. 5.14
figure 14

Modal Split in Deutschland für das Jahr 2020

Neben den oben beschriebenen Auswirkungen von Shared Mobility auf die ökologische bzw. ökonomische Dimension des Nachhaltigkeitsmodells wird zudem davon ausgegangen, dass insbesondere die unterschiedlichen Formen des Ridesharings einen positiven Aspekt auf die soziale Nachhaltigkeit haben können. Betrachtet man beispielsweise die vorherrschenden Mobilitätsverhältnisse zwischen urbanen und ländlichen Regionen in Deutschland, so fällt auf, dass die Chancen auf Mobilität keinesfalls gerecht verteilt sind. In der Literatur spricht man dort von ländlicher Mobilitätsarmut, wo eine schlechte Anbindung an Haltestellen des ÖPNV, unpassende Linienführungen, schlechte Taktungen sowie schlechte Bedingungen für Fuß- und Radverkehr herrschen. Besitzen Bewohner:innen ländlicher Regionen kein eigenes Auto, kann es hier zu einem Ausschluss von der sozialen Teilhabe kommen (Klaas und Kaas Elias 2020).

Damit Verteilungsgerechtigkeit erzeugt werden kann, bedarf es eines Ausbaus der verfügbaren Mobilitätsinfrastruktur. Hier kommen unterschiedliche Ridesharing-Angebote ins Spiel. Ridesharing-Angebote in Form von öffentlich zugänglichen Mitnahmesystemen, bei denen freie Plätze im privaten Pkw Dritten zur Verfügung gestellt werden, können helfen, die Lücken in der bestehenden Infrastruktur zu schließen. Darüber hinaus können On-Demand Ride Services in Form von Bürgerbussen oder Rufbussen zu einer sozial gerechten Verteilung von Mobilität beitragen. Hierbei handelt es sich um Buslinien, die vor allem in ländlichen Bereichen mit schwachem Linienangebot bzw. zu schwachen Verkehrszeiten eingesetzt werden. Fahrten werden nur durchgeführt, wenn im Vorfeld ein Fahrtwunsch angemeldet wurde. Der Zustieg erfolgt an einer definierten Haltestelle, der Ausstieg jedoch ist dabei nicht an eine bestimmte Haltestelle gebunden, sondern kann an jedem beliebigen Ort innerhalb des Bediengebietes erfolgen, sofern dieser Ort vom Bus angefahren werden kann.

Die (erwarteten) positiven Auswirkungen der Shared Mobility lassen sich also wie folgt zusammenfassen:

  • Reduzierung der Anzahl an Autos pro Haushalt

  • Reduzierung der mit dem Auto zurückgelegten Distanz

  • Entlastung des Straßennetzes und Verringerung von Staus

  • Verringerung der CO2-Emissionen

  • Verschiebung des Modal Splits weg vom MIV hin zum Umweltverbund

  • Unterstützung bei der Herstellung einer sozialen Verteilungsgerechtigkeit bezüglich Mobilität zwischen Stadt und Land

Im Rahmen der Nachhaltigkeitsbetrachtung ist jedoch stets zu bedenken, dass Shared Mobility nicht ziellos eingesetzt werden darf. Eine Veröffentlichung des Fraunhofer- InstitutsFootnote 2 beispielsweise betonen, dass Angebote einer geteilten Fahrzeugnutzung von Städten reguliert werden müssen. Werden Angebote ziellos zugelassen, kann dies beispielsweise zu einer unzureichenden Auslastung der Fahrzeuge und einer Erhöhung der Personen- und Fahrzeugkilometer führen, was letztendlich in eine Erhöhung der CO2-Emissionen mündet (Rebound-Effekte). Werden Angebote hingegen intelligent reguliert und mit dem ÖPNV kombiniert, so kann es laut der Untersuchung bis 2050 zu einer Verringerung des CO2-Austoßes von bis zu 37 % kommen.

5.9 Zusammenfassung

Dieses Kapitel hat die ethischen Aspekte von Technikentwicklung umrissen. Dabei wurden vor allem mögliche Implikationen von Technik auf den Ebenen Individuum, Organisation und Gesellschaft, sowie die Herausforderungen, Technik unter Berücksichtigung von ethischen Problemen zu entwickeln, dargestellt, sowie entsprechende Lösungsansätze umrissen. Ein besonders drängender Aspekt dabei ist das Ziel des nachhaltigen Konsums. Die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung definiert nachhaltige Entwicklung als Befriedigung der aktuellen Bedürfnisse ohne Beeinträchtigung künftiger Generationen (Brundtland 1987). Nachhaltigkeit umfasst ökologische, ökonomische und soziale Aspekte, wobei alle drei Dimensionen miteinander verknüpft sind. Ökologische Nachhaltigkeit zielt auf die regenerative Nutzung natürlicher Ressourcen ab (Elkington 1998). Ökonomische Nachhaltigkeit betont die langfristige Wirtschaftsfähigkeit unter Berücksichtigung von Umwelt und Gesellschaft. Soziale Nachhaltigkeit strebt die Gerechtigkeit zwischen Generationen und sozialen Gruppen an. Zentrale Handlungsfelder für nachhaltige Entwicklung sind Klimaschutz, Energiepolitik, Umwelt, Ernährung, Gesundheit und umweltverträgliche Mobilität. Ebenfalls von Bedeutung ist die Förderung einer Kreislaufwirtschaft in Deutschland, bei der Güter möglichst lange gebraucht, repariert und geteilt werden.

Hier gewinnt der Begriff der Sharing Economy an Bedeutung. Gemeint sind Geschäftsmodelle, die auf einen gemeinschaftlichen Konsum von materiellen und immateriellen Gütern ausgelegt sind (Busch et al. 2018). Insbesondere eine geteilte Nutzung von Fahrzeugen erfreut sich in den letzten Jahren großer Beliebtheit. Unter dem Begriff der Shared Mobility werden hierbei unterschiedliche Konzepte einer geteilten Fahrzeugnutzung vereint. Beim Vehicle Sharing erhalten Nutzer:innen über entsprechende Sharing-Plattformen temporäre Nutzungsrechte an einzelnen Fahrzeugen und können so ihre Bedürfnisse nach Mobilität befriedigen, ohne ein eigenes Auto oder Fahrrad oder einen eigenen Scooter besitzen zu müssen. Ridesharing umfasst gemeinsame Fahrten, bei denen mehrere Personen sich ein Fahrzeug teilen, entweder für ähnliche Reiseziele im traditionellen Ridesharing, durch kurzfristige Anfragen in On-Demand Ride Services oder das dynamische Bündeln von Anfragen im Ridesplitting (S. Shaheen et al. 2016).

Die Verwendung von IKTs spielt über sämtliche Formen der Shared Mobility hinweg eine zentrale Rolle. Sie stellt zum einen die Basis für Sharing-Plattformen dar, auf der Anbieter:innen und Nachfrager:innen entsprechender Sharing-Angebote zusammenkommen. Darüber hinaus gibt es viele Ansätze, durch die Verwendung ausgewählter Technologien bestehende Sharing-Angebote zu erweitern (Einsatz von Machine Learning und Blockchain-Technologie) oder ergänzende Dienste anzubieten (MaaS) (Bossauer et al. 2020; Kostic et al. 2021; Hensher 2020).

Trotz des Vorhandenseins vieler unterschiedlicher Formen der geteilten Fahrzeugnutzung handelt es sich um ein noch junges Konzept, das noch nicht flächendeckend in Deutschland verbreitet ist. Tatsächliche Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit können daher nur begrenzt untersucht werden. Bereits jetzt gibt es jedoch Studien, die belegen, dass ein regulierter Einsatz von Shared Mobility dazu führen kann, CO2-Emissionen zu verringern, lokale Straßennetze zu entlasten und die bestehende Mobilitätsarmut im ländlichen Raum zu verringern.

5.10 Übungen

  1. 1.

    Beschreiben Sie das Trolley-Problem im Zusammenhang mit autonomen Systemen. Warum ist es wichtig, solche Diskussionen zu führen?

  2. 2.

    Warum sind Antworten auf ethische Fragestellungen im Alltag schwer zu finden? Wie werden solche Entscheidungen in der Realität gefällt? Nennen Sie ein Beispiel.

  3. 3.

    Nennen und erklären Sie die drei Perspektiven auf die Beziehung zwischen Menschen und Technologie.

  4. 4.

    Nennen und beschreiben Sie die fünf Problematiken des Phänomens „Algorithm Aversion“ anhand eines ausgewählten Beispiels.

  5. 5.

    Nennen und beschreiben Sie die Fairness-Dimensionen. Warum ist es wichtig, sowohl das Zusammenspiel der Dimensionen als auch die individuelle Perspektive zu betrachten?

  6. 6.

    Welche Werkzeuge zur Umsetzung digitaler Fragestellungen kennen Sie jetzt, und wie grenzen sich diese voneinander ab?

  7. 7.

    Nennen und beschreiben Sie die drei Säulen der Nachhaltigkeit und erläutern Sie, auf welche Weise Shared Mobility das Potenzial hat, jede dieser Dimension positiv zu beeinflussen.

  8. 8.

    Im Laufe der Jahre haben sich innerhalb der Sharing Economy unterschiedliche Sektoren herausgebildet. In diesem Kapitel wurden einige dieser Sektoren genannt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine vollständige Aufzählung. Nennen und beschreiben Sie weitere Wirtschaftsbereiche, in denen materielle und immaterielle Güter für eine geteilte Nutzung bereitgestellt werden können.

  9. 9.

    Nennen Sie drei in Deutschland verfügbare Shared-Mobility-Angebote und beschreiben Sie das zugrunde liegende Geschäftsmodell. Ordnen Sie die Angebote einem der aufgeführten Sharing-Modelle zu, die in Kap. 3 definiert wurden.

  10. 10.

    Beschreiben Sie, inwiefern Informations- und Kommunikationstechnologien einen zentralen Bestandteil der Share Economy darstellen. Erläutern Sie, wie sich bestehende Shared-Mobility-Konzepte durch IKT ergänzen lassen.