FormalPara Abstract

The hypothesis is a central component of scientific inquiry. It is of great importance as a cognitive-epistemic aspect of a sophisticated understanding of nature of science. However, the term is ambiguous: On the one hand, the term hypothesis is appropriately used for empirically testable predictions that are deductively derived from a solid knowledge base. On the other hand, the term is used in school for initial, often vague ideas with which one attempts to explain a new phenomenon. In the latter case, we propose to replace the term hypothesis by explanation attempt. In this paper, we illustrate the use of hypothesis by an exemplary analysis of two lesson plans written by trainee biology teachers. Finally, perspectives for empirical educational research are pointed out.

9.1 Einführung

Möchte man im alltäglichen Sprachgebrauch ausdrücken, dass man annimmt, dass etwas so oder so sein könnte, wird dies oft als hypothetisch attribuiert (Kattmann, 2015). Gemeint ist damit in der Regel eine vage Annahme darüber, wie ein Phänomen zu erklären sei. Eine solche „Hypothese“ könnte zutreffen, sie kann ebenso falsch sein. Im Gegensatz zur Alltagssprache versteht die Wissenschaft unter dem Begriff Hypothese (gr. hypóthesis, d. h. Unterstellung) eine begründete Vermutung über Unterschiede, Zusammenhänge oder Veränderungen über die Zeit zwischen mindestens zwei Sachverhalten oder Variablen, die gerichtet oder ungerichtet aus Theorien abgeleitet werden (Döring & Bortz, 2016).

Innerhalb der Didaktik der Biologie wird folgendermaßen definiert: Hypothesen sind „empirisch überprüfbar, grundsätzlich widerlegbar, eindeutig und widerspruchsfrei [und] werden stets durch Vorwissen bzw. theoretische Konstrukte (z. B. Theorien, Regeln, Modelle) begründet“ (Krell & Krüger, 2022). Die Polysemie des Begriffs stellt Schüler*innen und Lehrende vor eine Herausforderung, schließlich zielt der Begriff Hypothese im Sinne der Erkenntnisgewinnungskompetenz (KMK, 2020) darauf ab, theoriegeleitet Hypothesen aufstellen zu können, diese empirisch zu testen und damit zu widerlegen oder zu stützen. Damit Schüler*innen diese Kompetenz entwickeln können, sollen Lehrende über das für die Vermittlung notwendige fachliche und fachdidaktische Professionswissen verfügen, um entsprechende wissenschaftspropädeutische Aspekte in ihrem Unterricht sachgerecht behandeln zu können. Das allerdings fällt sowohl angehenden (Gyllenpalm & Wickman, 2011) als auch erfahrenen Lehrkräften (Capps & Crawford, 2013) oft schwer. Wenn Schüler*innen einen reflektierten Umgang mit Hypothesen im naturwissenschaftlichen Sinne erlernen sollen (KMK, 2020), wäre es wichtig, dass Biologielehrkräfte und ihre Ausbildenden in der ersten und zweiten Phase selbst über ein elaboriertes Begriffsverständnis verfügen und den wissenschaftlichen Hypothesen-Begriff nicht mit dem unscharfen Alltagsbegriff vermischen. Allerdings findet sich die Gleichsetzung des Hypothesen-Begriffs mit der alltagssprachlichen Bedeutung sowohl in naturwissenschaftsdidaktischer Literatur (z. B. Gyllenpalm & Wickman, 2011) als auch in Staatsexamensentwürfen von Biologie-Referendar*innen. Für die Planung guten Biologieunterrichts im Sinne der Förderung von Kompetenzen im Bereich Erkenntnisgewinnung erscheint es daher notwendig, das begriffliche Instrumentarium im Umgang mit Hypothesen auszuschärfen. Wir schlagen vor, den Begriff Hypothese nur für begründete, empirisch prüfbare Voraussagen zu nutzen, die aus einer theoretischen Basis heraus deduziert wurden. Wenn jedoch in einem problemorientierten Einstieg Ideen gesammelt werden, wie ein neues Phänomen zu erklären sei, sollten diese Ideen nicht Hypothesen, sondern Erklärungsversuche genannt werden. Die folgenden zwei Thesen werden im vorliegenden Beitrag diskutiert:

  1. 1.

    Der Begriff Hypothese wird im Biologieunterricht häufig missverständlich verwendet, denn statt als epistemisches Konzept im Sinne einer Voraussage eines Untersuchungsergebnisses (Krell & Krüger, 2022) wird er oft alltagssprachlich im Sinne eines vagen Erklärungsversuchs im Stundeneinstieg verwendet. Die Begriffe Hypothese (als begründete Voraussage aus Theorien deduziert) und Erklärung (aus Vorwissen abduziert) sollten voneinander unterschieden werden.

  2. 2.

    Es sollen explizit prozedurale und epistemische Aspekte der Begriffe Hypothese und Erklärung reflektiert werden, um Kompetenzen im Bereich Erkenntnisgewinnung zu fördern (learning about science, Hodson, 2014).

Im Round Table zu „Nature of Science in der Praxis“ wurde kritisch darüber reflektiert, welche Gestaltungsmerkmale ein Unterricht zur Förderung eines Verständnisses über Nature of Science (NOS) aufweisen muss und welche Konsequenzen die Berücksichtigung dieser Merkmale für die Gestaltung von Biologieunterricht hat. Der vorliegende Beitrag ist demnach innerhalb des Family Resemblance Approach als einer Konzeptualisierung von NOS (Erduran & Dagher, 2014) dem scientific knowledge (Reinisch & Fricke, 2022) zuzuordnen.

Zunächst werden die Bedeutungen der Begriffe Hypothese und Erklärung einander gegenübergestellt. Darauf aufbauend werden exemplarisch zwei geplante Biologiestunden skizziert, die im Rahmen einer Analyse von Staatsexamensentwürfen (Großmann & Krüger, 2022) untersucht wurden. Hierin werden einerseits die Herausforderungen deutlich, die angehende Biologielehrkräfte noch am Ende ihrer Ausbildung in Bezug auf den Umgang mit dem Begriff Hypothese haben. Andererseits wird kontrastiert, wie im Sinne von NOS mit Erklärungen bzw. Hypothesen im naturwissenschaftlichen Unterricht gearbeitet werden kann und warum Wissen über diesen kognitiv-epistemischen Aspekt von NOS (Reinisch & Fricke, 2022) für den Biologieunterricht relevant ist.

9.2 Diskurs

9.2.1 Eine Hypothese ist eine Hypothese ist keine Erklärung

Die Hypothese bildet insofern ein zentrales Konzept innerhalb des Kompetenzbereichs Erkenntnisgewinnung (z. B. KMK, 2020), als sie als Ausgangspunkt naturwissenschaftlicher Forschungsprozesse eine vorläufige Antwort auf eine Forschungsfrage darstellt, die es durch eine Untersuchung zu überprüfen gilt (Krell & Krüger, 2022; Lübeck, 2020). Hypothesen sollten logisch aus Theorie hergeleitet werden und präzise sowie begründet einen Zusammenhang zwischen Variablen beschreiben, der empirisch getestet werden kann (Döring & Bortz, 2016).

Mit einer Hypothese wird also begründet vorausgesagt, welches Ergebnis bei einer naturwissenschaftlichen Untersuchung (z. B. einem Experiment) erwartet wird. Damit kommt ihr im Rahmen des in den naturwissenschaftlichen Fächern weit verbreiteten hypothetisch-deduktiven Erkenntniswegs eine zentrale Rolle zu.

Diese vermeintliche Klarheit muss mit Blick auf den Diskurs in den Naturwissenschaften jedoch infrage gestellt werden: Keineswegs wird der Begriff Hypothese einheitlich im Sinne einer deduktiven, begründeten und in die Zukunft gerichteten Voraussage verstanden. Da die Annahme, dass Erklärungen und Voraussagen logisch betrachtet strukturgleich sind, nicht haltbar ist (Kornmesser & Büttemeyer, 2020, S. 139), wirkt die Verbindung von Erklärung und Voraussage unter dem Hypothesen-Begriff überdenkenswert. McComas (2020) zeigt auf, dass dem Hypothesen-Begriff keineswegs ein einheitliches Verständnis zugrunde liegt und der Begriff gleichermaßen für predictions (d. h. deduktive Voraussagen) sowie in den Wendungen generalizing hypotheses (d. h. Erklärungen, die zu naturwissenschaftlichen Gesetzen werden können) und explanatory hypotheses (d. h. Erklärungen, die zu Theorien werden können) genutzt wird. Für den Begriff Hypothese liegen somit mindestens drei verschiedene Definitionen vor: „For that reason, the term ‚hypothesis‘ probably should be abandoned and replaced or at least used with caution“ (McComas, 2020, S. 45).

Diesem Plädoyer schließen wir uns an. Wir schlagen vor, den Begriff Hypothese nur dann zu verwenden, wenn Voraussagen (predictions) über Zusammenhänge, Unterschiede oder Veränderungen messbarer Variablen deduktiv aus theoretischen, gut begründeten Aussagegefügen abgeleitet werden und ein zeitlich in der Zukunft liegendes Ergebnis vorausgesagt wird. Für Ideen, mit denen man versucht, sich ein Phänomen ad hoc zu erklären, schlagen wir vor, von Erklärungsversuchen zu sprechen. Diese Versuche können in Bezug auf theoretische Grundlagen oder durch Analogiebildung gefunden oder beim Fehlen von entsprechenden Erfahrungen kreativ erfunden werden (Schurz, 2008). Was diese Erklärungsversuche im Vergleich zu den in die Zukunft weisenden Hypothesen unterscheidet, ist, dass Erklärungen potenzielle Ursachen für das Zustandekommen eines Phänomens liefern, die vor dem bereits existierenden Phänomen liegen und zeitlich in die Vergangenheit reichen. Eine solche Schlussweise nennt man Abduktion (s. Kap. 4). Mit dem Begriff Erklärungsversuch soll deutlich werden, dass die gesammelten Erklärungen potenzielle Ursachen benennen, deren empirische Bestätigung, dann auf dem Wege der Hypothesenprüfung, noch aussteht.

Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, werden die verschiedenen Lesarten des Hypothesen-Begriffs in der Unterrichtspraxis nicht unterschieden. Lehrkräfte nutzen ihn eher im Sinne eines didaktischen Lehr-Lern-Arrangements in Form problemorientierten Unterrichts und weniger im Sinne einer naturwissenschaftlichen Denkweise (Gyllenpalm & Wickman, 2011). So zeigen Capps und Crawford (2013) beispielsweise, dass selbst erfahrene Lehrkräfte in der Überzeugung unterrichten, Erkenntnisgewinnungskompetenzen zu fördern, ohne dies jedoch eigentlich zu tun. Zwar wird oft praktisch gearbeitet, allerdings wird in den untersuchten Stunden von 26 Science-Lehrkräften weder explizit noch implizit ein Verständnis über den naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnungsprozess vermittelt. Auch eine Differenzierung zwischen Hypothesen und Erklärungsversuchen spielt dabei keine Rolle.

Krüger und Upmeier zu Belzen (2021) zeigen am Beispiel des Modellierens die Bedeutung des abduktiven Schließens, also des Entwickelns von Erklärungen im naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess. Auf der Basis der entwickelten Ideen zur Erklärung eines Phänomens wird demnach ein gedankliches Modell entwickelt, aus dem wiederum deduktiv Hypothesen abgeleitet werden, die dann mit empirischen Arbeitsweisen getestet werden können. Erklärungen und Hypothesen stehen hier also in einem zeitlichen und logischen Verhältnis zueinander. Zumindest für die Lehrkräftebildung, möglicherweise aber auch für die Forschung, besteht hierin Potenzial der Erweiterung des Scientific Discovery as Dual Search-Modells (Klahr & Dunbar, 1988), dessen Potenziale für die biologiedidaktische Forschung von Hammann (2007) eingehend dargelegt wurden. Demnach bewegt man sich beim Lösen eines naturwissenschaftlichen Problems in zwei Räumen, dem Hypothesenraum und dem Experimentierraum. Zunächst wird im Hypothesenraum nach Hypothesen gesucht, die entweder aus dem Vorwissen oder aus vorhergehenden Untersuchungen abgeleitet werden können. Diese Hypothesen werden dann im Experimentierraum getestet und anschließend evaluiert, was zu einer neuen Suche nach Hypothesen im Hypothesenraum führen kann. Hier scheint implizit ebenfalls die doppelte Bedeutung des Hypothesen-Begriffs Anwendung zu finden, denn Klahr und Dunbar (1988) gehen offenbar auch nicht ausschließlich von einwandfrei formulierten, deduktiv hergeleiteten und begründeten Hypothesen aus, die im Hypothesenraum entwickelt werden, sondern beziehen auch Erklärungen mit ein. Hier könnte es nützlich sein, einen dritten Raum, den Erklärungsraum, zu postulieren, der der Suche im Hypothesenraum vorangestellt ist und bezüglich seiner Lage vor den „Hypothesenraum“ verortet wird. Vollmeyer und Burns (1999) nennen einen solchen dritten Raum „Modellraum“, der der Bedeutung des abduktiven Schließens beim Entwickeln von (kreativen) Ideen zur Erklärung eines Phänomens Rechnung trägt und der besser als das Zwei-Räume-Modell (Klahr & Dunbar, 1988) erklären kann, warum jemand bestimmte Hypothesen entwickelt und testet. Diese Differenzierung wäre vor allem auch mit Blick auf die Lehrkräftebildung von Bedeutung, da sie dazu beitragen könnte, die Doppeldeutigkeit des Hypothesen-Begriffs zu explizieren und (angehende) Lehrkräfte dabei zu unterstützen, die dem Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung innewohnenden Herausforderungen (Krell & Krüger, 2022) zu bewältigen. Hypothesen ergeben sich im problemorientierten Unterricht aus Erklärungsversuchen und sind nicht dasselbe – daher sollten diese Konzepte begrifflich konsequent voneinander unterschieden werden.

Professionstheoretisch gesprochen handelt es sich für Lehrkräfte hierbei um eine komplexe Aufgabe, da für die Gestaltung wissenschaftspropädeutischen Unterrichts im Sinne von NOS neben dem notwendigen fachlichen und fachdidaktischen Wissen auch Überzeugungen und Einstellungen notwendig sind, um kompetenzorientierten, hypothesengeleiteten Biologieunterricht zu planen, der dann in der Tat Kompetenzen im Bereich Erkenntnisgewinnung fördert. Zu den kognitiven Herausforderungen, die in der Planung zu bewältigen sind, zählen unter anderem die Formulierung klarer Lernziele, die Gestaltung von Aufgabenstellungen sowie die Entwicklung einer kohärenten Phasenstruktur (König et al., 2021). Die Verknüpfung dieser planungsrelevanten Elemente bringt in Bezug auf die Planung hypothesengeleiteten Biologieunterrichts Konsequenzen mit sich, die im Folgenden illustriert werden.

9.2.2 Erkenntnisse gewinnen über Erkenntnisgewinnung

Um im Rahmen kompetenzorientierten Unterrichts eine Kompetenzentwicklung bei Schüler*innen anzubahnen, sollten Lehrkräfte instruktionale Kohärenz herstellen (Neumann, 2020), d. h. die Gestaltung des Lehr-Lern-Prozesses (z. B. Aufgabenstellungen, Phasenstruktur) auf die angestrebten Lernziele hin abstimmen. Diese Aufgabe ist kognitiv herausfordernd (König et al., 2021). Mit Blick auf den Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung (KMK, 2020) ergibt sich die besondere Schwierigkeit, dass die Benennung des Kompetenzbereichs irritiert: Erkenntnisgewinnung meint nicht, mithilfe praktischer Tätigkeiten (z. B. Experimenten) neues Wissen über biologische Phänomene zu gewinnen, sondern Wissen über die naturwissenschaftlichen Arbeits- und Denkweisen zu erwerben (Krell & Krüger, 2022). Mit Hodson (2014) gesprochen meint Erkenntnisse gewinnen den Erwerb ontologischen Wissens, also biologische Sachkompetenz zu entwickeln (learning science). Erkenntnisgewinnungskompetenz entwickeln meint hingegen, einerseits prozedurales Wissen beim praktischen Anwenden naturwissenschaftlicher Arbeitsweisen, wie beim Experimentieren, umzusetzen (doing science). Andererseits umfasst Erkenntnisgewinnungskompetenz epistemisches Wissen, also Wissen über den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess wie zum Beispiel über die Kennzeichen einer wissenschaftlichen Hypothese in Abgrenzung zu (wissenschaftlichen) Erklärungen (learning about science).

Die dargestellte Schwierigkeit, zwischen Erkenntnisse gewinnen und Erkenntnisgewinnung zu unterscheiden, scheint zu zwei gegensätzlichen Arten, Biologieunterricht zu strukturieren, zu führen. Für beide Arten wird im Folgenden jeweils ein Beispiel angeboten. Die Beispiele entstammen einer Analyse von Staatsexamensentwürfen im Fach Biologie und haben beide das Ziel, Erkenntnisgewinnungskompetenz zu fördern (Großmann & Krüger, 2022). Ordnet man allen den Stundenplanungen zu entnehmenden einzelnen Unterrichtsschritten jeweils zu, ob sie ontologisches (d. h. Sachkompetenz) oder prozedurales bzw. epistemisches Wissen (d. h. Erkenntnisgewinnungskompetenz) adressieren, lässt sich veranschaulichen, in welchem Maße die Stunden instruktional kohärent die angestrebten Kompetenzen fördern (Abb. 9.1, 9.2).

  1. (1)

    Erklärungen finden für fachliches Lernen

Abb. 9.1
figure 1

Geplanter Verlauf einer Stunde zur Auswertung von Experimenten am Beispiel der Körperfärbung von Guppys. Von den zwölf Unterrichtsschritten fokussieren nur die Schritte ❷, ❻ und ❼ den adressierten Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung, die weiteren Aufgaben in der Erarbeitungsphase (Schritte ⑤ und ⑧) sowie der Einstieg (Schritte ①, ③ und ④) und die gesamte Sicherungsphase (Schritte ⑨–⑫) fokussieren den zu vermittelnden biologischen Fachinhalt, d. h. den Einfluss von natürlicher und sexueller Selektion, auf die Färbung der Guppys (Sachkompetenz). S = Schüler*innen

Abb. 9.2
figure 2

Geplanter Verlauf einer Stunde zur Planung von Experimenten am Beispiel der Allen’schen Regel. Von den elf Unterrichtsschritten fokussiert nur Schritt ① als thematischer Aufhänger das biologische Fachwissen (Sachkompetenz). Darauf aufbauend wird Erkenntnisgewinnung adressiert, indem Hypothesen formuliert werden (❸), ein Experiment selbst geplant und aus bereitgestellten Materialien ausgewählt (Schritte ❺, ❻, ❼, ❽) sowie letztlich reflektiert wird, inwiefern die geplanten Experimente tatsächlich zur Prüfung der Hypothesen geeignet sind (Schritte ❿, ⓫). S = Schüler*innen

Biologiestunden beginnen häufig damit, dass Schüler*innen im Einstieg mit einem Phänomen konfrontiert werden und zu diesem Phänomen „Hypothesen“ formulieren sollen, die dann im Verlauf der Stunde überprüft und in der Sicherung bestätigt bzw. widerlegt werden (Abb. 9.1).

In dieser Stunde wird das Ziel verfolgt, dass die Schüler*innen ein Experiment zur Ausprägung der Schwanzflosse bei männlichen Guppys auswerten. Dazu wurde der Standard „Daten, Trends und Beziehungen interpretieren, diese erklären und weiterführende Schlussfolgerungen ableiten“ aus dem Berliner Rahmenlehrplan ausgewählt (SenBJF, 2015, S. 19). Nachdem die Schüler*innen im Einstieg zunächst mit einem Bild von zwei Guppys konfrontiert werden (Abb. 9.1, ①), sollen sie „Hypothesen“ aufstellen, warum die beiden Guppys unterschiedlich gefärbte Schwanzflossen haben (❷). Als Begründung dafür wird der problemorientierte Unterricht genannt, demzufolge zunächst Problemfragen zu entwickeln und dann „Hypothesen“ zu formulieren seien. Über die Erwartung an diese „Hypothesen“ geben die drei antizipierten Antworten Aufschluss, die im Entwurf beschrieben werden:

„Es handelt sich um den Sexualdimorphismus. Dabei liegen in Hinblick auf Gestalt, Färbung und Verhalten deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern vor.“

„Es muss eine Mutation bei einem der Guppys vorliegen.“

„Die Guppys kommen an unterschiedlichen Orten vor.“

Die Schüler*innen sollen also mithilfe des bereits erarbeiteten biologischen Fachwissens über die Evolution nicht Hypothesen, sondern zeitlich vor dem Phänomen liegende Erklärungsversuche zum Phänomen formulieren. Diese Erklärungsversuche werden insofern geprüft, als die Schüler*innen in der Erarbeitungsphase zunächst einen Informationstext über Guppys und verschiedene Selektionsfaktoren lesen sollen (❺) und anschließend ein Experiment auswerten, in dem Guppys in zwei Teilgruppen getrennt gehalten werden – eine Gruppe mit, die andere als Kontrolle ohne einen Fressfeind. Neben der inhaltlichen Auswertung des Experiments sollen in einer weiteren Aufgabenstellung die Aussagekraft des Untersuchungsplans und dessen Umsetzung beurteilt werden (❼), sodass die Schüler*innen sowohl mit der ontologischen als auch mit der epistemischen Ebene konfrontiert sind. Im letzten Schritt der Erarbeitung sollen die Schüler*innen dann jedoch eine Kurzpräsentation vorbereiten, „indem sie die Erkenntnisse aus der Auswertung der Versuchsergebnisse nutzen, um die Problemfrage zu beantworten“ (⑧). Damit wird der Unterrichtsgang wieder auf die ontologische Ebene zurückgeführt und schließt logisch an den Einstieg an, denn nun werden die neu gewonnenen Erkenntnisse aus dem Arbeitsmaterial besprochen und es wird geklärt, warum männliche Guppys unterschiedlich gefärbte Schwanzflossen haben (⑨, ⑩). Abschließend werden im Sinne einer didaktischen Klammer die im Einstieg formulierten Erklärungsversuche wieder aufgegriffen (⑪) und „reflektiert“. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Reflexion über einen Vergleich der bereits gesicherten sachangemessenen Erklärung mit den im Einstieg gesammelten Erklärungsversuchen hinausgeht. Da die meisten Unterrichtsschritte in dieser Stunde der ontologischen Ebene zuzuordnen sind und dies auch Fokus der Sicherungsphase ist, ist davon auszugehen, dass die Schüler*innen in dieser Stunde Sachkompetenzen und allenfalls implizit Erkenntnisgewinnungskompetenzen entwickelt haben. Wir vermuten, dass in der geplanten Stunde der angestrebte Kompetenzzuwachs hätte präzisiert werden können, wenn begrifflich konsequent statt von „Hypothesen aufstellen“ von „Erklärungen für ein fachliches Problem finden“ gesprochen und als Lernziel explizit die Förderung von Sachkompetenz benannt worden wäre. Somit würde vermieden werden, wissenschaftliche Hypothesen für vage, spontan geäußerte Vermutungen zu halten.

  1. (2)

    Hypothesen aufstellen für eine Untersuchung

Sollen in einer Biologiestunde explizit Erkenntnisgewinnungskompetenzen gefördert werden, sollten im Stundenverlauf die prozedurale oder epistemische Ebene konsequent erreicht werden (Abb. 9.2).

In dieser Stunde verfolgt die Lehrkraft das Ziel, dass die Schüler*innen ein Experiment zur Überprüfung der Allen’schen Regel planen. Dazu wurde der Standard „exemplarische Experimente zur Überprüfung von Hypothesen planen“ aus dem Berliner Rahmenlehrplan ausgewählt (SenBJS, 2006, S. 16).

Nachdem die Schüler*innen im Einstieg mit einer Weltkarte konfrontiert werden (①), in der drei Fuchsarten mit verschieden großen Ohren gezeigt werden, werden die Schüler*innen mit der Frage konfrontiert, warum beispielsweise der Wüstenfuchs viel größere Ohren hat als der Polarfuchs (❸). Folgende „Hypothesen“ werden antizipiert:

„Kleinere Ohren haben eine kleinere Oberfläche zur Wärmeabgabe, sodass sie in kälteren Gebieten einen Vorteil haben.“

„Wenn die Ohren größer sind, dann ist auch die Oberfläche zur Wärmeabgabe größer. Füchse, die in wärmeren Regionen leben, haben dadurch einen Vorteil.“

Während die erste antizipierte „Hypothese“ einen Erklärungsversuch darstellt, in dem mithilfe von Vorwissen der Zusammenhang zwischen Oberfläche und Wärmeabgabe beschrieben wird, handelt es sich im zweiten Fall tatsächlich um eine deduktive Hypothese, für die eine „Wenn … dann“-Konstruktion gewählt und somit der Zusammenhang zwischen zwei Variablen formuliert wird. Damit die Schüler*innen vor dem Hintergrund ihrer in Gruppen formulierten Hypothesen entsprechende Experimente planen können, wird im Einstieg zunächst wiederholt, dass Experimente der Untersuchung eines kausalen Zusammenhangs zwischen zwei Variablen dienen, dass man zu diesem Zweck einen Kontrollansatz benötigt und dass sich der Kontrollansatz vom Experimentalansatz nur in der Variation einer einzigen unabhängigen Variablen unterscheiden soll (❹). Erweiternd hätte hier der Erklärungsversuch explizit von der Hypothese abgegrenzt werden können. Dieser Übergang auf die epistemische Ebene ist sinnvoll, weil die Schüler*innen in der sich anschließenden Erarbeitungsphase eigenständig ein Experiment planen, mit dem ihre Hypothese untersuchbar wird. Dazu wählen sie aus bereitgestellten Materialien (z. B. Teelöffel, Esslöffel, warme Kartoffeln) begründet die benötigten Materialien aus (❼). Die Schüler*innen stellen Analogien zum Phänomen her (z. B. warme Kartoffel entspricht Fuchskörper, Löffel entsprechen den Ohren) und denken bewusst über die Gestaltung des Experiments nach. Die Experimentaldesigns (❽) werden dann von zwei Gruppen präsentiert (❾). Dazu wird ausgeführt:

„Hierbei werden bewusst zwei Gruppen mit unterschiedlichen oder mit fehlerhaften Planungen ausgewählt, damit diese im Plenum ausgewertet und dezidiert besprochen werden können. Die restlichen [Schüler*innen] erhalten einen Beurteilungsbogen, mit dem sie die Planungen einschätzen und reflektieren sollen.“

Es wird deutlich, dass die Planung nicht auf die eine richtige Lösung abzielt. Stattdessen denken die Schüler*innen auf einer epistemischen Ebene darüber nach, inwiefern die von den Gruppen vorgestellten Ansätze zur Untersuchung der im Einstieg formulierten Hypothesen geeignet sind (❿). Der Beobachtungsauftrag durch den Beurteilungsbogen aktiviert kognitiv auch die Schüler*innen, die ihre Planungen nicht vorstellen. Die Kompetenzfokussierung zeigt sich in einer abschließenden Selbstreflexion, in der die Schüler*innen ihren eigenen Kompetenzzuwachs auf einer vierstufigen Likert-Skala einschätzen sollen (⓫), z. B. „Ich habe meine eigene Planung des Experiments kritisch reflektiert“. Dem Entwurf ist zu entnehmen, dass die auf der Grundlage des Feedbacks modifizierten Planungen dann in der folgenden Stunde experimentell umgesetzt werden und dort die Entwicklung von Sachkompetenz über die Allen’sche Regel im Vordergrund stehen wird.

9.3 Fazit und Ausblick

Zusammenfassend zeigt sich, dass der Hypothesen-Begriff in der naturwissenschaftsdidaktischen Planungs- und Unterrichtspraxis angehender Biologielehrkräfte überstrapaziert wird. Es erscheint notwendig, die verschiedenen Lesarten des Begriffs klarer zu trennen. Wir schlagen vor, den Begriff Hypothese nur dann zu verwenden, wenn eine auf theoretischer Basis begründete, empirisch prüfbare Voraussage eines in der Zukunft potenziell empirisch zu untersuchenden Zusammenhangs gemeint ist. Wenn die Schüler*innen jedoch im Sinne eines problemorientierten Einstiegs Ideen sammeln, um ein Phänomen zu erklären, sollten diese Ideen nicht „Hypothesen“, sondern potenzielle und in der Vergangenheit liegende Ursachen Erklärungsversuche genannt werden.

Dies könnte Anlass bieten, das Prinzip der Problemorientierung im Biologieunterricht insofern kritisch zu reflektieren, als ihm im Rahmen kompetenzorientierten Unterrichtens eine Schwierigkeit innewohnt: Wenn das Ziel verfolgt wird, ein Phänomen zu verstehen bzw. verständlich erklären zu können, wird Sachkompetenz (KMK, 2020) adressiert. Oft jedoch formulieren (angehende) Lehrkräfte ein Lernziel, das auf Erkenntnisgewinnungskompetenz (KMK, 2020) abzielt. Fokussiert man aber in der Sicherungsphase vor allem die fachliche Korrektheit der Erklärungen des biologischen Phänomens, liegt der Schwerpunkt auf dem Erwerb von Sachkompetenz. Erst ein explizites Nachdenken über „Basiskonzepte der Erkenntnisgewinnung“ (Lübeck, 2020) bzw. über das „Methodenwissen“ der Biologie (Krell & Krüger, 2022) fördert Erkenntnisgewinnungskompetenz. In solchen Stunden im Einstieg Erklärungen zu fordern, daraus Hypothesen abzuleiten und anschließend die Angemessenheit der Planung bzw. Durchführung einer Untersuchung zu reflektieren wird einem problemorientierten Einstieg mit Erklärungsversuchen und Hypothesen gerecht. Die Gleichsetzung vager Ideensammlungen mit theoretisch begründeten Voraussagen unter dem Begriff Hypothese erscheint uns hingegen problematisch.

Es sei mit Blick auf das erste Stundenbeispiel hervorgehoben, dass die Verfolgung des Standards des Berliner Rahmenlehrplans („Daten, Trends und Beziehungen interpretieren, diese erklären und weiterführende Schlussfolgerungen ableiten“) als fachliche Klärung interpretiert werden kann. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die kurzen Standardformulierungen im Geiste des jeweiligen Kompetenzbereichs verstanden werden müssen.

Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Fragen für die zukünftige biologiedidaktische Forschung von Interesse:

  • Im Bereich der biologiedidaktischen Kompetenzforschung wäre zu untersuchen, inwiefern sich die Auftrennung des Hypothesen-Begriffs in abduktive Erklärungen und deduktive Hypothesen nicht nur beim Modellieren (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021), sondern auch bei den Arbeitsweisen Beobachten, Vergleichen und Ordnen sowie Experimentieren reflektieren lässt.

  • Im Bereich der biologiedidaktischen Professionsforschung wäre zu untersuchen, welche Variablen der professionellen Kompetenz von Lehrkräften (z. B. Fachwissen, fachdidaktisches Wissen, epistemologische Überzeugungen) als Prädiktoren für ein wissenschaftlich adäquates Verständnis zur Unterscheidung von Erkenntnisgewinnungs- und Sachkompetenz oder spezieller von Erklärungen und Hypothesen gelten können.

Hinweis zur Förderung: Das Projekt K2Teach (Know how to teach) wurde im Rahmen der gemeinsamen „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ von Bund und Ländern aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JA1802 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.