FormalPara Abstract

In this contribution, biology education research and teaching practice are linked by introducing the Family Resemblance Approach to Nature of Science (NOS) as a theoretical framework and contextualizing it through the historical case of the primatologist Dian Fossey (1932–1985). For this purpose, we introduce the mystery method as a learning approach. In mysteries, students resolve a problematic statement by structuring information presented on cards into concept maps. Based on an existing mystery for the use in secondary schools, this paper discusses ways to consider the contextualization of NOS learning approaches. It is shown that for effective learning about NOS, two perspectives can be considered in different ways: first, the ‚inner logic‘ of corresponding learning approaches (e.g., deductive reasoning), and second, the integration of both NOS content which is relevant to all scientific disciplines, and NOS content which is specific to certain scientific disciplines. The contribution ties in with the Round Table „Nature of Science in Practice“, which reflected on different ways of contextualizing NOS learning approaches to enhance effective NOS learning in science class.

8.1 Einführung

In diesem Beitrag werden Möglichkeiten einer effektiven Förderung des Nature of Science (NOS)-Verständnisses für die Unterrichtspraxis auf Grundlage eines theoretischen NOS-Modells, dem Family Resemblance Approach (FRA), und anhand der Mystery-Methode diskutiert. In der Literatur wird deutlich, dass sich NOS-Lerngelegenheiten anhand unterschiedlicher zugrunde liegender theoretischer NOS-Konzeptualisierungen (z. B. Consensus View; Lederman & Lederman, 2014; Family Resemblance Approach, FRA; Erduran & Dagher, 2014), verschiedener fachwissenschaftlicher (biologischer) Kontexte sowie hinsichtlich vielfältiger Unterrichtsmethoden gestalten lassen (z. B. Höttecke, 2004; Scharmann et al., 2005).

In diesem Beitrag werden Möglichkeiten einer effektiven Förderung des NOS-Verständnisses für die Unterrichtspraxis auf Grundlage eines theoretischen NOS-Modells, dem FRA (vgl. unten), und anhand der Mystery-Methode diskutiert. Ein Mystery ist eine problemorientierte Lerngelegenheit, mittels derer Schüler*innen selbstständig eine problematische Aussage auflösen. Dies geschieht, indem sie auf Kärtchen dargestellte Informationen in individuellen Concept Maps strukturieren (Fridrich, 2015). Auf Grundlage von (kontextualisierten) Kärtchen können Schüler*innen Aussagen auf unterschiedlichen Wegen ableiten.

Studien zeigen, dass der Aufbau eines fachlich belastbaren NOS-Verständnisses bei Schüler*innen im naturwissenschaftlichen Unterricht effektiv gefördert wird, wenn entsprechende Lerngelegenheiten NOS-Inhalte kontextualisiert darstellen (Bell et al., 2016; Erduran et al., 2021; Kampourakis, 2016). Kontextualisierte NOS-Inhalte weisen inhaltliche Bezüge zur jeweiligen Fachdisziplin (z. B. Biologie) auf und zeigen somit die Bedeutung der adressierten NOS-Inhalte anhand konkreter Fallbeispiele auf. Dabei können NOS-Inhalte anhand einer graduellen Abstufung ihrer Kontextualisierung beschrieben werden. Bezogen auf den NOS-Inhalt „Beobachten als naturwissenschaftliche Arbeitsweise“ (Reinisch & Fricke, 2022) werden bei fehlender Kontextualisierung Eigenschaften und Bedingungen des Beobachtens (z. B. theorie- und kriteriengeleitetes Vorgehen; vgl. Krell & Krüger, 2022) ohne Bezug zu konkreten Fallbeispielen adressiert. Mit zunehmendem Grad einer Kontextualisierung wird der NOS-Inhalt in zunehmendem Maße anhand konkreter Forschungsfragen und -ergebnisse dargestellt, zum Beispiel durch tatsächliche Beobachtungsstudien der Biologie.

Für die Vermittlung von NOS-Inhalten liegen neben zu berücksichtigenden Merkmalen für die Unterrichtsgestaltung fachdidaktische NOS-Modelle als theoretische Grundlage vor, von denen der FRA exemplarisch im Fokus des Beitrags steht. Mit dem FRA (Abb. 8.1; Erduran & Dagher, 2014; Reinisch & Fricke, 2022) werden Eigenschaften und Bedingungen der Erkenntnisgewinnung in naturwissenschaftlichen Disziplinen in elf Kategorien beschrieben. Der FRA bietet dabei die Möglichkeit, die Eigenschaften und Bedingungen verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen anhand unterschiedlicher disziplinbezogener Inhalte zu kontextualisieren. In diesem Sinne lassen sich die Inhalte von FRA-Kategorien für unterschiedliche naturwissenschaftliche Disziplinen ausschärfen (z. B. durch die Beschreibung unterschiedlicher Arbeitsweisen wie des Beobachtens oder des Experimentierens; Erduran & Dagher, 2014; Reinisch & Fricke, 2022). Für die Gestaltung von NOS-Lerngelegenheiten bietet der FRA das Potenzial, ausgehend von jeweils unterschiedlichen NOS-Inhalten naturwissenschaftlicher Fächer entsprechende Lerngelegenheiten zu entwickeln. Dabei können NOS-Lerngelegenheiten NOS-Inhalte beinhalten, die relevant für mehrere Disziplinen (d. h. disziplinübergreifend) sind, sowie NOS-Inhalte, die spezifisch für bestimmte Disziplinen sind. Mit dem FRA werden zwei Systeme der Naturwissenschaften beschrieben. Das kognitiv-epistemische System beschreibt die Prozesse und Strukturen der Erkenntnisgewinnung anhand von fünf Kategorien: kognitiv-epistemische Ziele und Werte (z. B. Objektivität), Arbeitsweisen (z. B. Beobachten), Denkweisen (z. B. deduktives Schlussfolgern), methodologische Regeln (z. B. Einsatz von Kontrollen) und Wissensformen (z. B. Theorien; Abb. 8.1: innerer Kreis; Reinisch & Fricke, 2022; vgl. Erduran & Dagher, 2014). Das sozial-institutionelle System beschreibt Eigenschaften und Bedingungen, welche sich auf sozialer und institutioneller Ebene ergeben und die kognitiv-epistemischen Prozesse und Strukturen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung von außen steuern bzw. beeinflussen. Dafür werden sechs Kategorien beschrieben, beispielsweise Ökonomie der Wissenschaften (z. B. finanzielle Förderung) und Machtstrukturen (z. B. politische und gesellschaftliche Machtstrukturen; Abb. 8.1: die zwei äußeren Ringe; Reinisch & Fricke, 2022; vgl. Erduran & Dagher, 2014). Die Kategorien des sozial-institutionellen Systems beschreiben somit Faktoren, von denen die Prozesse des kognitiv-epistemischen Systems abhängen. Die FRA-Kategorien sind als „interaktiv mit porösen Grenzen“ (Erduran & Dagher, 2014, S. 28) zu verstehen, was ihren vernetzten Charakter und damit die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen NOS-Inhalten aufzeigt.

Abb. 8.1
figure 1

Family Resemblance Approach für Nature of Science (erstellt nach Reinisch & Fricke, 2022; Erduran & Dagher, 2014)

Erduran und Dagher (2014) argumentieren, dass FRA-Kategorien sowohl auf disziplinübergreifende als auch auf disziplinspezifische NOS-Inhalte angewendet werden können. In einer qualitativen Analyse von Biologieschulbüchern wurden FRA-Kategorien differenziert, die im Curriculum für das Unterrichtsfach Biologie enthalten und somit für die Vermittlung von NOS-Inhalten im Fach Biologie relevant sind (Reinisch & Fricke, 2022). Beispielsweise werden ein möglichst objektives Vorgehen in der wissenschaftlichen Praxis als ein kognitiv-epistemischer Wert in der Biologie und das Beobachten als eine biologische Arbeitsweise der Biologie beschrieben (Abb. 8.1; Reinisch & Fricke, 2022). Im Beitrag werden exemplarisch für diese beiden NOS-Inhalte Möglichkeiten der Kontextualisierung beschrieben.

Der Nutzen des FRA zur theoretisch basierten Gestaltung von NOS-Lerngelegenheiten lässt sich beispielhaft am historischen Fall der Primatenforschung von Dian Fossey und ihrem Team (Fossey, 1970) in den 1970er-Jahren zeigen. Politische und gesellschaftliche Machtstrukturen, ökonomische Aspekte sowie soziale Interaktionen innerhalb des Wissenschaftsbetriebs hatten erheblichen Einfluss auf die Beobachtungen in der verhaltensbiologischen Forschung von Fossey. Die Wechselwirkungen von kognitiv-epistemischen und sozial-institutionellen NOS-Inhalten werden in diesem Beispiel dadurch deutlich, dass Auswirkungen von politischen und gesellschaftlichen Unruhen und Bürgerkriegen in afrikanischen Gebieten (z. B. im Rahmen der Kongo-Krise 1960–1965) Fossey dazu veranlassten, ihr ursprüngliches Forschungsgebiet Kongo zu verlassen und in Ruanda eine andere Gorillapopulation zu beobachten. Diese politischen und gesellschaftlichen Machtstrukturen bestimmten auch die Umweltbedingungen der Gorillas und prägten das Verhalten beider Populationsgruppen (Kongo, Ruanda). Folglich musste Fossey die Ergebnisse ihrer Forschung auch hinsichtlich dieser sozial-institutionellen Faktoren entsprechend dem Forschungsgebiet deuten. Ein anderer NOS-Inhalt betrifft die sozialen Interaktionen der Wissenschaftlerinnen Fossey und Jane Goodall: Erst der fachliche Austausch mit Goodall brachte Fossey dazu, einen für die Gorillas sichtbaren Beobachtungsposten einzunehmen und sich im Rahmen ihrer Beobachtungen ihnen immer weiter anzunähern und mit ihnen zu kommunizieren (Fossey, 1970). Diese Vorgehensweise steht im Widerspruch zu Definitionsversuchen des Beobachtens, wonach Forschende nicht in das System eingreifen sollten (vgl. Krell & Krüger, 2022). Dies muss beim Interpretieren der Verhaltensbeobachtungen durch Fossey berücksichtigt werden, indem etwa das Verhalten unterschiedlicher Gorillapopulationen auch in Abhängigkeit zur Durchführung der Beobachtungen gedeutet wird.

Eine Möglichkeit, NOS-Inhalte förderlich in den Unterricht zu integrieren und entsprechend das oben dargestellte Merkmal Kontextualisierung adäquat zu berücksichtigen, liefert der Einsatz der Mystery-Methode. Beim Einsatz dieser problemorientierten Methode zum Erschließen von NOS-Inhalten wird zunächst eine problematische oder zunächst paradox wirkende Aussage präsentiert, die die Schüler*innen im Verlauf selbstständig und sukzessiv auflösen (Fridrich, 2015). Für das Fallbeispiel von Fossey und ihrer Forschung an Gorillas lautet die problematische Aussage: „Was für ein Affenzirkus! Wissenschaft soll doch objektiv und unabhängig sein …“ (Fricke & Reinisch, 2022, S. 130). Indem Schüler*innen mit dem normativen Anspruch an objektive und unabhängige Wissenschaft konfrontiert werden, eröffnet das Mystery „Dian Fossey und ihre Gorillas“ (Fricke & Reinisch, 2022) Möglichkeiten der Reflexion über NOS in der Sekundarstufe II. Beispielsweise lässt sich aus der problematischen Aussage ableiten, dass ein normativer Anspruch auf objektive und unabhängige Wissenschaft besteht, dieser aber aufgrund eines „Affenzirkus“ gegebenenfalls nicht umgesetzt werden kann. Der „Affenzirkus“ um Dian Fossey wird als historischer biologischer Kontext genutzt. Die problematische Aussage ist ein offener Impuls, der zum Nachdenken über die Bedingungen für objektive und unabhängige Forschungsprozesse anregt.

Im Verlauf eines Mysterys werden auf Kärtchen dargestellte Informationen in individuellen Concept Maps strukturiert, indem die Kärtchen sinnvoll angeordnet und mit beschrifteten Pfeilen verbunden werden (Abb. 8.2). Mit der sukzessiven Entwicklung von Concept Maps werden individuelle Lösungswege in einer problemorientierten Lerngelegenheit von den Schüler*innen selbst erschlossen. Am Beispiel des „Affenzirkus“ erschließen sich die Schüler*innen anhand der Kärtchen, inwiefern biologische Forschung bzw. Naturwissenschaften generell in einem gegenseitigen Wechselspiel mit sozialen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtstrukturen stehen. Durch Auflösung der problematischen Aussage sollen die Schüler*innen schließlich erläutern, dass Forschende beim wissenschaftlichen Arbeiten Objektivität und Unabhängigkeit (als kognitiv-epistemische Werte in der Forschung) anstreben und Forschungsergebnisse hinsichtlich ihrer sozial-institutionellen Bedingungen und Wechselwirkungen interpretiert werden müssen. Eine exemplarische Concept Map als Musterlösung liegt für den „Affenzirkus“ vor.Footnote 1

Abb. 8.2
figure 2

Auszug aus einer exemplarischen Concept Map zum Thema NOS

Es zeigt sich, dass beim Einsatz von Mysterys im Unterricht die Kontextualisierung von NOS-Inhalten zur Förderung eines NOS-Verständnisses berücksichtigt werden kann. Dabei kann die Kontextualisierung – so wird im Folgenden postuliert – in der Unterrichtspraxis auf zwei Ebenen umgesetzt werden: einerseits auf der Ebene der „inneren Logik“ von Lerngelegenheiten (hier: der Mystery-Methode), auf der unterschiedliche Vorgehensweisen beim Schlussfolgern berücksichtigt werden, und andererseits hinsichtlich disziplinübergreifender und disziplinspezifischer NOS-Inhalte. Folgende These wird daher diskutiert: Für eine effektive Förderung eines NOS-Verständnisses sollten einerseits die „innere Logik“ der Lerngelegenheiten als auch disziplinübergreifende und -spezifische NOS-Inhalte berücksichtigt werden.

Am Beispiel des Mysterys „Dian Fossey und ihre Gorillas“ (Fricke & Reinisch, 2022) wird im Folgenden erläutert, welche konkreten Möglichkeiten sich für eine Berücksichtigung dieser zwei Ebenen einer Kontextualisierung von NOS-Inhalten ergeben.

8.2 Diskurs

Zwei Argumente stützen die genannte These: Das erste Argument bezieht sich auf die „innere Logik“ von Lerngelegenheiten, das zweite Argument auf die Berücksichtigung von disziplinübergreifenden und disziplinspezifischen NOS-Inhalten in Lerngelegenheiten.

8.2.1 Die „innere Logik“ von Lerngelegenheiten

Lerngelegenheiten weisen eine „innere Logik“ auf, nach der Schüler*innen ausgehend von einzelnen kontextualisierten Inhalten auf generelle abstrakte Inhalte, also zum Beispiel NOS-Inhalte, schließen können (induktives Vorgehen) und umgekehrt, also zum Beispiel auf Grundlage von abstrakten NOS-Inhalten auf konkrete potenzielle Forschungsszenarien schließen können (deduktives Vorgehen). Neben einer induktiven und einer deduktiven Vorgehensweise kann auch eine abduktive Vorgehensweise gewählt werden. Das abduktive Vorgehen umfasst das begründete Generieren von Erklärungen einer Beobachtung durch die Erschließung von kausalen Ursachen. Bei der Abduktion wird auf Grundlage von theoretischem Wissen mittels Retrodiktion (Ableiten von Aussagen über Ereignisse oder Zustände in der Vergangenheit) eine Beobachtung erklärt. Abduktives Schließen fragt nach möglichen Ursachen einer Beobachtung, mit der kausale Schlüsse gezogen werden können (ein Beispiel mit Bezug zu NOS-Inhalten ist unten dargestellt). Für die Gestaltung eines sinnstiftenden, problemorientierten Unterrichts sollte das abduktive Vorgehen berücksichtigt werden (abduktives Schließen; Brandl, 2012). Die drei Vorgehensweisen können bei der Lösung eines Mysterys und konkret beim Concept Mapping Anwendung finden, wenn etwa die Reihenfolge adressierter Kontexte berücksichtigt wird. Im Folgenden wird dies an verschiedenen Möglichkeiten zur Kontextualisierung verdeutlicht.

Hinsichtlich der fachlichen Kontextualisierungsmöglichkeiten von NOS-Inhalten in Lerngelegenheiten können inhaltliche Bezüge auf zwei Ebenen bestehen: abstrakt und damit ohne fachspezifischen Kontext, mit fachspezifischem historischem oder aktuellem Kontext. Diese beiden Ebenen lassen sich in einem Mystery mit Kärtchen wie folgt umsetzen: Begriffskarten enthalten allgemeingültige (abstrakte) Definitionen, Erzählkarten transportieren eine kontextualisierte (historische oder aktuelle) Geschichte (z. B. Fricke & Reinisch, 2022). Durch das selbstständige Erarbeiten der Concept Maps im Rahmen von Mysterys durch Schüler*innen ist prinzipiell nicht vorgegeben, in welcher Reihenfolge Begriffe zu Konzepten strukturiert werden. Das Mystery bietet mit der offenen Strukturierung von Konzepten in Concept Maps Möglichkeiten für induktives und deduktives Schließen. Bei der induktiven Vorgehensweise schließen Schüler*innen vom besonderen Fall auf eine allgemeingültige Aussage (z. B. Aus der Durchführung der Beobachtungen durch Dian Fossey kann auf wissenschaftliches Beobachten im Allgemeinen geschlossen werden.). Bei der deduktiven Vorgehensweise schließen Schüler*innen vom Allgemeinen auf einen besonderen Fall (z. B. Das wissenschaftliche Beobachten findet ohne Eingriffe in das zu untersuchende System statt, daher müsste auch Dian Fossey Gorillas beobachtet haben, ohne in ihr System einzugreifen). Es kann sinnvoll sein, in einem Mystery ausgewählte Informationen gezielt nicht zur Verfügung zu stellen, um Raum für Interpretationen zu ermöglichen. Anhand der Informationen auf den Kärtchen können Schüler*innen selbst ableiten, dass die Art der Durchführung von Fosseys Beobachtungen nicht alle der für das wissenschaftliche Beobachten präsentierten Kriterien erfüllen. Daran kann ein Nachdenken über die Arbeitsweise des Beobachtens anknüpfen, was eine Aktivität zur Förderung von Kompetenzen der Erkenntnisgewinnung darstellt. Krell und Krüger (2022) weisen darauf hin, dass zur Förderung von Erkenntnisgewinnungskompetenzen der Schwerpunkt einer Unterrichtsstunde in der Vermittlung von Bedingungen und Eigenschaften relevanter Arbeitsweisen und nicht von biologischem Fachinhalt liegt. Ein (explizites) Nachdenken über das Beobachten im Sinne der Förderung von Erkenntnisgewinnungskompetenzen würde bedeuten, dass nicht die Ergebnisse von Fosseys Beobachtungen (also das Verhalten von Gorillas), sondern Kriterien wissenschaftlichen Beobachtens mit Schüler*innen diskutiert werden (z. B. „Merkmalszusammenhänge (Korrelationen) [werden] ohne aktive Manipulation von Variablen untersucht“, „Beobachtung und Deutung sind voneinander getrennt“; Krell & Krüger, 2022, S. 379).

In der Literatur werden verschiedene Ansätze zur Kontextualisierung von NOS-Inhalten beschrieben und empirisch geprüft. Bell et al. (2016) untersuchten, inwiefern das NOS-Verständnis angehender Lehrkräfte als auch deren Bereitschaft, NOS-Lerngelegenheiten in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen, gefördert werden, wenn sie mit Lerngelegenheiten mit unterschiedlichen Graden an Kontextualisierung konfrontiert waren. Das NOS-Verständnis und die Bereitschaft wurden jeweils erfasst, bevor und nachdem die Teilnehmenden NOS-Aktivitäten mit unterschiedlichem Grad an Kontextualisierung durchgeführt haben. Die NOS-Lerngelegenheiten unterschieden sich in der graduellen Abstufung ihrer Kontextualisierung (ohne, gering, mittelmäßig, hochgradig). NOS-Lerngelegenheiten ohne Kontextualisierung beinhalteten zugängliche Analogien für das, was Naturwissenschaft charakterisiert, und enthielten wenig bis gar keine naturwissenschaftlichen Fachinhalte. In den hochgradig kontextualisierten Lerngelegenheiten hingegen lag der Schwerpunkt auf den enthaltenen naturwissenschaftlichen Fachinhalten oder auf Perspektiven der Geschichte der Naturwissenschaften. Die Ergebnisse zeigen, dass NOS-Lerngelegenheiten, die entlang unterschiedlicher Grade an Kontextualisierungen gestaltet werden, ein fachlich belastbares NOS-Verständnis fördern und daher in der Unterrichtsplanung berücksichtigt werden sollten. Hier sei anzumerken, dass in der Studie zunächst NOS-Lerngelegenheiten ohne Kontextualisierungen und im Verlauf der Intervention NOS-Lerngelegenheiten mit hochgradigen Kontextualisierungen eingesetzt wurden. Dies entspricht dem deduktiven Vorgehen; induktives und abduktives Vorgehen wurden in der Studie nicht berücksichtigt.

Beim problemorientierten Unterricht wird das induktive Vorgehen, mittels dessen Schüler*innen im Unterrichtsverlauf von einem konkreten Fall auf eine Allgemeingültigkeit schließen, gegenüber dem deduktiven Vorgehen oft vorgezogen (Brandl, 2012). Während Wissen deduktiv geprüft bzw. induktiv abstrahiert werden kann, argumentiert Brandl (2012) darüber hinaus für eine bewusste Berücksichtigung abduktiver Schlüsse in der Unterrichtsgestaltung. „Da es kein menschliches Denken und Lernen ohne Abduktion gäbe“ (Brandl, 2012, S. 42), sollte die Bedeutung abduktiven Schließens im Rahmen der Erkenntnisgewinnung im naturwissenschaftlichen Unterricht eine zentrale Position einnehmen (s. Kap. 9). Klassischerweise werden Prozesse der Erkenntnisgewinnung im naturwissenschaftlichen Unterricht anhand des hypothetisch-deduktiven Vorgehens dargestellt, nach dem die Deduktion gegenüber der Induktion dominiert, während die Abduktion reduziert ist. Eine bewusste Berücksichtigung der abduktiven Denkrichtung bei der Erschließung von NOS-Inhalten scheint jedoch lohnend, muss aber hinsichtlich möglicher Lerneffekte empirisch untersucht werden. Im Fossey-Mystery können Schüler*innen auf Grundlage der problematischen Aussage und den Karten die problematische Aussage auflösen. Beim Concept Mapping schließen sie abduktiv auf den Fall des „Affenzirkus“: Auf Grundlage von theoretischem Wissen (problematische Aussage: Wissenschaft soll objektiv und unabhängig sein) und Beobachtungen eines Falls (Begriffs- und Erzählkarten mit Kontext: Das Beobachten als wissenschaftliche Arbeitsweise und die Forschung Fosseys) können NOS-Inhalte begründet erklärt werden (z. B. „Aus dem normativen Anspruch an objektive Wissenschaft und der Durchführung von Fosseys Forschung kann geschlossen werden, dass wissenschaftliche Forschung in einem Spannungsfeld zwischen Erkenntnisgewinnung und politischen und gesellschaftlichen Machteinflüssen abläuft“).

Insgesamt bieten Mysterys viele Möglichkeiten zur bewussten Steuerung von kognitiven Denkprozessen bei der Erschließung von NOS-Inhalten. Durch die Vorgabe einzelner Begriffs- und Erzählkarten als Startpunkte der Concept Maps können Denkprozesse der Schüler*innen bewusst durch die Lehrkraft gesteuert werden. Mit Blick auf die besondere Bedeutung abduktiven Vorgehens bei der Auflösung der problematischen Mystery-Aussage zeigen sich mit dieser Methode verschiedene Ebenen der Kontextualisierung von NOS-Inhalten auf.

8.2.2 Disziplinübergreifende und disziplinspezifische NOS-Inhalte

Das zweite Argument zur Stützung der These bezieht sich auf die Bedeutung von NOS-Inhalten für unterschiedliche Fachdisziplinen. Mit dem FRA (Erduran & Dagher, 2014; Reinisch & Fricke, 2022) können Naturwissenschaften anhand ihrer Gemeinsamkeiten (d. h. disziplinübergreifender NOS-Inhalte) und Unterschiede (d. h. disziplinspezifischer NOS-Inhalte) beschrieben werden. Im Folgenden wird erläutert, inwiefern die Kontextualisierung von NOS-Inhalten unter Berücksichtigung disziplinübergreifender und disziplinspezifischer (z. B. biologiespezifischer) NOS-Inhalte erfolgen sollte.

Bezüglich der Bedeutsamkeit von NOS-Inhalten für verschiedene Fächer des naturwissenschaftlichen Unterrichts (z. B. Biologie und Physik) schlägt Kampourakis (2016) vor, zunächst disziplinübergreifende NOS-Inhalte einzuführen und diese dann entlang eines kontextuellen Kontinuums verschiedener Fachdisziplinen zu adressieren:

One could start from a conceptualization of general aspects of NOS, continue with instantiations of these in various disciplines, and conclude with the heterogeneity that characterizes science. The first part would explicitly address students’ preconceptions about NOS, explain some general aspects of science which are not exclusive to it, contextualize them appropriately giving an authentic view of science, and finally highlight the specific characteristics of each discipline as well as the differences among them. (Kampourakis, 2016, S. 678)

In einem solchen Arrangement würden NOS-Inhalte, die allen naturwissenschaftlichen Disziplinen gemein sind, im Unterricht thematisiert werden, bevor anschließend etwa biologiespezifische NOS-Inhalte vermittelt werden. Somit könnten zur effektiven Förderung eines fachlich belastbaren NOS-Verständnisses unterschiedlich kontextualisierte Lerngelegenheiten, die auch förderlich für das NOS-Verständnis in anderen Fachdisziplinen (wie der Physik) sind, sinnstiftend in den Verlauf von Lerneinheiten eingebettet werden. Da oft die gleichen NOS-Inhalte (z. B. das Beobachten als Arbeitsweise) nicht nur isoliert für ein Fach, sondern mit teils unterschiedlichen Ausprägungen für mehrere naturwissenschaftliche Fächer relevant sind, ist anzunehmen, dass ein disziplinübergreifender Zugang zu diesen NOS-Inhalten im Unterricht lernförderlich ist. Wird ein Kontinuum der Kontextualisierung im Unterricht ausgehend von disziplinübergreifenden hin zu disziplinspezifischen NOS-Inhalten adressiert, ist anzunehmen, dass Schüler*innen fachrelevante Spezifika erschließen können. Erst mit dem Adressieren disziplinübergreifender NOS-Inhalte können Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede der Fachdisziplinen von Schüler*innen erschlossen werden. Durch eine Strukturierung der NOS-Inhalte entlang eines Kontinuums, so ist anzunehmen, werden Schüler*innen darin unterstützt, Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zwischen naturwissenschaftlichen Disziplinen und damit fachspezifische (z. B. biologische) Ausprägungen zu erschließen.

In der Umsetzung eines solchen Vorgehens könnten biologiebezogene Mysterys wie „Dian Fossey und ihre Gorillas“ (Fricke & Reinisch, 2022) in eine Reihenplanung eingebettet werden. Zu Beginn könnten Arbeitsweisen wie das Beobachten thematisiert werden. Durch eine vergleichende Reflexion über Eigenschaften und Bedingungen der Erkenntnisgewinnung unterschiedlicher Fachdisziplinen wie der Biologie und der Physik können Besonderheiten einzelner Disziplinen kontrastierend dargestellt werden. Beispielsweise ist das Arbeiten mit und an Lebewesen in der Biologie besonders gegenüber der Arbeit mit (nicht lebendigen) Forschungsobjekten der Physik. Während Arbeitsweisen wie das Beobachten und Experimentieren zwar in beiden Fachdisziplinen relevant sind, ist die Berücksichtigung von Eigenschaften der jeweiligen Forschungsobjekte ebenfalls relevant für den Forschungsprozess (Planung, Durchführung, Auswertung und Interpretation). Im Fall von Fossey führte der fachliche Austausch mit Goodall zu einer Veränderung der Durchführung ihrer Beobachtungen. Diese entsprachen zwar nicht mehr vollständig den prinzipiellen Kriterien wissenschaftlichen Beobachtens (vgl. Krell & Krüger, 2022), berücksichtigten aber die Eigenschaften der beobachteten Lebewesen, der Gorillas. Mit dem Mystery können disziplinübergreifende NOS-Inhalte (wie die Arbeitsweise des Beobachtens) anhand eines Fallbeispiels (wie der Durchführung von Beobachtungen durch Fossey) entsprechend den Besonderheiten einer Fachdisziplin (wie die der Verhaltensforschung in der Biologie) für diese Disziplin im Unterricht spezifiziert werden. Dies ebnet den Weg zu einer Reflexion über fachübergreifende (das Beobachten als wissenschaftliche Erkenntnismethode) und fachspezifische NOS-Inhalte (wissenschaftliches Beobachten in der Verhaltensbiologie; Reinisch & Fricke, 2022). Insofern kann ein Lernweg (Kampourakis, 2016) strukturierte und bewusst angeordnete Lerngelegenheiten beinhalten, die in ihrer Gesamtheit ein Kontinuum beginnend von disziplinübergreifenden hin zu disziplinspezifischen NOS-Inhalten abbildet.

In Rückbezug auf die These lässt sich zusammenfassen, dass die Kontextualisierung von NOS-Inhalten auf verschiedenen Ebenen erfolgen sollte: einerseits in der Berücksichtigung der Richtung kognitiver Denkprozesse beim Schlussfolgern (induktives, deduktives und abduktives Vorgehen) und andererseits in der Berücksichtigung eines Kontinuums von disziplinübergreifenden und disziplinspezifischen (z. B. biologiespezifischen) NOS-Inhalten. Mit der steuerbaren Organisation von unterschiedlich kontextualisierten NOS-Inhalten auf Begriffs- und Erzählkarten trägt die Mystery-Methode Potenziale zur Berücksichtigung beider Ebenen.

8.3 Fazit und Ausblick

In diesem Beitrag wurde anhand der Mystery-Methode sowie des spezifischen Mysterys „Dian Fossey und ihre Gorillas“ (Fricke & Reinisch, 2022) die Bedeutung des Merkmals Kontextualisierung von NOS-Inhalten für eine effektive Förderung eines NOS-Verständnisses diskutiert. Mit der Erarbeitung von Concept Maps im Rahmen von NOS-Mysterys können unterschiedliche Ebenen der Kontextualisierung berücksichtigt werden.

Das didaktische Potenzial von NOS-Mysterys liegt in dieser kontextualisierten Thematisierung von kognitiv-epistemischen Aspekten naturwissenschaftlicher Forschungsprozesse (z. B. der Arbeitsweise Beobachten) und sozial-institutionellen Aspekten (z. B. gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen; Fricke & Reinisch, 2022). NOS-Mysterys bieten im Biologieunterricht Möglichkeiten, explizit darüber zu diskutieren, dass das Wissen über empirisch untersuchbare Phänomene im Kontext seiner Entstehungsgeschichte betrachtet werden muss (Höttecke, 2004).

Mit Blick auf die Unterrichtspraxis ergibt sich aus der Berücksichtigung der Kontextualisierung die Frage, inwieweit im Unterricht darauf geachtet werden sollte, explizit unterschiedliche Denkrichtungen auch unter Berücksichtigung der Suche nach Erklärungen zu fördern. Mit der Erarbeitung einer Concept Map wird eine Visualisierung unterschiedlicher Denkweisen beim logischen Schließen ermöglicht, die auch für eine explizite Reflexion des Lernprozesses genutzt werden kann. Für Sicherungsphasen könnte es gewinnbringend sein, mit Schüler*innen über unterschiedliche Denkrichtungen am entsprechenden kontextualisierten Fall zu reflektieren. Dies könnte auch im Sinne einer vernetzten Darstellung von NOS-Inhalten förderlich sein. Es gilt, empirisch zu prüfen, inwieweit insbesondere abduktives Schlussfolgern für ein effektives Lernen über NOS zu berücksichtigen wäre.

Im Sinne einer Kompetenzentwicklung in den Bereichen nachhaltiger Entwicklung und Lernen in globalen Zusammenhängen stellt sich die Frage, wie ein problemorientierter Unterricht Schüler*innen darin fördern kann, Herausforderungen des globalen Wandels im 21. Jahrhunderts zu begegnen (Höttecke, 2004). Es hat sich gezeigt, dass kontextualisierte NOS-Lerngelegenheiten entsprechende Möglichkeiten auf Ebene der Unterrichtsplanung bieten. Weiter ist zu diskutieren, welche Möglichkeiten sich zur Kontextualisierung von NOS-Inhalten hinsichtlich gegenwärtiger und zukünftiger disziplinübergreifender Problemstellungen ergeben. Dabei seien insbesondere mit Blick auf Interaktionen zwischen wissenschaftlichen Fachdisziplinen auch die jeweiligen Beiträge einzelner Disziplinen zu berücksichtigen.

Hinweis zur Förderung: Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Förderung des Projekts Bio-NOS (Projektnummer 423393239). Die in diesem Beitrag geäußerten Ansichten, Erkenntnisse, Schlussfolgerungen oder Empfehlungen sind die der Autorinnen und spiegeln nicht unbedingt die Ansichten der DFG wider.