FormalPara Abstract

Computer simulations are being increasingly applied in scientific inquiry to gain new insights and communicate them to the public. In biology, simulations are now considered a third strand of science in addition to theory and empiricism. This chapter argues that computer simulations are a suitable format for reflecting Nature of Science (NOS). One particular advantage of computer simulations is that they can be used to investigate complex scientific phenomena. The chapter discusses the combination of different types of uncertainty and topics with varying complexities, conceptualized using the Cynefin Framework. We explore opportunities that computer simulations offer for dealing with uncertainty and discuss their potential for reflecting on the Nature of Science.

7.1 Einführung

Der Einsatz von Computersimulationen hat in der naturwissenschaftlichen Bildung eine lange Tradition (D’Angelo et al., 2014). Im schulischen Kontext dienen Simulationen dabei vor allem der Visualisierung naturwissenschaftlicher Phänomene (Dierkes, 2015). Im Biologieunterricht werden Simulationen unter anderem eingesetzt, wenn Phänomene aufgrund ihrer Eigenschaften gar nicht oder nur unter großem Aufwand im Unterricht untersucht werden können (z. B. Gefahrstoffe, nur schwer beobachtbare Prozesse wie etwa der globale Klimawandel oder Biodiversitätsverlust). Im wissenschaftlichen Kontext dagegen werden Simulationen im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung vermehrt als drittes Standbein der Wissenschaft neben Theorie und Empirie bezeichnet (Greca et al., 2014). Mit ihnen werden Erkenntnisse zu komplexen Fragestellungen gewonnen und zielgerichtet in die Öffentlichkeit kommuniziert (z. B. Klimamodellierungen; Sprenger et al., 2020). Damit rücken Simulationen als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung in den Fokus der Betrachtung.Footnote 1

Werden Simulationen im Biologieunterricht als veränderbare, dynamische Modelle eingesetzt – und nicht nur als Medium zur Visualisierung von Phänomenen –, stehen epistemologische Aspekte zur Förderung von Kompetenzen im Bereich Nature of Science (NOS) mit Simulationen im Zentrum der Betrachtung (Seoane et al., 2022). Ein Lernen über die „Natur“ von Simulationen wird somit notwendig, wenn Personen befähigt werden sollen, die wissenschaftliche Qualität von Simulationen und die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse einzuschätzen (Soeane et al., 2022; Petersen, 2012). Gleichzeitig wird damit eine wichtige Voraussetzung beschrieben, um an gesellschaftlichen Diskursen rund um Simulationen partizipieren zu können. Ein Beispiel ist die Nutzung von Simulationen zum Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 sowie die Notwendigkeit, deren Ergebnisse und die aus ihnen gezogenen Schlussfolgerungen kritisch zu reflektieren. Simulationen werden dann nicht nur genutzt, um mit ihnen ein naturwissenschaftliches Phänomen zu untersuchen (Lernen mit Simulationen), sondern zusätzlich auch, um den Erkenntnisprozess zu reflektieren (Lernen über Simulationen; Scheer, 2013). Gegenstand der naturwissenschaftlichen Bildung im Biologieunterricht sollen demnach auch die Charakteristika von Simulationen sein, die zur Reflexion der Charakteristika des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses und zur Förderung des Verständnisses dieses Prozesses beitragen.

In diesem Beitrag wird vor diesem Hintergrund die These aufgestellt, dass sich Simulationen zu biologischen Themen zur Reflexion von NOS eignen und als digitale Tools dabei spezifische Potenziale für eine Förderung des Verständnisses von NOS aufweisen. Im Zentrum des Beitrags steht dabei die Reflexion und Förderung des Umgangs mit Ungewissheit mit Simulationen. Ungewissheit wird dabei als ein inhärentes Merkmal des naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses verstanden (Seoane et al., 2022) und als ein Zustand des Nicht-Genau-Wissens beschrieben (Kap.6). Ein kompetenter Umgang mit Ungewissheit ist ein Kernelement zukunftsfähiger naturwissenschaftlicher Bildung, die junge Menschen auf die Bewältigung komplexer Herausforderungen vorbereiten will (Tauritz, 2016). Bei der Arbeit mit Simulationen ist dabei ein kompetenter Umgang mit Ungewissheit notwendig, um über die Modellierung und inhaltliche Exploration hinaus Ungewissheiten in der Simulation sowie des dahinterliegenden Forschungsprozesses verstehen und Schlussfolgerungen entsprechend fundiert treffen zu können (Petersen, 2012; Seoane et al., 2022).

7.1.1 Simulationen

Simulationen stellen dynamische Formen von Modellen dar, mit denen Phänomene, Prozesse oder Systeme so nachgebildet werden, dass mit ihnen Erkenntnisse erlangt werden können, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021). In einer Metaanalyse differenzieren D’Angelo et al. (2014) vier Arten von Simulationen für den naturwissenschaftlichen Unterricht: Neben virtuellen Laborsimulationen und virtuellen Simulationswelten, bei denen der spezifische virtuelle Ort des Geschehens die Simulation dominiert (z. B. eigenständiges Durchführen eines Gefahrstoffversuchs in einer virtuellen Laborumgebung), werden vor allem charakterbasierte Simulationen (d. h., Lernende steuern einen virtuellen Charakter in einer spielähnlichen Umgebung) und phänomenbasierte Simulationen unterschieden. Letztere zählen zu den häufigsten Simulationen in der naturwissenschaftlichen Bildung (Dierkes, 2015). Ein klassisches Beispiel aus dem Biologieunterricht für phänomenbasierte Simulationen sind Parametersimulationen zu Räuber-Beute-Populationsdynamiken, mit denen im schulischen Kontext populationsökologische Zusammenhänge wie die Lotka-Volterra-Regeln über Eingabemöglichkeiten (z. B. Schieberegler) modelliert werden. In der Regel findet dabei eine mediale Nutzung der Simulation statt, indem verschiedene Parameter verändert und deren Einfluss auf die Populationsdynamiken untersucht werden. Derartige Parametersimulationen gibt es in verschiedenen Visualisierungen, wobei die Anzahl der beteiligten Parameter und die Darstellung des Output-Formats (z. B. Wahrscheinlichkeiten, Häufigkeiten, biologiespezifische Repräsentationsformate wie Nachkommenschaften verschiedener Phänotypen) wechseln.

Innerhalb der phänomenbasierten Simulationen lassen sich von den Parametersimulationen Szenariensimulationen unterscheiden, in denen anhand eines vordefinierten Sets an Parametern zwei oder mehrere Szenarien miteinander verglichen werden. Ein Beispiel dafür ist die Monash Simple Climate Model Simulation (Sprenger et al., 2020). In diesem können basierend auf Klimadaten verschiedene Szenarien und ihre Auswirkungen auf die globale Klimaentwicklung modelliert und verglichen werden. Auf diese Weise kann beispielsweise untersucht werden, wie sich in Klimamodellen die globale Oberflächentemperatur bei verschiedenen Kohlenstoffdioxid-Konzentrationen der Atmosphäre entwickelt. Dafür werden Wechselwirkungen im Klimasystem anhand von nicht analytisch lösbaren Gleichungssystemen modelliert (Sprenger et al., 2020). Die Simulation ermöglicht damit, das Verhalten komplexer Systeme (Abb. 7.1) iterativ nachzubilden, Hypothesen zu testen und Vorhersagen zu analysieren. Auf diese Art und Weise wird die Simulation als Werkzeug zur Erkenntnisgewinnung und nicht mehr nur zur medialen Nutzung eingesetzt (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021).

Abb. 7.1
figure 1

Komplexität konzeptualisiert im Cynefin-Framework in Verbindung mit Typen von Ungewissheit (eigene Abbildung angelehnt an Zeyer, 2021 und Kurtz & Snowden, 2003). Durchgezogene Linie = hauptsächliche Zuordnung; gestrichelte Linie = nebengeordnete Zuordnung

7.1.2 Ungewissheit

Ungewissheit im Kontext der Naturwissenschaften kann als multidimensionales und polysemes Konstrukt verstanden werden (s. Kap. 6). Häufig wird dabei im Deutschen im naturwissenschaftlichen Kontext der international verwendete Begriff uncertainty mit den Termini Ungewissheit oder Unsicherheit übersetzt. Im vorliegenden Beitrag wird die Verwendung des Begriffs Ungewissheit befürwortet (s. Kap. 6). Damit soll sprachlich der Fokus darauf gelenkt werden, dass Ungewissheit im Kontext der Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsphilosophie vor allem auf fehlendes Noch-Nicht-Wissen bzw. Nicht-Genau-Wissen ohne unmittelbare Assoziationen zu Gefahr und Bedrohung verweist, welches im Kontext von NOS ein produktives Merkmal des Erkenntnisprozesses darstellt (vgl. Kampourakis & McCain, 2020; Latour, 1987).

Im Kontext von Simulationen sind verschiedene Typen von Ungewissheit besonders relevant (Tab. 7.1): Häufig wird epistemische Ungewissheit im Sinne eines überwindbaren Noch-Nicht-Wissen unterschieden von einer ontologischen Perspektive auf Ungewissheit im Sinne eines Nicht-Wissen-Könnens (scientific uncertainty nach Gustafson & Rice, 2020). Die ontologische Ungewissheit ist prinzipiell unüberwindbar (s. Kap. 6). Neben epistemischer Ungewissheit treten technische Ungewissheiten auf (Tab. 7.1), wenn der naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinn durch technische Apparaturen unterstützt wird. Ungewissheit hängt hier mit den Messinstrumenten, den messenden Personen oder den gemessenen Forschungsgegenständen zusammen (Gustafson & Rice, 2020). Weiterhin nehmen in vielen naturwissenschaftlichen Kontexten Zufallsprozesse eine zentrale Rolle ein (z. B. zufällige Mutationen der DNA). Im Kontext der Forschung zur Ungewissheit hat sich dabei der Begriff der aleatorischen Ungewissheit etabliert (Spiegelhalter, 2011). Für die Ungewissheit, die inhärentes Merkmal komplexer und chaotischer Systeme ist, wird auch die Bezeichnung der strukturellen Ungewissheit verwendet (Zeyer, 2021). Sie resultiert aus komplexen Beziehungen zwischen Variablen, die nicht linearen Dynamiken folgen, und tritt auf in ungeordneten Systemen, in denen Ursache-Wirkungs-Gefüge sowie relevante Systemparameter meist unbekannt und nicht determiniert sind (Fensham, 2012; Zeyer, 2021). Insgesamt kann konstatiert werden, dass bei der Betrachtung naturwissenschaftlicher Phänomene unterschiedliche Typen von Ungewissheit relevant sein können, wobei diese nicht exklusiv zu verstehen sind. So lässt sich ein Zufallseffekt als aleatorische Ungewissheit beschreiben, wobei zugleich auch eine strukturelle Ungewissheit in komplexen Systemen aufgegriffen werden kann.

Tab. 7.1 Übersicht verschiedener Typen von Ungewissheit mit Bezug zu biologischen Simulationen. (u. a. nach Gustafson & Rice, 2020; Kampourakis & McCain, 2020; Seoane et al., 2022; Zeyer, 2021)

7.1.3 Komplexität im Cynefin-Framework

Ein theoretischer Rahmen zur Beschreibung von Komplexität stellt das sogenannte Cynefin-Framework dar (Abb. 7.1; Zeyer, 2021). Dabei wird Komplexität zwischen einfachen, komplizierten, komplexen und chaotischen Themen differenziert, wobei die Übergänge zwischen den Kategorien nicht trennscharf sind. Die Begriffe „einfach“, „kompliziert“, „komplex“ und „chaotisch“ gehen zurück auf die Originalpublikation von Kurtz und Snowden (2003) und ihrer Adaptation von Fensham (2012) für die Naturwissenschaftsdidaktik. Die Ausgestaltung erfolgt entlang der Differenzierungsgrade „geordnete Systeme“ und „ungeordnete Systeme“ aus der Komplexitätswissenschaft, wonach in komplexen Systemen durch Selbstorganisation eine Ordnung aus der Interaktion verschiedener Entitäten emergiert (Kurtz & Snowden, 2003; Zeyer, 2021). Das Cynefin-Framework kann ebenfalls genutzt werden, um einen Zusammenhang zwischen Komplexität und Ungewissheit herzustellen, wie später ausführlich gezeigt wird.

Im vorliegenden Kapitel soll das Cynefin-Framework als eine Rahmung möglicher Themenfelder und Fragestellungen betrachtet werden, die im naturwissenschaftlichen Unterricht mit Simulationen untersucht werden können (Fensham, 2012).

7.2 Diskurs

In den Naturwissenschaften werden Simulationen als dynamische Modellierungen herangezogen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen und diese zu kommunizieren (z. B. Sprenger et al., 2020). Bislang stand vor allem das Lernen von Biologie mit Simulationen und nicht ein Lernen über die Natur von Simulationen im Fokus des naturwissenschaftlichen Unterrichts (Dierkes, 2015). Werden Simulationen jedoch aus dieser Perspektive betrachtet, können sie ein Format zur Reflexion des Verständnisses von NOS sein (Greca et al., 2014; Seoane et al., 2022). Um diese These zu erläutern, sollen zwei Aspekte zusammengeführt werden: (1) Es gibt unterschiedliche Typen von Ungewissheit, die sich je nach betrachteter Komplexität des untersuchten Phänomens unterscheiden und unterschiedlich gut in Simulationen thematisiert werden können; (2) die Reflexion und Förderung des Umgangs mit Ungewissheit durch Simulationen kann vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Förderung von Modellierkompetenz (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021) diskutiert werden.

7.2.1 Ungewissheit und Komplexität

Abb. 7.1 stellt eine Zuordnung verschiedener Typen von Ungewissheit mit Bezug auf das Cynefin-Framework dar, womit ein Zusammenhang zwischen Komplexität und Ungewissheit dargestellt wird. Hauptergebnis dieser Zuordnung ist, dass verschiedene Grade von Komplexität mit unterschiedlichen Typen von Ungewissheit assoziiert werden können, aber nicht alle Typen von Ungewissheit in allen Themenfeldern des Cynefin-Frameworks in gleicher Weise relevant sind. Von den vier im Beitrag vorgestellten Typen von Ungewissheit lassen sich jedoch jedem Themenfeld des Cynefin-Frameworks mindestens drei Typen von Ungewissheit zuordnen. Dieser Hauptbefund soll nachfolgend tiefergehend beleuchtet werden. Für die Interpretation von Abb. 7.1 sollte ferner berücksichtigt werden, dass bei der Auseinandersetzung mit realen Themenfeldern und Fragestellungen häufig auch Mischformen der Typen von Ungewissheit berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise stellte der frühe Zeitpunkt der Corona-Pandemie ein chaotisches Themenfeld dar, denn Folgeentwicklungen von SARS-CoV-2 (z. B. spezifische Eigenschaften der Varianten Delta oder Omikron, dafür notwendige Präventionsmaßnahmen, Einhaltung dieser durch die Bevölkerung) waren nicht vorhersehbar. Andererseits war aus anderen Kontexten der medizinischen Forschung zur Virenevolution bekannt, dass sich neue Subvarianten entwickeln und etablieren können. Für SARS-CoV-2 war aber noch nicht bekannt, welche dies sein würden und wie die verschiedenen Entitäten dieser frühen Phase zusammenwirken würden (d. h. strukturelle Ungewissheit, Tab. 7.1). Die Komplexität der frühen Phase der Corona-Pandemie war auch stark durch aleatorische Ungewissheit geprägt, etwa wenn neue Mutationen im Spike-Protein von SARS-CoV-2 zufällig auftraten (mit Einfluss auf strukturelle Ungewissheit). Zudem bestanden technische Ungewissheiten, etwa bei der Genauigkeit, mit der ein Antigen-Schnelltest eine Infektion mit SARS-CoV-2 tatsächlich detektieren konnte. An diesem Beispiel wird zudem deutlich, dass sich Zuordnungen von Kontexten im Cynefin-Framework im Laufe der Zeit verändern können. So kann die Corona-Pandemie im Jahr 2022 bereits nicht mehr als chaotisch, sondern eher als komplex oder kompliziert charakterisiert werden. Der Komplexitätsgrad – und damit auch der Grad an Ungewissheit – kann sich somit im Laufe der Zeit u. a. durch die Überwindung zu Beginn bestehender (epistemischer) Ungewissheiten verändern.

Ein weiteres Ergebnis der Zuordnung von Themen im Cynefin-Framework zu Typen von Ungewissheit (Abb. 7.1) ist, dass einfache Themen in der Regel kaum mit epistemischer und nicht mit struktureller Ungewissheit besetzt sind, da hier – gemäß des Cynefin-Frameworks – Ursache-Wirkungs-Beziehungen sowie Systemparameter bekannt und meist (linear) vorhersagbar sind (vgl. gestrichelte Linien in Abb. 7.1). Entsprechend hat eine Aushandlung etwaiger epistemischer Ungewissheiten bereits stattgefunden, die dazu geführt hat, dass diese epistemischen Ungewissheiten im Sinne eines (Noch-)Nicht-Wissens durch Gewinnung neuer Erkenntnisse weitestgehend überwunden wurden. Per Definition sind im Komplexitätsgrad einfacher Themen auch keine strukturellen Ungewissheiten möglich, da es keine Aspekte gibt, die man nicht wissen könnte (sonst wäre es kein „einfaches Thema“ mehr). Diese Aussage sollte dabei vor dem Hintergrund eines Verständnisses der prinzipiellen Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse (tentativeness, Kampourakis & McCain, 2020) erfolgen. Dies umfasst das Wissen darüber, dass der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozess prinzipiell durch ein Nicht-Wissen-Können darüber geprägt ist, wie sich das Wissen weiterentwickeln wird (ontologische Perspektive auf Ungewissheit; Lübke & Heuckmann, in diesem Band).

Komplizierte und komplexe Themen können dagegen mit den meisten Typen von Ungewissheit assoziiert werden (Abb. 7.1). Dabei ist strukturelle Ungewissheit im Sinne eines Nicht-Wissen-Könnens vor allem im Bereich komplexer und chaotischer Themen zu erwarten (Fensham, 2012; Zeyer, 2021), weniger im Bereich komplizierter Themen. Ursächlich dafür ist, dass im Bereich komplizierter Themen zahlreiche Systemparameter und Ursache-Wirkungs-Ketten bereits bekannt sind. Technische Ungewissheiten betreffen komplizierte und komplexe Themen gleichermaßen, interpretiert man sie als ein (Noch-)Nicht-Genau-Messen. Für einfache Themen muss diese Aussage etwas eingeschränkt werden, weil die technische Ungewissheit aufgrund der fortgeschrittenen Erkenntnisse ggf. geringer ist. Aus physikalischer Perspektive sollte zudem berücksichtigt werden, dass auch im Bereich chaotischer Themen eine technische Ungewissheit besteht (z. B. Heisenberg’sche Unschärferelation), die jedoch prinzipiell nicht überwunden werden kann. Dabei zeigt sich eine Schnittmenge zwischen technischer Ungewissheit und struktureller Ungewissheit. Eine besondere Rolle nimmt in der Zusammenstellung von Abbildung 7.1 zudem die aleatorische Ungewissheit ein, da diese als einziger Typ von Ungewissheit allen vier Themenfeldern zugeordnet werden kann. Ursächlich ist, dass sich aleatorische Ungewissheit unabhängig davon zeigen kann, wie viel bereits bekannt oder (noch) unbekannt ist.

7.2.2 Ungewissheit und Modellieren

Für die Reflexion und Förderung von NOS bietet sich an, die Simulation als Modell zu verstehen und die Arbeit mit der Simulation mit der Arbeitsweise des Modellierens zu analogisieren. Dabei unterscheiden Krüger und Upmeier zu Belzen (2021) in ihrem Modell der Modellierkompetenz eine Herstellungsperspektive und eine Anwendungsperspektive des Modells, wobei jeweils ein wechselseitiger Abgleich zwischen Erfahrungswelt und Modellwelt erfolgt. Die Reflexion und Förderung des Umgangs mit Ungewissheit in Simulationen kann durch einen bewussten Wechsel von der Anwendungsperspektive (Berücksichtigung von Ungewissheit bei der Anwendung einer vorliegenden Simulation als Erkenntniswerkzeug) zur Herstellungsperspektive (Berücksichtigung von Ungewissheit bei der Herstellung der Simulation als Erkenntniswerkzeug; vgl. Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021) erfolgen. Im ersten Fall erfolgt, ausgehend von einer bereits vorhandenen Simulation, aus der Anwendungsperspektive heraus ein Reflexionsprozess über Ungewissheit, indem man sich nachträglich Gedanken zur Entwicklung dieser vorhandenen Simulationen macht. Im zweiten Fall wird, ausgehend von der vorliegenden Simulation, eine Herstellungsperspektive eingenommen und die Simulation als dynamische (veränderbare) Modellierung begriffen. Die Herstellungsperspektive „zwingt“ dazu, Ungewissheiten in Modellen zu reflektieren und Strategien im Umgang mit Ungewissheit anzuwenden.

In der Forschungsliteratur zu Simulationen werden für beide Wege Teilkompetenzen beschrieben, mit deren Hilfe die Reflexion und Förderung von NOS in Bezug auf Ungewissheit mit Simulationen erfolgt: Ungewissheiten identifizieren und erklären, Quellen der Ungewissheiten evaluieren, zwischen verschiedenen Typen von Ungewissheit differenzieren sowie die Repräsentationsform von Ungewissheit in der Simulation explizieren (Greca et al., 2014; Petersen, 2012; Seoane et al., 2022). Die Reflexion des Umgangs mit Ungewissheit mit Simulationen kann durch einen bewussten Wechsel von der Anwendungsperspektive (Berücksichtigung von Ungewissheit bei der Anwendung der Simulation als Erkenntniswerkzeug) zur Herstellungsperspektive (Berücksichtigung von Ungewissheit bei der Herstellung der Simulation als Erkenntniswerkzeug; vgl. Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021) erfolgen. In der Anwendungsperspektive kann dabei reflektiert werden, wie Ungewissheit bei der Anwendung der Simulation als Erkenntniswerkzeug berücksichtigt wird. In der Herstellungsperspektive kann reflektiert werden, wie Ungewissheit bei der Herstellung/Entwicklung der Simulation als Erkenntniswerkzeug einbezogen wird.

Damit Simulationen als Format zur Reflexion und Förderung von NOS bezogen auf Ungewissheit in Betracht gezogen werden können, ist es erforderlich, dass die simulierten Themen zumindest prinzipiell die Auseinandersetzung mit Ungewissheit ermöglichen. Im Sinne der Konzeptualisierung des Cynefin-Frameworks (Abb. 7.1) kann festgestellt werden, dass sich dann Simulationen nur zu bestimmten Themen für die Auseinandersetzung mit Ungewissheit eignen (z. B. strukturelle Ungewissheit nur bei komplexen und chaotischen Themen, Abb. 7.1). Beispielsweise werden technische Ungewissheiten in Simulationen häufig in Form von Konfidenzintervallen dargestellt. Sie können auf Ungenauigkeiten des Messinstruments, der messenden Person sowie in der Biologie auf die Variabilität des Untersuchungsobjekts zurückgeführt werden, die in die Simulation eingespeist werden. Findet dabei eine Berücksichtigung zufälliger Ereignisse statt, zum Beispiel wenn Ergebnisse zwischen Simulationsverläufen zufällig variieren, kann auch aleatorische Ungewissheit identifiziert und erklärt werden (Spiegelhalter, 2011). Für die Reflexion des Verständnisses von epistemischer und struktureller Ungewissheit muss jedoch davon ausgegangen werden, dass diese beiden Typen von Ungewissheit meist keine explizite Darstellungsform in einer Simulation finden. Eine Reflexion von epistemischer und struktureller Ungewissheit kann trotzdem erfolgen, indem ein Abgleich mit dem untersuchten Phänomen bzw. System im Herstellungsprozesses der Simulation erfolgt oder bei ihrer Anwendung Daten generiert und diese mit realen Daten verglichen werden (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021).

Eine noch zu klärende empirische Frage ist, inwiefern aus diesen Reflexionen auch valide Schlussfolgerungen über das NOS-Verständnis der Lernenden gezogen werden können. Zur eingangs formulierten These kann dann analog festgehalten werden, dass Simulationen, die sich komplizierten, komplexen oder chaotischen Themen widmen, auch prinzipiell als Format zur Reflexion von NOS bezogen auf den Umgang mit Ungewissheit herangezogen werden können.

Ein spezifisches Potenzial von Simulationen zur Reflexion und Förderung des Verständnisses von NOS bezogen auf den Umgang mit Ungewissheit ist es, dass Simulationen prinzipiell durch Variation der ihr zugrunde liegenden Programmierungen (Algorithmen) als Modelle verändert werden können (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021; Petersen, 2012). Exemplarisch soll dazu die Exploration und Aufnahme neuer Paramater in eine Simulation betrachtet werden. Auf diese Weise können etwa in komplizierten oder komplexen Themenfeldern neue Erkenntnisse gewonnen werden (Ross et al., 2013). Durch diese Form der simulationsbasierten Wissensgenese besitzen Simulationen das spezifische Potenzial, epistemische Ungewissheiten zu reduzieren (Seoane et al., 2022). Zudem ermöglichen es Simulationen durch die Approximation von zufallsbedingten Parametern (aleatorische Ungewissheit) und die dabei vorzunehmende gezielte Auswahl und Reduktion von geeigneten Parametern, komplexe Systeme sukzessive erfahrbar zu machen. Besondere Entfaltung findet dieses Potenzial, wenn Lernende eigene Simulationen gestalten (Chiel et al., 2010). Nehmen Lernende zunächst die Herstellungsperspektive (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021) ein und zielen darauf ab, mit Simulationen Erkenntnisse zu einem komplizierten, chaotischen oder komplexen Phänomen zu gewinnen, sind Entscheidungen im Umgang mit Ungewissheit zu treffen. Einerseits betreffen diese Entscheidungen, wie oben dargestellt, Ungewissheiten, die durch Kenntnisse von Strategien im Umgang mit Ungewissheit prinzipiell verringert werden können (z. B. Wissensgenese, Auswahl geeigneter Parameter, Reduktion von Parametern, Approximationen). In der Auseinandersetzung mit den eigenen Simulationen können Lernende aber auch den Umgang mit struktureller Ungewissheit in komplexen Systemen kennenlernen. Zur Förderung des Verständnisses von NOS trägt hier die Erfahrung bei, dass diese Form der Ungewissheit zwar nicht reduziert werden kann, aber es im Rahmen von Simulationen Strategien zum Umgang mit ihr gibt (Ross et al., 2013). Zu diesen zählt etwa der Rückgriff auf ähnliche Situationen (vgl. Beispiel zu Virenmutationen und SARS-CoV-2) und die Exploration möglicher Parameter durch Approximation. Dabei können nach Möglichkeit auch verschiedene Szenarien generiert und miteinander verglichen werden (vgl. Szenariensimulation in Klimamodellierungen, Sprenger et al., 2020). Sicherlich muss dabei berücksichtigt werden, dass die beschriebenen Anforderungen an Lernende und Lehrende im Biologieunterricht als sehr hoch zu bewerten sind, u. a. weil die biologisch-inhaltliche Ebene mit der informatischen Ebene und speziellen Kenntnissen der Simulationsumgebung verbunden werden muss.

7.3 Fazit und Ausblick

Der Beitrag hat Simulationen als Werkzeug der Erkenntnisgewinnung dargestellt und eine Verbindung zur Förderung des NOS-Verständnisses bezogen auf den Umgang mit Ungewissheit eröffnet. Zentral ist dabei die Annahme, dass es unterschiedliche Typen von Ungewissheit gibt, die sich je nach Komplexität des betrachteten Themas unterschiedlich gut zur Reflexion und Förderung von NOS mit Simulationen eignen. Daran schließt sich das Desiderat an, das Verhältnis von Simulationen im wissenschaftlichen Kontext und im schulischen Kontext näher zu bestimmen (Seoane et al., 2022). Notwendig erscheint diese Auseinandersetzung zukünftig vor allem, weil Strategien zum Umgang mit Ungewissheit häufig spezialisierte Kenntnisse im Umgang mit Simulationssoftware erfordern, die über die im schulischen Kontext vermittelbaren Kenntnisse hinausgehen (Petersen, 2012; Ross et al., 2013). In Anlehnung an die etablierte Unterscheidung im NOS-Kontext zwischen school science und professional science (Voitle et al., 2022) sollte daher untersucht werden, inwiefern Unterschiede beim Kompetenzerwerb bezogen auf Simulations in School Science und Simulation in Professional Science bestehen.

Hinweis zur Förderung: Benedikt Heuckmann dankt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die finanzielle Unterstützung des Projekts siMINT (Projektnummer 16MF1070A).