FormalPara Abstract

From a philosophy of science perspective, uncertainty can be described as a constitutive and productive element of sciences. In previous Nature of Science (NOS) conceptions, however, uncertainty plays only a subordinate role. For the German-language discourse, this is complicated by the fact that the English term uncertainty can be translated as both Ungewissheit and Unsicherheit. In this article, we propose a distinction between the terms. The concept of uncertainty in the sense of not-knowing-exactly, which is best addressed by Ungewissheit for the context of NOS, is also further differentiated by distinguishing between epistemic and ontological uncertainty and between technical uncertainty and consensus uncertainty. For the question of integration in teaching-learning concepts, the relationship between uncertainty and tentativeness is discussed in light of Latour’s distinction between ready-made-science and science-in-the-making. In addition, the Family Resemblance Approach to NOS is examined for possible points of contact for talking about uncertainty in science.

6.1 Einführung

Aktuelle gesellschaftliche Problemlagen wie der Klimawandel oder die Covid-19-Pandemie haben den Umgang mit Ungewissheit im Kontext der Naturwissenschaften stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Gegenstand medialer und gesellschaftlicher Diskurse sind dabei Merkmale naturwissenschaftlicher Forschung wie sich widersprechende Evidenzen, unterschiedliche Interpretationen von und Schlussfolgerungen aus derselben Datenlage oder Ungewissheiten beim Explorieren komplexer Datenlagen. Auch die Bedeutung von Peer-Review-Verfahren und die Existenz von Preprint-Servern sowie der Umstand, dass Expert*innen ihr Wissen und ihre Einschätzungen im Verlauf der Zeit im Lichte neuer Erkenntnisse revidieren, demonstrieren die Notwendigkeit, den Umgang mit Ungewissheit im Rahmen naturwissenschaftlicher Forschung stärker als bislang in den Blick schulischer Bildung zu nehmen. Einen Rahmen dafür bietet die Diskussion um Nature of Science (NOS).

Das Lernen über die Charakteristika naturwissenschaftlichen Wissens und die diesem Wissen vorangegangenen Forschungsprozesse sind zentrale Elemente des Konzepts von NOS. Bestehende NOS-Konzeptionen rekurrieren bisher nur selten explizit auf die Begriffe Ungewissheit oder Unsicherheit, sondern verweisen implizit oder durch Umschreibungen auf diesen Aspekt. Lediglich der Whole-Science-Ansatz von Allchin (2013) verweist, unter Bezugnahme auf Latours (1987) Unterscheidung zwischen ready-made-science und science-in-the-making, bisher explizit und zugleich nicht systematisch auf „uncertainty“ (Allchin, 2013, S. 19). Ziel dieses Beitrages ist es zu untersuchen, inwieweit der Umgang mit Ungewissheit als Charakteristikum naturwissenschaftlichen Arbeitens im Sinne von NOS beschrieben werden kann. Dieser Beitrag bezieht sich damit auf die erste Leitfrage dieses Sammelbandes: Welche Nature of Science-Inhalte lassen sich im Sinne einer konsensfähigen theoretischen Konzeptualisierung in Lehr-Lern-Konzepte integrieren?

Die Argumentation folgt dabei drei aufeinander aufbauenden Thesen. Die erste These hat das Anliegen, die Bedeutung der Begriffe Ungewissheit und Unsicherheit zu klären, welche beide als Übersetzung des englischen Begriffs uncertainty genutzt werden. Dies macht eine grundlegende Begriffsklärung notwendig, um zu bestimmen, inwiefern Bedeutungsunterschiede zwischen den Begriffen Ungewissheit und Unsicherheit bestehen und einer der beiden deutschen Begriffe für den Kontext NOS geeigneter erscheint.

Davon ausgehend wird im zweiten Schritt analysiert, inwiefern der in diesem Artikel präferierte Begriff Ungewissheit als konstitutives Element der Naturwissenschaften beschrieben werden kann. Die zweite These argumentiert dabei vorrangig aus den Perspektiven von Wissenschaftstheorie, -philosophie und -kommunikation, welche – unabhängig von didaktischen Konzeptualisierungen – die Bedeutung von Ungewissheit für die Naturwissenschaften beschreiben.

In einem letzten Schritt werden in der dritten These die Erkenntnisse aus den vorherigen Argumentationen auf den Gegenstandsbereich des naturwissenschaftlichen Unterrichts bezogen. Dazu wird mit dem Family Resemblance Approach (FRA; Erduran & Dagher, 2014) eine NOS-Konzeption auf mögliche Anknüpfungspunkte für den Umgang mit Ungewissheit untersucht. Ziel ist es zu untersuchen, inwieweit Ungewissheit auch im Sinne von NOS als Charakteristikum der Naturwissenschaften beschrieben werden kann.

6.2 Diskurs

6.2.1 These 1: Ungewissheit und Unsicherheit lassen sich begrifflich unterscheiden

Der Umstand, dass der englische Begriff uncertainty im Deutschen sowohl mit Ungewissheit als auch mit Unsicherheit übersetzt werden kann, macht eine grundlegende Begriffsklärung notwendig. Aktuell werden im deutschsprachigen Diskurs beide Begriffe wenig differenziert und zum Teil synonym genutzt, um über naturwissenschaftliches Wissen und Forschungsprozesse zu sprechen.

Blickt man sprachanalytisch auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Begriffe Ungewissheit und Unsicherheit, wird zunächst deutlich, dass sich beide sprachlich dafür benutzen lassen, um eine Aussage über Gegenstände, Phänomene oder Situationen zu treffen („Etwas ist ungewiss/unsicher“). Der Begriff Unsicherheit wird jedoch darüber hinaus verwendet, um eine Aussage über das innere Erleben einer Person zu treffen: „Ich bin bzw. sie ist unsicher“ ist eine sprachlich wohlgeformte Äußerung, „Ich bin bzw. sie ist ungewiss“ hingegen nicht. Daraus ergibt sich eine erste Unterscheidungsmöglichkeit: Beide Begriffe können dafür verwendet werden, um eine Aussage über einen Gegenstand, ein Phänomen oder eine Situation zu treffen. Aber nur Unsicherheit, nicht aber Ungewissheit, kann auch als Auskunft über das innere Erleben – also die Emotionen – einer Person verstanden werden.

Eine sprachliche Analyse der unterschiedlichen Wortstämme der Begriffe hilft dabei zu untersuchen, ob die Begriffe gleichermaßen auf alle möglichen Gegenstände, Phänomene oder Situationen bezogen werden können. Unsicherheit ist sprachlich eine Negation von Sicherheit (Wortstamm: Sicher plus Suffix -heit). Ungewissheit ist dagegen eine Negation von Gewissheit (Wortstamm: Wiss(en) plus Präfix Ge- und Suffix -heit). Der Begriff Sicherheit bzw. dessen Verneinung (Unsicherheit) kann auf alle Gegenstände, Situationen oder Phänomene bezogen werden (z. B. Sicherheit des Autos, des Heimwegs, der Wettervorhersage ebenso wie Sicherheit des Wissens). Der Begriff Gewissheit bzw. dessen Verneinung (Ungewissheit) ist hingegen auf den Kontext Wissen beschränkt. Demnach ist Unsicherheit ein Begriff, der breiter verwendet werden kann, da er nicht auf den Kontext von Wissen beschränkt ist. In diesem Verständnis kann Ungewissheit auch als ein Unterbegriff von Unsicherheit beschrieben werden, der sich nur auf einen Teilbereich, nämlich auf alle Aussagen, die ein Nicht-Genau-Wissen beschreiben (Lantermann et al., 2009), beziehen lässt. Andersherum lässt sich argumentieren, dass Ungewissheit im Kontext von Aussagen über Wissen der genauere Begriff ist, da dieser sich im Unterschied zu Unsicherheit nicht in anderen Kontexten anwenden lässt (vgl. Lantermann et al., 2009). Sprachlich betrachtet können damit beide Begriffe synonym verwendet werden, sofern die Aussage auf den Kontext Wissen bezogen ist.

Zugleich lassen sich mit der obigen Differenzierung auf der inhaltlichen Ebene auch Argumente gegen eine Synonymsetzung formulieren. Der Begriff Unsicherheit kann prinzipiell in zwei unterschiedlichen Konnotationen gebraucht werden: erstens im Sinne von Zuständen des Nicht-Genau-Wissens, wobei hier nach Lantermann et al. (2009) der Begriff Ungewissheit der treffendere wäre. Zweitens kann Unsicherheit im Sinne von Gefahr und Bedrohung verstanden werden. Diese Konnotation lässt sich entscheidungstheoretisch herleiten (Dörsam, 2007) und findet auch in der Kognitionspsychologie Anwendung (Mousavi & Gigerenzer, 2014). In der Regel wird in der zumeist englischsprachigen Literatur dabei das Treffen von Entscheidungen unter uncertainty vom Treffen von Entscheidungen unter risk abgegrenzt. Uncertainty wird insofern als Gegenpol zu risk verstanden, als beim Begriff risk Informationen über (Auftretens-)Wahrscheinlichkeiten bekannt, bei uncertainty dagegen unbekannt sind. Dabei verbleibt der Begriff uncertainty sprachlich auf der gleichen Bewertungsebene wie der Begriff risk (siehe z. B. bei Spiegelhalter, 2011).Footnote 1 Von risk – und folglich ebenso von uncertainty – wird entscheidungstheoretisch zumeist gesprochen, wenn ein negativ bewertetes Ereignis adressiert wird (Mousavi & Gigerenzer, 2014). Entsprechend kann Unsicherheit, als eine mögliche Übersetzung des Begriffs uncertainty, in diesem Sinne mit Gefahr und Bedrohung negativ konnotiert sein.

Dieser Artikel schlägt eine begriffliche Differenzierung vor: Ungewissheit als Zustand des Nicht-Genau-Wissens und Unsicherheit, wenn Nicht-Genau-Wissen zusätzlich mit Gefahr und Bedrohung assoziiert werden kann. Für den Teilbereich NOS ist der Begriff der Ungewissheit, so ließe sich folgern, der adäquatere, da hier – wie die Ausdifferenzierung von Ungewissheit im Kontext der Naturwissenschaften in der folgenden These zeigen wird – die Bedeutung eines Nicht-Genau-Wissens ohne Assoziationen zu Gefahr und Bedrohung intendiert ist.

6.2.2 These 2: Ungewissheit lässt sich als konstitutives Merkmal der Naturwissenschaften beschreiben

„The uncertainty inherent in the research process that teases, excites and challenges the researcher where it leads persists in a productive way“ (Nowotny, 2016, S. 7).

Aus der Perspektive von Autor*innen wie beispielsweise Nowotny (2016) oder Latour (1987) im Bereich der Wissenschaftstheorie sowie der Wissenschaftsphilosophie (z. B. Kampourakis & McCain, 2020) scheint Ungewissheit ein nicht ausschließlich negativ zu bewertendes Merkmal naturwissenschaftlichen Arbeitens. Die im obigen Zitat benannte Ungewissheit lässt sich zum einen als eine epistemische Ungewissheit – im Sinne eines Noch-Nicht-Wissens – beschreiben, die der Beginn eines jeden Forschungsprozesses ist. Zum anderen deutet das Zitat aber bereits an, dass sich Ungewissheit im Forschungsprozess nicht auf dieses Moment reduzieren lässt.

Mit Wehling (2006) lassen sich zwei Formen des Nichtwissens unterscheiden:Footnote 2 (a) ein überwindbares und zeitlich begrenztes Noch-Nicht-Wissen, was sowohl ein individuelles als auch ein kollektives Nichtwissen sein kann, und (b) ein kollektives Nicht-Wissen-Können, das aktuell nicht (und vielleicht auch nie) überwunden werden kann. Diese Unterscheidung zwischen einem temporären Noch-Nicht-Wissen und einem andauernden Nicht-Wissen-Können wird in anderen Ansätzen auch im Kontext von uncertainty beschrieben. So unterscheiden Dewulf und Biesbroek (2018) u. a. eine individuelle oder kollektive überwindbare „[e]pistemic uncertainty [which] refers to uncertainty due to our lack of knowledge about a phenomenon and is therefore a characteristic of the human state of mind“ und eine kollektive, nicht überwindbare „[o]ntological uncertainty [which] refers to uncertainty due to inherent variability in the phenomenon of interest such that its chaotic behavior precludes full predictability. Ontological uncertainty is therefore a characteristic of the ‚state of the world‘ (the phenomenon of interest itself), rather than a ‚state of mind‘ (our knowledge about the phenomenon)“ (Dewulf und Biesbroek, 2018, S. 444). Diese unhintergehbare ontologische Ungewissheit wird in der Wissenschaftskommunikation auch als scientific uncertainty bezeichnet und als generelle Vorläufigkeit (tentativeness) von Wissen beschrieben (vgl. Gustafson & Rice, 2020).

Wie im Alltag werden auch in Forschungsprozessen ständig Entscheidungen unter Bedingungen des Nicht-Genau-Wissens getroffen. Mit Dörsam (2007) lassen sich drei Formen des Entscheidens unter Bedingungen des Nicht-Genau-Wissens (Dörsam spricht dabei von Entscheidungen unter Unsicherheit) unterscheiden:

  1. 1.

    Risiko (mögliche Ereignisse und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten sind bekannt),

  2. 2.

    Ungewissheit (mögliche Ereignisse sind bekannt, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten nicht) und

  3. 3.

    Unwissenheit (weder die möglichen Ereignisse noch deren Eintrittswahrscheinlichkeiten sind bekannt).

Gigerenzer (2019) weist darauf hin, dass nur im Falle des Vorliegens eines Risikos eine Entscheidung aufgrund statistischer Verfahren sinnhaft ist.Footnote 3 Bei Entscheidungen unter Ungewissheit oder Unwissenheit seien hingegen „intelligente Heuristiken“ (S. 1) zielführender. Während im Falle eines Risikos in diesem Verständnis eindeutig ein temporäres und damit überwindbares Noch-Nicht-Wissen im Sinne einer epistemic uncertainty vorliegt, liegt im Falle von Ungewissheit und Unsicherheit im Sinne der Entscheidungstheorie unvollständiges bzw. kein Wissen vor, das sich streng genommen im Moment der Entscheidung nicht in sicheres Wissen überführen lässt, wenngleich der Rückgriff auf Heuristiken in den meisten Fällen dennoch zu tragfähigen Entscheidungen führt.

Für die Frage nach einer Charakterisierung von Ungewissheit im Kontext der Naturwissenschaften lässt sich festhalten, dass im Verlauf des Forschungsprozesses jederzeit neue und weitere epistemische Ungewissheiten auftreten können (vgl. Kampourakis & McCain, 2020). Latour (1987) hat diese Ungewissheiten explizit in seiner Konzeption von science-in-the-making betont und diese den (vorläufigen) Gewissheiten der sogenannten ready-made-science gegenübergestellt. Während im ersten Fall die im Forschungsprozess auftretenden Ungewissheiten sicht- und kommunizierbar sind, sind diese im zweiten Fall, im (vorläufigen) Endprodukt des Forschungsprozesses, welches zumeist als Text in einem Lehrbuch vorliegt, in der Regel nicht mehr sicht- und nachvollziehbar. In einer späteren Veröffentlichung findet sich diese Unterscheidung wieder, wenn Latour (1998) zwischen den Eigenschaften von science und research unterscheidet:Footnote 4 „Science is certainty; research is uncertainty. Science is supposed to be cold, straight, and detached; research is warm, involving, and risky. Science puts an end to the vagaries of human disputes; research creates controversies. Science produces objectivity by escaping as much as possible from the shackles of ideology, passions, and emotions; research feeds on all of those to render objects of inquiry familiar“ (S. 208).

Die epistemischen Ungewissheiten des Forschungsprozesses sind im ready-made-science im Unterschied zum science-in-the-making (oder anderes gesprochen zum research) überwunden, das entstandene Wissen wird als vorläufig sicheres Wissen behandelt. Dies bedeutet aber nicht, dass die ontologische Ungewissheit überwunden ist, denn eine zukünftige Revision oder Weiterentwicklung bestehender Wissensbestände ist immer und grundsätzlich möglich.

Die Unterscheidung zwischen epistemischer und ontologischer Ungewissheit ermöglicht eine Differenzierung, die bezogen auf naturwissenschaftliches Wissen (ready-made-science bzw. science im Sinne Latours, 1998) und die Prozesse naturwissenschaftlicher Forschung (science-in-the-making bzw. research im Sinne Latours, 1998) im Hinblick auf die Verortung der Ungewissheit weiter ausdifferenziert werden kann: Gustafson und Rice (2019) unterscheiden die sogenannte technische Ungewissheit (technical uncertainty) und die Konsensungewissheit (consensus uncertainty). Die technische Ungewissheit liegt darin begründet, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse zumeist durch Experimente mit technischen Apparaturen gewonnen werden. Damit sind die Erkenntnisse nicht frei von Messabweichungen und Schätzungen, die in Modellannährungen und statistische Verfahren eingehen. Diese Art der Ungewissheit wird zumeist quantifiziert und findet sich häufig in Publikationen im Angeben einer Wahrscheinlichkeit, mit der zum Beispiel ein Ereignis eintritt, in der Angabe eines Bereiches (z. B. in cm oder Grad) für einen bestimmten Wert sowie in Werten mit Konfidenzintervall oder Fehlerbalken wieder (vgl. Gustafson & Rice, 2019). Die zweite Form der Ungewissheit, die sogenannte Konsensungewissheit, zeichnet sich nach Gustafson und Rice (2019) dadurch aus, dass keine kollektive Einigkeit über einen Sachverhalt besteht, wobei diese Uneinigkeit entweder zwischen unterschiedlichen Personen oder in Form von sich widersprechenden Daten vorliegen kann. Diese Ungewissheit lässt sich in der Interpretation und im Umgang mit sich widersprechenden Daten verorten. Die Kategorien der technischen Ungewissheit und der Konsensungewissheit können in Beziehung zueinander stehen, da sich widersprechende Daten auch in nicht erkannten Messabweichungen begründet sein können, was zu einer Konsensungewissheit führt. Der Fokus letzterer Kategorie liegt jedoch im fehlenden Konsens und der damit einhergehenden Kontroverse.

Naturwissenschaftliche Phänomene weisen eine so hohe Komplexität auf, dass naturwissenschaftliche Modelle und Theorien stets Idealisierungen darstellen (Kampourakis & McCain, 2020, S. 176). Da diese Modelle und Theorien ebenso wie alle ihnen zugrunde liegenden naturwissenschaftlichen Praktiken (von Denk- und Arbeitsweisen wie dem Beobachten, dem Experimentieren oder der Literaturrecherche bis hin zu Praktiken der Kooperation und des Argumentierens) durch Menschen (mit spezifischen individuellen und gesellschaftlichen Vorannahmen, Erwartungen und Erfahrungen) vollzogen werden, können diese nie eine finale Gewissheit über ein naturwissenschaftliches Phänomen hervorbringen. Dies ist jedoch kein Mangel der Naturwissenschaften, deren vorrangiges Ziel nicht das Erlangen von absoluter Gewissheit, sondern das Verstehen von naturwissenschaftlichen Phänomenen ist (vgl. Kampourakis & McCain, 2020, S. 166 ff.).

6.2.3 These 3: Ungewissheit ist ein inhärenter Aspekt von NOS

Wie in der bisherigen Argumentation deutlich wurde, ist Ungewissheit ein konstitutives und produktives Merkmal der Naturwissenschaften. Für eine Auseinandersetzung mit der dritten These gilt es nun zu klären, inwieweit sich die in These 2 herausgearbeiteten Ungewissheiten an den bestehenden Diskurs um NOS und deren Konzeptualisierungen anbinden lassen. In diesem Artikel geschieht dies exemplarisch anhand des Verhältnisses der Begriffe der Ungewissheit und der Vorläufigkeit des naturwissenschaftlichen Wissens sowie durch eine Betrachtung des FRA-Modells mit Blick auf mögliche Anknüpfungspunkte für die Thematisierung von Ungewissheit.

Die Vorläufigkeit naturwissenschaftlicher Modelle und Theorien und somit des naturwissenschaftlichen Wissens ist ein zentrales Element bestehender NOS-Konzeptionen (vgl. Reinisch & Krüger, 2018). Ungewissheit lässt sich mit Blick auf die vorherigen Thesen als inhärenter Aspekt des Konzepts der Vorläufigkeit beschreiben: Es ist – im Sinne einer ontologischen Ungewissheit – ungewiss, ob, wann und wie sich das bestehende naturwissenschaftliche Wissen verändern wird. Gleichzeitig beschränkt sich die Ungewissheit der Naturwissenschaften nicht nur auf die zukünftige Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ungewissheiten sowohl technischer als auch konsensueller Art sind für die Prozesse und Praktiken des Forschungsprozesses von hoher Relevanz (vgl. These 2). Diese Arten von Ungewissheit liefern einen Teil der Begründung, warum wissenschaftliche Erkenntnisse generell vorläufig bleiben werden: Die Möglichkeit von Messabweichungen oder unterschiedlicher Interpretationen derselben Daten lässt sich nicht ausschließen. Wenn also das Konzept der Ungewissheit bereits im Konzept der Vorläufigkeit naturwissenschaftlichen Wissens enthalten ist, stellt sich die Frage, warum es dann als weitere NOS-Facette beschrieben werden sollte.

Die NOS-Facette zur Vorläufigkeit naturwissenschaftlichen Wissens fokussiert das, was Latour ready-made-science bzw. science nennt. Trotz seiner generellen Vorläufigkeit ist dieses Wissen aus guten Gründen relativ stabil und von zahlreichen Evidenzen gestützt. Die epistemischen Ungewissheiten, die im Verlauf des Forschungsprozesses aufgetreten sind, wurden zumindest vorläufig überwunden, Konsensungewissheiten diskursiv verhandelt und technische Ungewissheiten quantifiziert und berichtet. Kurzum, auch wenn Ungewissheiten implizit Teil des Konzeptes der Vorläufigkeit sind, werden sie an dieser Stelle – im Unterschied zu science-in-the-making bzw. research im Sinne von Latour – nicht mehr explizit sichtbar.

Dieser Umstand lässt sich mit Blick auf den naturwissenschaftlichen Unterricht aus zwei Gründen kritisch diskutieren. Erstens vor dem Hintergrund der berichteten Erkenntnisse aus der Wissenschaftskommunikation, dass aktuell die Kommunikation von Ungewissheit, besonders von Konsensungewissheit (vgl. Gustafson & Rice, 2020), bei Nichtnaturwissenschaftler*innen zu einer ablehnenden Haltung gegenüber naturwissenschaftlichem Wissen führen kann. Im Sinne einer naturwissenschaftlichen Grundbildung hat der Unterricht den Auftrag, Schüler*innen zu befähigen, mündig und rational mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in Lebenswelt und Gesellschaft umzugehen. Ein fundiertes Wissen zu den Unterschieden von ready-made-science und science-in-the-making sowie der Produktivität und Normalität von Ungewissheit in Forschungsprozessen könnte es nun den Schüler*innen ermöglichen, ontologische Ungewissheiten auf der einen Seite als normales und notwendiges Element naturwissenschaftlichen Wissens zu erfahren und auf der anderen Seite in der Lage zu sein, vermeintliche Konsensungewissheiten wie im gesellschaftlichen Diskurs zum Klimawandel zu erkennen und in ihrer Wirkung einzuordnen. Zweitens haben aktuelle NOS-Konzeptionen wie der FRA das Ziel, nicht nur deklaratives Wissen über Charakteristika naturwissenschaftlichen Wissens zu vermitteln, sondern auch einen Einblick in die Praktiken naturwissenschaftlichen Arbeitens und dessen Kontexte – oder, mit Latour gesprochen, in die Prozesse von science-in-the-making – zu geben (vgl. Erduran & Dagher, 2014). Damit geraten diverse epistemische Ungewissheiten in den Blick, welche Bestandteil naturwissenschaftlicher Praktiken sind und die in ihrem Vollzug im Verlauf des Forschungsprozesses produktiv bearbeitet werden.

Aspekte von science-in-the-making finden sich dementsprechend an verschiedenen Stellen des FRA-Modells. Das holistische Modell unterscheidet grundlegend zwei Systeme, die in ständiger Wechselwirkung zueinanderstehen: erstens Wissenschaft als kognitiv-epistemisches System (Science as cognitive-epistemic system) und zweitens Wissenschaft als sozial-institutionelles System (Science as social-intuitional system) (Erduran & Dagher, 2014, S. 28).

Dabei werden naturwissenschaftliche Praktiken (Practices) wie das Modellieren oder Argumentieren – denen Ungewissheiten stets inhärent sind (vgl. These 2) – als einer von vier Bestandteilen von Wissenschaft als kognitiv-epistemisches System beschrieben. Auch die wissenschaftlichen Methoden (Methods and methodolocical rules) als weiterer Bestandteil beinhalten Ungewissheiten. Neben der technischen Ungewissheit sind beispielsweise Beobachtungen nie frei von Ungewissheit, da sie zum einen von unseren Sinnesleistungen abhängen und zum anderen, weil sie – mit Kuhn gesprochen – ebenso wie die Interpretation einer Beobachtung stets unter der Perspektive des vorherrschenden Paradigmas erfolgen (vgl. Kampourakis & McCain, 2020).

Auch Bestandteile von Wissenschaft als sozial-institutionellem System aus dem FRA (Erduran & Dagher 2014, S. 28) können direkt auf den Umgang mit Ungewissheit bezogen werden. Hier sind Tätigkeiten der sozialen Zertifizierung und Verbreitung von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (Social certification and dissemination) und professionelle Aktivitäten (Professional activities) wie Konferenzteilnahmen und Peer-Review-Verfahren eine produktive Umgangsweise mit Konsensungewissheit.

Darüber hinaus kann die Beschreibung von Wissenschaft als sozial-institutionelles System, in welches das kognitiv-epistemische System eingebettet ist, insgesamt als Erklärung für einen Teil der darin lokalisieren Ungewissheit herangezogen werden: Wissenschaftler*innen werden von sozialen und politischen Machtstrukturen beeinflusst, denn ihre Forschung steht immer auch unter Finanzierungsvorbehalten und Publikationsdruck, und die in der jeweiligen Fachgesellschaft anerkannten Paradigmen, Normen und Werte haben stets Einfluss auf das wissenschaftliche Arbeiten. Dies führt unter anderem dazu, dass Beobachtungen auf die eine und nicht auf die andere Art interpretiert werden oder Daten, die eine Hypothese widerlegen würden, ggf. nur als Anomalie interpretiert werden (vgl. Kampourakis & McCain, 2020).

Mit Blick auf NOS lässt sich festhalten, dass Ungewissheit im Sinne einer ontologischen Ungewissheit inhärenter Teil der Naturwissenschaften ist. In bestehenden NOS-Konzepten wird dies mit der Betonung der Vorläufigkeit des Wissens, wenn auch zumeist ohne expliziten Bezug zum Konzept der Ungewissheit, aufgegriffen. Nimmt man darüber hinaus – wie im FRA angelegt – auch Prozesse des science-in-the-making in den Blick, lassen sich weitere Ungewissheiten (wie technische Ungewissheit und Konsensungewissheit) identifizieren, welche wiederum letztlich als Grundlage für die ontologische Ungewissheit und die Vorläufigkeit des naturwissenschaftlichen Wissens beschrieben werden können. Dabei lässt sich Ungewissheit zum einen als unhintergehbares Moment des naturwissenschaftlichen Arbeitens beschreiben. Zum anderen gibt es Praktiken wie das Argumentieren oder das Peer-Review-Verfahren, die direkt auf den Umgang mit Ungewissheit gerichtet sind. Während der Begriff der Vorläufigkeit vor allem eine Aussage über naturwissenschaftliches Wissen als das vorläufige Endprodukt eines Forschungsprozesses trifft, fokussiert der Begriff der Ungewissheit auch den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit der Genese dieses Wissens. Der Begriff der Ungewissheit soll somit den Begriff der Vorläufigkeit nicht ersetzen, sondern stellt eine Erweiterung in der NOS-Konzeption dar, um auch die unterschiedlichen Formen von Ungewissheit im Prozess der Erkenntnisgewinnung zu explizieren.

6.3 Fazit und Ausblick

Der Umgang mit Ungewissheit lässt sich begründet als ein Teil von NOS beschreiben. Die beschriebenen Ungewissheiten sind dabei kein Mangel der Naturwissenschaften, sondern Teil ihres Wesens oder, in der NOS-Metapher gesprochen, ihrer „Natur“, auch wenn Ungewissheit im öffentlichen Diskurs (wie z. B. in Bezug auf den Klimawandel) oft genutzt wird, um wissenschaftliche Erkenntnisse zu diskreditieren. Eine Integration der unterschiedlichen Typen von Ungewissheit in NOS-Konzeptionen würde es – so eine empirisch noch zu prüfende These – ermöglichen, diese stärker im Unterricht zu explizieren und in der Wahrnehmung der Schüler*innen zu normalisieren. Auf konzeptioneller wie empirischer Ebene stellt sich mit Blick auf den FRA zudem u. a. die Frage nach der Disziplinspezifität. Der FRA argumentiert dafür, dass für eine Beschreibung von NOS sowohl domänenübergreifende Aspekte als auch Unterschiede zwischen den Naturwissenschaften im Sinne von domänenspezifischen Aspekten betrachtet werden müssen.Footnote 5 Für den Umgang mit Ungewissheit gilt es somit zu klären, welche Formen und Umgangsweisen generisch sind sowie welche Unterschiede zwischen den Disziplinen selbst und im Unterrichten dieser im jeweiligen Fachunterricht bestehen.

Hinweis zur Förderung: Benedikt Heuckmann dankt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung für die finanzielle Unterstützung des Projekts siMINT (Projektnummer 16MF1070A).