FormalPara Abstract

This paper is concerned with the diversity of biological explanation types and the differences between the biological explanation types. Furthermore, this paper clarifies the development and finding of explanations as abductive inference. The main argument is that teachers’ and learners’ subject-specific understanding of science can be developed by acquiring meta-knowledge about the development and diversity of biological explanation types. In doing so, questions, procedures for answering the questions, and the corresponding types of explanation are to be taught in relation to each other. We characterise three types of explanations in this article and describe the added value of differentiating between these types of explanations for biology instruction. In particular, we argue that a lack of meta-knowledge about the diversity of biological explanation types among learners is a possible cause for citing the function of a trait as the sole cause for its emergence in the course of evolution. This is an inappropriate teleological explanation. Furthermore, functional and mechanistic explanations can easily be confused when meta-knowledge is lacking.

4.1 Einführung

Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf den Themenschwerpunkt Nature of Science und Theorie der Tagung „Biologiedidaktische Nature of Science-Forschung: Zukunftsweisende Praxis“. Speziell leisten wir einen Beitrag zur Leitfrage der Tagung, inwiefern biologiespezifische Merkmale von Nature of Science (NOS) in theoretischen Konzeptualisierungen und im Unterricht Berücksichtigung finden sollten. Unsere Thesen sind, dass die Vielfalt unterschiedlicher Erklärungstypen ein wesentliches Kennzeichen biologischer Erklärungen ist (These 1) und dass ein Strukturschema Lernenden beim Umgang mit der Erklärungsvielfalt hilft (These 2). Unsere zweite These beruht auf der Überlegung, dass Metawissen über das Wesen biologischer Erklärungen hilfreich ist, um wichtige Erkenntnisinteressen der Biologie zu unterscheiden sowie Passungen zwischen Erkenntnisinteresse und Erklärungstyp herzustellen.

Wesentliches Kennzeichen biologischer Erklärungen ist ihre Vielfalt, die unter anderem der Diversität biologischer Phänomene und der sich daraus ergebenden Pluralität unterschiedlicher Forschungszugänge geschuldet ist. Wichtige Typen biologischer Erklärungen sind funktionale, mechanistische, historische und evolutive Erklärungen (Braillard & Malaterre, 2015). Obwohl die Philosophie der Biologie die Erklärungsvielfalt als ein Kennzeichen der Biowissenschaften herausgestellt hat (Braillard & Malaterre, 2015) und in der Vielfalt unterschiedlicher Erklärungstypen der Biowissenschaften einen wesentlichen Unterschied zu den Erklärungen in der Physik und Chemie sieht, fehlen momentan weitgehend unterrichtliche Ansätze zur Vermittlung eines biologisch geprägten Verständnisses von NOS in dieser Dimension. Daher werden Lernende auf einen angemessenen Umgang mit der Vielfalt biologischer Erklärungstypen durch den Biologieunterricht unzureichend vorbereitet.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Finden tragfähiger Erklärungen für ein bisher unerforschtes Phänomen anspruchsvoll ist (Krüger & Upmeier zu Belzen, 2021). In der Wissenschaftstheorie werden das Suchen und Finden von Erklärungen dem logischen Schließen zugeordnet und Abduzieren genannt (Schurz, 2008). Beim Abduzieren werden Erklärungen mit Rückgriff auf theoretisches Fachwissen selektiv gesucht oder – wenn entsprechendes theoretisches Wissen nicht verfügbar ist – kreativ erfunden (Schurz, 2008). Abduzieren ist gehalts- und erkenntniserweiternd (Meyer, 2009) und damit der Prozess, der neue Ideen in die Wissenschaft bringt. Abduzieren ist unabhängig davon, ob es selektiv oder kreativ erfolgt, die theoretische Grundlage für die oben benannten Erklärungstypen. Im problemorientierten Unterrichtseinstieg findet Abduzieren nahezu unbemerkt statt, wenn Lernende „Vermutungen“ zu einem Einstiegsphänomen formulieren und damit versuchen, Erklärungen für das Zustandekommen des Phänomens zu finden. Diese Erklärungsversuche (s. Kap. 9) der Lernenden gilt es mit ihnen zu evaluieren und sie herauszufordern, zunehmend tiefgreifende wissenschaftliche Erklärungen zu entwickeln.

Über die skizzierten Probleme hinaus wird der Begriff „Erklären“ im Unterricht in verschiedenen Bedeutungen unscharf genutzt (Rocksén, 2016; Trommler et al., 2018). Speziell weichen die alltagssprachliche und die pädagogische Bedeutung des Begriffs Erklären als Verständnis erzeugendes Erklären von der naturwissenschaftlichen Bedeutung evolutiver, funktionaler oder mechanistischer Erklärungen ab (Rocksén, 2016; Trommler et al., 2018). Darüber hinaus fehlt den Lernenden häufig Metawissen über die Unterscheidung verschiedener Bedeutungen und Typen von biologischen Erklärungen (Abrams & Southerland, 2001). Werden sie dann vage aufgefordert, ein Phänomen zu erklären, bleibt letztlich offen, ob die Lernenden wissen, was von ihnen erwartet wird und welche Art von Erklärung konstruiert werden soll.

In Übereinstimmung mit einer konstruktivistischen Lehr-Lern-Haltung sollen Lernende biologische Erklärungen nicht nur auswendig lernen, sondern die Erklärungen auch selbst entwickeln. Die didaktische Herausforderung liegt dabei darin, den Lernenden Daten und Theorien zur Verfügung zu stellen, die es ihnen erlauben, durch eigene Überlegungen zu einer Erklärung zu gelangen, die wissenschaftlich adäquat ist (Braaten & Windschitl, 2010). Den grundsätzlichen Abduktionsprozess des Suchens und Findens einer Erklärung gliedern Johnson und Krems (2001) in sieben Teilschritte ohne feste Reihenfolge: Zu einem Phänomen, das beobachtet wird (1), werden Daten gesammelt (2) und eine Erklärung entwickelt (3). Diese Erklärung wird mit neuen Daten auf Konsistenz geprüft (4) und im Falle von Unstimmigkeiten zwischen Erklärung und Daten wird die Erklärung angepasst (5). Gibt es mehrere mögliche Erklärungen, werden diese vergleichend bewertet (6), und es wird eine konsistente, am besten zu den Daten passende Erklärung ausgewählt (7). Versuchen die Lernenden dabei, Erklärungen auf Grundlage einer oder mehrerer theoretischer Bezüge zu entwickeln, nennt man diese Form des Abduzierens selektiv, weil aus möglichen theoretischen Optionen ausgewählt wird. Erfinden die Lernenden hingegen eine Erklärung, die ohne deutlichen Bezug zu bekanntem theoretischem Wissen gebildet wird, abduzieren sie kreativ. Die Unterscheidung zwischen den beiden Formen des Abduzierens gelingt im Unterricht sicherlich nicht trennscharf, und es können Mischformen auftreten. Lernende können dabei teilweise auf bestehendes fachliches Vorwissen zurückgreifen und dies mit kreativen Elementen weiterführen. Grundsätzlich hilft es, die beiden Formen des Abduzierens als Lehrkraft zu kennen und soweit möglich Erklärungen der Lernenden zu kategorisieren. Damit ließe sich begründen, warum im weiteren Unterricht eher die auf Wissen basierenden Erklärungsmöglichkeiten, also überwiegend selektiv abduzierte Erklärungen, weiterverfolgt werden. Deren Attraktivität für den Unterricht liegt darin, dass deren theoretische Fundierung oft auf den Sachverhalt zielt, der vermittelt werden soll. Dagegen resultieren erfundene, also kreativ abduzierte Erklärungen oft aus unverstandenen wissenschaftlichen Konzepten und eingeschränktem Zugang zu empirischen Daten (Braaten & Windschitl, 2010) und helfen in Vermittlungsabsicht meist nicht weiter. Sie können allerdings Ideen für ein interessantes Forschungsprojekt für Schüler*innen enthalten. In der Wissenschaft sind gerade kreative Erklärungen potenzielle Motoren wissenschaftlichen Fortschritts, wenn Erklärungen für noch nicht (ausreichend) erforschte Phänomene erfunden werden. Insbesondere beim retrospektiven Schließen in evolutionären Zusammenhängen haben abduktive kreative Schlüsse der Biologie entscheidende Forschungsimpulse gegeben (vgl. die Theorien von Lamarck und Darwin), indem Erklärungen für nicht mehr empirisch reproduzierbare Geschehnisse entwickelt wurden (Kind & Osborne, 2017). Lernende benötigen einerseits Scaffolding, um domänenspezifische Erklärungen generieren zu können, und andererseits denkerischen Freiraum für das abduktive Schließen, um selbstständig biologische Erklärungen generieren zu können.

Erklärungen sind ein wesentlicher Bestandteil der Naturwissenschaften. Die Frage, was genau man unter Erklärungen versteht, ist somit von großem Interesse. Besonders einflussreich auf Debatten zum Erklärungsbegriff war das 1948 von Hempel und Oppenheim entwickelte deduktiv-nomologische Modell. Demnach lässt sich ein Phänomen (Explanandum) erklären, wenn man es auf mindestens eine Prämisse (Explanans) zurückführen kann, die naturgesetzlichen Charakter besitzt bzw. einen kausalen Zusammenhang als Ursache für das Explanandum beschreibt. Dieses Erklärungsverständnis ließ zunächst Zweifel daran aufkommen, ob die Biologie eine genuine Naturwissenschaft sei. Besonders umstritten war in dem Zusammenhang die gängige biologische Praxis, organismische Strukturen und Prozesse funktional – und damit in Bezug auf einen Zweck statt auf eine Ursache – zu erklären (Braillard & Malaterre, 2015).

Die Philosophie der Biologie analysierte den Konflikt zwischen Charakterisierungen des Erklärungsbegriffs, die sich überwiegend an der physikalischen Praxis orientierten, und Erklärungen, die in der biologischen Praxis Anwendung fanden. In der Biologie lässt sich der Erklärungsbegriff nicht universalistisch charakterisieren, vielmehr gibt es eine Vielzahl an Erklärungstypen. Dieser Erklärungspluralismus ist darauf zurückzuführen, dass in der Biologie eine Vielzahl an Organisationsebenen mit einer Vielzahl an Methoden erforscht wird, die nicht durch vereinheitlichende Prinzipien umfassend beschrieben werden können (Braillard & Malaterre, 2015).

4.2 Dikurs

4.2.1 These 1: Die Vielfalt unterschiedlicher Erklärungstypen ist ein wesentliches Kennzeichen biologischer Erklärungen

Die Vielfalt biologischer Erklärungstypen resultiert aus der Mehrperspektivität unterschiedlicher Fragestellungen, mit denen die verschiedenen Teildisziplinen der Biowissenschaften biologische Phänomene untersuchen. Die grundlegende Unterscheidung zwischen proximaten und ultimaten Ursachen lässt sich damit begründen. Ernst Mayr (1961) unterschied in „Cause and Effect in Biology“ grundlegend zwischen proximaten und ultimaten Ursachen. Er argumentierte anhand des Phänomens des Vogelzugs, dass Wie-Fragen, also Wie funktioniert das-Fragen, auf proximate Ursachen aus der Perspektive der Physiologie auf Individualebene fokussieren. Hingegen sind Warum-Fragen, also Warum ist das entstanden-Fragen bzw. Welche Bedeutung hat das-Fragen, auf ultimate Ursachen aus der Perspektive der Evolution auf Populationsebene ausgerichtet. Mayr argumentierte, dass die resultierenden physiologischen und evolutionären Erklärungen Antworten auf unterschiedliche Fragestellungen und keine sich gegenseitig ausschließenden Alternativen darstellen. Dabei stellt eine proximate Ursache einen direkten, mechanistischen Einfluss auf ein Merkmal dar, beispielsweise der Einfluss der Tageslänge auf die Hormonkonzentration im Gehirn des Vogels, wobei die Hormonkonzentration bedeutsam für die Zugunruhe ist, die zum Vogelzug führt. Ultimate Ursachen sind im Unterschied hierzu Bestandteil evolutionärer Erklärungen. Sie erklären die Evolution eines Merkmals in Bezug auf Evolutionsfaktoren, z. B. den Fortpflanzungsvorteil für Vögel, der sich ergibt, wenn sie für die Aufzucht von Jungvögeln in klimatisch günstige Regionen ziehen. Aufbauend auf Mayrs Unterscheidung zwischen proximaten und ultimaten Ursachen leistete Nikolaas Tinbergen (1963) mit seinen vier Fragen zur Erklärung des Verhaltens von Tieren einen grundlegenden Beitrag zum Verständnis, dass biologische Phänomene nie monokausal erklärbar sind, sondern stets multikausal.

Braillard und Malaterre gaben 2015 den Band Explanation in Biology: An Enquiry into the Diversity of Explanatory Patterns in the Life Sciences heraus, welcher angefangen vom deduktiv-nomologischen Modell bis zur Überzeugung, dass jede Domäne spezifische Erklärungstypen aufweist, den philosophischen Hintergrund zum Erklärungsbegriff aufarbeitet. Typisch für die Andersartigkeit der Erklärungen in der Biologie im Vergleich zu Erklärungen in der Physik sind Braillard und Malaterre (2015) zufolge historische Erklärungen, funktionale Erklärungen und mechanistische Erklärungen, welche im Folgenden kurz charakterisiert werden.

4.2.1.1 Historische Erklärungen

Historische Erklärungen beziehen sich auf weitgehend zufällige und singuläre Ereignisse in der Vergangenheit und nicht auf evolutionsunabhängige Gesetzmäßigkeiten (Braillard & Malaterre, 2015; van Dijk & Kattmann, 2009). Sie werden daher auch als „historical narratives“ bezeichnet. In historischen Erklärungen werden Geschichten über eine Folge von einzigartigen Ereignissen (Explanans; das Erklärende) erzählt, die ein bestimmtes Phänomen (Explanandum; das zu Erklärende) verursacht haben können. Der Verlauf der Evolution ist durch Zufälle bestimmt, beispielsweise Asteroideneinschläge, die zu Massensausterben führen. Stephen Jay Gould zufolge würde die Evolution nicht noch einmal so verlaufen, wie sie verlaufen ist, wenn man die Evolution wie einen Film zurückspulen und erneut ablaufen lassen könnte (Gould, 1989; zitiert in van Dijk & Kattmann, 2009). Die im Bereich der Evolutionsbiologie abduktiv entwickelten Erklärungen haben in der Entwicklung der Evolutionstheorie durch ihr hohes kreatives Potenzial die theoretische Entwicklung der Biologie wesentlich erweitert. Unabhängig von den evidenzbasierten theoretischen Grundlagen bietet das Themenfeld Evolutionsbiologie großes Potenzial für Lernende, abduktiv kreative Erklärungen zu entwickeln.

4.2.1.2 Funktionale Erklärungen

In der Biologie werden abweichend von der Physik und Chemie funktionale Erklärungen verwendet. Dabei wird die Zweckmäßigkeit (angemessene Teleologie) biologischer Strukturen und Prozesse analysiert, ohne gleichzeitig eine Erklärung für die Ursachen des Phänomens zu implizieren (unangemessene Teleologie). Einerseits lassen sich Funktionen aus evolutionsbiologischer Sicht betrachten. Dabei lässt sich die Funktion eines Merkmals bestimmen, indem der Selektionsvorteil des Merkmals für die Vorfahren der Organismen bestimmt wird. Andererseits lassen sich Funktionen auch aus einer nicht-evolutionären systemischen Perspektive betrachten. Dabei wird gefragt, welchen Beitrag ein Merkmal zur Aufrechterhaltung der Organisation des Organismus in seinem jetzigen Zustand (z. B. Homöostase) hat. Die systemische Betrachtung von Funktionen im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation beinhaltet zudem die Vorstellung der Zielgerichtetheit und damit der Teleologie (Toepfer, 2004). Durch ihre grundsätzliche Kausalität unterliegen die hinter den funktionalen Erklärungen liegenden Prozesse den Gesetzen der Chemie und Physik. Allerdings stoßen funktionale Erklärungen in der Biologie an ihre Grenzen, denn das komplexe Netz der kausalen Zusammenhänge bleibt wegen emergenter Systemeigenschaften vorläufig unverstanden. Dies eröffnet sowohl Lernenden wie Forschenden die Möglichkeit, kreativ abduktive Erklärungen zu erfinden.

4.2.1.3 Mechanistische Erklärungen

Darüber hinaus werden in der Biologie mechanistische Erklärungen verwendet (Machamer et al., 2000). In mechanistischen Erklärungen wird aufgezeigt, von welchen interagierenden Komponenten und Aktivitäten eines Systems das Phänomen hervorgebracht wird. Beispielsweise lässt sich mechanistisch das Phänomen erklären, dass sich die Sprossachsen von Pflanzen dem Licht zuwenden (positiver Fototropismus), weil das Pflanzenhormon Auxin an der lichtabgewandten Seite der Sprossachse in einer höheren Konzentration vorliegt und dort zu einem stärkeren Wachstum durch Streckung der Zellen führt, sodass sich die Sprossachse zur lichtzugewandten Seite hin krümmt. Das Phänomen des positiven Fototropismus folgt damit keinem allgemeingültigen Naturgesetz, sondern lässt sich mechanistisch durch die Interaktionen spezifischer Komponenten erklären.

Mechanistische Erklärungen werden auch im Schulkontext auf der Basis soliden Fachwissens zu einem vorliegenden Phänomen vorwiegend theoretisch mit Rückbezug auf bekannte Erklärungsmuster oder über Analogiebildung abduziert. Erklären dabei mehrere Mechanismen das Phänomen, werden sie in Plausibilitätserwägungen gegeneinander abgewogen. In der Wissenschaft halfen bzw. helfen allerdings auch hier kreative Erklärungsversuche. Ein Beispiel, das heute mechanistisch erklärt werden kann, ist das Phänomen springender Gene (Transposons). Diese Erklärung basierte auf einem kreativen Lösungsgedanken von Barbara McClintock, den sie durch zytogenetische Beobachtungen stützen konnte.

4.2.2 These 2: Ein Strukturschema hilft Lernenden beim Umgang mit der Vielfalt unterschiedlicher Erklärungstypen

In Anlehung an Craver (2013) entwickelten wir ein Strukturschema zur Unterscheidung wichtiger biologischer Erklärungstypen (Abb. 4.1) (Trommler & Hammann, 2020). Im Schema steht das Explanandum im Zentrum von drei Erklärungstypen, die mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen verbunden sind.

Abb. 4.1
figure 1

Strukturschema zur Erklärungsvielfalt in der Biologie. Die Kreise oberhalb und unterhalb des Explanandums symbolisieren Organisationsebenen. Bei mechanistischen Erklärungen erfolgt oft ein Abstieg auf eine niedrigere Organisationsebene. Funktionen sind häufig auf einer höheren Organisationsebene zu beobachten. Die Ellipsen links neben dem Explanandum sind entwicklungsbiologische Vorstufen bzw. evolutionsbiologische Vorformen. Die Abbildung ist angelehnt an Craver (2013), bei dem die Ellipsen mechanistische Hierarchieebenen symbolisieren.

Die drei Erkenntnisinteressen beziehen sich auf

  • die Entstehung und Herkunft des Explanandums (Frage: Wie entstand das Explanandum?; Typ 1),

  • die biologische Funktion des Explanandums (Frage: Welche Funktion hat das Explanandum?; Typ 2) und

  • den Mechanismus des Explanandums (Frage: Welcher Mechanismus bewirkt das Explanandum?; Typ 3).

Die drei Erkenntnisinteressen ergänzen sich. Wie bei Mayr, Tinbergen sowie Braillard und Malaterre resultieren die verschiedenen Erklärungstypen bei Craver (2013) aus den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen ein zu erklärendes Phänomen betrachtet werden kann. Dabei sind die historischen Erklärungen (s. Abschn. „Historische Erklärungen“) im Erklärungstyp 1 enthalten, funktionale Erklärungen im Erklärungstyp 2 und mechanistische Erklärungen im Erklärungstyp 3. Erst durch die Zusammenschau der drei Perspektiven wird ein Explanandum umfassend erklärt. Die drei Erklärungstypen und die korrespondierenden Fragen sollen in den folgenden Abschnitten näher charakterisiert werden. Die ursprüngliche Bezeichnung der drei Erklärungstypen (Craver, 2013) wird hier vereinfacht, um Begriffe vorzuschlagen, die in der Biologiedidaktik Verwendung finden können. Angemerkt sei auch, dass Erklärungen der Entstehung (Typ 1) und des Mechanismus (Typ 3) kausale Erklärungen sind, wohingegen Erklärungen der Funktion (Typ 2) angemessene teleologische Erklärungen darstellen, weil diese immer die Vorstellung einer Zweck-Mittel-Relation beinhalten (Toepfer, 2004; Trommler & Hammann, 2020).

4.2.2.1 Wie entstand das Explanandum? (Typ 1)

Diese Frage fokussiert auf die Entstehung und Herkunft des Explanandums. Die Frage nach der Entstehung und Herkunft eines Merkmals lässt sich aus Sicht der Evolution (Phylogenese, s. Abschn. „Historische Erklärungen“) und aus Sicht der Individualentwicklung (Ontogenese) beantworten, wobei Evolution und Individualentwicklung klar unterschieden werden müssen. Craver (2013) bezeichnet diesen Erklärungstyp als ätiologisch (von griechisch aitía = Grund, Ursache). Die Suchrichtung ist rückwärtsgewandt, denn die Ursachen der Entstehung des Explanandums liegen in der evolutionären bzw. entwicklungsbiologischen Vergangenheit. Mit den Pfeilen, die in der Abbildung von links nach rechts zeigen, wird allerdings die Richtung der Verursachung dargestellt. Beispielhafte Fragen für den Biologieunterricht in diesem Bereich sind: Wie sind Chloroplasten im Laufe der Evolution entstanden? Wie ist der aufrechte Gang im Lauf der Evolution entstanden? Wie entstehen sekundäre Geschlechtsmerkmale im Verlauf der Pubertät? Die ersten beiden Fragen fokussieren auf evolutive Entstehung und Herkunft, die dritte Frage auf entwicklungsbiologische (ontogenetische) Entstehung und Herkunft.

4.2.2.2 Welche Funktion hat das Explanandum? (Typ 2)

Die Frage fokussiert die Identifikation der biologischen Funktion. Im Schema (Abb. 4.1) wird dieser Erklärungstyp durch den Kreis im oberen Teil der Abbildung illustriert. Die Suchrichtung der funktionalen Erklärung ist aufwärts auf eine höher gelegene Organisationsebene gerichtet. Es wird erklärt, welche biologische Funktion das Explanandum in einem Mechanismus auf einer höheren Organisationsebene hat bzw. welche Funktion das Explanandum für den Organismus hat. Beispielsweise kann nach der Funktion der Chloroplasten für die Pflanze gefragt werden. Die Frage mag trivial erscheinen, weil die Funktion der Chloroplasten längst bekannt ist und sich in einem Satz erklären lässt. Häufig sind die Funktionen in der biologischen Forschung allerdings zunächst unbekannt. Beispielsweise wurden microRNAs 1993 erstmals beschrieben. Die Funktion von microRNAs bei der Genregulation wurde 2000 im Modellorganismus C. elegans beschrieben. Bis heute sind eine große Anzahl an microRNAs identifiziert worden. Die biologischen Funktionen der meisten microRNAs sind allerdings noch unbekannt.

4.2.2.3 Welcher Mechanismus bewirkt das Explanandum? (Typ 3)

Kennt man die Funktion des Explanandums (z. B. Genregulation durch microRNAs), kennt man noch nicht den Mechanismus, wie die Funktion genau zustande kommt. Erklärungstyp 3 fokussiert also auf den Mechanismus, der die Funktion des Explanandums hervorbringt. Im Schema (Abb. 4.1) wird dieser Erklärungstyp durch den Kreis unterhalb des Explanandums illustriert. Die Suchrichtung ist abwärts gewandt, denn auf den tiefer gelegenen Organisationsebenen befinden sich die Komponenten und Aktivitäten, deren Interaktionen erklären, wie das Explanandum funktioniert. Für die mechanistische Erklärung der Funktionen von Chloroplasten müssen beispielsweise die biochemischen Reaktionen an den Fotosystemen, die innerhalb eines Chloroplasten liegen, erklärt werden.

4.2.3 These 3: Lernende sollen Metawissen über die drei Erklärungstypen besitzen

Trommler und Hammann (2020) argumentieren unter Verwendung empirischer Daten von Abrams und Southerland (2001), dass den Schüler*innen Metawissen über die im Schema visualisierten Erklärungstypen und die ihnen zugrunde liegenden Fragen fehlt. In der Folge nutzen Lernende bei Abwesenheit von Fachwissen die intuitiv zugänglicheren Funktionen (Typ 2), um Fragen nach der Entstehung (Typ 1) zu beantworten. Intuitiv rekurrieren Lernende auch auf biologische Funktionen (Typ 2), wenn ihnen Fragen nach dem Mechanismus gestellt werden (Typ 3).

4.2.3.1 Verwechslung von Erklärungen der Funktion (Typ 2) und der Entstehung (Typ 1)

Warum neigen Lernende zu vereinfachenden Schlüssen von der Funktion auf die evolutionäre Ursache, beispielsweise wenn sie argumentieren, dass die Funktion die alleinige Ursache für die Entstehung eines Merkmals im Laufe der Evolution ist? Ein Teil des Problems liegt im Funktionsbegriff, der an sich eine angemessene Form der Teleologie beinhaltet (Toepfer, 2004). Unter Bezugnahme auf eine Reihe neuerer Positionen aus der Philosophie der Biologie lässt sich argumentieren, dass Biolog*innen die Bedeutung des Telos-Begriffs (griech. Ziel, Endzweck) als erkenntnistheoretisches Werkzeug verwenden, wenn sie eine Struktur oder einen Mechanismus als funktional betrachten (Trommler & Hammann, 2020). Beispielsweise verwenden Biolog*innen Überleben und Reproduktion als erkenntnistheoretische Bezugspunkte, wenn sie Strukturen Funktionen zuordnen, ohne davon auszugehen, dass Überleben und Reproduktion naturimmanente Zwecke sind. Diese Form der Teleologie ist angemessen und kann als epistemologische Teleologie bezeichnet werden (Trommler & Hammann, 2020). Sie ist an der teleologischen Sprache erkennbar, mit der Biolog*innen über Funktionen reden und schreiben.

Die ontologische Teleologie hingegen ist die unangemessene Annahme, dass funktionale Strukturen und Mechanismen allein aufgrund ihrer Funktionalität entstanden sind (Trommler & Hammann, 2020). Mittel-Zweck-Analysen – als integraler Bestandteil der Biologie – können für Lernende irreführend sein, weil sie die Idee, dass Eigenschaften funktionieren und zum Überleben existieren (angemessene epistemologische teleologische Argumentation), mit der Idee verwechseln könnten, dass Eigenschaften zielgerichtet entstanden sind zum Zwecke des Funktionierens und der Aufrechterhaltung des Überlebens (unangemessene ontologische teleologische Argumentation). Dieses ontologisch-teleologische Denken ist unangemessen, weil es in der Natur keine solche zielgerichtete Verfolgung von „Zwecken“ gibt. Um Lernenden zu vermitteln, dass die Natur nicht auf Zwecke ausgerichtet ist, sollen sie Metawissen über Erklärungen erwerben. Damit soll erreicht werden, zwischen Erklärungen der Entstehung bzw. Herkunft (Typ 1) und Erklärungen der biologischen Funktion (Typ 2) zu unterscheiden und der Natur keine Zweckgerichtetheit mehr zu unterstellen (Trommler & Hammann, 2020).

4.2.3.2 Verwechslung von Erklärungen der Funktion (Typ 2) und des Mechanismus (Typ 3)

Warum neigen Lernende zu vereinfachenden Schlüssen von funktionalen Erklärungen auf mechanistische Erklärungen? Eine Antwort auf diese Frage liegt in der Tatsache, dass der Biologieunterricht über weite Phasen der Mittelstufe im Sinne des Basiskonzepts Struktur und Funktion beim Thematisieren von Strukturen deren Funktionen fokussiert, ohne auf die zugrunde liegenden – wesentlich komplexeren – Mechanismen einzugehen. Ähnliches vermuten Abrams und Southerland (2001) im Rahmen ihrer Analysen einer Interviewsequenz, in der eine Schülerin mit einer auf einen Mechanismus abzielenden Wie-Frage aufgefordert wurde, das Phänomen des positiven Fototropismus zu erklären. Die Schülerin beantwortete die Frage allerdings nicht mechanistisch, sondern funktional: „um Photosynthese zu betreiben“. Diese Antwort fokussiert die biologische Funktion des Explanandums. Grundsätzlich sind mechanistische Erklärungen wesentlich komplexer als die alleinige Identifikation der Funktion eines Phänomens. Darüber hinaus werden derartige mechanistische Erklärungen erst in höheren Jahrgängen vermittelt, im Fall des Auxins vermutlich erst im Leistungskurs oder im Studium. Das Beispiel verdeutlicht, dass es notwendig ist, Metawissen über die Vielfalt biologischer Erklärungstypen zu vermitteln.

Als wesentliches Instruktionsprinzip sollen die Lernenden an ein und demselben Phänomen erfahren, dass sich dieses auf unterschiedliche Art und Weise erklären lässt, dass sich die verschiedenen Erklärungen nicht gegenseitig ausschließen, dass die verschiedenen Erklärungen aus unterschiedlichen Erkenntnisinteressen resultieren und dass man im Unterricht anhand der Aufgabenstellung erkennen kann, welcher Erklärungstyp gefordert ist.

4.2.3.3 Spezifische Aufgabenstellungen zur Unterscheidung der drei Erklärungstypen

Über die Aufgabenstellung signalisieren Lehrkräfte im Unterricht, welcher Typ von Erklärung in einer spezifischen Situation gefordert ist.

Die allgemeine Formulierung „Erkläre das Phänomen!“ verdeutlicht Lernenden nicht, ob sie im pädagogischen oder naturwissenschaftlichen Sinne erklären sollen. In Unterrichtsgesprächen lassen sich die folgenden Bedeutungen von „erklären“ unterscheiden (Rocksén, 2016):

  • Pädagogische Bedeutung: Nach der Präsentation eines biologischen Phänomens fordert die Lehrkraft auf: Erkläre das Phänomen! „Erklären“ wird verwendet, um Lernende zum Nachdenken anzuregen oder zur Mitarbeit zu motivieren. Eine korrekte Antwort wird nicht (unbedingt) erwartet. Der Begriff „erklären“ ist Teil einer Kommunikationsstruktur und hat primär auffordernd-motivierenden Charakter.

  • Naturwissenschaftliche Bedeutung: Lebendige Phänomene werden sowohl hinsichtlich der Vielzahl ihrer Organisationsebenen als auch ihrer Entwicklungsgeschichte untersucht. Je nach Perspektive ist ein anderer biologischer Erklärungstyp gefordert. Folglich sollen Aufgabenstellungen im Biologieunterricht präzise auf den gewünschten Erklärungstyp abzielen.

Um Lernenden die Anforderungen von Aufgabenstellungen transparent zu machen, hat die Kultusministerkonferenz Operatoren festgelegt, beispielsweise erklären und beschreiben (KMK, 2020). Erklären wird laut der Operatorenliste im Biologie-, Chemie- und Physikunterricht gleichermaßen verwendet, um Phänomene auf allgemeingültige Aussagen zurückzuführen. Somit lässt sich der Operator „erklären“ nach aktueller KMK-Konvention für Aufgabenstellungen verwenden, die auf Erklärungstyp 1 (Erklärung der Entstehung) und 3 (Erklärung des Mechanismus) abzielen. Der in der Biologie vorkommende Erklärungstyp 2 hingegen wird durch die Operatoren „beschreiben“ oder „erläutern“ eingefordert.

Auf die biologischen Erklärungstypen aus dem Strukturschema (Abb. 4.1) von Trommler und Hammann (2020) zielen – unter Berücksichtigung der aktuellen Operatoren-Konventionen – die folgenden spezifischeren Aufgabenstellungen ab:

  • Typ 1: Erkläre die Entstehung/Veränderung eines Merkmals im Verlauf der Ontogenese/Evolution.

  • Typ 2: Beschreibe die Funktion der Struktur/des Prozesses./Erläutere den Struktur-Funktions-Zusammenhang.

  • Typ 3: Erkläre die physiologischen/genetischen/etc. Ursachen des Phänomens.

Verfügen die Lernenden über Metawissen zu den Erklärungstypen der Biologie, können sie mithilfe der spezifischen Aufgabenstellungen überprüfen, inwiefern ihre Erklärungsversuche sich in die gewünschte biologische Perspektive einordnen lassen.

4.3 Fazit und Ausblick

Aktuelle empirische Untersuchungen zur Wirkung von Metawissen über die Vielfalt biologischer Erklärungstypen bei Lernenden fehlen momentan weitgehend. Erste empirische Untersuchungen zu den verschiedenen Typen von Erklärungen beim abduktiven Erklären als Grundlage der Förderung des Organisationsebenen übergreifenden Erklärens in biologiedidaktischen Kontexten werden bereits durchgeführt (Upmeier zu Belzen et al., 2021). Halls et al. (2021) zeigten, dass das Diskutieren verschiedener Erklärungstypen mit jungen Schüler*innen (5–9 Jahre alt und 9–10 Jahre alt) deren Zustimmung zu unangemessenen teleologischen Erklärungen signifikant reduzierte und stattdessen deren Zustimmung zu wissenschaftlich angemessenen Erklärungen erhöhte. Über diese Ansätze hinaus sind weitere Schritte in biologiedidaktischer Entwicklung und Forschung notwendig, um besser zu verstehen, wie Lernenden Metawissen über die verschiedenen Typen von Erklärungen in der Biologie vermittelt werden kann und welche Wirkungen derartige Vermittlungsansätze haben.