FormalPara Abstract

As the envisaged goal of science education, students’ scientific literacy (SL) requires an adequate understanding of the Nature of Science (NOS). As a requirement for the appropriate promotion of NOS in science education, teachers themselves must have an adequate understanding of NOS, which is often based on NOS aspect lists. To meet the requirements of a functional SL and counteract stereotypical views of the Nature of Science, current attempts are demanding a discipline-specific approach towards NOS. The philosophy of science already shows that the natural sciences have characteristics that should be represented in a discipline-specific conceptualization of NOS. Therefore, we suggest three characteristics of biology that could be represented as Bio-NOS and discuss the requirement of a discipline-specific Bio-NOS for the appropriate promotion of biology teachers’ NOS views and its implications for teacher education.

3.1 Einführung

Eine Scientific Literacy (SL) von Schüler*innen setzt ein adäquates Verständnis von Nature of Science (NOS), welches sie in Problemkontexten anwenden können, inhärent voraus (Allchin, 2011; Hodson, 2009). Eine angemessene Förderung von NOS im Unterricht erfordert allerdings, dass die Lehrkräfte im Rahmen ihrer professionellen Handlungskompetenz selbst über ein angemessenes NOS-Verständnis verfügen (vgl. Lederman & Lederman, 2014). Ein inadäquates NOS-Verständnis bei Lehrkräften kann dazu führen, dass sie NOS-Inhalte nicht oder nur unreflektiert unterrichten (Capps & Crawford, 2013) oder inadäquate Vorstellungen von Schüler*innen nicht erkennen (Hartelt et al., 2022). NOS-Konzeptualisierungen, die zur Vermittlung von NOS bei Lehrkräften und in der Folge dann auch bei Schüler*innen eingesetzt werden, lassen sich weit verbreitet als Aspektlisten in der Literatur finden. Gemein haben diese, dass sie versuchen, generalisierende Aussagen über alle Naturwissenschaften zu treffen. Sie sind daher mit disziplinübergreifendem Anspruch formuliert (Neumann & Kremer, 2013). Diese Aspektlisten haben den Vorteil, auf einem breiten Konsens zu basieren, wie sich unter anderem auch in einer von Osborne et al. (2003) durchgeführten Delphi-Studie zeigt. Auch werden diese konsensfähigen Listen oft als Diagnoseinstrument eingesetzt (Lederman et al., 2002; Neumann & Kremer, 2013) und ermöglichen dadurch die Vergleichbarkeit der erhobenen Daten.

Trotz der Vorteile der Aspektlisten wird immer wieder Kritik an diesen geäußert. Dabei wird argumentiert, dass der disziplinübergreifende Ansatz zu generalisierend sei und zur Bildung stereotyper Ansichten in den Naturwissenschaften führen kann (van Dijk, 2014). Konkrete disziplinspezifische Anpassungsvorschläge beziehen sich auf Debatten aus der Wissenschaftsphilosophie, besonders auf solche aus der Philosophie der Biologie (Mayr, 2007). Diese Debatten beschäftigen sich mit der Frage, welche ontologischen, epistemologischen, methodologischen und axiologischen (Axiologie = Wertlehre) Charakteristika die Biologie mit sich bringt, um sich der Frage der Biologie als autonomer Naturwissenschaft mit eigenen Voraussetzungen, Denk-, und Arbeitsweisen zu widmen (Mayr, 2007). Mayr (2007) begründet die Autonomie der Biologie darin, dass sie sich in ihren Paradigmen von denen der physikalischen Naturwissenschaften Physik und Chemie unterscheidet und daher nicht nur als ein weiterer Zweig der physikalischen Wissenschaften gezählt werden kann (s. auch Schizas et al., 2016). Daraus abgeleitet wird das Argument, dass die in den wissenschaftsphilosophischen Diskursen ausgearbeiteten Charakteristika auch in einem biologiespezifischen NOS repräsentiert sein müssen, um die Biologie adäquat im Unterricht und der Biologielehrkräftebildung repräsentieren zu können (Schizas et al., 2016). Auch im Family Resemblance Approach (FRA) wird die Auffassung vertreten, zusätzlich zu disziplinübergreifenden auch disziplinspezifische Aspekte in einem NOS-Ansatz auszudifferenzieren (Erduran & Dagher, 2014; Reinisch & Fricke, 2022). Aus diesen Überlegungen leiten wir die These ab, dass die Charakteristika der einzelnen Naturwissenschaften in einer disziplinspezifischen Konzeptualisierung, in unserem Fall einem Bio-NOS, repräsentiert werden können.

Die Frage bei all diesen Ansätzen bleibt allerdings, ob eine disziplinspezifische NOS-Konzeptualisierung für die einzelnen naturwissenschaftlichen Unterrichtsfächer überhaupt sinnvoll ist und sich dieser Anspruch aus Mayrs (2007) proklamierter Disziplinspezifität der Naturwissenschaften ableiten lässt. Lederman und Lederman (2014) kritisieren, dass eine Bezugnahme auf disziplinspezifische Merkmale nicht praktikabel sei, da ein solches Vorgehen zur Implementierung zu anspruchsvoller und gleichzeitig irrelevanter Inhalte im Unterricht führt. Daher stellt sich die Frage, ob auf Seiten der Lehrkräfte das Verständnis eines disziplinspezifischen NOS notwendig ist, wenn dessen Stellenwert im Unterricht an sich schon angezweifelt wird. Mithilfe der drei Kriterien, die Lederman aufführt, um die Relevanz eines NOS-Aspekts für den Unterricht zu bestimmen (Neumann & Kremer, 2013), prüfen wir daher die Berechtigung eines Bio-NOS für Lehrkräfte und unterstützen damit unsere These, dass die Konzeptualisierung eines disziplinspezifisch ausgeschärften Bio-NOS für Lehrkräfte möglich und sogar notwendig ist. Weiterhin diskutieren wir im Ausblick die Implikationen eines Bio-NOS für die Lehrkräftebildung.

3.2 Diskurs

Die Möglichkeit einer disziplinspezifischen Ausschärfung zu einem Bio-NOS wurde schon erörtert. Schizas et al. (2016) zeigten zum Beispiel anhand einer Diskussion zu zwei in den Naturwissenschaften vertretenen und grundverschiedenen Weltanschauungen, namentlich einer Newtonschen Weltanschauung und einer Neo-Darwinistischen Weltanschauung, dass die physikalischen Wissenschaften und die Biologie auf unterschiedlichen ontologischen, epistemologischen und methodologischen Grundannahmen aufbauen. Um im Unterricht ein realistisches Bild der Biologie zu vermitteln, leiten sie daraus ab, dass einige Aspekte der NOS-Konsenslisten unvereinbar sind mit der in der Biologie vertretenen Weltanschauung. Dies ist zum Beispiel beim NOS-Aspekt, der das Verhältnis der verschiedenen Formen von Wissen in Form von Theorien und Gesetzen aufklärt, der Fall. Theorien und Gesetze sind laut Lederman und Kolleg*innen (2002) zwei verschiedene Wissensformen, die nicht ineinander transformiert werden können. Das heißt, dass eine Theorie nicht irgendwann zu einem Gesetz wird, nur weil genügend Belege für diese vorliegen, oder dass sie hierarchisch in einer Stufe unter Gesetzen zu verorten wäre (Lederman et al., 2002). Diese Auffassung mag in der Newtonschen Weltanschauung der physikalischen Wissenschaften zutreffen, jedoch liegen in der Biologie keine Wissensformen vor, die sich mit den deterministischen Gesetzen der physikalischen Wissenschaften vergleichen lassen (Schizas et al., 2016). So zeigt sich in diesem NOS-Aspekt, der Teil der Konsenslisten darstellt, dass ein alleiniger Fokus auf disziplinübergreifende Aspekte zu einer inadäquaten Repräsentation der in der Biologie vertretenen Wissensformen führen kann.

Auch die theoretische Basis des FRA liefert einen NOS-Ansatz, der zwar disziplinübergreifende Aspekte aller Naturwissenschaften adressiert, im Besonderen aber einen Analyserahmen für disziplinspezifische Aspekte der Naturwissenschaften bietet (Erduran & Dagher, 2014). Diese Perspektive greifen Reinisch und Fricke (2022) auf, indem sie das Ziel verfolgen, mittels Lehrbuchanalysen gezielt biologiespezifische Aspekte innerhalb des FRA zu differenzieren.

Mit These 1 stärken wir die Argumentation für eine Konzeptualisierung eines disziplinspezifischen Bio-NOS, indem wir drei Charakteristika der Biologie vorstellen, die aus Diskursen der Wissenschaftsphilosophie stammen und eine Disziplinspezifität bezüglich NOS nahelegen.

Um die Kritik von Lederman und Lederman (2014) zu disziplinspezifischen Ansätzen zu berücksichtigen, dass diese im Schulkontext überfordernd und irrelevant seien, prüfen wir unter These 2 das Konzept eines Bio-NOS direkt bezüglich dreier Kriterien angelehnt an Lederman (2006):

  1. 1.

    Inwiefern besteht ein Konsens über ein Bio-NOS?

  2. 2.

    Inwiefern ist ein Bio-NOS für Schüler*innen notwendig?

  3. 3.

    Inwiefern ermöglicht ein Bio-NOS eine Partizipation von Schüler*innen in der Gesellschaft?

3.2.1 These 1: Die Biologie zeichnet sich durch Charakteristika aus, die in einem Bio-NOS repräsentiert werden können

In einem Review wissenschaftsphilosophischer Literatur (z. B. Mayr, 2007; Vollmer & Mayr, 2010), welche die Autonomie der Biologie als Naturwissenschaft neben den physikalischen Naturwissenschaften und ihre Eigenschaften als solche erörtert, lassen sich sieben Charakteristika der Biologie identifizieren: (1) Ablehnung des Reduktionismus, (2) Variabilität biologischer Untersuchungsobjekte, (3) Offenheit und Komplexität biologischer Untersuchungsobjekte, (4) irreversible Entwicklung biologischer Untersuchungsobjekte; (5) Einfluss des Zufalls auf biologische Untersuchungsobjekte; (6) Doppelrolle der untersuchenden Person im Untersuchungsprozess und (7) Hang der Biologie zum naturalistischen Fehlschluss. Im Folgenden werden beispielhaft drei Charakteristika näher vorgestellt.

Variabilität biologischer Untersuchungsobjekte

Aufgrund der Variabilität von biologischen Untersuchungsobjekten ergeben sich verschiedene Problematiken in der Biologie. Zum einen zeigt sich ein Kontrast zur essenzialistischen Denkweise in der Physik und Chemie, in der sich die Untersuchungsgegenstände auf eine bestimmte Anzahl natürlicher Klassen reduzieren lassen. Als natürliche Klassen werden Einheiten von Objekten bezeichnet, die invariable Eigenschaften besitzen (Wilkins, 2013). Als Beispiel in der Physik oder Chemie können dazu unter anderem Elektron oder Atom als natürliche Klassen von Objekten herangezogen werden. Vollmer und Mayr (2010) schätzen, dass die Physik auf maximal Tausend Klassen von Objekten zu reduzieren und zu erschließen sei. Die Biologie hingegen sei nicht unter zwei Millionen natürlicher Klassen (sofern man diese definiert als Arten von Lebewesen) zu fassen, weshalb im Umkehrschluss die Bildung natürlicher Klassen über Objekte nicht dem Vorgehen der Biologie entspräche und sogar hinderlich sei. Viel eher steht das Individuum und somit das individualistische Denken in der Biologie im Vordergrund. Widerspiegeln tut sich dies zum Beispiel im Populationsdenken und der Idee, dass die Variabilität der Lebewesen auch erst die Voraussetzung für Evolution schafft (Mayr, 2007). Diese für die Evolutionsbiologie revolutionäre individualistische Auffassung von Arten wird auch unter der Individuality Thesis zusammengefasst (Wilkins, 2013), die auf drei Aussagen aufbaut: (1) Natürliche Klassen in der Biologie sind keine universellen, sondern historische Objekte; (2) als Individuen sind biologische Objekte kausal zusammenhängend und agieren als System üblicherweise in Form von Populationen; und (3) biologische Objekte präsentieren sich als einzigartige Kombination von beobachtbaren Eigenschaften.

Offenheit und Komplexität biologischer Untersuchungsobjekte

Zur Variabilität der biologischen Untersuchungsobjekte kommt außerdem ihre enorme Komplexität hinzu, weshalb biologische Untersuchungsobjekte immer komplexe Systeme darstellen (Vollmer & Mayr, 2010). So reicht diese Komplexität nicht nur über die Anzahl der Teile des Systems, sondern auch über die vielen Möglichkeiten ihrer Interaktion untereinander, bis hin zur Offenheit der Systeme in Interaktion mit anderen Systemen. Die Biologie ist auch deshalb in viele Teildisziplinen untergliedert, weil damit die verschiedenen Systemebenen fokussiert werden können. Erkennbar ist dies zum Beispiel in den Subdisziplinen der Molekularbiologie, welche auf zellulärer Systemebene forscht, und der Ökologie, welche auf Systemebene ganzer Ökosysteme forscht. In der Biologie muss zwischen Systemebenen gewechselt werden, in dem Bewusstsein, dass die betrachtete Ebene in der Analyse zum einen ein eigenes System, zum anderen aber auch Teile eines über- oder untergeordneten Systems berücksichtigen muss (Schizas et al., 2016). Dabei ist es bei der Formulierung von Erklärungen biologischer Phänomene essenziell, diese Interaktion der Systemebenen beim Finden der Ursachen mit einzubeziehen (s. Kap. 4).

Doppelrolle der untersuchenden Person im Untersuchungsprozess

Der Mensch findet sich im biologischen Untersuchungsprozess in einer Doppelrolle wieder. Der Mensch ist Teil der belebten Umwelt, ist auch ein Lebewesen in einem biologischen System und weist als solches „grundsätzliche Gemeinsamkeiten“ (Köchy, 2020, S. 79) mit anderen Lebewesen auf. In der Untersuchung schöpft die untersuchende Person dabei aus ihren eigenen Erfahrungen, um die Beobachtungen, die sie tätigt, zu interpretieren (Köchy, 2020). Im Extremen zeigt sich dies in der Interpretation von Beobachtungen an dem Menschen sehr ähnlichen Lebewesen wie zum Beispiel Menschenaffen. Dort interpretiert die untersuchende Person basierend auf den eigenen menschlichen Erfahrungen und extrapoliert diese auf das Untersuchungsobjekt (Köchy, 2020). Die Verhaltensbiologie zeigt dabei eine besondere Anfälligkeit, eine Identifikation mit dem Untersuchungsobjekt herzustellen und so in der Interpretation von dessen Verhalten durch die eigenen Erfahrungen beeinflusst zu sein. Äußern tut sich dies dann unter anderem auch in Anthropomorphismen, bei denen nichtmenschlichen Lebewesen menschliche Eigenschaften zugesprochen werden, wie in etwa ein eigener Wille (Hartelt et al., 2022).

An den drei Charakteristika wird deutlich, inwiefern sich die Biologie von Perspektiven in der Physik und Chemie unterscheiden kann. Unter These 2 wird nun diskutiert, inwiefern bereits diese drei ausgewählten Charakteristika als potenzielle Bio-NOS-Aspekte die Notwendigkeit der Konzeptualisierung eines Bio-NOS konstituieren.

3.2.2 These 2: Die Konzeptualisierung eines disziplinspezifischen Bio-NOS ist notwendig

3.2.2.1 Inwiefern besteht ein Konsens über Bio-NOS?

In der Philosophie der Biologie wird schon seit längerem über die Autonomie der Biologie diskutiert. Dabei wird untersucht, inwiefern die Biologie überhaupt den Anspruch erheben kann, eine eigenständige Naturwissenschaft zu sein. Im Zuge dieser Diskussion treten reduktionistische Sichtweisen auf, also solche, die behaupten, die Biologie ließe sich vollständig auf die Gesetze und Denkweisen der Chemie und Physik reduzieren (Schizas et al., 2016). Die Philosophie der Biologie hat, wie oben gezeigt, bereits Charakteristika der Biologie herausgearbeitet, was die reduktionistische Sichtweise widerlegt und nahelegt, Bio-NOS-Aspekte abzuleiten (Schizas et al., 2016).

Bisher zeigt sich allerdings, dass in der biologiedidaktischen Literatur noch keine einheitliche Übersicht über den Einfluss der in der Wissenschaftstheorie erörterten Charakteristika auf die biologische Forschung besteht. So ist zwar über einige Charakteristika der Biologie bekannt, wie genau diese die einzelnen Subdisziplinen in ihrer Forschungspraxis beeinflussen (z. B. Verwendung ultimater Erklärungen als Erkenntnismethode in der Subdisziplin Evolutionsbiologie; Langlet, 2016), jedoch nicht, wie relevant Didaktiker*innen in den Naturwissenschaften die Repräsentation dieses Einflusses im Biologieunterricht einschätzen. Um die Auswirkungen relevanter Charakteristika eines Bio-NOS systematisch auf die Forschungspraxis zu konzeptualisieren, steht eine Prüfung aller sieben potenziellen Bio-NOS-Aspekte in einer Gruppe von aktiv forschenden Biolog*innen aus. Da nicht von einem einheitlichen Bild der Biologie auszugehen ist (Vollmer & Mayr, 2010), wird die Stichprobe so gewählt, dass verschiedene Subdisziplinen befragt werden, sodass die Perspektiven verglichen werden können. Ziel der Befragung ist, Aufschluss darüber zu gewinnen, inwiefern die biologische Forschung in den einzelnen Subdisziplinen durch die Bio-NOS-Aspekte beeinflusst wird, und daraus Instruktionsstrategien für den Biologieunterricht abzuleiten, die die Forschungspraxis in den Subdisziplinen widerspiegeln können. Weiterhin wäre auch die Beurteilung der Aspekte durch Didaktiker*innen der Naturwissenschaften vorzunehmen, um festzustellen, wie relevant jeder einzelne Bio-NOS-Aspekt für das Erreichen des Unterrichtsziels einer funktionalen SL ist.

3.2.2.2 Inwiefern ist ein Bio-NOS für Schüler*innen notwendig?

Wir argumentieren, dass ein Bio-NOS nicht nur für Schüler*innen verständlich, sondern auch notwendig ist, um bestimmte fachwissenschaftliche Inhalte des Biologieunterrichts erschließen zu können. Will man dies erreichen, ist es notwendig, dass Lehrkräfte über NOS-Verständnis verfügen, um dieses im Unterricht adäquat vermitteln zu können.

Da die Evolutionsbiologie sich besonders charakteristisch von den physikalischen Naturwissenschaften abgrenzt (Mayr, 2007) und der Bezug zur Evolutionstheorie als die Biologie vereinende Theorie besteht, lässt sich daran zeigen, weshalb ein Bio-NOS notwendig ist. Greift man auf die unter der ersten These erläuterten Charakteristika zurück, beruhen einige weit verbreitete Schüler*innenvorstellungen auf einem fachlich inadäquaten Verständnis eben dieser Charakteristika, namentlich essenzialistische, teleologische und anthropomorphe Vorstellungen. Diese drei Schüler*innenvorstellungen werden auch als Denkfiguren oder allgemeine Denkweisen zusammengefasst, da sie sich nicht nur auf ein spezifisches biologisches Phänomen beziehen, sondern übergreifend auf eine Reihe biologischer Phänomene angewendet werden (Hammann & Asshoff, 2019).

Die teleologische Denkweise fließt dabei als eine Art der Erklärung biologischer Phänomene ein (Hammann & Asshoff, 2019). Schüler*innen erklären das Vorhandensein von Strukturen von Organismen oder auch ganze Organismen als die Folge eines verfolgten Zweckes (Zweckgerichtetheit; Hammann & Asshoff, 2019, S. 28). So ist eine typische teleologische Erklärung für Flügel, dass sie zum Fliegen entstanden sind. Fachlich angemessen sind in der Biologie hingegen kausale und mechanistische Erklärungen oder teleonomische Erklärungen (Zweckmäßigkeit; Hammann & Asshoff, 2019, S. 28). Die Flügel in unserem Beispiel erwiesen sich nach ihrer Entstehung als zweckmäßig durch einen Vorteil, der aus ihrer Funktion fliegen können resultiert.

Die essenzialistische Denkweise beschreibt grundlegend die Annahme, dass biologischen Objekten bestimmte, nicht beobachtbare und unveränderliche Eigenschaften innewohnen, die eine Zugehörigkeit zu einer Kategorie nach sich ziehen (Hammann & Asshoff, 2019). Im Kontext der Evolutionsbiologie resultiert aus dieser Denkweise die Schüler*innenvorstellung der Artkonstanz, also, dass es sich bei Arten um „unveränderliche, homogene und klar abgrenzbare Einheiten“ (Hammann & Asshoff, 2019, S. 45) handelt. Vergleicht man dies mit der Individuality Thesis (Wilkins, 2013) aus dem Bio-NOS-Aspekt Variabilität biologischer Untersuchungsobjekte, widerspricht diese Denkweise den oben genannten drei Aussagen, also die Individuen einer Art werden nicht (1) als veränderbare, historische Objekte, nicht (2) als Populationen und nicht (3) als einzigartige Kombination von beobachtbaren Eigenschaften betrachtet.

Bei der anthropomorph geprägten Denkweise handelt es sich um „Übertragungen von menschlichen Eigenschaften und Denkweisen auf die Natur. Dabei werden die Natur als Ganzes oder ihre Teile zu Akteuren, die Motive besitzen und wie Menschen denken und handeln“ (Hammann & Asshoff, 2019, S. 33). Ähnlich wie bei der teleologischen Denkweise erklären Schüler*innen hier evolutive Vorgänge wie die Anpassung von Organismen als eine aktive sowie mit Motiven behaftete und damit zweckgerichtete Handlung (Hammann & Asshoff, 2019).

Hartelt et al. (2022) und van Dijk (2009) untersuchten dazu, wie Biologielehrkräfte diese Vorstellungen im Unterricht aufgreifen. Voraussetzung ist, dass die Lehrkräfte diese Schüler*innenvorstellungen diagnostizieren können, wozu ein Wissen über die korrespondierenden NOS-Aspekte nützlich ist. Lehrkräfte sollen zum Beispiel erkennen, dass eine essenzialistische Denkweise bei Schüler*innen in Konflikt mit der Variabilität biologischer Untersuchungsobjekte und daraus resultierendem Populationsdenken steht (van Dijk, 2009). Ebenso zeigt sich, dass Vorstellungen zu adaptiven Prozessen zwar erkannt, allerdings nicht angemessen adressiert werden. Der Gedanke, dass sich evolutionäre Prozesse auf mehreren Systemebenen (vgl. Bio-NOS-Aspekt Offenheit und Komplexität biologischer Untersuchungsobjekte) abspielen, wäre hilfreich bei der Rekonstruktion von teleologischen Vorstellungen zu fachlich angemessenen Vorstellungen (z. B. mechanistische Erklärungen) (van Dijk, 2009). Zuletzt würde auch das kritische Reflektieren anthropomorph geprägter Vorstellungen zu zweckgerichteten und aktiven Handlungen von Organismen im Unterricht ein adäquates Verstehen von Evolutionsprozessen fördern (vgl. Hartelt et al., 2022). Dies setzt allerdings voraus, dass die Lehrkraft den Bio-NOS-Aspekt der Doppelrolle der untersuchenden Person im Untersuchungsprozess reflektieren kann. Hartelt und Kolleg*innen (2022) zeigten dazu auch empirisch, dass Lehrkräfte mit höherem Verständnis der Evolution signifikant häufiger in der Lage waren, Schüler*innenvorstellungen zu diagnostizieren und angemessen zu adressieren.

Fassen wir zusammen: Die drei Bio-NOS-Aspekte helfen Lehrkräften, Schüler*innenvorstellungen zu diagnostizieren und zu adressieren und, sofern im Unterricht expliziert, Schüler*innen eine Argumentationshilfe zu bieten, um adäquate Vorstellungen über Evolution zu entwickeln. Für andere potenzielle Bio-NOS-Aspekte ist deren Nützlichkeit zu prüfen.

3.2.2.3 Inwiefern ermöglicht ein Bio-NOS eine Partizipation von Schüler*innen in der Gesellschaft?

Zuletzt bleibt noch die wahrscheinlich wichtigste Frage, inwieweit ein Bio-NOS überhaupt nützlich für die Teilhabe in der Gesellschaft ist. Hierzu ziehen wir noch einmal Allchin (2011) heran, um die Nützlichkeit eines Bio-NOS anhand des angestrebten Zieles einer funktionalen SL zu beantworten.

Die Funktionalität eines NOS-Verständnisses nach Allchin (2011) bedeutet nicht zwangsläufig, dass auch eine disziplinspezifische Konzeptionalisierung erforderlich ist. Er argumentiert lediglich, dass ein funktionales NOS-Verständnis bedeutet, NOS-Aspekte in bestimmten Kontexten auch anwenden zu können, also nicht nur über ein deklaratives, sondern auch über ein prozedurales Wissen zu diesen Aspekten zu verfügen. Hodson (2009), der auch die Auffassung einer funktionalen SL vertritt, stellt sich dazu die Frage, inwiefern von einer übergreifenden literacy oder von mehreren spezifischen literacies auszugehen ist. Dabei kritisiert er unter anderem, dass zu viel von dem, was die Naturwissenschaften charakterisieren soll, eigentlich nur die Physik charakterisiert und dass Physik eine atypische Naturwissenschaft sei („[…] too much of what is said to characterize science is really about physics, and physics is an atypical science“; Hodson, 2009, S. 233). Er geht davon aus, dass SL abhängig vom jeweiligen Kontext ist und ein elaboriertes NOS-Verständnis das Wissen darum beinhaltet, dass die naturwissenschaftlichen Disziplinen in ihren Erkenntnismethoden und ihrer nature of knowledge in Abhängigkeit von Inhalt, Kontext und Zweck variieren. Beispielhaft stellt er dazu die environmental literacy für eine literacy im konkreten Kontext der Umweltbildung vor. Diese beinhaltet laut Hodson (2009) das Wissen und Verständnis über die Umwelt und den Einfluss der Menschen darauf, die Einstellungen und Werthaltungen, die einen sensiblen Umgang mit der Umwelt bewirken, und eine Entwicklung eines Verantwortungsgefühls zur Erhaltung der Umwelt. Auch van Dijk (2014) plädiert für eine NOS-Konzeptionalisierung basierend auf konkreten Kontexten. Dies zieht unbedingt nach sich, spezifischere Ansätze zur Konzeptionalisierung zu verfolgen, um aktuellen Diskursen gerecht zu werden: „The development of a more diversified view of science is therefore believed to be important for students to understand the complexities and uncertainties surrounding socioscientific issues such as those concerning biodiversity conservation and climate change“ (van Dijk, 2014, S. 399).

Dies führt zu der Annahme, NOS sollte kontextabhängig gelehrt und gelernt werden. Das bedeutet, dass zwangsläufig disziplinspezifische Ansätze aufgrund der historisch gewachsenen Forschungsdisziplinen verfolgt werden müssen. Wenn also eine funktionale SL als das Ziel des Unterrichts der naturwissenschaftlichen Fächer angesehen wird, ist eine funktionale und damit kontext- und disziplinabhängige NOS-Konzeptualisierung vonnöten.

Ein beispielhafter gesellschaftliche Diskurs, bei dem ein Verständnis über die drei unter These 1 vorgestellten Bio-NOS-Aspekte vorteilhaft ist, kann sich um das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Theorien und religiös motivierten, pseudowissenschaftlichen Theorien abspielen. So führt Hodson (2009) aus, dass besonders Personen, die über ein geringes biologisches Fachwissen und inadäquates NOS-Verständnis verfügen, anfällig für Argumente der Intelligent-Design-Bewegung sind. Hier kann bereits ein Verständnis der Bio-NOS-Aspekte, wie unter dem vorherigen Kriterium erörtert, als ein Ansatz zur Einordnung dieser Argumente dienen. Diese beruhen vornehmlich auf teleologischen und essenzialistischen Annahmen zur Entstehung der biologischen Vielfalt und besagen, dass die Arten sich aus einer geringeren Anzahl von Grundtypen entwickelt haben, die von einem intelligenten Designer erschaffen wurden. Wie dargelegt, zeigt sich, dass ein adäquates Bio-NOS-Verständnis unabdinglich für das Verständnis der Evolution als biologievereinender Theorie ist und dadurch erst dazu befähigt, Argumente der Intelligent-Design-Bewegung einordnen und entkräften zu können.

Unter Berücksichtigung der drei an Lederman (2006) angelehnten Kriterien sollen innerhalb einer biologiespezifischen Konzeptionalisierung von NOS alle sieben Aspekte in ihrer Wirksamkeit für den Unterricht überprüft werden. Dies soll nicht nur theoretisch, sondern vor allem empirisch geschehen, um ein konsensfähiges Bio-NOS im Sinne eines funktionalen Aspekts professioneller Kompetenz von Lehrkräften zu entwickeln.

3.3 Fazit und Ausblick

Um dem Ziel der Erlangung einer funktionalen SL nach Allchin (2011) oder Hodson (2009) gerecht zu werden, soll das NOS-Verständnis biologisch konzeptualisiert werden. Dazu wurden hier exemplarisch drei Charakteristika der Wissenschaft Biologie beschrieben, die unter mehreren zuvorderst ein Bio-NOS spezifizieren. Es wird argumentiert, dass eine Relevanz und damit Berechtigung besteht, diese Charakteristika in ein Bio-NOS zu übernehmen, weil es Lehrkräfte befähigt, Schüler*innenvorstellungen zu diagnostizieren, zu adressieren und darüber hinaus Schüler*innen eine Grundlage bietet, Evolution sachgerecht zu verstehen sowie auf die Teilnahme an Diskursen mit einem Biologiebezug vorzubereiten.

Es zeigt sich ein Handlungsbedarf in der Konzeptualisierung eines Modells zum Professionswissen von Lehrkräften, in dem der Wissensbereich des fachdidaktischen Wissens (PCK) disziplinspezifisch und nicht nur disziplinübergreifend für alle Naturwissenschaften konzeptualisiert wird. Van Dijk (2009, 2014) schlägt dazu vor, eine disziplinspezifische Ausschärfung auf Basis von sogenannten Content Representations (CoRe; Loughran et al., 2004) vorzunehmen, also das PCK in Form von Inhaltsbereichen zu differenzieren (Abb. 3.1).

Abb. 3.1
figure 1

PCK-Modell mit CoRe „Evolution“ zu kontextabhängigem NOS nach van Dijk (2014)

So würde je nach Inhalt, im vorliegenden Beispiel zur Evolution, ein PCK konzeptualisiert, in welchem das Wissen über die zentralen Inhalte und fachlich belastbaren Vorstellungen, Schüler*innenvorstellungen (z. B. Essentialismus) und über Instruktionsstrategien repräsentiert ist. Lehrkräfte müssten zusätzlich über ein fachlich belastbares Wissen über NOS-Aspekte verfügen, die im Kontext Evolution eine Rolle spielen (z. B. Variabilität der biologischen Objekte, Komplexität und Offenheit biologischer Objekte, Doppelrolle der untersuchenden Person im Untersuchungsprozess).

Diese Analyse wäre auf andere Inhaltsbereiche der Curricula mithilfe von CoRes (Loughran et al., 2004) zu adaptieren, um ein umfassendes disziplinspezifisches PCK für Lehrkräfte zu formulieren und diese in ihrer Ausbildung gezielt auf die Förderung einer funktionalen SL vorzubereiten.