Die Komplexität und die Dynamik der heutigen Welt, geprägt durch vielfältige technologische Fortschritte und globale Herausforderungen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust, rücken die Notwendigkeit einer fundierten naturwissenschaftlichen Bildung in den Vordergrund. Besonders die Biologie als Wissenschaft des Lebens spielt eine entscheidende Rolle für das Verständnis dieser komplexen Themen. Gleichzeitig rückt die naturwissenschaftliche Forschung als solche vermehrt – teils kritisch oder wenig reflektiert – in den Fokus der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit. Die öffentliche Kommunikation von Forschungsergebnissen seitens Forschender spielt in diesem Kontext eine verstärkte Rolle. Die adäquate Einordnung und Bewertung solcher Ergebnisse verlangen dabei vielfältige Kompetenzen seitens der einzelnen Person. Ein Verständnis der Nature of Science (NOS), also der Natur der Naturwissenschaft selbst, kann dazu beitragen, Studien und ihre Ergebnisse in bestehende Erkenntnisse einzuordnen sowie etwaige Konsequenzen für sich und andere abzuleiten.

Das theoretische Konstrukt NOS wird bereits seit langem in der Wissenschaftsphilosophie und -theorie diskutiert, und zahlreiche Abhandlungen über erkenntnistheoretische Inhalte bis hin zu ethischen Aspekten liegen vor (z. B. Stanford Encyclopedia of Philosophy: Zalta, 1995–2023). Hinsichtlich der Implementation und Erforschung von NOS-Inhalten in den Naturwissenschaftsdidaktiken schrieben Lederman und Lederman bereits 2014: „The construct ‚nature of science‘ (NOS) has been advocated as an important goal for students studying science for more than 100 years“ (S. 600). NOS bezieht sich auf die grundlegenden Prinzipien und Prozesse, die wissenschaftliche Forschung charakterisieren, und geht über die bloße Aneignung von Fakten oder Theorien hinaus. Ziel ist die Vermittlung eines tiefer gehenden Verständnisses für das Wesen der wissenschaftlichen Praxis und wissenschaftlicher Erkenntnisse (Heering & Kremer, 2018).

In den bestehenden fachdidaktischen Ansätzen (vgl. Heering & Kremer, 2018) zu NOS werden grundsätzlich folgende Fragen diskutiert: Was macht wissenschaftliche Forschung aus? Welche Methoden und Praktiken sind involviert? Welche ethischen und sozialen Fragen treten im Kontext wissenschaftlicher Arbeit auf? Antworten auf diese Fragen sind nicht nur für die Wissenschaftsgemeinschaft, sondern auch für die Allgemeinbildung bedeutsam. Durch die Vermittlung eines fundierten Verständnisses von NOS-Inhalten können Lernende ein authentisches Bild der Wissenschaft entwickeln, kritische Denkweisen annehmen und sich somit adäquat in gesellschaftliche Diskussionen einbringen.

Mit dem vorliegenden Band wird das Ziel verfolgt, aktuelle Forschungsansätze und Diskurse der Biologiedidaktik zum Thema Nature of Science zusammenzutragen und abzubilden. Daran anknüpfend werden Implikationen für die Theoriebildung, für mögliche Forschung, für die Schulpraxis und für die Lehrkräftebildung dargestellt. In einigen Beiträgen wird zudem ein besonderer Schwerpunkt auf die Biologie als Wissenschaft des Lebendigen gelegt. Hintergrund des Bandes bilden die Ergebnisse und weiterführenden Diskurse einer Schwerpunkttagung, „Biologiedidaktische Nature of Science-Forschung: Zukunftsweisende Praxis“, die im September 2022 an der Freien Universität Berlin durchgeführt wurde. In mehreren Keynote-Vorträgen und Round-Table-Diskussionen mit unterschiedlichen Schwerpunkten wurden sowohl theoretische Grundlagen der NOS-Forschung als auch innovative Forschungsansätze von Biologiedidaktiker*innen mit Expertise im Forschungsgebiet präsentiert und diskutiert. Der vorliegende Band macht die Diskussionen der Tagung weitergehend nutzbar. Die in diesem Band gesammelten Beiträge wurden im Buch zwei großen Strängen zugeordnet (1) Nature of Science und Theorie und (2) Nature of Science und Praxis.

FormalPara Nature of Science und Theorie

In fünf Beiträgen werden Thesen unter theoretischer Perspektive dargestellt und diskutiert. Nach wie vor ist beispielsweise unklar, inwieweit NOS speziell im Kontext der einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen, etwa der Biologie, betrachtet werden sollte (Neumann & Kremer, 2013). Seit einigen Jahren finden sich in der Literatur vermehrt Studien, in denen nicht nur für alle Naturwissenschaften gleichermaßen relevante NOS-Inhalte empirisch untersucht werden, sondern auch eine Betrachtung von spezifischen Merkmalen einzelner Disziplinen gefordert wird (z. B. Biologie: Reinisch & Fricke, 2022; Geografie: Puttick & Cullinane, 2022). Daher beziehen sich die Beiträge dieses thematischen Schwerpunkts vor allem auf zwei Leitfragen: Gibt es biologiespezifische Merkmale von NOS, die in theoretischen Konzeptualisierungen besondere Berücksichtigung erfahren sollen? Inwiefern finden diese im Unterricht und in der Lehrkräftebildung Berücksichtigung?

In Kap. 2 argumentieren Arne Dittmer und Christina Ehras für einen biologiespezifischen NOS-Ansatz, genannt Nature of Bioscience, der die ethische Dimension und die Komplexität biologischer Phänomene berücksichtigt. Sie betonen, dass sowohl der Umgang mit Komplexität, Individualität, Nicht- und unsicherem Wissen sowie ethischen Fragestellungen in der Biologielehrkräftebildung besondere Beachtung finden sollten. Sophie-Luise Müller und Daniela Mahler argumentieren in Kap. 3 ebenfalls für einen biologiespezifischen NOS-Ansatz und diskutieren, dass ein allgemeines NOS-Verständnis, das sich auf alle Naturwissenschaften erstreckt, nicht ausreicht, um die spezifischen Charakteristika und Herangehensweisen der Biologie adäquat im Unterricht zu vermitteln. Stattdessen schlagen sie vor, ein „Bio-NOS“ zu entwickeln, das die einzigartigen ontologischen, methodologischen und epistemologischen Grundlagen der Biologie berücksichtigt. Dieses spezialisierte NOS-Verständnis könnte Lehrkräften helfen, Vorstellungen von Schüler*innen besser zu diagnostizieren und zu adressieren. Der Beitrag von Marcus Hammann, Friederike Trommler und Dirk Krüger (Kap. 4) fokussiert auf die Vielfalt biologischer Erklärungstypen und argumentiert, dass ein besseres fachspezifisches Wissenschaftsverständnis bei Lehrenden und Lernenden durch das Erwerben von Metawissen über diese Erklärungstypen entwickelt werden kann. Der Text charakterisiert drei verschiedene Erklärungstypen und analysiert deren Mehrwert für den Biologieunterricht, wobei er darauf hinweist, dass fehlendes Metawissen zu unangemessenen teleologischen Erklärungen und Verwechslungen zwischen funktionalen und mechanistischen Erklärungen führen kann. Alexander Büssing (Kap. 5) nimmt in seinem Beitrag Bezug zur Biologielehrkräftebildung und diskutiert die Rolle des Wissens über die Natur der Naturwissenschaftsdidaktiken. Dabei berücksichtigt er den Family Resemblance Approach sowie das Refined Consensus Model des fachdidaktischen Wissens als Aspekte der professionellen Kompetenz von Biologielehrkräften und als Reflexionsanlass in der Lehrkräftebildung. Der Beitrag von Britta Lübke und Benedikt Heuckmann (Kap. 6) grenzt zunächst die Begriffe Unsicherheit und Ungewissheit voneinander ab und befasst sich nachfolgend mit der Rolle von Ungewissheit in den Naturwissenschaften. Es wird argumentiert, dass Ungewissheit ein konstitutives Element der Naturwissenschaften ist, das in bestehenden NOS-Modellen vernachlässigt wird. Die Autor*innen schlagen eine Differenzierung von verschiedenen Arten der Ungewissheit vor und diskutieren deren Einbindung in Lehr-Lern-Konzepte.

FormalPara Nature of Science und Praxis

Der zweite thematische Schwerpunkt zielt darauf ab, die theoretischen Konzepte rund um das NOS-Verständnis in konkrete Unterrichtspraktiken zu übertragen und zu veranschaulichen. Dieser Fokus ermöglicht es, die oft abstrakten und komplexen Ideen, die das Wesen der Naturwissenschaften ausmachen, in greifbare Lehr- und Lernmethoden umzusetzen. Ziel ist es, Schüler*innen ein adäquates Verständnis wissenschaftlicher Methoden und Denkweisen zu vermitteln, das über reine Fachkenntnisse hinausgeht. Dies entspricht auch dem Ziel, im Biologieunterricht Kompetenzen im Bereich „Erkenntnisgewinnung“ zu fördern, wodurch auf ein Nachdenken und Reflektieren über die Naturwissenschaften fokussiert wird.

Benedikt Heuckmann und Britta Lübke (Kap. 7) schließen an ihre theoretischen Überlegungen zur Ungewissheit im vorhergehenden Kapitel an und nehmen Bezug auf die zunehmende Bedeutung von Computersimulationen in den Naturwissenschaften, insbesondere in der Biologie. Sie argumentieren, dass Simulationen ein effektives Mittel zur Reflexion über NOS und den Umgang mit Ungewissheit sein können, und charakterisieren verschiedene Typen von Ungewissheit, die es gilt, mit Simulationen im Sinne eines Verständnisses von NOS zu fördern. In Kap. 8 diskutieren Kristina Fricke und Bianca Reinisch die Berücksichtigung der „inneren Logik“ von Lerngelegenheiten (deduktives, induktives und abduktives Vorgehen) und der Integration von disziplinübergreifenden und -spezifischen NOS-Inhalten für effektives Lernen im Unterricht. Anhand der Anwendung der Mystery-Methode wird diskutiert, wie diese Aspekte in der Unterrichtspraxis berücksichtigt werden können, um ein tieferes Verständnis von NOS zu fördern. Leroy Großmann und Dirk Krüger betonen in Kap. 9 die zentrale Rolle der Hypothese in naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozessen, weisen jedoch auf ihre doppeldeutige Verwendung im Unterricht hin: einerseits als deduktiv abgeleitete, empirisch prüfbare Voraussage und andererseits als initialer Erklärungsversuch für ein Phänomen. Um diese Doppeldeutigkeit zu klären, schlagen die Autoren vor, den Begriff „Hypothese“ in schulischen Kontexten für vage Ideen durch „Erklärungsversuch“ zu ersetzen, und illustrieren dies anhand von Beispielen aus dem Fach Biologie.

Entgegen der üblichen Gliederung von Beiträgen zu empirischen Studien oder Theoriekapiteln wurden die Autor*innen in diesem Band dazu angehalten, nach einer Einleitung eine Leitfrage oder ein wahrgenommenes Desiderat aufzugreifen bzw. zu formulieren. Diese werden in den einzelnen Beiträgen durch die Formulierung von Thesen diskutiert, womit Impulse für Forschungsinitiativen gegeben und ein Weiterdenken angestoßen werden soll. Nachdruck wird diesem Anliegen dadurch gegeben, dass die Autor*innen am Ende jedes Beitrags Anregungen zur Klärung offener biologiedidaktischer Fragen formulieren. Somit liefert dieser Band nicht nur einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung, sondern bietet vielmehr konkrete Anknüpfungspunkte und benennt Forschungsdesiderate.