6.1 Digitaler Gebäudepass

Die Idee eines Gebäudepass wurde zum ersten Mal von Eichstädt im Jahre 1982 für Industriebauten vorgeschlagen. Er beschreibt den Pass als ein Dokument, das Änderungen im Gebäude nachverfolgt und somit eine qualitative Bewertung von Industriegebäuden ermöglicht (Eichstädt 1982, S.177–181). Ein weiterfolgendes Pionierprojekt ist „PILAS“ (Markova und Rechberger 2011), welches eine Methodik zur qualitativen und quantitativen Dokumentation von Gebäude-Materialien und eine kreislaufwirtschaftsrelevante Bewertungsmethodik der Materialeffizienz mittels vier Indikatoren der Verfügbarkeit, Rezyklierbarkeit, Eigenversorgung und Scale-up vorstellt. Ein weiteres Beispiel ist von Hansen und Braungart (2012), welches das anthropogene Gebäude-Materiallager als Nährstoffe für zukünftige Bauvorhaben ansieht. Aus den Überlegungen dieser zwei Ansätze ist der BIM-basierte Materielle Gebäudepass der TU Wien (Honic et. al 2019) entstanden. Weitere Beispiele für digitale Gebäudepässe aus der Praxis lauten: Madaster, Building Circularity Passport von EPEA und Orms. Tab. 6.1 gibt eine Übersicht derzeit bestehender Gebäudepässe und Bewertungstools.

Tab 6.1 Übersicht Gebäudepässe und Bewertungstools

Die meisten dieser Ansätze sind noch in Entwicklung oder an der Grenze zur Praxisreife. Bereits zur Anwendung kommen Madaster, EPEA, Construcia und Concular und im Bereich der Forschung der BIM-basierte Materielle Gebäudepass der TU Wien. Eine umfassende Weiterentwicklung der Repositorien, welche Daten für die Ökobilanzierung und die Berechnung der End-of-Life-Performance von Materialien und Elementen bereitstellen ist notwendig. Dabei ist zu beachten, dass unterschiedliche Datenbanken unterschiedliche Bilanzierungsmethoden verwenden. Somit ist die Vermischung der Daten (Öko-Indikatoren) aus mehreren Datenbanken kaum möglich ist. Die transparente Dokumentation der verwendeten Datenquellen zur Erstellung von Materiellen Gebäudepässen ist von besonderer Bedeutung, um Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Ein großes Thema ist auch die Datendurchgängigkeit und Datenverfügbarkeit. Wichtig wäre ein Standard, an dem sich die Praxis orientiert sowie die Offenlegung der Bewertungsmethoden, um Materialpässe vergleichbar zu gestalten. Allgemein erwähnt werden sollte auch, dass die technische Gebäudeausrüstung etwa ein Viertel, bis ein Drittel der grauen Energie eines neuen Gebäudes ausmacht (BFE 2021) und daher unbedingt in Gebäudepässen berücksichtigt werden sollte.

6.2 Unterschiede der Gebäudepässe

Unterscheidungsmerkmale der Gebäudepässe lassen sich in unterschiedliche Kategorien teilen, wie etwa:

  • Reifegrad – Praxisreife vs. Konzept

  • Anwendung – Materialpass vs. Geschäftsmodell aufbauend auf Materialpass

  • Informationsmenge – umfangreiche Datensammlung, Ergebnisausgabe aufbauend auf Bewertungsdurchführung selektierter Daten

Madaster verfügt über eine Alleinstellung am Markt – als einzige kommerzielle Plattform in welcher Materialpässe eingebettet und verwaltet werden. Der Circularity Pass (EPEA) und der BIM-basierte Materielle Gebäudepass (TU Wien) betrachten im Gegensatz dazu ein Einzelgebäude ohne Einbettung in eine Plattform. Die Gemeinsamkeit ist die strukturierte Erfassung der materiellen Zusammensetzung verbauter Elemente und Skalierung auf Gebäudeebene, mit anschließender Bilanzierung der mit Materialverbrauch in Verbindung stehenden Aspekten. Dies sind beispielsweise Indikatoren einer Ökobilanzierung wie CO2-Emissionen (GWP), Trennbarkeit der unterschiedlichen Materialschichten oder das Recyceln/Verwerten der Materialien. Eine Gemeinsamkeit ist die Nutzung digitaler Technologien und die Möglichkeit BIM-Modelle als Datengrundlage für die Ermittlung der strukturierten Ausgangsinformationen zu erhalten. Diese drei stellen neben dem Gebäuderessourcenpass (DGNB 2023), Construcia und CET die Varianten dar, bei welchen bereits eine hohe Praxisreife erreicht wurde.

Die weiteren angeführten Gebäudepässe stellen Konzepte dar, die derzeit noch in Entwicklung sind. Bezüglich Geschäftsmodell sind Concular und Construcia hervorzuheben. Diese beiden Unternehmen bieten neben einer Erstellung von Materialpässen und einer Gebäudebewertung auf Basis von Materialpässen, aufbauende Leistungen zur Vermittlung von freiwerdenden Materialien bei Umbau- und Abbruchvorhaben zum Zwecke der Wiederverwendung. Dies geschieht durch Matches von Angebot und Nachfrage einerseits gemäß Cradle2Cradle-Ansatz bei Concular und andererseits aufbauend auf Lean2Cradle bei Construcia.

Eine dritte Unterscheidung bezieht sich auf den Datenumfang. Während bei EPEA, Madaster, TU Wien mit einem überschaubaren Datenset gearbeitet wird, ist bei DGNB ein erweitertes Indikatoren-Set vorgesehen. Bei PILAS und MCI gehen die erforderlichen Daten zur Betrachtung von Ressourcenmanagement und Zirkularitätsbewertung über die Gebäudeebene hinaus und es sind Information wie etwa von Material-Reserven, -Verbrauch und Abfallaufkommen erforderlich. Die umfangreichsten Datensets werden bei BAMB und ORMS aufgelistet. Diese beinhalten Indikatoren, die in einer Kreislaufwirtschaftlichen Betrachtung als überflüssig erscheinen, wie Materialtransparenz und Materialfarbe oder jene, die bereits in bestehende Bewertungskonzepte aufgenommen sind sowie Wärmeleitfähigkeit und U-Wert, welche etwa für Energieausweise erforderlich sind. Die Schaffung solcher umfangreichen, durchgängigen und transparenten Datenbanken erscheint aus derzeitiger Sicht nicht umsetzbar, auch wenn dies vonseiten der EU (siehe auch EU Green Deal) angestrebt ist. Eine Lösung stellt beispielsweise die Bauprodukte-VO dar, mit welcher einheitliche, transparente, interoperable digitale Produktpässe bereitgestellt werden sollen. Durch Verknüpfung dieser Informationen mit Gebäudemodellen ist eine Realisierung in Zukunft denkbar.

6.3 BIM basierter materieller Gebäudepass der TU Wien

Der BIM-basierte materielle Gebäudepass (MGP) der TU Wien wurde im Rahmen des Forschungsprojekts BIMaterial (Honic et al. 2019) entwickelt und berechnet Recycling-Potential und Ökobilanz von Gebäuden basierend auf der Methode des IBO (Österreichisches Institut für Bauen und Ökologie). In frühen Planungsphasen dient der MGP als Optimierungswerkzeug zur Durchführung von Variantenstudien (z. B. Holz vs. Beton). In der End-of-Life Phase dient der MGP als Inventarisierungswerkzeug. BIM ermöglicht die Erstellung von informationsreichen Modellen, welche für die Generierung von MGPs eine wichtige Rolle spielen. Dabei ist die richtige Methode anzuwenden, sodass alle Elemente mit der richtigen Geometrie und Materialität erstellt werden. Wände, Decken, Dächer, etc. werden mehrschichtig modelliert. Die Daten für die Generierung des MGP (z. B.: Recycling-Note) werden im Datenmanagement- und Bewertungstool BuildingOne“ eingepflegt – es hat eine bi-direktionale Schnittstelle zu BIM. Diese ermöglicht eine automatisierte Synchronisierung von BIM-Daten und Änderungen im BIM-Modell. Der finale MGP wird ebenfalls im Datenmanagement- und Bewertungstool automatisiert generiert.

6.4 Materielle Gebäudepässe & Energieausweise

Die Erstellung von Energieausweisen erfordert in der Regel einen Bauteilkatalog. In diesem werden alle Bauteile aufgenommen, die zur Berechnung des U-Wertes der thermischen Hülle notwendig sind. Bei einer gesamtheitlichen Bauphysik werden auch jene zum Nachweis von Schallschutz und sommerlicher Überwärmung hinzugefügt. In den letzten Jahren wurde die Leistung des umfassenden Bauteilkatalogs immer mehr zum Standard, sodass alle Bauteilkataloge direkt von der Architektur in ihre Pläne übernommen werden können. Für den materiellen Gebäudepass werden die Bauteilaufbauten mit den Flächen oder Massen einzelner Materialien multipliziert. Es wäre daher naheliegend, dass der umfassende Bauteilkatalog der Bauphysik auch alle Informationen für eine Baurestmassenermittlung enthält. Die Gebäudegeometrie wird im Energieausweis derzeit nur für die thermische Hülle erfasst. Da viele Softwaretools für Energieausweise aber auch Innenbauteile abbilden können, wäre dies eine große Chance für die Vorbereitung von materiellen Gebäudepässen.

In einem Energieausweis wird zudem auch Haustechnik grob erfasst, insbesonderen die Energieerzeugungsanlagen und, über normierte Abschätzungen, auch die ungefähren Leitungslängen. Für die Erstellung von Materiellen Gebäudepässen sind diese Angaben aber noch zu undetailliert. Die genaue Anzahl von Heizkörpern oder Elektroleitungen wäre notwendig. Eine vergleichende Untersuchung von Baurestmassenermittlung und Energieausweiserstellung (Sustr 2021) ergab zusammenfassend, dass die beiden Felder stark voneinander profitieren könnten und mit den richtigen Anpassungen eine Symbiose in der Software ergeben kann. In Zukunft könnte eine mögliche zusätzliche Leistung für Bauphysiker entstehen oder es ergeben sich durch die Modellerfassung auch für Energieausweisprogramme bessere Schnittstellen.