Zusammenfassung
Die wichtige Rolle Simenons für die Entwicklung des Kriminalromans im 20. Jahrhundert lässt sich an den Verzerrungen von Konventionen der Gattung erkennen, in deren Goldenes Zeitalter die ersten Abenteuer von Kommissar Maigret fallen. Dieser gegen den Strich von Dandys à la Sherlock Holmes gebürstete Ermittler ist zugleich ein einfacher Mann und ein erfolgreicher Polizist, der eher einem Oger als einem Wissenschaftler ähnelt und sich mehr durch Schwerfälligkeit und Bedächtigkeit als durch Scharfsinn und Geistesgegenwart auszeichnet. Die Romananfänge sind von Enttäuschung und Scheitern geprägt. Maigrets mitfühlende Methode, die Observation durch Absorption und logisches Schließen durch Umherschweifen ersetzt, macht aus der Ermittlung eine Begegnung und aus dem Ermittler einen Verbindungsknüpfer, der das Rätsel löst, ohne zu triumphieren. Die Ermittlungsweise des kauzigen Kommissars entspricht somit der Praxis des Romanciers. Indem er den Schwerpunkt der Untersuchung von der Handlung auf die Figur verlagert, verwandelt Simenon sie in eine Kunst des Porträts.
Aus dem Französischen von Jutta Ebbertz
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Notes
- 1.
Simenon: Un homme comme un autre, 140–141. „Ihre Romane sind keine richtigen Kriminalromane. Ein Kriminalroman läuft ab wie eine Partie Schach, wo der Leser alle Prämissen kennen muß. Bei Ihnen nichts dergleichen. Ihr Kommissar ist nicht unfehlbar. Er ist weder jung noch verführerisch. Was die Opfer und die Mörder anbelangt, so sind sie weder sympathisch noch unsympathisch.“ (Simenon: Ein Mensch wie jeder andere, 210–211).
- 2.
Simenon, Maigret se trompe, 227. „Man zog ihn am Quai des Orfèvres wegen dieser Macke auf. Wenn er beispielsweise eine Untersuchung mit Calvados begann, setzte er sie mit Calvados fort. So hatte es auch Bier- und Rotweinuntersuchungen gegeben, einmal sogar eine Whiskyuntersuchung.“ (Simenon: Hier irrt Maigret, 185).
- 3.
Simenon: Maigret se trompe, 129. „Es war acht Uhr fünfundzwanzig am Morgen. Maigret stand vom Tisch auf und trank seine letzte Tasse Kaffee. Obwohl es erst November war, brannte Licht. Madame Maigret versuchte, vom Fenster aus die Passanten zu erkennen, die vornübergebeugt, die Hände in den Taschen, zur Arbeit eilten. / ‚Besser, du ziehst deinen warmen Mantel an‘ sagte sie.“ (Simenon: Hier irrt Maigret, 5).
- 4.
Simenon: Maigret et l’homme du banc, 879. „Denn wenn Maigret diesen schweren Schritt hatte, diesen etwas unbestimmten Blick und einen Gesichtsausdruck, den man für schlechte Laune halten konnte, dann wusste jeder bei der Kriminalpolizei, was es zu bedeuten hatte. Man erlaubte sich vielleicht, darüber zu lächeln, allerdings nicht ohne einen gewissen Respekt. Denn früher oder später lief es immer auf dasselbe hinaus: ein Mann – oder eine Frau – gestand ein Verbrechen.“ (Simenon: Maigret und der Mann auf der Bank, 58).
- 5.
Simenon: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien, 12. „[…] visage charnu, comme sculpté dans une glaise compacte à vigoureux coups de pouce“, (Simenon: Le pendu de Saint-Pholien, 365).
- 6.
Simenon: Pietr-le-Letton, 15. „Schon allein Maigrets Anwesenheit im Majestic hatte etwas Feindseliges. Er bildete sozusagen einen Block, den die dort herrschende Atmosphäre nicht in sich aufzunehmen vermochte. […] Sein Körperbau aber war plebejisch. Er war groß, massig und starkknochig. Harte Muskeln zeichneten sich unter dem Jackett ab und zerbeulten schnell auch die neuesten Hosen. […] In der hell erleuchteten Hotelhalle, in der sich die vornehme Welt tummelte und wie aus dem Ei gepellte Menschen zwischen Parfumwolken, schrillem Lachen, Geflüster und formvollendeten Begrüßungen hin und her eilten, war es unmöglich, ihn in seinem dicken schwarzen Mantel mit Samtkragen nicht sofort auszumachen.“ (Simenon: Maigret und Pietr der Lette, 17 f.).
- 7.
Siehe Meyer-Bolzinger: La méthode de Sherlock Holmes, de la clinique à la critique.
- 8.
Simenon: Maigret à New York, 206. „Ich schwimme, Lieutenant. Vermutlich schwimmen wir beide. Der Unterschied ist, dass sie gegen den Strom schwimmen und behaupten, sich in eine bestimmte Richtung fortzubewegen. Während ich mich dem Strom überlasse und nur ab und zu an einem vorbeitreibenden Ast festhalte“ (Simenon: Maigret in New York, 175).
- 9.
Simenon: Pietr-le-Letton, 56. „Maigret war wirklich imposant“ (Simenon: Maigret und Pietr der Lette, 88).
- 10.
Simenon: Le port des brumes, 731. Vgl. Simenon: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän, 105.
- 11.
Simenon: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien, 113. „ […] quelque chose d’implacable, d’inhumain, évoquant un pachyderme en marche vers un but dont rien ne le détournera“ (Simenon: Le pendu de Saint-Pholien, 424).
- 12.
Simenon: Les scrupules de Maigret, 244; vgl. Simenon: Maigret hat Skrupel, 18.
- 13.
Siehe insbesondere die Einführungen von Jacques Dubois und Benoît Denis in die Pléiade-Ausgabe (2003) sowie Meyer-Bolzinger: La méthode de Sherlock Holmes.
- 14.
Simenon: L’ami d’enfance de Maigret, 238. „Bei jeder Ermittlung saugte sich Maigret wie ein Schwamm mit Menschen und Dingen voll, vielen Kleinigkeiten, die er unbewusst in sich aufnahm. Je brummiger er war, desto mehr hatte sich in ihm angesammelt.“ (Simenon: Maigrets Jugendfreund, 199).
- 15.
Simenon: Maigret verliert eine Verehrerin, 44. „[…] les paupières lourdes […], l’air buté“ (Simenon: Cécile est morte, 547).
- 16.
Simenon: Le pendu de Saint-Pholien, 373. „Maigret war in solchen Momenten von verstörender Ruhe. Sein Gesicht hatte dann etwas Starrköpfiges, ja geradezu Dumpfes an sich.“ (Simenon: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien, 25). [Die buchstäbliche Entsprechung von bovin ist „ochsenhaft“; Anm. d. Übers.]
- 17.
Simenon: Maigret et les témoins récalcitrants, 406. „In diesem Sinne witterte er gewissermaßen den Gerüchen der anderen nach. Auch jetzt, während er durch die Straßen ging, die Hände in den Manteltaschen und mit regennassem Gesicht, umgab ihn noch immer die bedrückende Atmosphäre des Hauses am Quai de la Gare.“ (Simenon: Maigret und die widerspenstigen Zeugen, 111).
- 18.
Simenon: Maigret et Monsieur Charles, 910. „Ich bin nicht vorwärtsgekommen. Ich sammle Informationen, die vielleicht etwas bringen oder auch völlig nutzlos sind…“ (Simenon: Maigret und Monsieur Charles, 120).
- 19.
Simenon: Maigret regt sich auf, 72. „[…] air aussi vide de pensée que possible“ (Simenon: Maigret se fâche, 43).
- 20.
Simenon: La colère de Maigret, 282. „In solchen Momenten glaubten die Leute, vor allem seine Mitarbeiter, er konzentriere sich, was jedoch nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein könnte. […] Er nahm einen Gedanken auf, den Bruchteil eines Satzes und sagte ihn vor sich hin wie ein Schüler, der sich etwas einzuprägen versucht.“ (Simenon: Maigret gerät in Wut, 136 f.).
- 21.
Simenon: Maigret et Monsieur Charles, 908. „Weil es jedes Mal eine menschliche Erfahrung ist, die ich dabei mache“ (Simenon: Maigret und Monsieur Charles, 116).
- 22.
Simenon: Maigret et les braves gens, 940. „Er musste sich ein Bild von dem Leben der Menschen machen, sich in sie hineinversetzen, um nachzuempfinden, wie sie lebten“ (Simenon: Maigret und die braven Leute, 121).
- 23.
Simenon: Maigret à Vichy, 947. „Es war vor allem die Geschichte der beiden Schwestern, die ihn auf dem Spaziergang beschäftigte“ (Simenon: Maigret in Kur, 170).
- 24.
„Man würde es nie erfahren“ (Simenon: Maigret und der faule Dieb, 176).
- 25.
Simenon: Maigret und der Weinhändler, 193, 209. „[…] un aîné bienveillant à qui on peut tout dire“; „nous bavardons tranquillement tous les deux” (Simenon: Maigret et le marchand de vin, 479, 487).
- 26.
Simenon: L’homme dans la rue, 466. „Es war eine neue Erfahrung für Maigret: Wie lange dauert es, bis jemand, der gebildet ist, gepflegt, gut gekleidet, allen äußeren Glanz verliert, wenn er sich auf der Straße wiederfindet? Vier Tage! Das wusste Maigret inzwischen.“ (Simenon: Maigret und der Mann auf der Straße, 31).
- 27.
Simenon: Maigret aux Assises, 588. „Auch heute war ihm bewusst, dass er nur ein schematisches, lebloses Bild von der Wirklichkeit vermittelte. Alles stimmte, was er gesagt hatte, aber das Gewicht der Dinge spürbar zu machen, ihre Dichte, ihr Zittern, ihren Geruch, das war ihm nicht gelungen.“ (Simenon: Maigret vor dem Schwurgericht, 35).
Literatur
Texte
Simenon, Georges: Le pendu de Saint-Pholien [1931]. In: Tout Maigret. Bd. 1. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Pietr-le-Letton [1931], In: Tout Maigret. Bd. 1. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Le port des brumes [1932]. In: Tout Maigret. Bd. 2. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: L’homme dans la rue [1940]. In: Tout Maigret. Bd. 10. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Cécile est morte [1942]. In: Tout Maigret. Bd. 3. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret se fâche [1947]. In: Tout Maigret. Bd. 4. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret à New York [1947]. In: Tout Maigret. Bd. 4. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret se trompe [1953]. In: Tout Maigret. Bd. 6. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et l’homme du banc [1953]. In: Tout Maigret. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Les scrupules de Maigret [1958]. In: Tout Maigret. Bd. 7. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et les témoins récalcitrants [1959]. In: Tout Maigret. Bd. 7. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret aux Assises [1960]. In: Tout Maigret. Bd. 7. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et le voleur paresseux [1961]. In: Tout Maigret. Bd. 7. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et les braves gens [1962]. In: Tout Maigret. Bd. 7. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: La colère de Maigret [1963]. In: Tout Maigret. Bd. 8. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: L’ami d’enfance de Maigret [1968]. In: Tout Maigret. Bd. 9. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret à Vichy [1968]. In: Tout Maigret. Bd. 8. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et le marchand de vin [1970]. In: Tout Maigret. Bd. 9. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Maigret et Monsieur Charles [1972]. In: Tout Maigret. Bd. 9. Paris: Omnibus 2007–2008.
Simenon, Georges: Un homme comme un autre [1975]. Paris: Presses de la Cité 1975.
Simenon, Georges: Ein Mensch wie jeder andere. Mein Tonband und ich. Übers. v. Hans Jürgen Solbrig. Zürich: Diogenes 1978.
Simenon, Georges: Maigret und Monsieur Charles. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Svenja Tengs. Zürich: Diogenes 2009.
Simenon, Georges: Maigrets Jugendfreund. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Cornelia Künne. Zürich: Kampa 2018.
Simenon, Georges: Maigret und der Weinhändler. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2019.
Simenon, Georges: Maigret und der Mann auf der Straße. Übers. v. Melanie Walz. Zürich: Kampa 2019.
Simenon, Georges: Maigret und Pietr der Lette. Übers. v. Susanne Röckel. Zürich: Kampa 2019.
Simenon, Georges: Maigret und der Gehängte von Saint-Pholien. Übers. v. Gerhard Meier. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret und der geheimnisvolle Kapitän. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Julia Becker. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret und der Mann auf der Bank. Übers. v. Hansjürgen Will/Barbara Klau/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret und der faule Dieb. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Regina Roßbach. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret und die braven Leute. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret in Kur. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Bärbel Brands. Zürich: Kampa 2020.
Simenon, Georges: Maigret regt sich auf. Übers. v. Rainer Moritz. Zürich: Kampa 2021.
Simenon, Georges: Hier irrt Maigret. Übers. v. Rainer Moritz. Zürich: Kampa 2021.
Simenon, Georges: Maigret verliert eine Verehrerin. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Julia Becker. Zürich: Kampa 2021.
Simenon, Georges: Maigret hat Skrupel. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2021.
Simenon, Georges: Maigret in New York. Übers. v. Bernhard Jolles/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2022.
Simenon, Georges: Maigret und die widerspenstigen Zeugen. Übers. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Heiko Arntz. Zürich: Kampa 2022.
Simenon, Georges: Maigret vor dem Schwurgericht. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Mirjam Madlung. Zürich: Kampa 2022.
Simenon, Georges: Maigret gerät in Wut. Übers. v. Hansjürgen Wille/Barbara Klau/Svenja Tengs. Zürich: Kampa 2022.
Abhandlungen
Meyer-Bolzinger, Dominique: Scène et piste: spatialité du récit d’enquête. In: Y. Calbérac/R. Ludot-Vlasak (Hg.): Textualités et spatialités. Savoirs en prisme Nr. 8 (2018). https://savoirsenprisme.univ-reims.fr/index.php/sep/article/view/181
Meyer-Bolzinger, Dominique: Quelque chose de Simenon chez Modiano. In: Cahiers de l’Herne Nr. 102 (2013), 259–263.
Meyer-Bolzinger, Dominique: Les face à face du commissaire Maigret. Rites et risques de l’enquête. In: Traces Nr. 20 (2012), 45–55. https://hal.archives-ouvertes.fr/hal-01152798
Meyer-Bolzinger, Dominique: La méthode de Sherlock Holmes, de la clinique à la critique. Paris: Campagne Première 2012.
Meyer-Bolzinger, Dominique: Adamsberg fils de Maigret. In: Temps Noir Nr. 15 (2012), 84–99.
Meyer-Bolzinger, Dominique: Les itinéraires parisiens du commissaire Maigret. In: M. Rosemberg (Hg.): Le roman policier. Lieux et itinéraires. Géographie et cultures Nr. 61 (2007), 43–59. https://journals.openedition.org/gc/2603
Meyer-Bolzinger, Dominique: Le commissaire est-il débonnaire? Portrait de Maigret en croquemitaine. In: Temps Noir Nr. 8 (2004), 108–141.
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Meyer-Bolzinger, D. (2024). Maigret: ein experimenteller Kriminalroman. In: Doetsch, H., Nitsch, W. (eds) Simenon. Kriminalität in Literatur und Medien, vol 5. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67990-6_4
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