Schlüsselwörter

1 Palliativversorgung als multiprofessionelle Arbeit

Das grundlegende Paradigma der Palliativversorgung ist der bio-psycho-sozio-spirituelle Ansatz (in Anlehnung an die WHO 2002). Dies bedeutet einerseits, dass sich jede einzelne der an der Palliativversorgung beteiligten Berufsgruppen ganzheitlich in dem Sinne ausrichtet, dass sie immer alle vier der folgenden Dimensionen im Blick behält: die körperliche Ebene ebenso wie die psychische, die soziale ebenso wie die spirituelle. Zu letzterer können „die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung“ gezählt werden (Arbeitskreis Spirituelle Begleitung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin 2007, S. 1). Andererseits heißt das auch, dass alle entsprechenden Berufsgruppen in die Palliativversorgung eingebunden werden sollten, die notwendig sind, um eine Behandlung und Begleitung in allen vier Dimensionen gleichermaßen zu gewährleisten. Sinnvollerweise sind das die Professionen, die als Expert:innen für das jeweilige Gebiet gelten können. Der bio-psycho-sozio-spirituelle Ansatz impliziert somit eine Multiprofessionalität (Gramm et al. 2016).

Ziel aller Beteiligten ist es, die Lebensqualität eines/einer jeden schwer erkrankten Patient:in durch eine Reduktion der Symptomlast sowie durch ein ressourcenorientiertes Vorgehen zu erhalten bzw. zu verbessern. Zudem sind die Angehörigen in allen Phasen des Krankheitsverlaufs einzubeziehen. Auftretende Belastungen sind folglich sowohl bei den Patient:innen als auch bei den Angehörigen zu erkennen und im Behandlungsalltag zu reduzieren. Die Lebensqualität zu verbessern, hat auch mit einer Kultur von Hoffnung zu tun. Je unsicherer eine Lebenssituation sich gestaltet, desto wichtiger ist ein Ort, der Sicherheit und Hoffnung vermittelt. Das Bedürfnis nach einer „haltenden Umwelt“ (Staudacher et al. 2021) ist gerade in einer palliativen Situation ausgeprägt. Um diese zu ermöglichen, kann das Konzept des „Doppelten Bewusstseins“ hilfreich sein.

2 Doppeltes Bewusstsein als Krankheitsverarbeitung

Lebensbedrohlich Erkrankte erleben im Rahmen der Krankheitsverarbeitung ein doppeltes Bewusstsein (engl. Double-Awareness) (Colosimo et al. 2017). Einerseits müssen sie sich auf die gegenwärtige Welt mit den Herausforderungen des aktuellen Lebensalltags einlassen, andererseits auch mit der eigenen Sterblichkeit, mit Verlusten und Abschied befassen. Das Modell des doppelten Bewusstseins postuliert, dass Betroffene flexibel zwischen den „Angelegenheiten des Lebens“ und den „Angelegenheiten des Sterbens“ wechseln können. So können im Behandlungsalltag Momente von Hoffnungslosigkeit wahrgenommen werden, möglicherweise ausgelöst durch eine Symptomlast oder innerpsychische Prozesse, aber auch die Hoffnung, dass vielleicht doch noch ein „Wunder“ geschieht oder sich Wünsche erfüllen lassen. Auch kann es sein, dass von den Erkrankten manchmal Themen mitgeteilt werden, bei denen die Krankheit nicht im Mittelpunkt steht (z. B. Pläne schmieden, Zukunftsträume).

3 Hoffnung als zentraler Aspekt des doppelten Bewusstseins

Das doppelte Bewusstsein ist eng mit Hoffnung verknüpft. So bedeutet Hoffnung u. a. die Fähigkeit zu haben, im Hier und Jetzt zu sein und sich aktiv mit den „Angelegenheiten des Lebens“ und den „Angelegenheiten des Sterbens“ zu beschäftigen. Hoffnung und Hoffnungslosigkeit können die Lebensqualität von schwer erkrankten Patient:innen in allen Phasen der Erkrankung erheblich beeinflussen (Farran et al. 1998). Daher soll im Folgenden genauer auf beide Zustände eingegangen und mögliche Interventionen zur Bewältigung von Hoffnungslosigkeit aufgezeigt werden.

3.1 Hoffnung

Bei Hoffnung handelt es sich um keinen statischen Zustand; sie ist jederzeit veränderbar. Hoffnung kann durch Faktoren wie die Prognose (dazu zählt auch, wie diese vermittelt wurde), die entsprechenden Behandlungsempfehlungen, die Betreuungs-, bzw. Versorgungsqualität, Bezugspersonen und die vom Behandler:innen-Team zu beeinflussende Atmosphäre sowie die Qualität der Kommunikation beeinflusst werden (Renz 2014; Bermeister 2017). Zudem wird Hoffnung durch die Biografie, Werte und Haltungen sowie die Spiritualität der uns anvertrauten Patienten und Patientinnen bedingt. So kann „Hoffnung auf Gegenseitigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen, auf Vertrauen in die eigene Kompetenz, auf die Fähigkeit, Situationen bewältigen zu können, auf psychischer Stabilität, dem Glauben an eine Sinnhaftigkeit des Lebens sowie auf einem Gespür für das noch Mögliche“ beruhen (Miller 2000, S. 523–524). Dies erklärt, warum Hoffnung auch dann weiter bestehen kann, wenn etwa der ersehnte Behandlungserfolg ausbleibt, z. B. eine Symptomkontrolle sich nicht sofort einstellen lässt (Steudter 2021, S. 12).

3.2 Hoffnungslosigkeit

Hoffnungslosigkeit ist ein Zustand, in dem ein Individuum begrenzte oder keine Wahlmöglichkeiten sieht und unfähig ist, Energie für sich selbst zu mobilisieren. Diesem Zustand geht ein Gefühl des Kontrollverlusts oder der Machtlosigkeit voraus, mit der Folge einer Verschlechterung des psychischen und physischen Zustandes (Doenges et al. 2019, S. 525; Fitzgerald-Miller 2003, In: Georg 2021). Merkmale auf physiologischer Ebene können sich in einer Appetitlosigkeit, mangelnder Energie und in Schlafstörungen ausdrücken. Auf der emotionalen Ebene werden ein nicht vorhandenes Sinnempfinden und eine innere Leere beschrieben. Als weiterhin belastend werden ein gedrückter Affekt sowie die Unfähigkeit, Hoffnungsquellen zu finden, beschrieben (ebd.).

4 Umgang mit Hoffnungslosigkeit

Um der Hoffnungslosigkeit in ihrer Vielschichtigkeit zu begegnen, könnten erste Ziele sein, dass Wünsche und Sinnelemente eruiert werden. Vorausschauendes Planen kann auch helfen, damit sich Sicherheit einstellt. So kann „Hoffen und Vorbereiten“ sinnvoll miteinander verbunden werden. Durch ein Wissen bzgl. des Phänomens des doppelten Bewusstseins, das im Kontakt mit Betroffenen umgesetzt wird, indem ein Raum für dieses „Pendeln“ zwischen den „Angelegenheiten des Lebens“ und den „Angelegenheiten des Sterbens“ entsteht, kann sich Hoffnungslosigkeit in Hoffnung verwandeln (Abb. 7.1).

Abb. 7.1
figure 1

Pendeln zwischen Hoffnungslosigkeit und Hoffnung. (Fotografik: Kontakt@annversum.com)

Kenntnisse aus der systemischen Theorie können bei der Umsetzung hilfreich sein. Denn nicht der Einzelne steht mit seiner Erkrankung im Mittelpunkt, sondern ein „ganzes System“ ist daran beteiligt. Werden Erkenntnisse dieserart eruiert und „Räume für inneres Wachstum“ geschaffen, können Potenziale – auch oder gerade am Ende des Lebens – entdeckt werden.

Des Weiteren kann die Würdigung des Lebens einen hoffnungsvollen Prozess darstellen. Aus der Würdeforschung sind Prädiktoren wie krankheits- und sozialbezogene Faktoren für einen empfundenen Würdeverlust bekannt, der im Behandlungsalltag auftreten und durch die Beachtung „würdebewahrender Ressourcen“ kompensiert werden kann (Chochinov et al. 2002). Im Rahmen der sog. Würdetherapie (Hartl et al. 2021) wird dem schwer erkrankten Menschen die Gelegenheit gegeben, einerseits sein zurückliegendes Leben zu würdigen und andererseits für die Bezugspersonen/für die nahen Angehörigen Wünsche auszusprechen. Dies geschieht durch eine empathische Haltung der Interviewer:in, die die Persönlichkeit des Betroffenen unbedingt berücksichtigt. Das Anfertigen einer Hinterlassenschaft kann nicht nur das Würdeempfinden des Interviewten steigern, sondern auch die Personen, für die das Dokument vorgesehen ist, berichten von positiven Auswirkungen (Mai et al. 2018). Damit dies gelingt, sind Erfahrung des Interviewenden in der Gesprächsführung während des Interviews notwendig, aber auch Regeln des Transkribierens und Editierens müssen gelernt werden.

5 Implikationen für den klinischen Alltag

Unter Berücksichtigung des psychologischen Konzepts des doppelten Bewusstseins ist es schwierig und auch fragwürdig, von gelungener oder nicht gelungener Krankheitsverarbeitung zu sprechen. Es geht vielmehr darum wahrzunehmen, wo der/die Patient:in sich innerpsychisch gerade befindet – wo sozusagen das „Pendel“ zum aktuellen Zeitpunkt steht und ihm beide Seiten des geteilten Bewusstseins zu erlauben. Hierbei kann Achtsamkeit hilfreich sein.

Achtsamkeit als Voraussetzung für die Wahrnehmung von doppeltem Bewusstsein

Achtsamkeit im Patientenkontakt bedeutet, aufmerksam im „Hier und Jetzt“ zu sein und vorurteilsfrei wahrzunehmen, was der/die zu behandelnde Patient:in gerade wahrnimmt (Kabat-Zinn 2013). Die Kunst der Begleitung bzw. der Kommunikation besteht darin, mit der/dem Patient:in dort zu verweilen, wo sie/er gerade ist. Dies kann sich beispielsweise in der Nachfrage widerspiegeln, was mit der Aussage gemeint sein könnte, dass „es nicht mehr lange geht“ oder „die Freude groß ist, wenn er oder sie an die Schiffsreise“ denkt. Hierzu gehört auch, die Hoffnung der/des Patient:in wahrzunehmen und empathisch darauf zu reagieren (Staudacher et al. 2021). Die Befürchtung, durch dieses Verhalten der/dem Patient:in unrealistische Hoffnungen in Bezug auf seine Erkrankung zu vermitteln, bestätigt sich in der Praxis nicht. Im Klinikalltag können vorgefertigte Kommunikationsstandards oder durch im Vorfeld bereits vorbereitete Handlungen die Arbeit zwar erleichtern, jedoch auch die uneingeschränkte, achtsame Wahrnehmung der Patient:innen erschweren. Um den/die Patient:in wirklich zu verstehen, ist es daher unabdingbar, diese zunächst „hintan“zustellen und nichts Anderes zu wollen, als zu verstehen. Die Offenheit und das der/dem Patient:in dadurch geschenkte Vertrauen ermöglichen es ihr/ihm wiederum, sich „hoffend fremden Händen anzuvertrauen“ (Staudacher 2021).

Auch kann die Praxis der Achtsamkeit den schwer erkrankten Menschen selbst helfen, mehr im Augenblick zu verweilen und im „Moment zu leben“. Da es sich bei Achtsamkeit um eine allgemeine menschliche Fähigkeit handelt, kann diese z. B. durch Meditation und durch achtsamkeitsbasiertes Yoga geschult werden – indem der/die Patient:in angeleitet wird, bestimmte Körperregionen wahrzunehmen, dort zu verweilen, ohne zu urteilen.: „Der Körper hat seine eigene Art des Wissens, ein Wissen, das wenig mit Logik zu tun hat und viel mit Wahrheit, wenig mit Kontrolle und viel mit Akzeptanz“ (Sewell 2010, In: Lehrhaupt, S. 90).

Ferner kann die Anleitung und das Üben einer achtsamen Atmung (kann auch bei starker Atemnot in Form einer Visualisierungsübung eingebaut werden, z. B. das Vorstellen eines Bildes, welches Weite empfinden lässt) den Patient:innen als Anker im Hier und Jetzt dienen – ist das Bedürfnis nach Halt doch, wie eingangs beschrieben, für schwer kranke Menschen essenziell. Zudem kann der Zugang zu „Mindfulness-Based-Stress-Reduction-Interventionen“ (MBSR) (Kabat-Zinn 2013) den Betroffenen helfen, den Augenblick, den Atemfluss oder den Körper achtsam wahrzunehmen und sich so eine Auszeit von belastenden Gedanken zu nehmen.

6 Trauerprozess verändert

Auch für Angehörige kann die Kenntnis des Konzepts des doppelten Bewusstseins hilfreich sein. So hilft es ihnen dabei, Äußerungen der Patient:innen in Hinblick auf z. B. Zukunftspläne besser einzuordnen – insofern, als dies vor dem Hintergrund des doppelten Bewusstseins nicht als Zeichen mangelnder Krankheitsbewältigung aufgefasst wird und es somit nicht erforderlich ist, auf den/die Patient:innen einzuwirken. Dies kann eine große Entlastung sein. Zudem lassen aktuelle Forschungsergebnisse vermuten (Jentschke et al. 2024), dass die Kommunikation der Behandler:innen mit den Angehörigen deren Trauerprozess positiv beeinflussen kann. Diesbezüglich wünschen sich Angehörige, dass Ärzt:innen, Therapeut:innen und das Pflegepersonal ihnen keine unrealistische Hoffnung machen, ihnen diese jedoch auch nicht nehmen sollen. Auch hierbei kann ein achtsames Wahrnehmen, auf welcher Seite das Pendel des Angehörigen sich gerade befindet, unterstützen. Nicht zuletzt wird das Phänomen des doppelten Bewusstseins auch von Angehörigen berichtet: „Ich habe gemerkt, dass der Sterbeprozess eingesetzt hat und gleichzeitig gehofft, dass mein Partner sich einfach nur ausruhen muss“. Das beispielhafte Zitat zeigt, dass das doppelte Bewusstsein auch Angehörigen eine Auszeit von den „Angelegenheiten des Sterbens“ und auftretenden belastenden Gefühlen ermöglichen kann.

7 Zusammenfassung

  • Das doppelte Bewusstsein bei schwer kranken Menschen bedeutet, sich im einen Moment auf die gegenwärtige Welt („Angelegenheiten des Lebens“) einzulassen und im anderen Moment mit der eigenen Endlichkeit zu befassen („Angelegenheiten des Sterbens“).

  • Hoffnung ist wichtig für die Lebensqualität der Erkrankten und eng mit dem doppelten Bewusstsein verknüpft.

  • Hoffnung kann über die Hoffnung auf Heilung hinausgehen und daher auch dann existieren, wenn der erwünschte Behandlungserfolg ausbleibt.

  • Achtsamkeit kann Betroffene darin unterstützen, ihre Hoffnung auf das Hier und Jetzt zu richten und Halt zu finden.

  • Eine achtsame Haltung kann Behandlern helfen zu erkennen, auf welcher Seite sich die Erkrankten gerade befinden, um daran anzuknüpfen.

  • Das doppelte Bewusstsein kann den Trauerprozess von Angehörigen positiv beeinflussen.