Schlüsselwörter

1 Einleitung

Auch wenn viele Menschen den Bezug zur verfassten Religiosität verloren haben, so können sie dennoch „gläubig“ sein. In ihrem Leben hat der Glaube an Gott vielleicht einmal eine Rolle gespielt, aber sie haben diesen – aus vielen Gründen – verloren. Oft sind es Enttäuschungsgeschichten, die hier eine Rolle spielen. Aber auch religiöse Menschen, die sich immer noch als gläubig einschätzen und nach Gott (oder dem für sie Heiligen) in ihrem Leben suchen, machen die Erfahrung, dass „Gott als Hoffnungsinstanz auf ihre Gebete nicht zu reagieren scheint, dass Gott ihnen fern ist, wie sehr sie sich auch um Ihn bemühen, und dass sie sich von Gott, auf den sie ihr Vertrauen gesetzt haben, sogar ganz und gar verlassen fühlen“ (Büssing 2022) (Abb. 39.1).

Abb. 39.1
figure 1

Grundempfindungen als Indikatoren Geistlicher Trockenheit

Dieses Empfinden, für das es in der theologischen Literatur viele Umschreibungen gibt (Bäumer und Plattig 2010), kann man als Geistliche Trockenheit bezeichnen (Büssing und Dienberg 2019, 2021). Es ist kausal verwandt mit der Acedia, die bereits von den ägyptischen Wüstenvätern des 4. Jahrhunderts als Motivations- und Sinnverlust bzw. gelangweilte Nachlässigkeit im geistlichen Leben beschrieben wurde (Pontikos 2007; Höffner 2019). Das komplexe Erleben zeigt eine deutliche Schnittmenge mit depressiver Gestimmtheit (Büssing et al. 2016, 2017; Durà-Vilà 2017; Maas et al. 2021; Rühs et al., 2023).

2 Das Erleben von Phasen Geistlicher Trockenheit

Phasen Geistlicher Trockenheit, die mit der Spiritual Dryness Scale (SDS) erfasst werden können (Büssing et al. 2013), lassen sich empirisch mit unterschiedlicher Intensität und Bedeutung in verschiedenen Personengruppen differenzieren (Büssing 2022). Das gilt nicht nur bei älteren Christen (Büssing et al. 2016, 2017, 2021a) und Muslimen (Büssing et al. 2021b; Farahani et al. 2022), sondern auch bei jungen Erwachsenen (Büssing et al. 2022a). Der Anteil derjenigen, die dieses Erleben häufig oder sogar regelmäßig haben, auch unabhängig von Krankheit, beträgt zwischen 12–16 % (Büssing 2022). Jedoch sind es nur wenige der bisher Befragten, die sich von Gott „ganz und gar verlassen“ fühlen (2 %); die Dunkelziffer könnte jedoch höher sein, da entsprechende Personen möglicherweise nicht mehr im Sample der Antwortenden enthalten sind. Bei Patient:innen mit depressiven und Suchterkrankungen ist der Anteil mit 29 % deutlich höher, die häufig oder sogar regelmäßig entsprechend empfinden (Maas et al. 2021; Rühs et al., 2023). Geschlechts-assoziierte Unterschiede zeigten sich nicht, aber Jüngere scheinen dies häufiger zu erleben als Ältere (Büssing 2022). Letztere haben vermutlich im Laufe ihres Lebens Strategien gefunden, um damit umgehen zu können.

Als Auslöser dieses Erlebens findet sich in empirischen Studien ein geringes Erleben des Heiligen im Alltag und eine geringe Lebensstimmigkeit (im Sinne des Kohärenzempfindens) einerseits und eine depressive Symptomatik sowie emotionale und spirituelle Erschöpfung andererseits (Büssing 2022). Hierbei ist man oft auch im Gebetsleben eher passiv und ohne innere Anteilnahme, da es nicht mehr als sinn- und bedeutungsvoll erlebt wird (Büssing 2021). In qualitativen Interviews ließen sich zudem fünf Hauptkategorien der Auslöser differenzieren: 1) Verlust der Beziehung zu Gott; 2) Verlust der Orientierung im Leben; 3) Verlust der Tiefe; 4) Schwierigkeiten mit anderen, 5) Intrinsische Faktoren (inkl. Überforderung, depressive Erschöpfung) (Büssing et al. 2020). In diesen Interviews mit Ordensleuten wurden ebenfalls schwere Erkrankungen und Enttäuschungen im Leben als Auslöser thematisiert.

Legt man für eine Differenzierung des unterschiedlichen Erlebens der Geistlichen Trockenheit die Metaphorik des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz (1542–1591) zugrunde (Johannes von Kreuz, 2013), dann kann man zwei Polaritäten unterscheiden: Die Dunkle Nacht der Seele, bei der die Erwartung des neuen Morgens noch vorhanden ist, also Hoffnung auf eine Änderung und Nähe zu Gott, und die (depressive) Verfinsterung, bei der nichts mehr erwartet wird und keine Sehnsucht nach dem Heiligen mehr vorhanden ist – und diese auch egal geworden ist (Büssing 2021). Der differenzierende Zusammenhang von Sehnsucht nach Gott und dem Erleben Geistlicher Trockenheit lässt sich auch empirisch aufzeigen (Büssing 2021). Diese Sehnsucht wird zwar oft ein unerfülltes Sehnen nach unbedingter Geborgenheit in Gott, in dem alles zur Ruhe kommt, bleiben, aber genau diese kann eine Hoffnungsperspektive sein, die die Trauer über das „Noch-nicht“ nicht ausblendet.

3 Spiritual Distress

In schwierigen Lebenssituation, nicht mehr beherrschbarer Krankheit und anhaltendem Leiderleben erleben Menschen in der Tat oft Gefühle von Wut oder Hoffnungslosigkeit, Depressivität und Ängstlichkeit, Schuld und Wertlosigkeit und sie stellen Fragen nach dem „Warum“ und auch nach dem Sinn des Lebens und des Leidens (Bhatnagar et al. 2017; Nolan et al. 2020). Wenn sich manche dabei auch von Gott verlassen fühlen und an ihren Glauben zweifeln, der in ihrem Leben bisher von Bedeutung war und nun auf die Probe gestellt wird, dann sind das Hinweise auf Spiritual Distress, wie er nicht nur in der palliativen Situation zu beobachten ist (Crossroads 2018; Caldeira et al., 2013; Delgado-Guay et al. 2021). Viele suchen dann nach spirituellem Halt und Begleitung, während sich andere enttäuscht von Gott und ihrem Glauben abwenden. Auch für den Spiritual Distress ist eine Schnittmenge mit depressiver Gestimmtheit offensichtlich. Das komplexe Erleben des Spiritual Distress bzw. des Fehlens von spirituellem Wohlbefinden kann dann mit dem Wunsch nach einem raschen Tod insbesondere bei Patient:innen am Lebensende assoziiert sein (McClain et al. 2003; Rodin et al. 2009). Bei chronisch Kranken scheint der Spiritual Distress jedoch unabhängig von dem Level der Gläubigkeit zu sein und ist eher mit der Schwere der Erkrankung assoziiert (Klimasiński et al. 2022).

Auch unabhängig von chronischer Krankheit und Leiderfahrungen können Menschen mit ihrem Glauben hadern und diesen sogar ganz verlieren. Die Gründe sind komplex. Exline et al. (2014) differenzierte sechs Bereiche spiritueller Auseinandersetzungen („Struggles“), die sich negativ auf das Befinden auswirken können:

  1. 1.

    Göttlich (negative Emotionen in Bezug zum Glauben oder in der Beziehung auf Gott),

  2. 2.

    Dämonisch („dämonisches“ Wirken als Ursache negativer Lebensereignisse),

  3. 3.

    Zwischenmenschlich (negative Erfahrungen oder Konflikte mit religiösen Menschen und Institutionen),

  4. 4.

    Moralisch (Schwierigkeiten, den moralischen Prinzipien zu folgen; Trauer oder Schuldgefühle aufgrund eigenen Verhaltens),

  5. 5.

    Zweifel (in Bezug auf die eigenen Glaubensüberzeugungen) und

  6. 6.

    Ultimativer Sinn (Zweifel am tiefen Sinn des eigenen Lebens).

Diese „dunkle und belastende Seite“ der Spiritualität wird gerne ausgeblendet, und spirituelle Krisen finden in der klinischen Praxis nicht immer die Beachtung, derer sie bedürfen (Pargament et al. 2005; Hofmann und Heise 2017). In bestimmten Situationen überwiegen negative Gefühle gegenüber Gott, der sich abgewendet zu haben scheint oder als „bestrafend“ erlebt wird – was zum negativen religiösen Coping gehört und das psychische Befinden beeinträchtigt (Pargament et al. 2001).

Die Art und Weise, wie die eigene Krankheit erlebt wird, als etwas „Herausforderndes“ oder als etwas Negatives im Sinne einer Bestrafung (extrinsisch), eines Versagens (intrinsisch), einer äußeren Bedrohung (extrinsisch) oder allgemein als „nachteilige Unterbrechung des Lebens“, ist ebenfalls bedeutsam. Hier zeigt sich ein bedeutsamer positiver Zusammenhang zwischen Geistlicher Trockenheit und diesen negativen Empfindungen in Bezug auf die eigene Erkrankung (Maas et al. 2021). Das heißt: Je stärker diese negativen Sichtweisen der eigenen Lebenssituation ausgeprägt sind, desto häufiger wird auch Geistliche Trockenheit empfunden.

4 Aufgabe der Seelsorge

Dieses Erleben wird vermutlich die Kompetenzen und den Kernauftrag von Ärzt:innen, Pflegenden und Psycholog:innen übersteigen. Sie sind aber dafür zu sensibilisieren, dass es dieses Erleben gibt, dass es die Betroffenen belastet und ihnen hierbei geholfen werden muss.

Daher ist es die Aufgabe der Seelsorgenden, die das Erleben auch als „Dunkle Nacht der Seele“ oder „Trostlosigkeit“ (desolación) kennen, dieses aufgrund ihrer theologischen Expertise einzuordnen (auch im Sinne der ignatianischen „Unterscheidung der Geister“) und mithilfe von psychiatrischen Fachärzt:innen von einer Depression abzugrenzen. Nicht jede Depression geht mit Geistlicher Trockenheit einher und nicht jede Geistliche Trockenheit ist eine Depression. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit chronischer Krankheit und Leid kann sich das Erleben eines scheinbar am Leben des Betroffenen desinteressierten Gottes einstellen, der auf Gebete um Hilfe nicht reagiert, was die Situation zusätzlich verschärfen kann. Hier bedarf es der interdisziplinären Begleitung durch Psycholog:innen und Seelsorger:innen, da nicht alle Betroffenen von selbst geeignete Strategien finden, um mit dem Erleben umgehen und dieses einordnen zu können. In bisherige Untersuchungen fanden 28 % nur manchmal hilfreiche Strategien im Umgang mit Geistlicher Trockenheit und 15 % selten oder auch gar nicht (Büssing 2021).

Da Glaubenszweifel und negative Empfindungen gegenüber Gott von religiösen Menschen oft als „falsch“ angesehen werden (Exline et al. 2012) und zu einer Selbst- oder Fremdstigmatisierung führen können (Exline und Grubbs 2011), wird über dieses Erleben selten gesprochen. Manchen schämen sich, darüber zu sprechen oder finden keine Ansprechpartner, die ihnen hier weiterhelfen könnten (Leibold 2019). Dementsprechend wird auch selten professionelle Hilfe im Umgang mit diesem Empfinden gesucht. Aber „religiöse Sprachlosigkeit“ ist auch innerhalb der Kirche und in Ordensgemeinschaften zu finden (Leibold 2019). In einer aktuellen Untersuchung mit 332 gesunden, aber sich im kirchlichen Kontext eher ausgegrenzt empfindenden Personen (Altersmittel 43 ± 16 Jahre), fällt es 26 % in Bezug auf ihr Erleben von Geistlicher Trockenheit häufig bis regelmäßig schwer, über dieses Empfinden zu sprechen, und 27 % fällt das manchmal schwer; für 46 % trifft das gar nicht oder nur selten zu (Büssing & Roser, in Vorbereitung 2024). Die Religionszugehörigkeit spielt hier keine Rolle. Jedoch hängt diese Sprachunfähigkeit signifikant mit einer geringen Lebenszufriedenheit (r = −0,35) und einem als gering empfundenem Sinn im Leben zusammen (r = −0,35), deutlich schwächer auch mit geringem psychologischem Wohlbefinden (r = −0,22). Das heißt: Die Auslöser und Verstärker dieser besonderen Form einer spirituellen Krise gehen außerdem mit der Sprachunfähigkeit für das Erleben von Phasen geistlicher Trockenheit einher.

5 Schlussfolgerungen

Übertragen auf die palliative Situation, in der die Lebenszufriedenheit eher gering und das körperliche und emotionale Befinden eingeschränkt ist und das eigene Leben mitunter als sinnlos empfunden wird und innere Konflikte noch der Lösung bedürfen, bedeutet das, dass die horizontalen Belastungen auch mit einer vertikalen Belastung einhergehen können, sodass es einer Begleitung bedarf, bei der Vertrauen hergestellt werden muss, dass auch über dieses Erleben gesprochen werden kann. Hierbei steht das nicht wertende Zuhören im Vordergrund. Pflegenden und Ärzt:innen kommt eine wahrnehmende Bedeutung zu und Seelsorgenden die professionelle Begleitung.

Es kann zur Entlastung beitragen, dass dieses Empfinden nicht notwendigerweise Ausdruck des Versagens oder von Schuld und Schwäche ist, sondern viele andere auch betrifft, inkl. der Propheten und Heiligen aus den Religionstraditionen (Büssing und Dienberg 2019, 2021). Deutlich klingt in der palliativen Situation auch die Theodizee-Frage an: „Warum, Gott?“ Die Biografien der Heiligen sind voll von diesen Beschreibungen der Unsicherheit, des Zweifels und der Anfechtungen. Auch der biblische Psalmbeter kannte diese Empfindungen, die auch Jesus am Kreuz in den Mund gelegt wurden: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Mein Gott, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort; ich rufe bei Nacht und finde doch keine Ruhe.“ (Psalm, 22,2-3).

Eine leichte Antwort gibt es nicht. Der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) schrieb 1943 aus dem Gefängnis: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ (Bonhoeffer 2002). Aber genau an diesem Vertrauen mangelt es ja vielen in der Situation - und das wird dann als „Verlassenheit“ wahrgenommen. Vielleicht ist es dann tröstlich, als Begleitende einfach nur da und mit zu sein. Stellvertretend für das, was vermisst wird.