Schlüsselwörter

1 Einleitung

In einer Zeit und Welt der zunehmenden Pluralisierung und Fragmentierung mit einer fortschreitenden Globalisierung und schwer zu verarbeitenden Informationsvielfalt ist es kein Zufall, dass die Suche nach Sinn, die untrennbar mit Spiritualität verbunden ist, neu akzentuiert wird. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen, danach, hinter der Entwicklung der Welt so etwas wie einen „schöpferischen Plan“ zu vermuten, der auch all dem Irrationalen und Unverstehbaren einen Sinn abgewinnt, stellt einen Beweggrund dar, sich mit Fragen der Spiritualität zu beschäftigen. Gleiches gilt auch für den Einsatz, sein Leben in den Dienst von anderen Werten als der bloßen Anhäufung von materiellem Reichtum zu stellen, der eine Motivation sein kann, sich mit der eigenen spirituellen Ausrichtung zu beschäftigen.

So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass es in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Anstieg an Studien gegeben hat, die sich mit Spiritualität beschäftigen und i. d. R. einen positiven Einfluss von Spiritualität auch in der Bewältigung von Krankheiten und zur Wiederherstellung von physischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden allgemein nachweisen (Koenig 2012). Spiritualität hat so u. a. Einzug erhalten in die allgemeine Copingforschung, die Psychologie, die Pflegewissenschaft oder einzelne medizinische Felder, wie die Kardiologie.

Eine der drängendsten und zugleich folgenreichsten Herausforderungen in der Beschäftigung mit Spiritualität ist jedoch die fehlende bzw. sehr unterschiedlich ausgestaltete Definition von Spiritualität. In diesem Beitrag wird daher auf der Basis einer (religions-)philosophischen Begriffsanalyse des Spiritualitätsverständnisses im gesundheitsbezogenen Kontext und mit Rückgriff auf anthropologische Ansätze versucht, eine Klärung zu leisten. Vorweggenommen wird Spiritualität dabei auf der Basis eines non-dualistischen Menschenbildes universalistisch verstanden im Leib-Körper bzw. Verkörperungsdiskurs verortet und zugleich in seiner konkreten Ausgestaltung als partikular und subjektiv begriffen, da sie sich aus den Elementen der Erfahrung, der Deutung und der Praxis zusammensetzt. Auf dieser Grundlage werden dann Bezugspunkte zur gesundheitsbezogenen Versorgung abgeleitet und dabei der Frage nachgegangen, inwiefern Spiritualität auch in Medizin, Pflege und Therapie alle angehen sollte und eben nicht Aufgabe bzw. Zuständigkeit von Einzelnen ist. Der Beitrag verfolgt somit die Zielsetzung, sowohl konzeptionell Hilfe zur Klärung von Spiritualität und ihren Konstituenten zu leisten als auch für die sich daraus ergebenden Konsequenzen zur Rolle und Relevanz von Spiritualität in medizinischer Versorgung zu sensibilisieren.

2 Anthropologische Dimensionen von Spiritualität

Um der Frage nachzugehen, inwiefern Spiritualität auch in der gesundheitsbezogenen Versorgung Aufgabe und Anliegen aller ist, gilt es zuerst, die Frage zu klären, ob jeder Mensch denn auch spirituell ist. Damit befindet man sich mittendrin in Fragen der Anthropologie. Anthropologische Deutungen und die Bestimmung von Merkmalen, die den Menschen ausmachen und kennzeichnen, sind dabei natürlich vielfältig und haben bekanntermaßen eine lange Tradition in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Auch die Frage nach dem Stellenwert von Religion bzw. Spiritualität in diesem Zusammenhang ist nicht neu: Insbesondere in den letzten Jahrzehnten haben religionsphilosophische Theorien an Einfluss gewonnen, die die Unmittelbarkeit und Subjektivität religiöser bzw. spiritueller Erfahrungen als anthropologische Dimension und den Ursprung von Religion bzw. Spiritualität betonen. So beschreibt etwa einer der wohl einflussreichsten Theoretiker, der Psychologe und Philosoph William James, religiöse Erfahrungen als ein konkretes, intuitives und spontan auftretendes Gefühl, das mit der Gewissheit von der Existenz einer Transzendenz, von einem „Mehr“ als das, was der Mensch ist, einhergeht (James 1997). Auf der Theorie von James aufbauend beschreibt auch der Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor die Vorstellung einer „persönlichen Religion“, die sowohl Haltung, Gefühl als auch auf diesem Gefühl aufbauende Entscheidung ist (Taylor 2002) – Ansätze, die auch für das Verständnis von Spiritualität von Bedeutung sind.

Mit dem Rekurs auf die Definition des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher von Religion als „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ lassen sich dabei Religiosität bzw. Spiritualität und Subjektivität eng verknüpft und die konstitutive Relevanz von Erfahrungen des Einzelnen betonen. Hier sind es nicht mehr Konvention, Tradition oder soziokulturelle Prägung, die über die Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution entscheiden, sondern die auf der je eigenen Erfahrung basierende Zustimmung oder Ablehnung für oder gegen eine Religion, dich sich in der individuellen Spiritualität ausdrückt.

Bei allen konzeptionellen Schwierigkeiten, die diese religionsphilosophischen Theorien zum Ursprung von Religion in religiösen Erfahrungen und einem entsprechend aufkommenden Gefühl mit sich bringen, scheinen sie hinsichtlich der anthropologischen Verortung von Spiritualität jedoch einen wichtigen Beitrag zu leisten. So sind religiöse Erfahrungen wie jede andere Art der Erfahrung nicht unmittelbar und allen diskursiven Praktiken vorausgehend, sondern immer als Erfahrung von „etwas“ intentional und in Deutungsmuster und Konstruktionen verstrickt (Wendel 2006). In diesem Sinne sind auch religiöse Erfahrungen in einem bestimmten Deutungskontext und in soziokulturelle Traditionen und Prägungen eingebunden, die eine Erfahrung als eine des Religiösen bestimmen. Während Religiosität sich demnach durch eine affektive aber zugleich auch inhaltliche, materiale Dimension bestimmt, was sich auch im Diskurs um die Unterscheidung von faith und belief als Konstituenten religiöser Überzeugungen wiederfindet (Wendel 2017), verweist der Bezug auf die Erfahrungsdimension religiöser Überzeugungen darüber hinaus auf einen der anthropologischen Bezugspunkte von Spiritualität als den „Ort“ des eigenleiblichen Erlebens.

2.1 Dimension affektiven eigenleiblichen Erlebens

Spiritualität ist weder vergeistigte Weltflucht noch verklärte Selbstaufgabe, sondern hat ihren „Sitz im Leben“ in der leiblichen Verfasstheit des Menschen selbst und kommt im Selbstbewusstsein auf. Dieses wird im Anschluss an die Bewusstseinstheorien des deutschen Philosophen Dieter Henrich nicht als reflexiver Akt, sondern als eine präreflexive Vertrautheit mit sich verstanden, die jeder Reflexion des Ich auf sich selbst vorausgeht (vgl. Henrich 2007). In einem solchen präreflexiven, nicht-intentionalen Sich-Selbst-Spüren wird der Mensch sich seiner selbst gewahr als ein Jemand und nicht als ein Etwas, dessen Grund im Letzten jedoch unverfügbar bleibt (Wendel 2002). Selbstbewusstsein vollzieht sich als ein spürendes Erleben seiner selbst im Modus der eigenen Leiblichkeit in Form eines affektiven Betroffenseins. In Gestalt dieses affektiven Betroffenseins ist es somit das eigene Selbst, das einen ergreift, da man diese „Ergriffenheit nicht an sich ablaufen lassen und sich heraushalten [kann], sondern [man] […] sich selbst in sie verstrickt und hineingezogen“ (Schmitz 1999, S. 140) erlebt.

In diesem Sinne stellen Leibesphänomenologie und Subjektivitätsdiskurs zwei sich untrennbar aufeinander beziehende Diskurse dar. Das, was Subjektivität ausmacht, der „Wirklichkeitsgehalt der [leiblichen; A.S.] Betroffenheit“ (Rappe 2012, S. 53), vermittelt dem Subjekt eine Seinsgewissheit und das Gefühl der Tatsächlichkeit. Diese Form der Subjektivität ist die ureigenste Seins-Art, die nicht künstlich hergestellt oder erworben werden kann und in der ein Moment der „vermittelten Unmittelbarkeit“ (Herzog 1997, S. 69) leibhaftigen Daseins erfahrbar wird. Aufgrund dieser unhintergehbaren Dimension der leiblichen Verfasstheit des Menschen nimmt auch jede epistemische Welterkenntnis des Subjekts in der eigenen Leiblichkeit ihren Ausgang und die „leibliche Existenz des Menschen [ist] Ausgangspunkt alles Fragens, Reflektierens und dann auch Transzendierens“ (Orth 2009, S. 13). Husserl redet mit Blick auf den Leib daher auch vom „Nullpunkt“ der Orientierung, Plessner vom „absoluten Ort“ und „Hierpunkt“, von dem aus die Welt wahrgenommen und strukturiert wird, und Merleau-Ponty vom Leib als „Angelpunkt der Welt“.

Der Leib ist jedoch nicht nur Möglichkeitsbedingung der Selbsterfahrung, sondern eingelassen in die Welt als Teil der Welt und lässt mittels körperlicher Erfahrungen das In-der-Welt-Sein bewusst werden. Als Teil der Welt ist der Körper mehr als ein bloßes Rezeptionsorgan, sondern aktiv an der Auseinandersetzung mit der Welt beteiligt, und stellt im Verhältnis des Menschen zur Welt durch eben gerade seine leiblich-körperliche Verfasstheit die materiale Schnittstelle dar.

2.2 Dimension reflexiver Deutung des In-der-Welt-Seins

Damit ist jedoch auch bereits der zweite wichtig erscheinende anthropologische Bezugspunkt für Spiritualität benannt: die menschliche Deutungs- und Selbstgestaltungsmöglichkeit. So lässt sich der Mensch nicht nur auf die faktische Grundlage des Daseins und dessen Erleben reduzieren, sondern besitzt die Möglichkeit, das Leben bewusst und aktiv mitzugestalten. Voraussetzung dafür ist die Fähigkeit, zu sich selbst in Distanz treten zu können, sprich die eigene Fähigkeit der (Selbst-)Objektivierung und (Selbst-)Transzendierung. Anthropologisch zeichnet den Menschen durch seine exzentrische Positionalität somit ein Moment der Selbstreflexivität aus, der es ihm ermöglicht, sich sowohl zu sich und allem, was ihm begegnet, zu verhalten als auch im Sinne der Grenzüberschreitung existenzielle, spirituelle Fragen der Selbst- und Weltbestimmung nach dem Woher, Wozu, Wohin oder Warum zu stellen, ohne dabei dualistisch oder reduktionistisch zwischen leiblicher Existenz und Reflexivität zu differenzieren (Frick 2014a). Durch das Verhältnis, in dem Leib und Umwelt zueinander stehen, ist der Mensch „[w]eder […] nur das Resultat von Faktoren, die über ihn verfügen, noch ist der Mensch abstrakte Freiheit. Sondern der Möglichkeitsraum des Menschen, sich frei zu sich verhalten zu können, sich eine identifizierbare Identität in der bestimmten Wahl alternativer Möglichkeiten zu geben und in dieser Wahl von Möglichkeiten sich selbst als denjenigen oder diejenige zu wählen, der oder die so und nicht anders sein will, der oder die dieses Selbst und kein anderes sein will, ist eröffnet durch den Faktorraum, in dem der Mensch sich vorfindet“ (Striet 2009, S. 134 f). Als Interpretation und (Selbst-)Konstruktion dieses Sinns von Sein ist es somit das Moment der Selbstreflexivität, der das je eigene Selbst- und Weltverständnis konstituiert. Existentialistisch formuliert ist es die Existenz als Dasein, die der Essenz des So-Seins vorausgeht. Der Mensch ist somit ein Wesen, das erfahrbar im Modus der präreflexiven Vertrautheit mit sich existiert, bevor es durch irgendwelche Begriffe und (Selbst-)Zuschreibungen definiert wird.

Den Menschen zeichnet sowohl ein Selbstbewusstsein als präreflexives, affektives Existieren als auch das Wissen aus, dass man als Ich ist und vielmehr nicht. So erfährt der Mensch in sich „zwei Elemente, ein […] Sichselbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein, und ein Irgendwiegewordensein“ (zitiert nach Wendel 2006, S. 33). Die mit dem Menschsein einhergehende Deutungsoffenheit des eigenen Lebens und die Notwendigkeit der (Selbst-)Konstruktion von Sinn, zeichnen den Menschen somit ebenso aus, wie die sich daraus ableitende subjektive Konzeptualisierung von Selbst- und Weltverständnis und des je eigenen Relationsverhältnisses der beiden zueinander. In der Frage nach einer anthropologischen Grundlegung von Spiritualität als Haltung, Tun und Lebensvollzug wird somit die prinzipielle Frage nach der menschlichen Natur virulent, wobei sich zeigt, dass der Mensch nicht ausschließlich durch seine biologische Konstitution bestimmt ist, sondern „in einer eigentümlichen Differenz zu sich selbst existiert, wodurch ihm die Möglichkeit, aber eben auch die Notwendigkeit entsteht, seine Existenz zu gestalten“ (Striet 2009, S. 134). Durch die Fähigkeit der Selbstdistanzierung erfährt der Mensch sich weder als gänzlich unverfügbar noch als grenzenlos verfügbar, sodass die Wechselwirkung der vita activa und vita passiva zum Vorschein tritt. Dabei existieren die konstitutionellen Bedingungen realen Freiseins und die Möglichkeiten zur freien Selbstbestimmung der je eigenen Essenz nie abstrakt, sondern immer bezogen auf die je eigene konkrete Existenz, die sich im Laufe eines Lebens prozesshaft entwickelt. Die je eigene Identität und somit auch Spiritualität ist also „nicht a priori vorgegeben […], sondern [konstruiert] sich erst im und durch den Verlauf der Geschichte – bei der man sowohl als aktiver als auch als passiver Akteur involviert ist“ (Bozzaro 2014, S. 36).

2.3 Dimension moralischer Performanz

Derartig anthropologisch grundgelegt ist Spiritualität der Ausdruck und Prozess des je eigenen Selbsterlebens, -deutens und -gestaltens. Sie ist damit jedoch nicht (nur) ein ontologisches oder epistemisches Thema, sondern ein zutiefst moralisches. So kommt es einhergehend mit der Beantwortung der existenziellen Fragen nach dem Woher und Wohin, also nach dem Sinn von Leben und Sein, auch zu Fragen nach dem Sinn im Leben, also der Frage danach, was für ein Mensch man ist bzw. wie man als Mensch ist. Basierend auf der je eigenen Selbst- und Weltdeutung leitet sich die praktische Frage nach dem Wie des Lebens einhergehend mit der je eigenen Idee des Guten ab (Honnefelder 2007). Somit sind auch Subjektivität und Moralität anthropologisch aufeinander verwiesen. Geht es „in der Moral […] um das Individuum in seiner Einzigartigkeit“ (Arendt 2009, S. 81), geht es letztlich um die Bereitschaft, sich auf sich, inklusive eines Moments der Unverfügbarkeit, einzulassen. In diesem Sinne definierte etwa der Theologe Hans Urs von Balthasar Spiritualität als „je praktische oder existentielle Grundhaltung eines Menschen, die Folge und Ausdruck seines […] ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her“ (Balthasar 1967, S. 247).

Spiritualität lässt sich demnach anthropologisch fundiert allgemein definieren als die subjektive Konzeptualisierung des je eigenen, sich über den Lebensverlauf entwickelnden, existenziellen Relationsverhältnisses von Selbst und Welt. Dieses basiert auf einer affektiven, einer reflexiven und einer performativen Dimension und verbindet die Deutung von Sinn des Lebens und Sinn im Leben mit einem Moment des Transzendierens. In diesem Sinne ist Spiritualität formal gesprochen ein anthropologisches Existential, das jedem Menschen qua seines Menschseins im Modus von Leiblichkeit, Subjektivität und Moralität zukommt und in dem die je eigenen existenziellen Sichtweisen, Wertevorstellungen und Handlungen verkörpert werden. Inwiefern ist Spiritualität als Ausdruck des individuellen In-der-Welt- und Zur-Welt-Seins auch im Rahmen von medizinischer Versorgung von konstitutiver Relevanz?

3 Spiritualität und Gesundheitsversorgung

Auf internationaler Ebene sind Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten darum bemüht, dem Thema Spiritualität in gesundheitsbezogenen Kontexten mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. 1995 hat die WHO „Spiritual/Religious/Personal Beliefs“ als eigene Subdimension in ihren Fragebogen zur Erfassung von gesundheitsbezogener Lebensqualität (WHOQOL-100) aufgenommen. Damit soll anerkannt werden, dass auf der einen Seite Spiritualität und persönliche (Glaubens-)Überzeugungen (wie gerade abgeleitet) einen wichtigen Bestandteil menschlichen Selbstverständnisses darstellen und auf der anderen Seite Religionen und persönliche Überzeugungen selbst Deutungen und Interpretationen von Krankheiten und dem Umgang damit bereithalten, die für die Behandlung von Patient:innen nicht irrelevant sind.

Auch die White House Conference on Aging setzte bereits 1971 sog. „spirituelles Wohlbefinden“ (Spiritual Well-Being) als Zielvorgabe für gerontologische Versorgung und Forschung fest (Moberg 1971). Auch gegenwärtig gibt es Bestrebungen, besser von einem erweiterten bio-psycho-sozial-spirituellen Modell von Gesundheit zu sprechen (Koenig und Hefti, 2012).

Insbesondere im Zusammenhang mit der (psychotherapeutischen) Behandlung von Patient:innen wurde ebenfalls bereits 2015 auch innerhalb der World Psychiatric Association (WPA) die explizite Berücksichtigung von Spiritualität und Religiosität gefordert, um unter dem Stichwort der „ganzheitlichen Behandlung“ auch dieser Dimension personalen Selbstverständnisses mit ihrem Einfluss auf Prävalenz, Diagnose und Behandlung Tribut zu zollen (Moreira-Almeida et al. 2016). Auch innerhalb des deutschen Pendants, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), erschien Ende 2016 eine Stellungnahme, die die Berücksichtigung von Spiritualität und Religiosität u. a. aufgrund der gestiegenen Nachfrage in therapeutischen Settings und ihren Aus- und Weiterbildungsverordnungen gestärkt sehen möchte (vgl. Utsch et al. 2017). Pathologisiert ist sie als „Religiöses oder Spirituelles Problem“ inzwischen im V. Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen zu finden (vgl. Hofmann und Heise 2017).

Betrachtet man den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheitsversorgung, ist dieser allerdings sicherlich (noch) am stärksten im palliativmedizinischen Bereich ausgeprägt, wo Spiritualität schon seit Längerem eine hohe Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und sie einen eigenen Pfeiler von Palliative Care darstellt. Spiritual Care, als Fachrichtung, die sich bereits dem Namen nach Spiritualität im medizinischen Kontext verschrieben hat, wurde „durch ein spezielles Setting im medizinischen Care-Bereich begründet, entwickelt und eingefordert“ (Holder-Franz 2012, S. 27), hat sich bis heute nämlich noch nicht flächendeckend durchgesetzt, sondern wird gerne auf die Versorgung am Lebensende reduziert oder in das Aufgabenfeld Einzelner (z. B. der Seelsorge) delegiert.

Trotz dieses internationalen und fachrichtungsübergreifenden Anstiegs des Interesses an Spiritualität, lässt sich gerade im deutschsprachigen gesundheitsbezogenen Kontext jedoch noch nicht von einem Massenphänomen sprechen, denn „[d]as Feld der Spiritualität in der Medizin, so zeigt sich schnell, […] hierzulande noch wenig erschlossen“ (Frick und Roser 2011, S. 9). So lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass gerade auch in Deutschland Spiritualität in der Medizin noch nicht in der Versorgungspraxis angekommen ist, auch wenn Soziologen schon seit Längerem von einer „Rückkehr des Religiösen“ (Pollack 2009) bzw. einem „Spiritual Turn“ (Houtman und Aupers 2007) in der Gesellschaft sprechen. Im hiesigen Gesundheitssystem scheint sich eine nicht zuletzt aus der Aufklärung resultierende und an den Naturwissenschaften orientierte Skepsis gegenüber Religiosität und Spiritualität hartnäckig zu halten. Wenn Spiritualität zum Thema wird, dann meist aufgrund ihres Status‘ als soziokulturelles Vermächtnis. Dieses Vermächtnis sollte zwar im Sinne von interkultureller Kompetenz zumindest nicht gänzlich übergangen werden, stellt jedoch eher ein Add-On dar, dem sich interessierte Einzelne und – im Sinne der Arbeitsteilung – eben primär die Seelsorge widmen könne. Dass dies so ist, hat dabei sicherlich auch etwas mit dem Spiritualitätsverständnis zu tun, das im Gesundheitswesen vorherrscht, weswegen dieses im Folgenden noch etwas genauer beleuchtet werden soll.

4 Begriffsbestimmungen von Spiritualität in Gesundheitskontexten

Gerät Spiritualität in gesundheitsbezogenen Kontexten in den Blick, so fällt auf, dass sich grundlegend zwei Diskurse unterscheiden lassen, bei denen eine je unterschiedliche Motivation der Thematisierung zugrunde liegt: Auf der einen Seite wird Spiritualität im medizinischen Diskurs hinsichtlich ihrer Funktion zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit verwendet und auf der anderen Seite mit Blick auf ihren Inhalt. Es lässt sich demnach in Anlehnung an die Definition des Religionsbegriffs ein funktionaler und ein substanzieller Begriff unterscheiden.

4.1 Funktionalistisches Spiritualitätsverständnis

Ein funktionalistisches Spiritualitätsverständnis findet sich primär im Zusammenhang mit quantitativer Forschung und einem entsprechenden Bestreben, Spiritualität als wissenschaftlich ernst zu nehmendes Konstrukt zu implementieren. Hier wird Spiritualität nicht über ihren Inhalt oder ihr Wesen bestimmt, sondern über das Bemühen, ihre Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheitsbewältigung nachzuweisen.

Geht es in diesen Diskursen um die Funktion von Spiritualität im Kontext der Krankheitsbewältigung oder der Aufrechterhaltung von Lebensqualität, wird Spiritualität dabei häufig zu einer eigenständigen Coping-Strategie (spiritual coping) stilisiert. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn Spiritualität im Zusammengang mit chronischen oder terminalen Krankheiten sowie existenziellen Lebenskrisen thematisiert wird. Dazu gibt es inzwischen eine ganze Reihe an klinischen, u. a. auch randomisierten Studien mit z. T. sehr großen Samples, um insbesondere im Zusammenhang mit mentaler Gesundheit belastbare Daten bereitzustellen (Koenig 2012).

Betrachtet man jedoch genauer, was in diesen funktionalistischen Diskursen unter Spiritualität verstanden wird, zeigt sich eine große Heterogenität bzw. Unsicherheit. Es gibt keine einheitliche Definition und keine klare Differenzierung gegenüber anderen Konzepten, wie etwa Religiosität, Frömmigkeit oder Glaube. Vielmehr kursiert eine Vielzahl unterschiedlicher Konzeptualisierungen (Moberg 2011). So gibt es unter dem Überbegriff der Spiritualität Instrumente, die religiöse Vorstellungen, mystische Erlebnisse oder paranormale Erfahrungen erfassen, aber auch solche, die Einstellungen, Werte und Überzeugungen erheben. Hierbei ist der kulturell und zeitlich je unterschiedliche Spiritualitätsdiskurs mit seinen differenten Deutungsströmungen einflussreich, wie auch das Verständnis des Forschenden selbst, das sich normativ in die Operationalisierung einschreibt. Besonders prominent ist dabei gegenwärtig (noch) der dominierende angloamerikanische Diskurs (Zwingmann 2005; Jager Meezenbroek et al. 2012; oder auch Monod et al. 2011; Eine Übersicht über deutschsprachige Fragebögen bietet u. a. auch Zwingmann und Klein 2012).

Dass eine solche Heterogenität der Erfassungsbereiche eine Vergleichbarkeit der Studienergebnisse fragwürdig macht, wird insbesondere im gesundheitsbezogenen Kontext zumeist wenig bis gar nicht thematisiert. Im Gegenteil wird in diesen Diskursen gerne auf der Basis diverser positiver Befunde solcher Studien die salutogene Wirkung von Spiritualität betont. Hierbei erhält man jedoch zuweilen den Eindruck, dass Spiritualität ein „Allheilmittel“ im Sinne eines besonders effektiven Resilienzfaktors darzustellen scheint.

Insbesondere mit Blick auf die Funktion von Spiritualität am Lebensende lässt sich der Eindruck nicht leugnen, dass Spiritualität ganz im Sinne von Feuerbachs Religionskritik Jenseitsvertröstung im neuen Gewand darstellt, denn „[w]enn man zu schnell und vehement auf eine Art vorgezogene ars moriendi fokussiert, nährt es eben den Verdacht, dass das Spirituelle allenfalls beim Sterben, aber nicht beim Leben hilft“ (Kunz 2012, S. 59). Eine allzu euphemistische, auf ihre Coping-Funktion reduzierte Betrachtung negiert somit das in den letzten Jahren ebenfalls in der empirischen Forschung vereinzelt untersuchte Auftreten spiritueller Krisen (spiritual distress): Spiritualität kann demnach auch mit einer eigenen Form von belastenden Erfahrungen, Verlusten und Infragestellungen von individuellen Grundsätzen (gerade auch in Krisensituationen) einhergehen (Janhsen et al. 2019).

In medizinischen und psychologischen Kontexten changiert das Spiritualitätsverständnis somit zumeist zwischen der Funktion als Resilienzfaktor und Indikator für eine höhere Lebensqualität auf der einen und der Funktion als Krisenherd und Prädiktor für einen schlechten psychischen Zustand sowie eine geringere Lebenszufriedenheit auf der anderen Seite. Spiritualität gibt es jedoch nicht auf Rezept und durch einen solchen Zugang wird auch nicht ersichtlich, was eigentlich genau unter Spiritualität zu verstehen ist. Vielmehr bedarf es eines reflektierten und präzisierten Spiritualitätsverständnisses, um das gesundheitsrelevante Potenzial von Spiritualität auch für die medizinische Versorgungspraxis durch entsprechende Interventionen bzw. Therapien zu erörtern.

4.2 Substanzielles Spiritualitätsverständnis

Um zu verstehen, inwiefern Spiritualität überhaupt für Patient:innen von Relevanz ist bzw. sein kann, bedarf es jedoch einer Betrachtung, die sich nicht in erster Linie an ihren Funktionen orientiert, sondern an ihren Inhalten. Mit Blick auf gesundheitsbezogene Kontexte findet sich eine solche Diskussion um ein substanzielles Spiritualitätsverständnis im Diskurs um Spiritual Care und ihrer Verortung im Gesundheitssystem. Dieser Diskurs spielt sich allerdings primär an den Rändern des medizinischen Systems ab und wird im klinischen Kontext zumeist nicht wahrgenommen. Er basiert auf der wirkmächtigen, oft jedoch wenig hinterfragten Distinktion zwischen einer auf Therapie und Heilung im Sinne von cure ausgerichteten kurativen Hochleistungsmedizin und einer auf Begleitung und Beistand im Sinne von care ausgerichteten palliativen Fürsorge. Der Diskurs um Spiritual Care wird letzterem zugeordnet und zu einem entsprechend nachgeordneten, randständigen Thema degradiert. Ist, so könnte gefragt werden, der Diskurs um Spiritual Care letztlich dann aber nichts anderes als die schon alte Frage nach dem Stellenwert von Seelsorge im Gesundheitssystem nur in neuem Gewand? Ist es dabei nur „In“, von Spiritualität und nicht mehr von Religiosität zu sprechen, wie die inzwischen vorhandene Fülle von Lebensratgebern in Buchhandlungen oder Wellness-Angeboten mit Rekurs auf Spiritualität nahelegen? Geht es darum, „für die Kirche Fische zu fangen, die ihr anderwärts durch die Netze gehen“ oder „um ein Stück Antwort auf die Frage, ob die Theologie zu den elementaren Bereichen des alltäglichen menschlichen Lebens etwas zu sagen hat“? (Söll 1972, S. 102). Und hat diese doch noch recht junge Fachrichtung vielleicht sogar ein eigenes Versorgungs- und Fürsorge-Konzept, das möglicherweise anders gelagert ist als konfessionelle oder interkonfessionelle Seelsorge (Nauer 2015)?

Die Antwort auf diese Fragen, die auch in diesem Handbuch bearbeitet werden, hängen konstitutiv von dem jeweils zugrundeliegenden Spiritualitätsverständnis ab, bei dem vielerorts zwei unterschiedliche Traditionsstränge unterschieden werden: ein romanischer und ein angelsächsischer (Kohli Reichenbach 2014, S. 20). Ersterer rekurriert auf das französische spiritualité. In paulinischer Tradition und mit Bezug zum lateinischen Ursprung des Wortes spiritus (dt. Geist, Hauch, Atem) drückt der Begriff Spiritualität ein Leben aus dem Geist Gottes aus. Der Mensch begegnet in einer persönlichen Beziehung Gott, was durch gewisse Praxisformen wie Beten, Meditation oder anderen liturgische Handlungen unterstützt wird. Aufgrund einer engen Verbindung zur Lehre der Kirche und kirchlicher Gemeinschaftspraxis, haben in dieser Tradition Religiosität und Spiritualität große Überschneidungsbereiche, wenn sie nicht sogar synonym verwendet werden.

Anders ist dies vermeintlich in dem aus dem angelsächsischen stammenden spirituality, das eine stärker transreligiöse Färbung hat. Es stellt das subjektive und individuelle Erleben in den Mittelpunkt sowie die selbstgewählte Verhältnisbestimmung zu Religionsgemeinschaften, meist einhergehend mit einer betonten Unabhängigkeit und Distanzierung. Dieses Verständnis wurde u. a. auch durch die New-Age-Bewegung verbreitet, die Spiritualität als explizite Abgrenzung zur Religiosität verstanden hat und sich auch heute noch vielfach im Esoterik-Kontext wiederfinden lässt (diese gängige begriffsgeschichtliche Unterscheidung ist jedoch eine künstliche Differenzierung, gibt es im Zuge der Entwicklung doch immer wieder wechselseitige Beeinflussungen und Bezugnahmen. Vgl. Frick 2014b, S. 276 ff.).

4.3 Spiritualitätsverständnis in Spiritual Care

Diese unterschiedlichen Traditionsstränge haben auch das hiesige Spiritualitätsverständnis im Kontext von Spiritual Care geprägt, wobei hier zumeist eher von einem engen und einem weiten Spiritualitätsbegriff gesprochen wird. Ersterer meint eben jenes Verständnis in romanischer Tradition, das an religiöse Deutungen und Praktiken geknüpft ist, während letzteres in Anlehnung an die angelsächsische Tradition sich über religiöse Sichtweisen hinweg erstreckt und ggf. auch Ausdruck in einer atheistischen Spiritualität findet. Während in der deutschsprachigen Theologie, in der der Begriff nach einer Blütezeit im Mittelalter erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. im Rahmen des II. Vatikanischen Konzils (1962–65) und der 5. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (1975) eine Renaissance erlebte (Sheldrake 2013), zumeist ersterer dominiert, prägt letzterer den medizinischen Diskurs um Spiritualität bzw. Spiritual Care (Mathwig 2014). Demnach war es eben auch nicht der religiöse Seelsorgediskurs, sondern der Palliative-Care-Bereich, der den ursprünglichen „Sitz im Leben“ von Spiritual Care darstellt (Kohli Reichenbach 2014, S. 15). Entsprechend heißt es explizit mit Rekurs auf Spiritualität in der WHO-Definition von 2002: „Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“ (World Health Organisation 2002)

Ob es sich im Rekurs auf Spiritualität nun jedoch besser um ein enges oder weites Verständnis handeln soll, darüber herrscht auch innerhalb des Spiritual-Care-Diskurses Uneinigkeit. So hält etwa Traugott Roser im Gesundheitswesen einen weiten Spiritualitätsbegriff für angebracht, da mit ihm eine doppelte Schutzfunktion einhergeht: Gerade durch seine konzeptionelle Weite fungiert er als Wächter „der Freiheit des Individuums gegenüber Ansprüchen von Religionsgemeinschaften einerseits und Einrichtungen des Gesundheitswesens andererseits“, was ihn zum „Garant der Unverfügbarkeit des Individuums“ mache (Roser 2011, S. 48). Anders sieht die Theologin Isolde Karle in der Unspezifität eines weiten Spiritualitätsbegriffs die Gefahr der Entkonkretisierung und Entleerung von religiöser Kommunikation, wodurch Religion „entkörperlicht und entsinnlicht, formalisiert und schematisiert“ (Karle 2010, S. 552) werde.

5 Relevanz von Spiritualitätsverständnissen in Gesundheitskontexten

Relevanter noch als die Diskussion darüber, ob Spiritualität nun besser eng oder weit zu verstehen ist und worin genau die Unterschiede liegen, erscheint mit Blick auf ihre Relevanz für medizinische Zusammenhänge jedoch das beiden Traditionen Gemeinsame: die Betonung individueller Erfahrungen und existenzieller Deutungen. So kann im Sinne eines substanziellen Verständnisses in beide Richtungen ganz formal gesprochen „[u]nter Spiritualität […] die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existentiellen Bedrohungen zu begegnen versucht“ (Peng-Keller 2012, S. 88). Spiritualität ist demnach Ausdruck der je individuellen Suche nach Sinn von Leben und Sinn im Leben mit der Thematisierung von existenziellen Fragen des Woher und Wohin, die in einer bestimmten Haltung, einem Tun und einem Lebensvollzug verkörpert ist und aus einer bestimmten Sicht auf Selbst und Welt und damit einhergehenden Orientierung an einem wie auch immer näher bestimmten „Letzten“ resultiert (Dahlgrün 2009). Ob sich dieses „Letzte“ auf horizontaler Ebene aus einem bestimmten Selbstverständnis in Relation zu anderen Menschen oder der Natur und/oder auf vertikaler Ebene in Verbindung zu einer Transzendenz versteht und erstreckt, darf dabei hinsichtlich der Substanz von Spiritualität an dieser Stelle ebenso unentschieden bleiben, wie die Frage, ob diese Selbst- und Weltdeutung notwendigerweise mit Bezug auf religiöse Deutungssysteme erfolgt oder nicht.

Mit Rückgriff auf die anthropologische Grundlegung sind im Verständnis von Spiritualität auch in gesundheitsbezogenen Kontexten entscheidender die Konstituenten der Erfahrung, Deutung und daraus sich ableitender Praxis, die als Abgrenzungskriterien von Spiritualität von z. B. Wellness fungieren können. So ist es für Spiritualität konstitutiv, dass es sich hierbei nicht um ein Wohlfühlangebot neben vielen anderen handelt, auch wenn man aufgrund der inflationären Bezugspunkte gegenwärtig zuweilen das Gefühl bekommt, dass Spiritualität zu einer Ware degradiert wird (Knoblauch 2000). Vielmehr handelt es sich um ein dynamisches, wandelbares und prozesshaftes Konzept individuellen Selbstverständnisses, um eben jenen „Weg, auf dem der Mensch nach letzten […] sinnvollen Strukturen sucht, innerhalb derer er sich selbst erfüllen und verwirklichen kann“ (Dahlgrün 2009, S. 120) und dies auch in Konfrontation und Auseinandersetzung mit Krankheit, Schmerz und Tod.

Eine über ihre anthropologischen Merkmale verstandene Spiritualität ist wie gesehen somit aber auch existenzieller und fundamentaler für das Menschsein, als es in einseitig funktionalistischen Betrachtungsweisen im medizinischen Diskurs um die Nutzbarmachung von Spiritualität für die Versorgung sowie eine reduktionistische Sichtweise auf Spiritualität als etwas ausschließlich Individualistisches suggeriert wird. Spiritualität erscheint zwar, was ihre materiellen Gehalte angeht, von der je subjektiven Erlebens-, Sicht- und Deutungsweise auf Selbst und Welt abhängig, ist jedoch in ihren Konstituenten universell. Damit ist die Kommunikation über Spiritualität nicht notwendigerweise rein formalistisch oder gar inhaltsleer. Sie eröffnet vielmehr den Erfahrungs- und Deutungsraum für die je eigene Spiritualität.

Zwar ist dabei das eigene Selbstbewusstsein ein präreflexives und prädiskursives Gewahrwerden der Jemeinigkeit, dieses wird allerdings erst in Auseinandersetzung mit der Welt ein reflektiertes, sodass das, „was intuitiv gewusst wird, […] im Anerkennungsakt explizit und damit auch der Reflexion zugänglich“ (Wendel 2002, S. 309) wird. Religiöse Sinnsysteme stellen dabei eine Deutungsoption und mögliche Orientierungshilfe im Umgang mit Krankheiten, Lebenskrisen oder Verlusten dar. Inwiefern jedoch eine Person sich religiösen Deutungssystemen bedient, hängt sowohl von dem jeweiligen sozio-kulturellen Kontext als auch den jeweiligen individuellen Erfahrungen ab. Bezüge zu einem monotheistischen Gott stellen somit ggf. nur eine neben vielen Antwortmöglichkeiten auf die Fragen nach dem Woher oder Wohin dar. Spiritualität rein auf religiöse Sinndeutungen zu beschränken, scheint der anthropologisch verankerten Existentialität, die mit ihr einhergeht, nicht gerecht zu werden und bereitet möglicherweise den Boden für instrumentelle Machtspiele bzw. Degradierungen von subjektiven Selbst- und Weltdeutungen.

Mit Blick auf die Bestimmung von Spiritualität auch in gesundheitsbezogenen Kontexten erscheint es demnach ratsam, den Begriff entsprechend konturiert und differenziert wahrzunehmen. Es erscheint zielführender im Kontext von medizinischer Versorgung nicht zwischen einem engen und einem weiten Verständnis zu unterscheiden, da dies im Sinne einer „Mehr-ist-besser“-Logik evaluative und hierarchisierende Züge annehmen kann und eine Integration und ggf. sogar Auflösung des Einen in das Andere suggeriert bzw. eine religiöse und eine nicht-religiöse Deutung gegeneinander ausspielt. Geht das eine Verständnis jedoch nicht in dem anderen auf, sondern drücken sich in religiös und nicht-religiös verstandener Spiritualität unterschiedlich gedeutete Sicht- und Erlebensweisen auf Selbst und Welt aus, sollte eher von einem immanenten und transzendenten Spiritualitätsverständnis gesprochen werden.

6 Weil es uns alle angeht

Für eine entsprechend anthropologisch grundgelegte Wahrnehmung von Spiritualität eröffnet sich im medizinischen Kontext die Herausforderung, Patient:innen als eben jene souveränen Subjekte ihrer Selbst- und Weltdeutung ernst zu nehmen und sich im Sinne einer Hermeneutik gelebter Spiritualität auf sie einzulassen. So „gibt es kein A-priori-Wissen der Gesundheitsberufe darüber, was ‚gute‘ und was ‚schlechte‘ Spiritualität ist. Hier stoßen die Gesundheitsberufe an ihre professionellen Grenzen [und] [s]pätestens hier fängt der Respekt vor dem Sinnentwurf des Patienten an“ (Frick 2013, S. 172). Dies bedeutet für konfessionelle und interkonfessionelle seelsorgerische Begleitung, nicht von einem „Heilstatsachenglauben“ auszugehen, sondern „vom heutigen Glauben und dem, was die Menschen als ihren Glauben zuzumessen bereit sind […]. Das ist ein Glaube, der aus dem bewussten Leben, dem Selbstverhältnis und Selbstverständnis der Menschen kommt, ein Glaube, der auf die im Leben aufbrechenden Sinnfragen antwortet. […] Dieser Glaube verlangt deshalb immer wieder auch ins Gespräch gezogen zu werden, teilzuhaben an kommunikativen Vollzügen […]“ (Gräb 2015, S. 12 ff.), für die es aufgrund seiner existenziellen Relevanz für Personen gerade auch im Zusammenhang mit Krankheitserleben, -deutung und ihren Folgen jenseits des Lebensendes Raum zu schaffen gilt.

Diesen Raum zu füllen kann dabei jedoch nicht an eine Profession delegiert werden, sondern ist ganz im Sinne des Spiritual-Care-Ansatzes nur interdisziplinär möglich. Voraussetzung ist hierbei ein entsprechendes Selbstverständnis der medizinischen Versorgung und all ihrer Akteure. Somit zeigt sich, dass es sich bei der Frage nach dem Zusammenhang von Spiritualität und Medizin nicht nur um ein randständiges Thema handelt, das erst dann von Relevanz ist, wenn alle anderen medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind oder Patient:innen es explizit einfordern, sondern ganz grundlegend die Frage von Autonomie und der Anerkennung von Subjektivität als auch (zwischen-)menschlichem Selbstverständnis aufs Tableau bringt. Es ist schließlich nicht nur die Spiritualität von Patient:innen, die in medizinischen Behandlungskontexten zum Tragen kommt, sondern auch die existenzielle Selbst- und Weltdeutung von Behandelnden und Pflegenden.

Im medizinischen Hochleistungssektor erscheint das Sich-Einlassen auf die eigene Leiblichkeit einhergehend mit der Abgabe von Kontrolle eine besondere Herausforderung darzustellen. Die leibliche Verortetheit von Spiritualität mit ihrem Moment des Unverfügbaren und Deutungsoffenen, Unbeherrschbaren und Unergründlichen konfrontiert somit ein Menschenverständnis, das auf den Körper als eben jenes verfügbare Objekt, als berechenbar und vereinheitlichbar rekurriert. Das Leibsein selbst wird darüber hinaus jedoch auch für ein Spiritualitätsverständnis „zur Aufgabe“ (Böhme 2003), das in dualistischer Manier Geist und Reflexion vom Körper und leiblichem In-der-Welt-Sein trennt. So ist „[e]in materialistischer Reduktionismus, der die Sinnfrage und die Dimension der Transzendenz ausblendet, […] ebenso problematisch wie manche Konzeptionen der Ganzheitlichkeit, die alle Krankheiten auf psychische oder spirituelle Ursachen zurückführen wollen. Eine Spiritualität, die positives Denken als Wunderwaffe gegen alle somatischen Erkrankungen propagiert, verkennt den Unterschied zwischen Heil und Heilung und ist […] ebenso reduktionistisch wie der neuzeitliche Materialismus“ (Körtner 2011, S. 31).

Die Berücksichtigung von Spiritualität in der Medizin ist somit Anerkennung von Autonomie und Subjektivität. Damit wird sie nicht zuletzt auch zu einem kritischen Moment von Macht- und Machbarkeitsansprüchen jenseits eines euphemistischen Positivismus und ist deutlich mehr als ein Add-On. Angesichts der gegenwärtigen Randständigkeit des Themas bringt eine Geltendmachung dieser Erkenntnisse zwar individuelle und strukturelle Herausforderungen mit sich, ihre Thematisierung in fundierter, differenzierter und kritisch-reflektierender Weise erscheint jedoch gerade angesichts der gegenwärtigen Vielfalt an medizintechnischen Möglichkeiten für eine personenzentrierte medizinische Versorgung unerlässlich und bindet die Diskussion um Spiritualität an eben jene medizin- und pflegeethischen Diskurse der Patient:innenautonomie, der Arzt-Patient:innen-Beziehung oder der Subjektivität und Selbstbestimmung.