Schlüsselwörter

1 Einleitung

„Spiritual Care ist ein Organisationsbegriff. […] Spiritual Care ist die Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis.“ (Roser 2017, S. 15). Mit dieser Definition von Traugott Roser ist eine hohe Anschlussfähigkeit für die Behindertenhilfe, erst recht für die Einrichtungen und den Dienst in konfessioneller Verantwortung, gegeben. Denn: Spiritual Care geht vom „Gegenüber“ aus und ihr kommt im Kontext der Seelsorge die „spirituelle Begleitung im vielschichtigen und dynamischen Miteinander unterschiedlicher beteiligter Personen und Berufsgruppen eine tragende Rolle“ (Roser 2017) zu. Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge sind in der Behindertenhilfe seit Jahren verankert, sind aber erst in den letzten Jahren mit der Erkenntnis verknüpft worden, diese Ansätze noch konkreter im Alltag umzusetzen.Footnote 1 Insbesondere durch die UN-Behindertenrechtskonvention zeigt sich, welche Möglichkeiten mit diesen Ansätzen vorhanden sind, um die volle und gleichberechtigte Teilhabe aller am Leben in der Gesellschaft umzusetzen. Durch diesen „Schlüssel“ Spiritual Care ergeben sich zudem Möglichkeiten, die Menschen mit Behinderungen eine aktive Rolle einnehmen lassen.

2 Woher wir kommen

Nicht erst die Gesetzgebung der letzten Jahre veränderte den Blick auf Menschen mit speziellen Bedarfen bzw. Beeinträchtigungen. Die neuen Schlagworte „Inklusion“, „Personenzentrierung“, „Persönliches Budget“, „Selbstbestimmung“, „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ lösen die Begriffe der 1980er- und 1990er-Jahre ab, die auch heute noch für sehr aktuell gehalten werden: „Soziale Integration“, „Normalität“, „Individualität“. Mit dem Wortwechsel allein ist jedoch noch kein wesentlicher Veränderungsprozess in den Köpfen und Herzen und über eine veränderte Sprache ist in den Einrichtungen und Diensten der Behindertenhilfe noch kein sichtbarer Wandel vollzogen. Gleichwohl prägen die Sprache und damit letztlich auch das Handeln vor Ort.

Vor allem durch die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 durch die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde, konnte eine deutliche veränderte Wahrnehmung des Menschen mit einer Behinderung selbst erkennbar werden. War er in vielen Denkprozessen immer noch Objekt des Handels, wurden in Art. 3 der UN-Behindertenrechtskonvention die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“ in allen Lebensbereichen benannt und somit die Subjekt-Funktion gestärkt.

Mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes wurden nicht nur im Namen, sondern vor allem auch im Gesetz selbst „Teilhabe“, „Selbstbestimmung“ und „Personenzentrierung“ hervorgehoben. Das bewirkt eine Stärkung des Menschen mit einer Behinderung selbst, es hat bereits in den letzten Jahrzehnten und muss gleichsam noch mehr die Sicht und Einstellung auf die Zukunft hin weiten. Der Mensch selbst steht mit seinen Wünschen und seinem Willen im Zentrum des Geschehens – und nicht vorrangig seine Behinderung. Die entsprechenden damit einhergehenden Forderungen sind: „Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als gleichberechtigte und gleichwertige Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft, Verwirklichung der vollen und wirksamen gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unabhängig von Art und Schweregrad ihrer Beeinträchtigung, Achtung der Würde und Autonomie von Menschen mit Behinderungen, Respekt vor der Unterschiedlichkeit und die gesellschaftliche Wertschätzung der Menschen mit Behinderungen.“ (Kirchenamt der EKD 2014, S. 19). Somit kann man Inklusion als ein Menschenrecht konstatieren.

3 Personenzentrierung ohne Defizit denken – die Diakonische Qualität

In seinem Beitrag „Das Kronenkreuz als Güte-Siegel diakonischer Arbeit. Zur Qualitätsdebatte in der Diakonie“ weist Jürgen Gohde (1996) auf theologische Implikationen hin. Er bezeichnet das in der Diakonie ausgestaltete Kronenkreuz als Ausweis und Siegel der Güte Gottes. Es geht für ihn um das Da-sein in existenzbedrohenden Situationen, die Befähigung zu erfülltem Leben und eine Hoffnung über die Wirklichkeit hinaus. Der Umgang mit Grenzerfahrungen menschlichen Lebens, gespiegelt an der Perspektive von Kreuz und Auferstehung, zeigt, dass sich eine Deutung des Lebens durchsetzen kann, die nichts verdrängt. Es handelt sich um eine Deutung, die an der Würde des Menschen in seiner Fragmentarität festhält (Gohde 1996, S. 17ff.).

Die Bruchstückhaftigkeit als Teil und Kennzeichen menschlichen Lebens anzunehmen, ist das Besondere der christlichen Auferstehungshoffnung. Diakonie wird hiervon ausgehend von einem christlichen Menschenbild geprägt, das heißt: von der Zuwendung zum Menschen und der Hinwendung in seine Notsituation. Weil das Leben jedes einzelnen Menschen eine unverfügbare Gabe Gottes ist, darf kein Mensch darüber verfügen. Diese Unverfügbarkeit wird weder durch Krankheit, Behinderung noch durch einen anderen Zustand aufgehoben. Im Leitbild Diakonie aus dem Jahr 1997 heißt es in einer These: „Wir achten die Würde jedes Menschen.“

Es gehört zur Würde des Menschen, nicht in seinen Defiziten allein wahrgenommen zu werden. Darum gelten die einzelnen Aspekte des diakonischen Dienstleistungsangebots immer dem ganzen Menschen. So geht es z. B. in der diakonischen Arbeit im Bereich der Behindertenhilfe nicht nur um Körper-, sondern auch um Beziehungspflege. Die Seelsorge gehört wie die Leibsorge zu den Merkmalen und Dienstleistungen im diakonischen Bereich. Ausgehend von einem christlichen Menschenbild wird dabei ein ganzheitlicher Aspekt deutlich. So wird die diakonische Behindertenhilfe, wenn sie neben den körperlichen auch auf die tief liegenden menschlichen und religiösen Bedürfnisse des Menschen sensibel eingeht, ein spezifisches Profil auf dem sozialen Markt gewinnen.

Die besondere Qualität diakonischer Arbeit vollzieht sich nicht additiv als „diakonische Extraleistung“, sondern in der Gestaltung der Arbeit selbst. „Das Bezogen bleiben auf die Würde des einzelnen in seiner Schwäche, das Bemühen um eine dem Erbarmen verpflichtete Gesellschaft und die Perspektive der Hoffnung ist Gütesiegel diakonischer Arbeit, denn in einer solchen Haltung den Menschen und der Welt gegenüber offenbart sich Gottes Güte.“ (Gohde 1996, S. 22).

4 Existenzielle Sorge im Kontext des Lebens

Menschen mit Behinderungen leben heute in vielfältigen Bezügen. Sie wohnen im Kontext einer besonderen Wohnform, in Wohngruppen oder in ambulanten Wohnsettings. Die Möglichkeiten sind vielfältig und bilden das Spektrum an Wünschen ab, wie Menschen heute leben wollen. Dieses wie unterscheidet sich dabei kaum in der Frage, ob man mit oder ohne Behinderungen lebt. Die Veränderungen in der Behindertenhilfe in den vergangenen mehr als 30 Jahren mit Blick auf den Kontext des Wohnens unterlagen allerdings einem rasanten Wandel. Unabhängig von der Wohnform war es die Herausforderung, aus geschützten Kontexten ehemaliger „Anstaltsgelände“ auszuziehen,Footnote 2 die vornehmlich nach dem Zweiten Weltkrieg enorm angewachsen waren und dabei im Wesentlichen zwei Kriterien folgten: Die Gelände lagen erstens räumlich außerhalb von Dörfern oder Städten und boten keine Integration in vorhandene dörfliche oder städtische Strukturen. Zweitens wurden die dort lebenden Menschen teilweise systematisch von der Außenwelt abgeschottet, sie waren somit in „Sonderwelten“ gefangen.Footnote 3 Der Umgang erfolgte in geschlossenen Systemen. Auch die Welt der Sorge um die Menschen mit Behinderung, die sich vornehmlich in Kirchlichen Diensten sowie der teilweise verpflichtenden Teilnahme an Gottesdiensten vollzog, durchbrach bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts hinein nicht das Gegenüber von Seelsorger:in „zu beseelsorgender“ Person im Sinne einer Einbahnstraßen-Sorge. Erst Spiritual Care ermöglichte einen anderen Blick, der zwingend nötig wurde, um Augenhöhe zwischen den Beteiligten herzustellen. Im Sinne des Spiritual-Care-Gedankens ist „Seelsorge […] zwischenmenschliche Kommunikation des Evangeliums, […]. Sie geschieht als Da-sein, Dabei bleiben, Mit-Gehen, im Gespräch, in Beratung, in Liturgie und Sakrament, als Helfen, als Feiern.“ (Roser, 2017; S. 510). Dieser Ansatz wird heute nachdrücklich in Einrichtungen der evangelischen Behindertenhilfe gelebt. Konzepte und Manifeste der letzten Jahre zeigen hier die Entwicklung im Sinne von Spiritual Care an.

Heute finden Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam stets neue Antworten auf die Frage, wie Menschen außerhalb der „Anstalten“ Sozialraum-orientierte Angebote erfahren und für sich erlebbar machen. Sie erforschen vor diesem Hintergrund den eigenen Willen (Demmel 2020).Footnote 4 Sie lernen zunehmend konkreter vor der Frage des „Was will ich eigentlich selbst?“ die Herausforderungen der „Selbstbestimmung“ für sich zu erkunden und hilfreiche Angebote wahrzunehmen, die ihnen behilflich sind, im Kontext des eigenen Lebens Entscheidungen zu treffen. In der „Sonderwelt“ war diese Möglichkeit kaum gegeben.

Aber die Aneignung von selbstbestimmter Teilhabe passiert nicht von allein. Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB) hat in den Jahren 2016–2021 dazu sehr ausführlich gearbeitet und partizipativ mit Menschen mit Behinderungen einen Index für Partizipation erarbeitet. „Hier bestimme ich mit“ befähigt Menschen mit Behinderungen, ihren Weg eigenverantwortlich zu gehen und damit ihren Willen konkret zu äußern.Footnote 5

Die UN-Behindertenrechtskonvention, der Ansatz, Inklusion konsequent zu denken, die Mammutaufgabe der rechtlichen Weiterentwicklung hin zu einem Bundesteilhabegesetz (BTHG) und die gesellschaftliche Entwicklung insgesamt mit einer stärkeren Forderung nach Teilhabe und Teilnahme durch die Menschen mit Behinderungen selbst schaffen Raum für Neues. Dieses nehmen auch vermehrt vielfältige gesellschaftliche Gruppen wahr und erweitern ihre Konzepte hin zur Barrierefreiheit. Heute erfahren Menschen mit Behinderung im Kontext sozialräumlicher Angebote (wie der Kirchengemeinde, dem Sportverein, der kulturellen Orte) verstärkt barrierefreie Partizipation. In diesem Rahmen ist spürbar, dass eine Begegnung auf Augenhöhe selbstverständlich wird. Ebenso durchdringen sich die Problemstellungen des Lebens im Kontext jeder Begegnung und schaffen Wahrnehmungen für die Lebenswirklichkeit des Anderen. In diesem Sinne wird das Modell des Spiritual Care im Kontext von alltäglichen Begegnungen im realen Leben gelebt.

5 Partizipative Seelsorge

Wenn Seelsorge mit Traugott Roser eine zwischenmenschliche Kommunikation ist, dann hat das für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung deutliche Konsequenzen. Vor diesem Hintergrund wurde seitens des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe 2013 „Seelsorge für Menschen als diakonische Aufgabe“ beschrieben und sie als „Unterstützung in Grundfragen menschlicher Existenz“ sowie als „Orientierung im Leben“ verstanden. „Seelsorge ereignet sich in der Begegnung miteinander. Sie fördert gemeinsame Erfahrungen zum Beispiel in Kirchengemeinden und anderen Akteuren im Quartier und Sozialraum.“ (Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe 2013, S. 3).

Konkret formuliert das Papier letztlich: „In der Seelsorge geht es darum, Menschen, gleich wie sie sind, an den jeweiligen Orten zu begleiten und entsprechend ihrer Bedürfnisse seelsorgliche Angebote zu unterbreiten. Seelsorge findet an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Weise statt. Sie beginnt beim erbetenen seelsorglichen Gespräch und geht hin bis zur Mitwirkung bei der Erstellung von Konzeptionen und Grundsatzpapieren der Einrichtungen und der konkreten Mitwirkung in Ortsgemeinden. Deshalb ist Seelsorge ein grundlegender Aspekt diakonischer Kultur. ‚Seelsorge‘ wird demnach auch in der Architektur, im Corporate Design, der Personalpolitik, Kommunikation, Organisationsethik und Fachlichkeit, in Ritualen und Festkultur einer Einrichtung sichtbar. Seelsorge ist nicht ‚Zusatz‘ zur Pflege und Assistenz, sondern sie ist kennzeichnendes Merkmal diakonischer Arbeit in Ortsgemeinden und Einrichtungen.“ (Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe 2013, S. 8).

In der Weiterentwicklung dieses Ansatzes wurde jüngst ein Manifest für Partizipative Seelsorge entwickelt. Neben der Kritik, dass Menschen mit Behinderungen nicht an allen Seelsorgeangeboten teilhaben können, wurden im Manifest weitreichende Perspektiven entwickelt, die auch im Konzept des Spiritual Care weiterzudenken sind: Konkret: „Die Taufe macht uns zu einer Gemeinschaft der Seelsorgenden.“ (Manifest, a. a. O.; S. 8). Damit ist aufgenommen, dass ein Miteinander auf Augenhöhe die Voraussetzung für seelsorgendes Handeln ist und alle einander zu Seelsorgern werden können. Das wird nochmals konkretisiert und im Blick auf Augenhöhe der Beteiligten sehr gut zugespitzt: „In der inklusiven Kirche gilt der Satz: alle können Seelsorger:innen sein, aber nicht alle in allen Situationen – das gilt für alle!“ Ebenso: „Partizipation ist das zentrale Element einer Kirche der Zukunft. […] Wer Menschen mit Beeinträchtigung in einer über die aktuellen Grenzen hinausgehenden Seelsorgelandschaft mitdenkt, der begibt sich auf einen neuen Weg und bekommt neue Perspektiven.“ (Manifest, a. a. O., S. 8)

6 Vertraut den neuen Wegen

Indem beide Ansätze aus diakonischen Unternehmen der evangelischen Behindertenhilfe eingebracht wurden und dort bereits vielfältig gelebt werden, zeigt sich der Reichtum einer sich weiterentwickelnden Kirche und ihrer Diakonie. Es bleibt zu hoffen, dass diese Erkenntnisse sodann Früchte reifen lassen, die nicht allein in diakonischen Kontexten, sondern darüber hinaus auch im Kontext von Ortsgemeinden vor Ort Anwendung finden und rezipiert werden. Lebendige Beispiele, wie Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen gemeinsam Sozialraumorientierung und Kirche denken, bietet das Projekt „Q 8 Kirche“ in Hamburg. (Manifest, a. a. O., S. 9.) Ebenso wie eine zunehmende barrierefreie und einfache Sprache eine hilfreiche Verständigung aller untereinander fördert, so ist auch die Sicht aus dem Kontext der Diakonie und der bisherigen sog. Sonder-Seelsorge ein wichtiger Impuls für das ortsgemeindliche Handeln. Das gilt insbesondere dann, wenn die Sozialraumorientierung und das Quartiersdenken insoweit Früchte tragen, als dass ein Miteinander wirklich gelingt und Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander Lernerfahrungen machen und voneinander lernen. So wird sich Kirche und Diakonie zu einem Ort der gleichberechtigten Teilhabe weiterentwickeln. Spiritual Care sollte dabei konsequent mitgedacht werden. Als Zieldimension kann eine Kultur des Voneinander-Lernens in den Mittelpunkt des Staunens gestellt werden.