Zusammenfassung
Der Artikel setzt an beim anderen Zeiterleben von Menschen mit Demenz und seiner Entsprechung in unserem Reden von Ewigkeit. Anthropologische Grundlage ist dabei ein nicht am Defizit orientierter Blick auf den Menschen. In der spirituellen Begleitung von Menschen mit Demenz geht es um Ich-Du-Begegnung (M. Buber) – dabei ist wesentlich, dass (Frei-)Raum gegeben wird und man miteinander ins Schwingen kommt – Resonanz entsteht. Eine zentrale Rolle spielt das Leibgedächtnis, das einen Zugang zu Menschen mit Demenz ermöglichen kann. Immer gilt: Spirituelles Bewegtsein kann sich zeigen, bleibt aber für alle Beteiligten unverfügbar (Der nachfolgend abgedruckte Artikel ist – mit Dank für die Erteilung der Abdruckrechte – für den gemeinsamen ökumenischen Text Menschen mit Demenz in der Kirche. Wie kirchliche Angebote gelingen, Bonn/Hannover 2023, geschrieben und ebenda veröffentlicht worden.).
The article starts with the different way people with dementia experience time and its correspondence in our way of talking about eternity. The anthropological approach is to look at people in a way that is not oriented on their deficits. The spiritual support of people with dementia is all about „I“ meeting „You“ (M. Buber) – it is essential that personal freedom is given and we start vibrating together – resulting in resonance. The body’s memory plays a central role, through which we can gain access to people with dementia. This always applies: to become spiritually touched can arise, but this remains unavailable to everyone involved.
Der nachfolgend abgedruckte Artikel ist Bestandteil der ökumenischen Veröffentlichung „Menschen mit Demenz in der Kirche. Wie kirchliche Angebote gelingen“ (= Gemeinsame Texte Nr. 29 hrsg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn/Hannover 2023)
https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/GT_29_Demenz_2023.pdf
https://www.dbk-shop.de/media/files_public/c4621330b0909a337043f2772ec5e943/DBK_629.pdf
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Schlüsselwörter
1 Einführung
Manchmal, wenn wir besonders glücklich sind, oder wenn wir ganz vertieft sind in etwas, das wir tun, uns da ganz reingeben, hingeben, oder wo wir von etwas zutiefst berührt sind, da erleben wir uns zeitlos – vom Gefühl her, vom Erleben her. Die Uhr – die Einteilung in Stunden, Minuten, Sekunden, die erfunden wurde – stimmt da nicht für solche Momente. Ich frage mich, ob das wohl Momente sind, wo der Himmel uns berührt, wo Gegenwart und Ewigkeit irgendwie eins sind, sich verbinden. Wo die Zeitschiene – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – aufgelöst ist, einen Moment lang oder auch ein bisschen länger. Da bricht die verheißene Neue Welt schon ein – quer zu unserem linearen Zeitverständnis und zu unserem Zeitgefühl.
Mein Vater war mit Leib und Seele Fotograf – in den letzten Jahren seines Lebens war er an Demenz erkrankt. Ich kann mich gut erinnern, wie er im Herbst, wenn das Licht besonders schön war und die hohen Gräser am Kanal vor unserem Haus sich besonders anmutig im Wasser spiegelten – wie er dann, davon gelockt, zum Fotoapparat griff und die 100 m dahineilte. Dass seine fortgeschrittene Lungenerkrankung schon nach wenigen Schritten bewirkte, dass er keine Luft mehr bekam, war gänzlich vergessen – und dann stand er da, der junge Fotograf auf der Suche nach einem guten Motiv und machte Fotos. Die Demenz verlieh ihm Flügel – den Luftnotanfall verhinderte sie nicht – und doch: Berührt von dem Licht, ins Leben gezogen, vergegenwärtigt die Zeit 60 Jahre früher. In solchen Momenten habe ich den Eindruck, dass ein Stück Ewigkeit sich in unserer Welt sehen lässt.
Auch wenn Menschen mit Demenz vieles vergessen mögen, ja, ihnen die Vergangenheit als Vergangenheit wegbricht, gibt es gleichzeitig ein vergegenwärtigtes Erinnern und Erleben, das geschieht. Das ist kein gesteuerter Vorgang, es geschieht einfach. Die Vergangenheit ist situativ gegenwärtig. Psycholog:innen mögen das Zeitgitterstörung nennen – ich nenne es Einbruch von Ewigkeit.
Wo Menschen aufgehen in dem, was ihnen „heilig“ ist, sich ganz hingeben, da erlebe ich eine Dimension von Transzendenz, die nicht in Religiosität oder in konkretem Glauben aufgeht, und die ich spirituell nenne. Von daher betrifft das auch Menschen, die sich nicht als religiös verstehen, die aber zu dieser Dimension einen Zugang finden. Im Miteinander mit Menschen mit Demenz ist mir diese Dimension sehr wertvoll, enthebt sie doch aus der Krankheit, lässt uns quer zu unserem gewohnten reduktionistischen Blick Lebenstiefe miteinander erfahren. Dazu gehören Erfahrungen von Danken und Staunen, von Trauern, Lieben, Beten, Singen, von „Einander-Begegnen“.
2 Spirituelle Begleitung: Resonanzraum – Miteinander ins Schwingen kommen
Was bedeutet das für eine spirituelle Begleitung von Menschen mit Demenz? Das beutet zunächst, darauf zu hoffen, dass sich spirituell etwas zwischen uns ereignen kann. Darauf vertrauen, dass GOTT sich zeigen wird, mitten unter uns. Es geht darum, uns für spirituelle Sehnsüchte unseres Gegenübers zu sensibilisieren und sie wahrzunehmen. Auf das Gestimmtsein meines Gegenübers zu lauschen, mich einzustimmen, mitzuschwingen. Das Wesentliche in einer Begegnung ist der Resonanzraum, der entsteht, entstehen kann. Da kommt etwas ins Schwingen zwischen uns. Menschen sehen einander, nehmen einander wahr in ihrem Person-Sein. Wir sind auf der Ebene des Spürens. Jenseits von alledem, was funktionalen Charakter hat, jenseits von Sachlichkeit und Normverhalten, jenseits von Rollen oder Masken.
Diesen Resonanzraum der Begegnung erlebe ich in besonderer Weise mit Menschen mit Demenz. Ich glaube, unsere verbale Kommunikation – so sehr ich sie liebe, wenn sie existenziell geschieht – kann uns oft auf die Ebene der Sachlichkeit, des Wertenden oder Sich-Darstellenden führen. Unsere menschliche Fähigkeit, Vergangenheit und Zukunft in den Blick zu nehmen, lässt uns manches Mal den Augenblick verpassen, das „Im-Hier-und-Jetzt-Sein“.
Gottesdienst im Demenzbereich einer Pflegeeinrichtung: Frau Kaiser sieht mich kommen. Ich gehe auf sie zu, spreche sie an. Ihre Augen strahlen – leuchten: „Wie schön, dass du da bist. Das ist so gut.“ Wir unterhalten uns eine Weile. Stimmt das Wort unterhalten? Der Sachgehalt unseres Gespräches ist vielleicht gering – von außen betrachtet. In meinem Erleben ist es Begegnung pur. Ihre Freude des Angesprochenseins, des Gemeintseins berührt mich. Weil eine andere Person zu uns Du sagt, können wir Ich sagen. Wenn Menschen einander begegnen, entsteht etwas zwischen ihnen, das mehr ist als die einzelnen. Wir sprechen – und manchmal mag von außen nicht so ganz erkennbar sein, ob die Worte nach allgemeinem Verständnis zusammenpassen. Sinn-erfüllte Kommunikation, die findet hier statt. Das ist atmosphärisch deutlich spürbar. Einander verstehen. Miteinander in einen neuen Raum einsteigen und unterwegs sein. Wir gehen alle als andere aus der Begegnung hervor.
3 Recht auf Spiritualität
Wenn Menschen mit Demenz nicht mehr selbst in der Lage sind zu trinken, dann wird ihnen ein Glas gereicht oder der Becher zum Mund geführt oder ein Tropf gelegt – je nachdem, was ihnen noch möglich ist. Wenn sie nicht mehr allein beten können, wenn sie nicht mehr selbst in die Kirche gehen können, wenn sie nicht mehr wissen, wann der Bibelkreis sich trifft – dann sind sie leider sehr oft auf sich zurückgeworfen. Wenn Menschen den fruchtbaren Boden, der das Erleben von Aufgehobensein in einem großen Ganzen möglich macht oder das Getragensein in einem Lied, wenn Menschen diesen Boden nicht mehr von sich aus betreten können, dann ist es unsere Aufgabe, ihnen das zu ermöglichen. Das meine ich mit „Recht auf Spiritualität“, dass ich mit Menschen bete – und dabei sehr achtsam bin, ob es ihnen entspricht oder nicht. Oder dass ich das alte Zeichen des Segens auf die Stirn setze – das Kreuz. Dass ich Menschen einen Spaziergang in der Natur ermögliche – vielleicht gerate ich da mit ihnen ins Staunen über die Knospen der Heckenrose oder über die Gänseblümchen auf dem Rasen – Gottes Schöpfung.
4 Teilhabe am spirituellen Leben der Gemeinde
Spiritualität wird heutzutage oft vor allem als individuelle Erfahrung verstanden. Biblische Spiritualität beschreibt demgegenüber das Durchbrechen des Individuellen und das Hineingenommenwerden in Gottes Vision von dieser Erde (Butting 2009). In der Bibel geht es um eine gemeinsame Praxis. Es geht darum, dass alle genug zu essen haben (z. B.: Matthäus 14 und 15, Speisung der 5000 und der 4000).
Bezogen auf Menschen mit Demenz würde ich das übersetzen: dass sie emotional – existenziell – spirituell satt werden und wir so miteinander ein Dach über dem Kopf haben – oder sagen wir, ein leichtes Zelt der Begegnung. Das bedeutet, dass sie mithilfe von anderen in Beziehung bleiben, dass das ihnen noch immer Eigene erkannt wird, dass sie, dass wir Geborgenheit erfahren, und wir in dem allen sinnhaftes Sein in dieser Welt erleben. Das Besondere: Spiritualität wird erfahrbar in der Begegnung. Menschen mit und ohne Demenz begegnen sich spirituell auf Augenhöhe. „[…] auch wir kommen in dieser Gegenwart mit den Gedanken des Herzens in Berührung.“ (Kratzsch 2010).
5 Leibgedächntis
Basis für diese Transzendenzerfahrungen ist und bleibt unser Leib (Fuchs 2020). Er ist Speicherort unserer Geschichte, von all dem, was wir erfahren und erlebt haben. Für die spirituelle Begleitung ist es von daher lohnend, dass wir nach Zugängen über das Leibgedächtnis suchen. Denn es gibt in der Demenz eine Form des Gedächtnisses, die kaum verloren geht und die dafür sorgt, dass die Identität des Menschen wachgehalten wird: unser Leibgedächtnis.
Was ist den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen? Was ist an Bewegungsabläufen leiblich abrufbar – sei es der Wiener Walzer oder das Klavierspielen? Was verbinden Menschen mit ihrer Religiosität – den Klang des Rufs des Muezzins oder die türkische Süßigkeit, den Klang der Glocken oder den Duft von Weihnachtskeksen? Gelingt es uns, durch Duft, Klänge, Worte, Bewegung u. a. durchzudringen – durch die verkrusteten Schichten der Krankheit hindurch zur Person, werden sich die Türen des Resonanzraumes aufschwingen. Da gehen uns manchmal Augen und Ohren über: z. B. wie eine, die im Alltag alle Worte längst vergessen zu haben scheint, „Großer Gott, wir loben Dich“ in mehreren Strophen sicher mitsingt. Und wir spüren in dieser Vergegenwärtigung Leben pur.
6 … und es bleibt unverfügbar …
In der spirituellen Begleitung von Menschen mit Demenz geht es darum, spirituelles Bewegtsein wahrzunehmen und Zugänge zur spirituellen Dimension zu finden – im Vertrauen und Hoffen, dass Gott sich zeigen wird. Es geht nicht um ein Programm, sondern um ein vorsichtiges Ausprobieren, ob es etwas zum Klingen bringt, ob es auf Resonanz stößt. Es geht darum, zu entdecken, was dem jeweiligen Menschen mit Demenz heilig ist. Wie erfährt diejenige Gehaltensein, In-Beziehung-Sein, Gemeint-Sein? Wie erfährt derjenige im Hier und Jetzt Sinn?
Manches Mal ist das eine lange Arbeit des Forschens und Ausprobierens. Und manches Mal sind uns diese Momente in der Begegnung geschenkt – in denen Himmel und Erde sich berühren – und Ewigkeit durchbricht zu uns.
Literatur
Butting K (2009) Spiritualität ein biblischer Weg. Junge Kirche 2:1–6
Fuchs T (2020) Randzonen der Erfahrung. Beiträge zur phänomenologischen Psychopathologie. Verlag Karl Alber, Freiburg/München
Kratzsch U (2010) Die goldene Stunde. Junge Kirche 3:22–23
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Bolle, G. (2024). Wo Himmel und Erde sich berühren. Spiritualität und Demenz. In: Büssing, A., Giebel, A., Roser, T. (eds) Spiritual Care & Existential Care interprofessionell. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67742-1_15
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