Schlüsselwörter

1 Einleitung

Spiritualität (Sp) und damit auch Spiritual Care (SpC) sind hochaktuelle – fast möchte man sagen Mode- – Themen geworden, und das obwohl bereits 2002 die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Definition von Palliative Care ihre Bedeutung als unverzichtbarer Dimension im Total-Health-Konzept festgeschrieben hat (World Health Organisation 2002). Wenn E. Weiher 2021 Spiritualität als den „inneren Geist“, aus dem heraus ein Mensch sich versteht, aus dem er sein Leben gestaltet, er Sinn erfährt und mit dem er auch Krankheit, Sterben und Trauer zu bestehen sucht, beschreibt, so geschieht das auf der Basis der Grundannahme, dass Spiritualität ein Konstitutivum des Menschen schlechthin ist (Weiher 2014). Er differenziert zwischen der impliziten, jedem Menschen gegebenen Spiritualität und einer expliziten, die sich als spiritueller Bedarf äußert. Auch die 2010 von der European Association for Palliative care (EAPC) verabschiedete Definition basiert auf diesem Verständnis: „Spiritualität ist die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz erfahren, ausdrücken und/oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit dem Moment, dem eigenen Selbst, mit Anderen/m, mit der Natur, mit dem Signifikanten und/oder dem Heiligen.“ (Nolan et al. 2011). Diese lässt damit Raum für die unterschiedlichsten Weltanschauungen und Kulturen. Während die Sorge um die physischen, psychischen und sozialen Belange der Patienten und ihrer Angehörigen auch in einem multiprofessionellen Team zumeist festen Berufsgruppen schwerpunktmäßig zugeordnet werden, stellt der spirituelle Bereich zumeist ein Querschnittsbereich dar (Schiessl et al. 2013). Menschen in der letzten Lebensphase fragen hier häufig (und ggf. in Nebensätzen) medizinisch/therapeutisch/pflegerisch Begleitende um Unterstützung an – um die eigenen Gefühle und Gedanken zu kontrollieren. Das existenzielle Merkmal, das hier angesprochen ist, betrifft vor allem die innere Auseinandersetzung mit dem Leben als Ganzem, einen in Ansätzen vorgenommenen Lebensrückblick, schließlich Sinnerfahrung und Stimmigkeitserleben im Austausch mit anderen Menschen. Diese gemeinsame Sorge aller Gesundheitsberufe um spirituelle Ressourcen, Bedürfnisse und Sorgen kranker Menschen und ihrer Angehörigen wird mit dem Fachbegriff Spiritual Care (SpC) bezeichnet. Sie ist nicht identisch mit der zumeist konfessions- oder religionsgebundenen Seelsorge, zu welcher der Zugang aber jederzeit bei Wunsch der Betroffenen ermöglicht werden muss.

Aus der nachweislich vorhandenen Unter- und Fehlversorgung von Menschen mit Migrationshintergrund in der Hospiz- und Palliativversorgung darf eine solche in SpC extrapoliert werden. Somit rechtfertigt nicht nur der Blick auf die in den kommenden 15 Jahren in Deutschland zu erwartende Zahl von mindestens 225.000 Menschen mit Migrationshintergrund, die eine spezialisierte Palliativ- und Hospizversorgung und damit SpC benötigen, sondern auch das Recht eines jeden Menschen auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen eine gesonderte Behandlung von Spiritualität und SpC unter den besonderen Aspekten der Trans- und Interkulturalität (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Deutscher Hospiz- und Palliativverband, Bundesärztekammer 2010). Diese muss notwendigerweise in ihren Äußerungen den Bezug zum Sitz im Leben – den kulturellen, sozialen und historischen Bedingungen, für die sie Gültigkeit haben können, herstellen. Es ist auch zu beachten, dass ganz im Sinne von Palliative Care nicht nur der geriatrische und schwerstkranke Mensch, sondern auch seine Angehörigen in die Versorgung einzubeziehen sind.

2 Spiritualität und Spiritual Care im Kontext von Migration und Diversität

2.1 Ausgangssituation

SpC trifft auf eine „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz 2019) und eine damit sich verstärkende Differenzierung von Lebenswelten, in denen Unterschiede auch hinsichtlich der Spiritualität weiter zunehmen. Migration und transnationale Mobilität sind ein weiterer Treiber für gesellschaftliche Diversität, die sich einer eindeutigen kulturellen Identität oder angenommenen nationalkulturellen Zugehörigkeit entziehen. Die in Deutschland offizielle Bezeichnung „Migrationshintergrund“ für mehr als ein Viertel der Bevölkerung blendet aus, dass unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit und Staatsangehörigkeit, transnationale Mobilität für viele Menschen die wesentliche Erfahrung im Kontext von Einwanderung für ihre Arbeitsbiografie und familiäre Situation darstellt. Allein die Pendelmigration – beispielsweise von älteren Menschen der ersten Einwanderungsgeneration – zeigt, „dass Mobilität innerhalb oder grenzüberschreitend heute vielmehr die Normalität ist“ (Cattacin 2021). Gleiches lässt sich auch für den für SpC wichtigen Bereich der pflegerischen Versorgung feststellen, wo allein hunderttausende Pflegepersonen aus Osteuropa in deutschen Haushalten tätig sind.

Diversität, Migration, Transnationalität und Mobilität wirken biografisch, familiär und sozio-ökonomisch auf Spiritualität und religiöse Zugehörigkeiten. Spiritualität ist somit nicht statisch, sondern kann sich verändern oder wird je nach Ort, Umfeld und Situation unterschiedlich erlebt und praktiziert.

Auch wenn die Folgen einer defizitären Aus- und Weiterbildung in SpC der im medizinisch-pflegerischen Bereich tätigen Fachpersonen sowie die selten vorhandenen strukturellen und organisatorischen Rahmenbedingungen alle Menschen betreffen, stellt die „(Für-)Sorge für die Seele“ bei Menschen mit einem migrationsgeschichtlichen, transnational mobilen Hintergrund vor besondere Herausforderungen.

Deshalb ist für Fachpersonen im palliativen Versorgungssetting die Anforderung gestellt, einen verstehenden und vertrauensbildenden Zugang zu Menschen und ihren familiären und sozialen Bezugssystemen zu entwickeln. Nur so wird es möglich, die individuelle Einzigartigkeit der Spiritualität zu begreifen und besprechbar zu machen. Hierzu gehört auch, die eigene Prägung und persönlichen Fremdheitsgrenzen zu erkunden und zu reflektieren.

2.2 Bedingungen für eine diversitätssensible SpC

Nicht nur das Verstehen der eigenen Erkrankung und ihrer Bedeutung für die Lebensmöglichkeiten, sondern auch die Äußerungen von spirituellen Belangen werden aufgrund von Kommunikationsbarrieren erschwert oder z. T. sogar verhindert. Studien belegen in über 50 % der Fälle Übersetzungsfehler (Juckett und Unger 2014). Angehörige in einer übersetzenden und vermittelnden Rolle können Familienstrukturen ins Wanken bringen, stellen somit keinen Lösungsansatz dar, zumal diese Aufgaben von Kindern und Jugendlichen übernommen werden, die mit der Situation emotional und kognitiv völlig überfordert werden. Ursachen für den erschwerten Zugang zu Palliativ- und Hospizversorgung und damit auch zu SpC sind aber auch Nichtwissen um die Möglichkeiten einer solchen Betreuungsoption, schlechte (Vor-)Erfahrungen mit Institutionen und Misstrauen anderen Religionen gegenüber, oftmals vor dem Hintergrund ethnischer und religiöser Verfolgung in den Herkunftsländern (Kloke 2019).

Die Fachpersonen negieren nicht zuletzt aufgrund ihrer oftmals subjektiv als unzureichend empfundenen Kompetenz die Notwendigkeit der Implementierung einer „externen“ Versorgung mit Verweis auf die vermeintlich ausreichende Struktur der Großfamilie sowie deren Verankerung in der jeweils eigenen Religion oder Community. Umgekehrt nimmt der Anteil von Menschen mit Migrations- und transnationalem Mobilitätshintergrund bei den Fachpersonen stetig zu, was zur Erwartung aufseiten der Patient:innen und Angehörigen führen kann, dass durch die gleiche Muttersprache oder Migrationserfahrung Verständnis und Kompetenz implizit vorhanden sind. Beides kann hilfreich sein, bedarf trotzdem einer reflexiven Haltung der jeweiligen Fachpersonen, um Stereotypbildungen zu vermeiden und sich auch von nicht erfüllbaren Erwartungen der zu Versorgenden professionell abgrenzen zu können. Das bedeutet, dass in einem multiprofessionellen Team alle Fachpersonen für eine diversitätssensible Haltung und Kommunikation verantwortlich sind. Diversitätssensibel bedeutet, die Diversitätsmerkmale wie Alter, Geschlecht, mögliche Behinderungen, soziokulturelle Herkunft, Sprache, Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung wahrzunehmen und in ihren Wirkungen auf die Lebensgeschichte und aktuelle Situation zu verstehen. Im Gegensatz dazu stehen Kulturklischees und scheinbare Verhaltensmuster von Menschen einer angenommenen gleichen kulturellen Prägung oder Religionszugehörigkeit. Diese Kulturfalle ist z. T. Folge einer religionsbezogenen Weiterbildung in der Vergangenheit. Sie hat die zunehmende Diversität in den Religionen und die „Singularitäten“ der Betroffenen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und ihren individuellen Bildungsniveaus und Migrations- und Mobilitätserfahrungen unberücksichtigt gelassen. Ein Blick auf die Verschiedenheit der Glaubenspraxen und –überzeugungen innerhalb der organisierten römisch-katholischen Kirche, lässt den Einfluss dieser Faktoren auf die de facto sozio-kulturell-religiöse Identität des Individuums erahnen. Und dass, obwohl diese Religionsgemeinschaft die Trennung von Staat und Kirche bereits seit vielen Generationen vollzogen hat. Ein vermeintlich sicheres „Wissen“ über Kulturen und Religionen birgt die Gefahr, dass Fachpersonen glauben zu verstehen, welche spirituellen Bedürfnisse z. B. im islamischen, jüdischen oder christlich-orthodoxen Glauben relevant sind. Hierdurch werden die tatsächlichen spirituellen Belange und Bedürfnisse der Menschen nicht wahrgenommen, ggf. sogar fehlinterpretiert. Somit sind die religionsspezifischen Weiterbildungen, insbesondere wenn sie im geschichtlichen Kontext erfolgen, zwar spannend und hilfreich für das Verständnis von Religionen und Kulturen als solche. Sie haben für die konkrete Begleitung des Individuums aber nur begrenzten Wert.

2.3 Konzepte zur Berücksichtigung von Diversität

Für das Verständnis der jeweiligen Lebenssituation und Biografie spielen die oben erwähnten Diversitätsmerkmale eine entscheidende Rolle. Die Reduktion auf die Zuschreibung „Migrationshintergrund“ oder die Religionszugehörigkeit verhindert eine unvoreingenommene Wahrnehmung des Gegenübers. Daher sind immer alle Merkmale zu beachten, unabhängig davon, dass situativ ein Merkmal besondere Aufmerksamkeit benötigt. Dabei werden die Merkmale in der direkten Interaktion auf der institutionellen und der gesellschaftlichen Ebene wirksam (van Keuk et al. 2011). Das bedeutet, dass sich in der Art der Beziehung und Interaktion der Fachpersonen zu schwerstkranken Menschen und ihrem sozial-familiären Bezugsystem entscheidet, ob diese Ebenen in ihren Wirkungen bedacht werden. Fachpersonen sollten deshalb hinsichtlich der Diversitätsmerkmale Wissen haben über gesellschaftliche Konstruktionen von Ungleichheit und diskriminierende Strukturen sowie Verhaltensweisen erkennen können. Hierzu gehört auch, sich mit den eigenen Normen und Werten auseinanderzusetzen (Hofstede und Hofstede 2011) (vgl. Bargehr 2009). Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen und Beziehungsaufbau, die entscheidend ist für eine gelingende Kommunikation. Zugleich ist jedoch z. B. eine palliative Versorgungssituation durch Machtasymmetrie geprägt, da die Fachpersonen über mehr Handlungsmöglichkeiten verfügen. Diese Machtungleichheit ist für die Beziehungsebene besonders relevant, wenn Menschen sich dauerhaft als Minderheit erleben und sie auf Fachpersonen treffen, die aus ihrer Erfahrung als Mehrheitsangehörige wahrgenommen werden. Diese Minderheitenerfahrung kann zu hohen Erwartungen an die Vertreter:innen der Mehrheitsangehörigen führen, beispielweise in der Vorstellung, Fachpersonen können doch alles tun, um den Zustand zu verbessern oder die beste medizinische Versorgung auch in der Sterbephase zu gewährleisten. Dies führt wiederum bei Fachpersonen zum Reflex, dass die Einsicht in die Situation fehlt, und der Zuschreibung, dass diese Erwartung der zu Versorgenden und ihrer Angehörigen kulturbedingt ist. Dadurch werden Kontakt und Herstellen einer Beziehungsebene verhindert. Hilfreich ist es, trotz der Machtasymmetrie eine Beziehung auf „Augenhöhe“ zu ermöglichen. Hierfür ist die Reflexion der Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezogen auf die Diversitätsmerkmale durch die Fachperson hilfreich: Welche Gemeinsamkeiten habe ich als Fachperson mit der zu versorgenden Person oder der Angehörigen, was unterscheidet uns? Die Gemeinsamkeiten können dann zum Schlüssel für Kontakt und Vertrauensaufbau werden.

Soziokulturelle Prägungen, wie die Vorstellungen über die Rolle des älteren Menschen oder über Geschlechterrollen, sind abhängig von der Organisation des sozialen Zusammenlebens in einer Gesellschaft. Als Orientierung hierfür können die Analysen von Hofstede aus den 1970er-Jahren zu Individualismus und Kollektivismus dienen. „Individualismus beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindungen zwischen den Individuen locker sind: Man erwartet von jedem, dass er für sich selbst und seine unmittelbare Familie sorgt. Sein Gegenstück, der Kollektivismus, beschreibt Gesellschaften, in denen der Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir-Gruppen integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität verlangen“ (Hofstede und Hofstede 2011). Demnach ist eine kollektivistisch ausgerichtete Familie von gemeinsamen Werten und Verpflichtungen geprägt, sodass das Wohl der Gemeinschaft über dem Wohl des Einzelnen steht. In individualistisch geprägten Familien haben Selbstbestimmung und individuelle Bedürfnisse der Mitglieder Vorrang und einen hohen Stellenwert. Diese Prägungen sind jedoch nicht dichotom voneinander abgegrenzt und einzelnen Kulturen oder Ländern zuordnungsbar. Vor dem Hintergrund, dass Migration häufig mit transnationaler Mobilität verbunden ist, können beide Prägungen in einer Familie und auch intraindividuell vorhanden sein. „Dies wird besonders deutlich bei mobilen Familien, die in der Regel auf der einen Seite durch die Migration vermehrt ihren individuellen Wünschen nachleben, andererseits aber mit ihrer eher soziozentriert orientierten, transnationalen Großfamilie weiterhin stark verbunden bleiben“ (Domenig 2021). Daraus erwächst eine transnationale Form der Zugehörigkeit oder des Seins, in Form emotionaler Verbundenheit, der gemeinsamen Geschichte oder geteilter Schicksale und damit verknüpften sozialen Verpflichtungen (ebd.). Diese Prägungen, die wiederum individuell sehr differenziert sein können, sind im Kontext von SpC hoch bedeutsam. Sie zu ergründen und besprechbar zu machen, erfordert von Fachpersonen viel Zeit und Geduld für den Vertrauens- und Beziehungsaufbau.

Deshalb benötigen Fachpersonen für SpC eine Diversitätskompetenz als spezifische soziale Kompetenz. Diese ist gekennzeichnet durch

  • eine offene, interessierte Haltung,

  • Kenntnis und Selbstreflexion zur eigenen kulturellen Eingebundenheit,

  • Wahrnehmung von Machtasymmetrie und diskriminierenden Strukturen,

  • vorurteilsbewusste Kommunikation,

  • Wahrnehmung von Kulturfallen (der türkische Patient, die muslimische Frau),

  • die Fähigkeit, sich in die Rolle des Gegenübers hineinzuversetzen,

  • Ambiguitätstoleranz, d. h. Unsicherheiten und Irritationen wahrnehmen und aushalten können (Schiessl et al. 2013).

2.4 Krisensituationen im Erkrankungs-/Sterbeprozess mit besonderer Relevanz von Spiritualität – ein Fallbeispiel

Fallbeispiel

Von der Stationsärztin bekommen Sie folgende Hintergrundinformationen: Frau X lebe gemeinsam mit ihrer Tochter im Kosovo. Ihre drei Söhne seien seit 25 Jahren in Deutschland und hätten teilweise deutsche Frauen. In der Heimat habe man der Mutter gesagt, dass ihr Krebs nicht mehr behandelbar sei, und sie mit irgendwelchen Schmerztabletten weggeschickt. Die Familie habe das nicht geglaubt und die Mutter gestern nach Deutschland geholt; in der Nacht sei sie notfallmäßig aufgrund einer starken Blutung aufgenommen worden. Medizinisch wäre mit Blick auf die Ausbreitung der Erkrankung und den allgemeinen Gesundheitszustand allenfalls eine Bestrahlung sinnvoll, das aber nur unter stationären Bedingungen aufgrund der Blutungsgefahr. Sie habe das der Familie schon mitgeteilt, woraufhin die mitgereiste Tochter ihr Geld angeboten habe.

Im Zimmer treffen Sie auf eine alte, offenkundig sehr erschöpfte und auch schmerzgeplagte Frau. Am Bett neben ihr sitzt ihre sicher auch schon 60 Jahre alte Tochter. Eine Jugendliche, die aufgrund häufiger Urlaube bei der Uroma etwas Kosovarisch spricht, ist als Dolmetscherin anwesend. Bei der Symptomerfassung fällt die deutliche Diskrepanz zwischen Schmerzbeobachtung und -mitteilung auf. Die Frage nach dem Vorhandensein von Angst wird von der Tochter beantwortet mit „Wir haben den Krieg erlebt“. Das junge Mädchen beendet das Gespräch mit der Frage, wann denn der Onkologe komme und die Therapie beginne.

Konsiliarisch schlagen Sie eine Medikation gegen Schmerzen und gegen die belastende Geruchsentwicklung sowie die Anlage eines Blasenkatheters vor und bieten eine Übernahme auf die Palliativstation an. Als zu erwartende Schwierigkeiten benennen Sie: Akzeptanz einer ausschließlichen palliativmedizinischen Behandlung einschließlich Begrenzung von lebensverlängernden Maßnahmen, Aufklärung zu der Option der therapeutischen Sedierung bei terminaler Blutung, Etablierung einer (ambulanten) Palliativversorgung bei bereits bestehender Transportunfähigkeit, Deckung der auf die Familie zukommenden Kosten (besonders durch die Blutungsbestrahlung), Umgang mit den verschiedenen soziokulturellen Lebensbedingungen innerhalb der Familie (Patientin und Tochter sehr traditionell, muslimisch religiös; Söhne westlicher Lebensstil, gut integriert, areligiös), vor allem die Bedeutung lebensgeschichtlich relevanter Ereignisse (z. B. Erfahrung sexueller Gewalt). Zwei Stunden später bekommen Sie einen Anruf von der Station: Die Schmerzmedikation sei abgelehnt worden, weil sie Rauschmittel enthielte, und die Anlage eines Blasenkatheters sei aufgrund der Abwehr der Patientin gescheitert, gleiches gelte auch für die Wundversorgung.

Zunächst wird in diesem Beispiel deutlich, wie wichtig die Beachtung der soziozentrierten Prägung dieser Familiensituation ist. Alle Familienmitglieder fühlen sich verantwortlich für das Wohlergehen der Patientin, auch die Söhne, die zwar weniger traditionell in Deutschland leben, trotzdem über die transnationale Verbundenheit eher soziozentriert reagieren, indem sie mit dafür sorgen, dass ihre Mutter nach Deutschland zur Behandlung kommt. Gleichzeitig wird aus der Minderheitenposition der Familie die Erwartung auf bestmögliche Behandlung gestellt. Zusätzlich ist die Traumatisierung aus Kriegserlebnissen und einer möglichen Vergewaltigung für die Patientin eine schwerwiegende Belastung. Für den weiteren Umgang mit der Situation wären Informationen hilfreich, die die Erwartungen der Tochter und Patientin versuchen zu erfüllen: So wirkt die Gabe von Opiaten auch stressreduzierend, es ist für sie möglich, wieder etwas zu essen; dies wirkt lebensverlängernd. Die Wundversorgung und das Legen des Blasenkatheters sollten unter Anwesenheit der Tochter von einer weiblichen Pflegekraft durchgeführt werden. Nach dieser Erstversorgung empfiehlt sich, zeitnah ein Gespräch mit den Söhnen zu führen. Hierbei sollte im Vordergrund stehen, dass sie ihre Ambivalenz hinsichtlich der Verpflichtung gegenüber der Mutter und der Einsicht, dass die palliative Versorgung das Beste für ihre Mutter ist, besprechen können. Bezogen auf die oben beschriebene Diversitätskompetenz heißt das für die Fachperson, sich in die Rolle der Söhne hineinzuversetzen und mit ihnen im Gespräch ein für sie mögliches Vorgehen zu vereinbaren, z. B., dass sie in ihrer Verantwortung für die Familie ihrer Schwester verdeutlichen, dass die Palliativversorgung die beste Behandlung für die Mutter ist. Hierfür wird ein Gespräch nicht ausreichen, sondern es ist wichtig, dass die jeweilige Fachperson zuverlässig kontinuierliche Ansprechpartnerin ist und die Söhne dabei unterstützt. Über diesen Weg ist es dann auch möglich, die Spiritualität und religiöse Orientierung der Patientin zum Thema zu machen und vielleicht über den Kontakt zur örtlichen Moscheegemeinde den Besuch eines Hodscha oder des Imams zu organisieren.

3 Schlussfolgerungen und Ausblick

Thesen:

  1. 1.

    Es gibt keine spezifische SpC für Menschen mit Migrationshintergrund, weil SpC immer die sozialen, ethnischen, kulturellen und lebensgeschichtlichen So-Werdens und So-Seins Bedingungen eines jeden Menschen berücksichtigen muss. Der Respekt vor seinem inneren Geist und die Achtung seiner Würde bedingen einen religions- und kultursensiblen Umgang.

  2. 2.

    Von Empathie gekennzeichnete Um- und Eingehensformen auf die Spiritualität von Menschen mit Migrationshintergrund am Lebensende unter Einbeziehung ihrer Angehörigen können wesentlich zu Toleranz und Wertschätzung in unserer durch Einwanderung gekennzeichneten Gesellschaft beitragen.

  3. 3.

    Die Integration von SpC auch oder gerade für Menschen mit Migrationshintergrund in die Versorgungsplanung kann nur im Zusammenspiel von Schulung der Mitarbeitenden im Gesundheitssystem im diversitätssensiblen Umgang und Zugehen auf Multiplikatoren der verschiedenen Communitys unter Einbeziehung existierender religions- und konfessionsgebundener Strukturen und Institutionen geschehen. Sie sind die Basis für die von der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland geforderte Zugangsgerechtigkeit zur Palliativ- und Hospizversorgung, aber eben auch zu SpC.