Schlüsselwörter

1 Einleitung

Der 10. Oktober ist der „World Mental Health Day“ mit dem Ziel, aus „Mental health and wellbeing for all a global priority“ zu machen. Es ist somit ein Teilziel des dritten der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (UN Sustainable Development Goals) „Good health & Well-being“. Gegenüber einem medizinischen Gesundheitsmodell muss weiterhin noch dafür gekämpft werden, auch die soziale Seite im Sinne sozialer Gerechtigkeit (und Menschenrechte) im bio-psycho-sozialen Konzept von Gesundheit allgemein und von psychischer Gesundheit speziell ernst zu nehmen – erst recht mit den Erfahrungen der 2020 ausgebrochenen Corona-Pandemie (Lomax et al. 2022). Nicht weniger mühsam ist das Ringen darum, das spirituelle und religiöse Erleben und Verhalten in Psychologie und Gesundheitswissenschaften angemessen einzubeziehen. Doch was heißt angemessen, wo die Vorverständnisse häufig sehr disparat sind?

Die WHO erkannte Ende des 20. Jahrhunderts die Relevanz von Spiritualität und Religiosität im Kontext von Lebensqualität („WHOQOL“) und von „spirituellen Bedürfnissen“ im Kontext von Palliative Care ausdrücklich an. Aus der Einladung der 37. Weltgesundheitsversammlung (WHA) der WHO 1984, die „spirituelle Dimension“ in der Gesundheitsversorgung einzuschließen, folgte in der 51. WHA jedoch keine Bereitschaft, die „spirituelle Dimension“ in die WHO-Gesundheitsdefinition aufzunehmen, da dies mehr Probleme schaffen als lösen würde (Peng-Keller und Neuhold 2019, S. 57). In Versuchen zu einer Ausweitung des Konzepts auf ein bio-psycho-sozio-spirituelles Modell von Gesundheit, wie auch in Diskursen über Arten von Spiritualität, wird mitunter von „Spiritual Health“ gesprochen, ohne klare Definition – oft eher schillernd, intuitiv, suggestiv und wertend.

Darum kann dieser kurze Beitrag nur einen Versuch und Vorschlag darstellen, Phänomene und Konzepte von „Mental Health“ und „Spiritual Health“ sowie Gedanken über ihr Verhältnis zueinander zu ordnen und reflektieren, beginnend mit einem Nachdenken über Gesundheit selbst.

2 Die Verborgenheit der Gesundheit

Während die frühe WHO-Definition der 1940er-Jahre Gesundheit als Zustand vollständigen physischen, psychischen und sozialen subjektiven Wohlbefindens definierte, sprach der Philosoph Hans Georg Gadamer (1993) von der Gesundheit als einem „verborgenen Gut“. Es sei ein „selbstvergessenes Weggegebensein“ an den Anderen oder an das Andere der privaten, beruflichen, gesellschaftlichen Lebensvollzüge: „unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstvergessen“, „selbst Strapazen und Anstrengungen nicht spüren“ (S. 144). Gadamer betont nicht ein (gefühltes) subjektives Wohlbefinden, sondern unterstreicht sogar: „Gesundheit ist eben überhaupt nicht ein Fühlen, sondern ist Da-Sein, In-der-Welt-Sein, Mit-den-Menschen-Sein, von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig oder freudig erfüllt sein.“ (S. 144). Unschwer lässt sich hierbei an das erstmals so von Mihaly Czsikszentmihalyi benannte „Flow-Erleben“ denken, in dem ein Mensch selbstvergessen ganz in seinem Tun aufgeht (Csikszentmihalyi 1999, 2008), und an das Erleben dessen, was Aaron Antonovsky als zentrales salutogenetisches, d. h. zur Gesundheit beitragendes Konzept fasste, das Konzept des Kohärenzsinns (als Gefühl der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens und seiner Herausforderungen (Antonovsky 1997). In den Gefühlen der Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit des Lebens klingen ungezwungen Aspekte möglicher religiöser, spiritueller und existenzieller Fragen an.

Gadamer fährt fort: „Sie [die Gesundheit] ist die Rhythmik des Lebens, ein ständiger Vorgang, in dem sich immer wieder Gleichgewicht stabilisiert.“ (S. 145). Dieser Vorgang – kein statischer Zustand! – geschehe jedoch eben als gesunder Vorgang weitgehend im Verborgenen; diese „Verborgenheit der Gesundheit“ ist „das Geheimnis unserer Lebendigkeit“ (S. 146) und mit Verweis auf Heraklit unterstreicht der Heidelberger Philosoph: „Die verborgene Harmonie ist immer stärker als die offenkundige“ (S. 147). Letztere wird als Resultat der bewussten Anstrengungen und mühsamen Versuche erreicht, eine solche Harmonie wiederherzustellen. Was hingegen verborgen geschieht, ist nicht einfach wahrzunehmen und geeignet in Worte zu fassen.

Weitaus besser sind die offenbar werdenden Störungen bzw. Erkrankungen als Phänomene erkenn-, fass- und beschreibbar, in denen das selbstvergessene Weggegebensein und das rhythmisch-dynamische Gleichgewicht aufgestört, erschwert, gekippt, unterbrochen werden. Darum formulierte Niklas Luhmann für die funktionale Ausdifferenzierung der Medizin: „In diesem Sinne ist Medizin ein System des Umgangs mit Krankheit und nicht ein System der Herstellung von Gesundheit“ (Luhmann 1990, S. 182). Die systembildende binäre „Codierung“ lautet „krank“ und „gesund“. Systemtheoretisch ist dabei für die Medizin Krankheit der positive Wert, Gesundheit der negative, mit weitreichenden Folgen: „Nur Krankheiten sind für den Arzt instruktiv, nur mit Krankheiten kann er etwas anfangen. Die Gesundheit gibt nichts zu tun, sie reflektiert allenfalls das, was fehlt, wenn jemand krank ist. Entsprechend gibt es viele Krankheiten und nur eine Gesundheit“ (S. 179). Dies hat nach Luhmann die Einsicht zur Konsequenz, „dass im Code der Medizin die Krankheit, die man nicht will, als der positive Wert fungiert und alle Detaillierung des Wissens und der Operationen über diesen Wert läuft, während die Gesundheit zwar geschätzt wird, aber im System keine Anschlussfähigkeit hat“ (S. 184). Ungeachtet dieser „perversen Vertauschung der Werte“ (S. 180) von Krankheit und Gesundheit im Medizinsystem bleibt Gesundheit das Ziel – wenn auch unklar sei, worin sie bestehe. Denn die Medizin, so Luhmann, habe keine auf ihre Funktion bezogene Reflexionstheorie entwickelt: „Hier zielt das Handeln auf den Reflexionswert Gesundheit – und deshalb ist nichts weiter zu reflektieren.“ (S. 180).

Mit Gadamer und Luhmann kann für den Kontext dieses Beitrages jedoch festgehalten werden: Die Erkrankungen lassen wie eine Negativ-Folie mehr davon erkennen, was es mit dem verborgenen Gut namens „Gesundheit“ auf sich hat, sei dies bezogen auf die (eher) somatischen wie auf die (eher) psychischen Aspekte im Zusammenspiel mit sozialen Einflüssen zu ihrer „verborgenen Harmonie“ und deren Störungen.Footnote 1

3 Mental Health – Psychische Gesundheit

Was ist unter psychischer Gesundheit als Teil der verborgenen Harmonie und des selbstvergessenen Weggegebenseins zu verstehen? Die WHO definierte 2004 in ihrem Bericht zur Förderung psychischer Gesundheit diese als einen Zustand des Wohlergehens, in dem das Individuum seine Fähigkeiten verwirklicht, mit den normalen Stressbelastungen des Lebens umgehen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und fähig ist, einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft zu erbringen.Footnote 2 Subjektives Erleben, Entfaltung persönlicher Fähigkeiten, Stressbewältigung, Arbeitsfähigkeit und Beitrag zur Gemeinschaft sind demnach Teilindikatoren psychischer Gesundheit oder von deren Einschränkung bzw. Störung.

Im Modell einer „Psychologie der seelischen Gesundheit“ definieren Peter Becker und Beate Minsel (1986) psychische Gesundheit als „Überwiegen der protektiven, kompensatorischen Anteile und der Umweltstabilisierungen im individuellen System einer Persönlichkeit gegenüber den konstitutionellen Vulnerabilitäten und den Umweltbelastungen“ (vgl. Häcker und Stapf 2004, S. 366). Das erinnert an das rhythmische Gleichgewicht bei Gadamer. Sie konkretisieren, dass die psychischen Stabilisierungen in der Wechselwirkung von Persönlichkeits- und Umweltfaktoren in „der ständigen Auseinandersetzung mit den Grundwerten und Normen von Gesellschaften und deren Veränderungen“ (Häcker und Stapf 2004, S. 366) stattfinden.

Die Psychiaterin und Forensikerin Hildburg Kindt unterstrich die damit implizierte sozio-kulturelle Seite psychischer Erkrankungen und psychischer Gesundheit in einem einschlägigen Lehrbuch Anfang der 1980er-Jahre ausdrücklich: „Das, was für psychisch krank gehalten und auch so genannt wurde, ist von jeher abhängig von zeit- und kulturspezifischen Gesichtspunkten gewesen. Aber nicht nur medizinisch-biologische Befunde, sondern vorwiegend Faktoren der sozialen Integration und der Sozialmoral haben hier zu Norm- und Wertbegriffen geführt, an denen oftmals Maßstab und Benennung psychischer Störungen orientiert wurden. K. Jaspers war der Ansicht, dass dem ‚psychischen Krankheitsbegriff‘ ein ‚allgemeiner Unwertsbegriff‘ zugrunde liegt, der versuche, die ‚heterogensten Realitäten‘ zusammenzufassen. Er folgert daraus, dass krank im Hinblick auf seelisches Geschehen zunächst nichts aussagen könne, sondern weitere Erklärungen notwendig seien.“ (Kindt 1982, S. 255). Ausnahmen davon seien „akute symptomatische Psychosen mit Vigilanzstörungen, schwere chronische symptomatische Psychosen sowie Demenzen und Oligophrenien ausgeprägten Grades, bei denen Art und Schwere der Störung regelhaft ist.“ (S. 255). Wenn Kindt 1982 feststellt, „Einteilungsschemata psychischer Störungen […] sind […] immer nur vorläufige Ordnungssysteme“ (S. 257), weist sie hellsichtig in die Zukunft weiterer Bemühungen bis heute, psychische Gesundheit und Krankheit konzeptionell zu fassen, deren philosophischen, anthropologischen, sozialen und ethischen Prämissen wie Konsequenzen auch künftig kritisch reflektiert und diskutiert werden müssen (vgl. Heinz 2021).

2013 definierte das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen, DSM-5TM, der American Psychiatric Association psychische Erkrankungen als Syndrome, die durch klinisch bedeutsame Störungen gekennzeichnet sind, und zwar im Denken, in der Emotionsregulation oder im Verhalten eines Menschen. Die Störungen sind jeweils Ausdruck von zugrundeliegenden psychischen, biologischen oder Entwicklungsvorgängen. Psychische Erkrankungen sind üblicherweise verbunden mit erheblichem Stress oder relevanten Einschränkungen in den sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Aktivitäten. Eine erwartbare oder kulturell akzeptierte Reaktion auf eine Stresssituation oder einen Verlust (wie dem Tod einer wichtigen Person) ist demnach jedoch keine psychische Erkrankung. Sozial abweichendes Verhalten (z. B. politisch, religiös oder sexuell) und Konflikte des Individuums mit der Gesellschaft sind ebenfalls keine psychischen Erkrankungen, es sei denn die Abweichung oder der Konflikt rührt von einer Dysfunktion des Individuums her, wie sie anfangs beschrieben wurde.

Im Sinne Kindts öffnen heute die psychiatrischen Klassifikationen DSM-5TM und ICD 11 (WHO 2019, in Kraft 2022) ihren bisherigen kategorialen Zugang der Beschreibung psychiatrischer Störungen für ein dimensionales Verständnis, so wie es die psychodynamisch orientierten Klassifikationen OPD-2Footnote 3 (Arbeitskreis 2014) sowie PDM (PDM Task Force 2006) schon länger gefordert und ihrerseits etabliert haben. Das PDM setzt sich zum Ziel, um der vollen Breite und Tiefe menschlichen kognitiven, emotionalen und verhaltensmäßigen Funktionierens gerechter zu werden (S. 14), einen diagnostischen Rahmen zu bieten, der drei Dimensionen systematisch beschreibt (Abb. 12.1):

Abb. 12.1
figure 1

Mehrdimensionales Modell zur Erfassung von Profilen psychischen Funktionierens. (Vgl. PDM Task Force 2006, S. 1–9; KB)

ICD-11 unterscheidet nun Funktionsniveaus der Persönlichkeit(-sstruktur), ähnlich wie die P-Achse von PDM und künftig OPD-3Footnote 4; mit anderen Worten wird eine Person mit ihrer Persönlichkeitsstruktur nunmehr daraufhin diagnostiziert, auf welchen Funktionsniveaus eines Kontinuums sie sich in verschiedenen Aspekten psychischer Funktionen regelmäßig verhält. Die PDM Task Force definiert drei vorherrschende Niveaus: gesundes Niveau, neurotisches Niveau, Borderline-Niveau.Footnote 5 Das Funktionsniveau wird jeweils eingeschätzt in Bezug auf die folgenden Fähigkeiten (Abb. 12.2):

Abb. 12.2
figure 2

Fähigkeitsbereiche zur Einschätzung von Funktionsniveaus der Persönlichkeit (P-Achse; nach PDM Task Force 2006, S. 22, KB; die ringförmige Darstellung soll verdeutlichen, dass sie unterscheidbar sind, aber auch miteinander zusammenhängen und interagieren)

  1. 1.

    Identität: sich und andere in komplexer, stabiler und zutreffender Weise sehen;

  2. 2.

    Objektbeziehungen: intime (innige), stabile und befriedigende Beziehungen aufrechterhalten;

  3. 3.

    Affekttoleranz: die volle Bandbreite altersgemäßer Affekte in sich erleben und in anderen wahrnehmen;

  4. 4.

    Affektregulierung: Impulse und Affekte in einer Weise regulieren, die die Anpassung und Zufriedenheit fördern, mit Flexibilität im Gebrauch von Abwehrmechanismen und Bewältigungsstrategien;

  5. 5.

    Überich-Integration (bzw. ideales Selbstbild; Ich-Ideal): einer konsistenten und reifen moralischen Sensibilität entsprechend funktionieren;

  6. 6.

    Realitätsprüfung: Ein- und Wertschätzen von, wenn auch nicht notwendig übereinstimmen mit, konventionellen Vorstellungen davon, was realistisch ist;

  7. 7.

    Ich-Stärke und Resilienz: auf Stress mit Ressourcen antworten und sich von schmerzlichen Ereignissen erholen. ohne allzu große Schwierigkeiten (PDM Task Force 2006, S. 22).

Auf dem gesunden Niveau der Persönlichkeitsorganisation hat ein Mensch all diese Fähigkeiten in stabil-flexiblem Ausmaß, während auf neurotischem Niveau die meisten in beträchtlichem Maß vorhanden sind, obwohl sich ein oder zwei Bereiche problematisch zeigen. Auf dem Borderline-Niveau (von mild über moderat bis schwer) hingegen sind meist die ersten vier Bereiche ernsthaft eingeschränkt, die Realitätsprüfung jedoch nur in besonders schweren Fällen. Überich-Integration, der fünfte zuvor genannte Bereich, ist besonders defizitär bei narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen. Zugleich wird betont, dass trotz der diagnostischen Tendenz, eine Person hauptsächlich an einem Punkt des Kontinuums zwischen schwer borderline und gesund zu sehen, viele Menschen unterschiedliche Fähigkeiten oder Elemente aufweisen, die jeweils als gesund oder neurotisch oder borderline betrachtet werden könnten (PDM Task Force 2006, S. 22 f.).Footnote 6

Im Bewusstsein kultureller Unterschiede bei gleichzeitig pragmatischem Zugang gemeinsamen Verständnisses grundlegender Aspekte schlagen Galderisi et al. (2015, S. 231 f.; vgl. Palumbo und Galderisi 2020) eine Definition vor, in welcher das dynamische Gleichgewicht „verborgener Harmonie“ (Gadamer) anklingt und auch die Beziehung zwischen Körper und Geist (body and mind) einbezogen wird:

„Mental health is a dynamic state of internal equilibrium which enables individuals to use their abilities in harmony with universal values of society. Basic cognitive and social skills; ability to recognize, express and modulate one’s own emotions, as well as empathize with others; flexibility and ability to cope with adverse life events and function in social roles; and harmonious relationship between body and mind represent important components of mental health which contribute, to varying degrees, to the state of internal equilibrium.“

Erläuternd fügen sie an, dass sie unter „Universal Values“ nicht solche mancher politischen oder sozialen Diskurse verstehen, sondern Respekt und Sorge für sich selbst und andere Lebewesen; die Anerkennung der Verbundenheit unter Menschen, Respekt für die Umwelt und für die eigene Freiheit und die Freiheit anderer. Alle Komponenten dieses Definitionsvorschlages seien wichtige, aber nicht zwingende Aspekte psychischer Gesundheit, die in unterschiedlichem Ausmaß zum Gleichgewicht beitragen, sodass einzelne voll entwickelte Funktionen auch zu Einschränkungen anderer Aspekte führen können. Zum Beispiel könne eine sehr empathische Person, die sehr an gegenseitiger Teilhabe interessiert ist, eine moderate kognitive Einschränkung kompensieren und immer noch ein befriedigendes Gleichgewicht finden, um ihre Lebensziele zu verfolgen (Galderisi et al. 2015, S. 232). Psychische Gesundheit ist somit nicht einfach als ein ideales oder optimales Funktionieren aller Fähigkeitsbereiche, „Achsen“ bzw. Dimensionen einschließlich ihrer Wechselwirkungen zu verstehen, sondern im flexiblen Sinne der entwicklungspsychologischen Formulierung Donald W. Winnicotts (2020) als „good enough“.

Intuitiv ist es ohne Weiteres möglich, zu diesen Beschreibungen auch Aspekte von Spiritualität zu assoziieren. Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch eines eher systematischen Zugangs.

4 Spiritualität und Gesundheit

4.1 Zum Spiritualitätsbegriff

Für das weitere Nachdenken über spirituelle Gesundheit und gesunde Spiritualität ist es angebracht, die Verwendung des Begriffs „Spiritualität“ zumindest für diesen Beitrag zu klären.Footnote 7 Denn er schillert in vielfacher Weise und wirkt wie ein Container-Begriff, unter dem „alles Mögliche“ verstanden werden kann: etwa Verbunden- und Einssein, Beziehung zu Gott oder einem höheren Wesen, Verbundensein mit der Natur, Beziehung zu anderen, Selbsttranszendenz, Beziehung zum Selbst, Praxis von Gebet und Meditation, paranormale Erfahrungen und Fähigkeiten oder veränderte Bewusstseinszustände (vgl. Bucher 2007). Da Spiritualität sowohl ohne Bezug auf eine konkrete Religion verwendet werden als auch synonym mit Religiosität als persönliche religionsbezogene Lebensorientierung, Frömmigkeit bzw. Glaubenspraxis verstanden werden kann, wird Spiritualität im Folgenden für beides verwendet, jedoch – wo nicht anders verdeutlicht – stets mit Bezug auf die subjektive SeiteFootnote 8 der Person und auf ihre Art dessen, wie sie sich – persönlichkeitsspezifisch einschließlich ihrer lebensgeschichtlichen Leibes- und Beziehungserfahrungen – als spirituell (religiös) erlebt und verhält.Footnote 9

4.2 Die Frage nach der Wahrheit und die Frage nach der Gesundheit von Spiritualität

Religionen, ebenso wie persönliche Religiosität und auch nicht religionsbezogene Formen persönlicher Spiritualität, verstehen sich primär (theologisch, religionswissenschaftlich, soziologisch [systemisch] und anthropologisch) unter Leitdifferenzen mit Codierungen wie immanent und transzendent, heilig und profan, wahr und falsch, gut und böse und nicht unter der Leitdifferenz mit dem Code gesund – krank (oder ungesund). Wird sie für eine Zweitcodierung von Spiritualität eingeführt, ist dann die Rede von „gesunder Spiritualität“, „spiritueller Gesundheit“, „spirituellem Wohlbefinden“ (Spiritual Well-Being; Bredle et al. 2011), „religiösem Coping“ (inkl. Negative Religious Coping und Spiritual Struggles, Stauner et al. 2016), „pathologischer Religiosität“ (Utsch 2012), „Gottesvergiftung“ (Moser 1976) u. v. m. Damit erweist sich eine Codierung mit „gesund-krank“ im Hinblick auf Spiritualität intuitiv, aber auch für eine soziologisch-weltanschauliche, phänomenologische wie individuelle Betrachtung als nützlich und im produktiven Sinne als „religionskritisch“.

Eine Zweitcodierung von Religiositäten und Spiritualitäten mit den Codes „gesund – krank“ eröffnet jedoch nicht nur neue „Abstraktions- und Vergleichsmöglichkeiten“.Footnote 10 Diese Zweitcodierung ist dem Ureigenen von Religionen und Spiritualität selbst grundsätzlich nicht fremd und äußerlich. Denn alle großen Religionen haben ihrerseits wesentliche Bezüge, Antworten und Verhaltensvorschläge zum Umgang mit Gesundheit und Krankheit als wesentlichen Dimensionen des Lebens und der Erfahrungen von kontingenter Immanenz und über sie hinausweisender Transzendenz. Nicht nur vordergründig religiös entkernte spirituelle Übungen, wie Achtsamkeitsübungen und Yoga, wollen dem Leben, dem Wohlbefinden, der Gesundheit und Genesung, der Bewältigung von Krisen und Kontingenz dienen. Auch religiöser Glaube, persönliche Gottesbeziehung bzw. Gottesverehrung, zwischenmenschliche Gemeinschaft im Glauben und Beistand füreinander will in diesem gesundheitsförderlichen Sinn positive Effekte erzielen.

Die Frage nach der Wahrheit bezüglich Spiritualität wird allerdings nicht durch die Zweitcodierung „gesund-krank“ und die Frage nach ihren positiven Effekten, nach der Gesundheit oder dem Wohlergehen abgegolten, noch geschieht dies umgekehrt. Die Codierungen heben sich nicht gegenseitig auf; sie hängen offenbar spannungsvoll zusammen und können auch im Widerspruch zueinander erlebt werden, etwa im belastend erlebten „Spiritual Distress“ spirituellen Ringens („Spiritual Struggles“) und „Wachsens“. Mit dieser Voraussetzung ist auch die Forschung zu Gesundheitseffekten von Spiritualität zu verstehen, einzuordnen und als bedeutsamer Beitrag nicht nur zu Wohlergehen und Lebensqualität, sondern auch zum Eigentlichen von Spiritualität selbst wertzuschätzen. Allerdings kann die Gesundheitsorientierung diese Differenzierung ebenso aus dem Blick verlieren und Spiritualität zum Mittel zum Zweck reduzieren wie die ökonomische Leitidee im Gesundheitswesen die Patientenorientierung. Bereits William James sprach in seinen Gifford-Lectures 1902 (James 1997; Kap. 4 und 5) von „Gesundheitsreligion“ und hatte damit kritisch die Verbindung des sog. „positiven Denkens“ als Selbstheilung mit (erhofften, vermeintlichen) Gesundheitseffekten im Blick („Mind Cure“).

4.3 Empirische Forschung zu Gesundheitseffekten von Spiritualität

Die empirische Forschung zu physischen und psychischen Gesundheitseffekten oder zumindest Korrelationen mit verschiedenen Gesundheitsparametern ist in den letzten drei Jahrzehnten unübersehbar geworden. Unbeschadet vieler Detailfragen und -analysen wird i. d. R. ein Befund signifikanter, schwacher gesundheitspositiver Korrelationen berichtet. Angesichts des multifaktoriellen bio-psycho-sozialen Krankheitsgeschehens sind diese i. d. R. schwachen Korrelationen zwar sehr beachtlich, ihre Wirkpfade jedoch unklar. Darüber hinaus wird angesichts entsprechender Befunde meist ein Hinweis auf mögliche gesundheitsnegative Korrelationen angstbesetzter religiöser Vorstellungen gegeben (vgl. Frick 2022).

4.4 Erklärungsversuche der Wirkungen von Spiritualität auf Gesundheit und Krankheit

Die Ansätze zum Verstehen und Erklären der Wirkpfade für die gesundheitspositiven Befunde sind vielfältig (vgl. Klessmann 2020, S. 28 f.):

  1. 1.

    Die Verhaltenshypothese unterstreicht die gesundheitsförderliche Wirkung ethischer Verhaltensregeln, die Menschen mit der Spiritualität befolgen.

  2. 2.

    Die Kohäsionshypothese hebt die Bedeutung vertrauensvoller sozialer Beziehungen und Unterstützungen in der Gemeinschaft spirituell Gleichgesinnter für die Gesundheit hervor.

  3. 3.

    Die Kohärenzhypothese nimmt (im Sinn des Kohärenzsinns der Salutogenese-Theorie Antonovskys, s. o.) an, dass spirituelle Deutungen kritischer Lebensereignisse einen Gesundheitsvorteil bringen.

  4. 4.

    Die Bewältigungshypothese schreibt gelebter Spiritualität (Religiosität) eine gesteigerte Fähigkeit zu, Schwierigkeiten und Krisen zu bewältigen („Religious Coping“).

  5. 5.

    Die Selbstwerthypothese erkennt im Glauben, von Gott angenommen, gerechtfertigt und geliebt zu sein, eine Stärkung des Selbstwertgefühls, welches im Unterschied zu Selbstzweifeln und Unsicherheit die Gesundheit verbessere.

  6. 6.

    Die Hypothese der Stressreduzierung basiert auf dem soliden empirischen Befund, dass Meditation (inkl. Gebet) entspannungsförderlich wirkt und negatives Grübeln und Fühlen reduzieren kann.

  7. 7.

    Die Placebohypothese deutet schließlich religiöses oder spirituelles Vertrauen und Erwarten übernatürlicher Hilfe als Placebo, das schon als solches zu mehr innerem Frieden und Gleichgewicht führt und zur Genesung oder Bewältigung beiträgt.

Umgekehrt können angstbesetzte Vorstellungen und Praxen diese Effekte konterkarieren und kontaminieren, wie es besonders Tilmann Moser als „Gottesvergiftung“ beschrieb (Moser 1976). Jahrzehnte später arbeitete er therapiebasiert das Potenzial der spirituellen „Fähigkeit zur Andacht“ (Moser 2003, S. 23) heraus: Dieser bereits in Kleinkindern vorhandene Fähigkeit komme „eine wichtige Bedeutung für den Aufbau ihrer seelischen Welt“ (Moser 2003, S. 24) zu: „Es ist dann entscheidend, wie diese Fähigkeit zur Andacht aufgenommen wird und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare Gefäß hineingießen. Wird der strenge Richtergott hineingegeben, dann kann das Gift der Lebensverneinung tief im Zentrum der Persönlichkeit sitzen“ (S. 24). Sie kann – und das ist das Primäre – aber auch „eine gewaltige Quelle von Kraft und seelischem Reichtum“ (S. 27) sein, bleiben – oder, z. B. mithilfe geeigneter therapeutischer Interventionen, neu und mehr werden. Moser selbst bezeichnet es als „eine lohnende, ja [ihn selbst, kb] andächtig machende Aufgabe, ein neurotisches Gottesbild von einer Gewissheit im Patienten zu trennen, dass eine höhere Macht ihn als Subjekt oder Individuum oder Seele in der Welt für wertvoll, willkommen und lebensfähig hält“ (S. 18).

5 Spirituelle und existenzielle Bedürfnisse sind unterdeterminiert

Viktor Frankl erkannte das Leiden an Sinnlosigkeit als eine Quelle psychischer Belastungen und Störungen und umgekehrt die heilsame Wirkung des Entdeckens von Lebenssinn, das er mit der sog. „Logotherapie“ in Ergänzung (nicht Konkurrenz oder Opposition) zu bewährten psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlungen zu erleichtern suchte (Frankl 1977). Analog entwickelte der amerikanische Psychotherapeut Irvin Yalom (2010) die sog. „Existentielle Psychotherapie“ aus der Überzeugung heraus, dass viele psychische Störungen tiefere Fragen und Ängste abwehren, nämlich den „Konflikt, der aus der Konfrontation des Individuums mit den Gegebenheiten der Existenz hervorgeht“ (Yalom 2004, S. 239). Diese Gegebenheiten seien die „vier letzten Dinge(n): Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit“ (240). Sie stellen in Yaloms existenzialistischer Sicht den Menschen vor das Dilemma, als sinnsuchendes Wesen in ein Universum hineingeworfen zu sein, „das keinen Sinn hat“ (S. 242). Trotz ihrer Unausweichlichkeit werden sie, noch mehr als im täglichen Leben einer säkularen Welt (Taylor 2009), in der üblichen Theorie und Praxis der Psychotherapie, so Yalom, nicht beachtet, ja z. T. aktiv ignoriert.

Ohne dem von Nietzsche übernommenen Nihilismus Yaloms folgen zu müssen, sind Yaloms Fragen auf- und ernst zu nehmen, die jeden Menschen „unbedingt angehen“ (Paul Tillich 1978) können.

Die mit diesen Fragen verbundenen Bedürfnisse sind als „existenzielle Bedürfnisse“ eine Teilgruppe der spirituellen Bedürfnisse als hypothetischem Konstrukt, das Arndt Büssing als Spiritual Needs Questionnaire operationalisierte und empirisch validierte (vgl. Büssing, in diesem Band). Es enthält fünf unterscheidbare Gruppen spiritueller Bedürfnisse: Im engeren (expliziten) Sinne religiöse Bedürfnisse, existenzielle Bedürfnisse der Sinnsuche, Bedürfnisse nach innerem Frieden, Generativitätsbedürfnisse („Weiter-Geben-Können“) und soziale Bedürfnisse, besonders bezogen auf bedeutsame Andere. Dieses Konstrukt hat sich kulturen- und religionenübergreifend wie auch in nicht religiösen und säkularen Kontexten empirisch bewährt (Büssing 2021). Es erfasst, was Menschen subjektiv als Bedürfnis empfinden und mitzuteilen bereit sind. Es erfasst nicht, wie sie mit ihren Bedürfnissen umgehen und sie gewissermaßen „stillen“. Gerade darin liegt aber auch ein Grund für die weltweite Bewährung des Konstrukts spiritueller Bedürfnisse: Es nimmt ernst und operationalisiert als eine universale anthropologische Gegebenheit oder Anlage, dass spirituelle und existenzielle Bedürfnisse religiös und phänomenologisch so un(ter)determiniert sind (Baumann und Frick 2021), dass sie religiös, historisch, kulturell, subjektiv und intersubjektiv (sozial) mit vielfältigsten spirituellen Inhalten (Narrativen), Vorstellungen, Idealen und Praxen verbunden und geprägt sein können.Footnote 11

Sie können individuell wie sozio-kulturell beachtet, gestillt, entstellt, verzerrt, frustriert oder auch narkotisiert (und verdrängt) werden. Mensch und Menschheit mögen zwar als „naturaliter“ spirituell, religiös ansprechbar oder transzendenzoffen verstanden werden, doch selbst innerhalb fester TraditionenFootnote 12 von Spiritualität ist die Ausprägung spiritueller Bedürfnisse und der Umgang mit ihnen individuell höchst variabel und keineswegs festgelegt. Erst recht gilt das in einer zunehmend säkularen, pluralistischen und individualistischen Welt. Diese prinzipielle Unterdeterminierung spiritueller Bedürfnisse ist aus christlicher Sicht zugleich Ausdruck der gottgewollten Freiheit der Menschen; sie sind weder religiös (inhaltlich) determiniert dahin gehend, dass eine bestimmte Antwort für jeden Menschen zwingend wäre, noch darin, welche Funktionen sie für die Menschen erfüllen bzw. wozu die Menschen sie gebrauchen.

Diese Funktionen spielen eine zentrale Rolle für die weiteren Überlegungen zu „Spiritual Health“.

6 Psychosoziale Seiten von Religionen/Spiritualität und ihre Funktionen

Erleben und Verhalten konstituieren den Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft. Soweit dieses Erleben und Verhalten als erkrankt oder gestört wahrgenommen werden, vom Subjekt selbst oder von (Teilen) seiner Umwelt, sind sie auch Gegenstand der Psychopathologie, der Psychiatrie und Psychotherapie. Auch „spirituelles“ Erleben und Verhalten gehört in diesem Sinne in den Gegenstandsbereich von Psychologie und Psychopathologie bzw. Psychiatrie und Psychotherapie. Sie nicht zu beachten, gleicht dem Ausblenden von Teilen des Gegenstands „Erleben und Verhalten“ selbst; dies kann methodisch je nach Fragestellung berechtigt sein, nicht jedoch prinzipiell. Aus der Sicht der Psychologie kann darum festgehalten werden: Jedes subjektive spirituelle (religiöse) Erleben und Verhalten hat eine kognitive, eine emotionale, eine verhaltensmäßige und eine soziale Seite. Jede dieser Seiten kann den Funktionen dienen, die Religionen und (mutatis mutandis, mehr oder weniger) auch Religionen-ungebundener Spiritualität zu eigen sind. Als Glaubenssysteme oder Weltanschauungen ordnen sie das Leben, helfen sie Krisen oder Kontingenz zu bewältigen. Sie provozieren auch Krisen – kognitiv, emotional, im Verhalten und in der sozialen Um- und Mitwelt (vgl. Theissen 2000, S. 30–32).

Die folgende recht einfache Matrix (Tab. 12.1) kann bereits ersichtlich machen, wie differenziert die psychologischen und sozialen Aspekte und Wirkungen im Erleben und Verhalten eines Menschen mit Blick auf die persönliche Religiosität und Spiritualität sein können. Sie können ganz verschieden im individuellen Erleben und Verhalten ansetzen und sich als zentral, bedeutsam, nützlich oder belastend zeigen – in vielfältigen Kombinationen mal mehr kognitiv, mal stärker emotional, mal besonders mit Betonung des Verhaltens oder des Sozialen, Gesellschaftlichen, Zwischenmenschlichen.

  • Sie können helfen, das Leben zu ordnen: kognitiv im Denken über die Welt und ihre Zusammenhänge, emotional im Vertrauen auf einen guten Schöpfer oder eine positive höhere Macht, im Ausrichten des Verhaltens an einem religiösen oder spirituellen Ethos und sozial in der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft ähnlich gesinnter Menschen.

  • Ähnlich variabel kann dies aussehen im Bewältigen (Coping) herausfordernder, kritischer Lebensereignisse.

  • Im Denken, Fühlen, Verhalten und Sozialen können jedoch auch existenzielle, religiöse oder spirituelle Krisen provoziert werden, die bisherige Ordnungen oder Bewältigungsweisen erschüttern und infrage stellen.

Tab. 12.1 Psychosoziale Seiten von Religion/Spiritualität und ihre Funktionen als Matrix

Die Spiritualität oder Religiosität eines Menschen als „gesund“ zu bezeichnen, drückt meist die Ansicht aus, diese wirke (ordnend, bewältigend) förderlich für die bio-psycho-soziale Gesundheit, für das Wohlbefinden (Well-being) und die Lebensqualität dieses Menschen. Weniger im Blick ist, dass es für die Spiritualität selbst angemessen ist, d. h. dass es zur Spiritualität „gehört“ und in diesem Sinn „gesund“ ist, dass sie durch Phasen von Unsicherheit, Erschütterungen, Krisen und Trockenheit (Büssing 2022) geht und dadurch „reift“.

Psychosoziale Seiten und Funktionen von Spiritualität können in Wechselwirkung mit allen Achsen psychischer Gesundheit stehen (s.o. 12.3).

Mit den genannten psychosozialen Seiten und Funktionen (Tab. 12.1) stellt die persönliche Spiritualität oder Religiosität einer Person prinzipiell einen Teil ihres psychosomatischen und psychosozialen Lebens überhaupt dar. Persönliche Spiritualität oder Religiosität steht somit potenziell und real in unterschiedlichem Maße mit allen sieben Fähigkeitsbereichen einer Persönlichkeit (nach PDM, P-Achse) in Beziehung und Wechselwirkung: mit Identität, Objektbeziehungen, Affekttoleranz, Affektregulierung, Überich-Integration, Realitätsprüfung, Ich-Stärke und Resilienz. Dasselbe gilt für die M-Achse (nach PDM): für das individuelle Profil psychischen Funktionierens, einschließlich Beziehungs-, Verstehens- und emotionale Ausdrucksmuster, Muster der Stress- und Angstbewältigung, der Beobachtung der eigenen Emotionen und Verhaltensweisen und der Bildung moralischer Urteile. Schließlich stehen sie auch in Wechselwirkung mit den Symptommustern und gehen in die individuellen Ausprägungen des subjektiven Erlebens von Symptomen ein (S-Achse nach PDM).

Hier liegt weiterhin ein offenes und weites Forschungsfeld mit vielen Fragen vor; exemplarisch seien einige zur P-Achse formuliert: Welche Rolle spielt für einen Menschen seine Spiritualität (mit ihren Dimensionen und Funktionen) mit Bezug auf seine Identitätsbildung oder Identitätsdiffusion – und wie wird sie selbst davon betroffen? Wie spielt sie in die Qualität seiner Objektbeziehungen hinein und umgekehrt? Welche Wechselwirkung besteht mit der Affekttoleranz und mit den bevorzugten Abwehrmechanismen? Wie trägt sie zur Überich-Integration bei und wie wirkt letztere auf die persönliche Spiritualität? Welche Rolle spielen die Realitätsprüfung, die Ich-Stärke bzw. -Schwäche und Widerstandskräfte (Resilienz) im Feld spiritueller Erfahrungen, etwa als veränderte Bewusstseinszustände? U. v. a. m. Mit der Perspektive der je nach Fähigkeitsbereich verschieden erreichten Funktionsniveaus (s. o.) kann auch die Spiritualität einer Person in den Fähigkeitsbereichen unterschiedlich wirken oder betroffen sein und aus einer Entwicklungsperspektive für Spiritualität selbst vorrangig einem solchen Funktionsniveau entsprechen. Dies wird sich konkretisieren in der M-Achse für das individuelle Profil psychosozialen Funktionierens und kann im Sinne von Symptomen und Störungsphänomenen ggf. mit der S-Achse erfasst und beschrieben werden.

7 Wenn Spiritualität selbst mehr oder weniger gesund oder krank ist

In psychotischen Erkrankungen des schizophrenen Formenkreises kann empirischen Belegen zufolge Spiritualität eine wichtige unterstützende Rolle spielen, selbst wenn zugleich spirituelle Elemente psychotische Anteile haben können. Depressionen können einhergehen mit verschärften SchuldgefühlenFootnote 13 und dem Verlust jeglichen spirituellen Trostes; narzisstische Persönlichkeitsstörungen, die neben offenen oder verborgenen Größenfantasien und heftigen Aggressionen verbunden sind mit der weitgehenden Unfähigkeit zu Empathie und Schuldgefühlen, nutzen den Bereich von Spiritualität und Religiosität bevorzugt im Dienste ihrer Manipulationen anderer und ihrer sozialen Umwelt. Personen mit Angststörungen (Phobien, Zwänge, Histrionie) können spirituelle Skrupel, intolerante Formen spirituellen Perfektionismus’ gegen sich und andere entwickeln oder extrovertierte „spirituelle“ Praxen suchen. Sie können diese Phänomene jeweils bewusst für „spirituellen Tiefgang“ halten, bis der Leidensdruck zu groß wird – und sich neu erweisen muss und kann (oder auch nicht), was an der bisherigen Spiritualität gesund und was krank oder auch was richtig und falsch war. Gesunde (nicht von einer psychischen Störung kontaminierte) Anteile von Spiritualität können in ein und derselben Person gleichzeitig bestehen mit Anteilen, die symptomatisch bzw. psychodynamisch von der psychischen Störung betroffen sind.

Dies gilt entsprechend bzw. in einem übertragenen Sinne für die nicht klinische Bevölkerung: Der amerikanische Psychologe Gordon Allport (1954) unterschied in den 1950er-Jahren bereits intrinsische von extrinsischer Religiosität in seinen sozialpsychologischen Studien: Erstere ist dadurch charakterisiert, dass die Person den Glauben wirklich zu leben versucht, letztere dadurch, dass sie ihn für andere Zwecke (etwa soziales Ansehen) benutzt. C. Daniel Batson (1976) ergänzte diese Unterscheidung um die Quest-Orientierung religiösen Suchens. Auch diese Aspekte können in ein und derselben Person gleichzeitig und miteinander vermischt bestehen. Wie für die sieben Fähigkeitsbereiche einer Persönlichkeit Funktionsniveaus unterschieden werden können (gesund, neurotisch, borderline), so ist es sinnvoll, auch für Spiritualität(en) Entwicklungsniveaus ihrer Funktionen anzunehmen und dabei die kognitive, emotionale, verhaltensmäßige und soziale Seite zu unterscheiden, die unterschiedlich stark oder schwach entwickelt sein können. Im Blick auf Spiritualität, die eher unreif ist und als Abwehr dient, wäre „gesunde Spiritualität“ dann dadurch charakterisiert, „dass Menschen auch und gerade ihr alltägliches Leben meistern und vor dem unvermeidlichen Leiden und den Schattenseiten nicht die Augen verschließen.“ (Bucher 2007, S. 141)

Legt man über diesen Realismus hinaus eine normative Sicht (des Selbstverständnisses einer Religion oder Spiritualitätsrichtung) an, dann können auch mit dieser normativen Sicht Einseitigkeiten, Missverhältnisse oder Ungleichgewichte von persönlich gelebter Spiritualität als „krank“ codiert werden. Ob diese Zweitcodierung jedoch nicht mehr pathologisiert und stigmatisiert als den Menschen und der „Sache“ dienlich ist? Angemessener wirkt dafür die Aufgabe der sog. „Unterscheidung der Geister“, wo Menschen bewusst einen spirituellen Prozess oder Weg gehen wollen, um ihren Glauben echter zu leben.

Schließlich sind auch spirituelle Gemeinschaften und religiöse Institutionen meso- und makrosystemisch in den Blick zu nehmen – das kann hier nur noch angedeutet werden. Sie können (in unterschiedlicher Systemgröße und -ebene) dysfunktionale („totale“) Systeme darstellen, in denen Menschen unter Missbrauch von Religion und Spiritualität selbst psychisch krank und kränker werden, während sie sich lange möglicherweise zugleich besonders spirituell wähnen. Der Lackmustest für die spirituelle Gesundheit solcher Gemeinschaften dürfte darum die liebesfähige Freiheit, Offenheit und Toleranz für andere sein.

8 Schlussbemerkung

Psychische Gesundheit ist nicht dasselbe wie spirituelle Gesundheit. Menschen, die psychisch erkrankt oder belastet sind, können trotz des Einflusses der Erkrankung spirituell sehr gesund sein und mit ihrer Spiritualität ihrer psychischen Erkrankung gesundheitsförderlich begegnen.

Spirituelle Bedürfnisse zu empfinden, ist gerade kein pathologisches Symptom, das es etwa zu kurieren oder beheben gilt. Spirituellen Bedürfnissen im eigenen Leben Raum geben und ihnen nachgehen zu wollen – kognitiv, emotional, im Verhalten und sozial – hat, mit Tilmann Moser (2003, S. 27) gesprochen, das Potenzial, „eine gewaltige Quelle von Kraft und seelischem Reichtum“ zu werden, in Gesundheit und in Krankheit. Unter ihrer gesundheitsdienlichen Perspektive sollen und können auch sie in Prävention, Behandlung, Therapie und Rehabilitation integriert werden (vgl. Utsch 2022). Besonders wegen ihres positiven Effektes für das Wohlbefinden, die Lebensqualität und die Schmerzlinderung von total pain (Cicely Saunders; WHO: Palliative Care) ist Spiritual Care als geeignete Beachtung existenzieller und spiritueller Bedürfnisse von Patient:innen, aber auch Angehörigen und des Personals in Palliative Care am Lebensende gefordert. Grundsätzlich gilt dies sogar im ganzen Gesundheits- und Sozialwesen.

Existenzielle und spirituelle Bedürfnisse zu ignorieren, kann die Leidenssituationen verlängern und verstärken. Solches Ignorieren wird den Menschen als Menschen in ihrer Ganzheit in doppelter Weise nicht gerecht, zuerst, weil prinzipiell ein wichtiger Teil ihres Erlebens und Verhaltens ausgeblendet wird. Zudem, und das verschärft das „Unrecht“, weil sie ihnen in ihren Nöten hilfreich sein können (Peng-Keller 2021). Solches Ignorieren wäre also selbst weder systemisch noch psychisch noch spirituell „gesund“.