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1 Einleitung

Es gibt einige Argumente dafür, nicht zu tief in existenzielle oder spirituelle Themen einzusteigen. Weil es keine belastbaren Fakten und eindeutige Antworten auf die existenziellen Menschheitsfragen Gerechtigkeit, Wahrheit, Leiden, Schuld und Tod gibt, ist man auf Vermutungen und persönliche Glaubensüberzeugungen angewiesen. Gerade in Deutschland ist Religion strikte Privatsache, über die man nicht viel redet. Andererseits wissen alle Menschen, dass ihr Leben tödlich endet. Diese Tatsache erleben viele als eine Demütigung und verdrängen sie deshalb. Studien zufolge fürchten die meisten Menschen mit dem Sterben verbundene Unsicherheiten und Schmerzen (Stavemann und Hülsner 2019). Aus psychohygienischer Sicht ist es jedoch ratsam, sich mit existenziellen Themen und dem unausweichlichen Tod zu beschäftigen. Unsicherheit und Ungewissheit erzeugen Hilflosigkeit und Angst und sind damit massive Stressoren, die die Lebensqualität negativ beeinflussen können (Chmielewski et al. 2020). Deshalb dient es dem Wohlbefinden, auch heikle Themen (wie existenzielle und religiös-spirituelle Fragen) zu überdenken und eine persönliche Stellung dazu zu beziehen (Utsch 2020a).

2 Vernachlässigung der spirituellen Dimension in Medizin und Psychologie

Während andere kulturelle Phänomene, wie Arbeit, Sport, Musik oder Werbung, psychologisch recht gut erforscht sind, fristet die Religionspsychologie im Unterschied zu anderen Kontinenten im stärker säkularisierten Europa immer noch ein Schattendasein (Utsch 1998, 2020). So ist etwa erstaunlich, dass im Handbuch Psychologie der Werte (Frey 2016) kein eigenes Stichwort „Religion“ vorkommt. Religiosität wird nur vereinzelt am Rande erwähnt, obwohl die dort verhandelten Stichwörter wie Nächstenliebe, Dankbarkeit, Achtsamkeit, Gerechtigkeit, Vergeben, Vertrauen oder Weisheit in den Religionen verwurzelt sind. Warum fehlen auch in der 6. Auflage im bewährten Handbuch Praxis der Psychotherapie (Senf und Broda 2020), das auf 900 Seiten umfassende Orientierungshilfe sein will, jegliche Bezüge zu Religion und Glauben? Im sozialpsychologischen Klassiker „Irren ist menschlich“ (Dörner et al. 2017) fehlen auch in der 24. Auflage Bezüge zu Glauben, Religion und Spiritualität; sie werden weder in ihren positiven noch in ihren negativen Effekten erwähnt. Ein psychotherapeutisches Praxisbuch zum therapeutischen Umgang mit der eigenen Endlichkeit und Todesangst (Stavemann und Hülsner 2019) übergeht also auch die zahlreichen und bewährten Möglichkeiten religiöser Angstbewältigung vor Tod und Sterben.

In Europa hat erst die Palliativmedizin Themen wie „religiöse Bedürfnisse“ und „spirituelles Erleben“ akademisch „salonfähig“ gemacht und dazu beigetragen, dass religionspsychologische Fragen auch in der Psychologie ernsthaft behandelt werden. Vor allem in der Palliativmedizin wird die spirituelle Dimension des Menschseins seit einigen Jahren genauer untersucht und in die Behandlung mit einbezogen. Aktuelle Erhebungen in Deutschland belegen, dass spirituelle Bedürfnisse unabhängig von einer konfessionellen Zugehörigkeit bestehen und ihre Beachtung das seelische Wohlbefinden fördert (Frick et al. 2020).

Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO 1998) ist jede Person spirituell, weil sie sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen stellt. Spiritualität wird hier als die Reflexion der Erfahrungen verstanden, die im Umgang mit existenziellen Fragen – Warum ich? Gibt es einen höheren Sinn? Was kommt nach dem Tod? – gemacht werden. Spiritualität dient als anthropologische Kategorie, um die existenzielle Lebenshaltung, insbesondere in menschlichen Grenzsituationen, zu beschreiben.

3 Argumente für die Einbeziehung der spirituellen Dimension

In den letzten Jahren ist eine Rückkehr des Religiösen ins öffentliche Bewusstsein festzustellen. Religiöse und spirituelle Werte bilden eine zentrale Säule der Kultur und sind damit identitätsstiftend. Der Deutsche Kulturrat hat im Jahr 2017 Thesen zur kulturellen Integration einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft verabschiedet. Sie beschreiben, wie Religionen wichtige Beiträge zur kulturellen Integration leisten, indem sie etwa durch ihre Wertvorstellungen den Gemeinsinn stärken (Zimmermann 2017).

Religiöse und spirituelle Weltanschauungen können vor allem zwei elementare menschliche Bedürfnisse befriedigen, auf die die hoch technisierte, säkulare Gesellschaft keine Antworten weiß (De Botton 2013): Wie kann man trotz der tief verwurzelten egoistischen und gewalttätigen Impulse harmonisch in Gemeinschaften zusammenleben? Und wie kann man die eigene Endlichkeit, das ungerechte Leiden und den Schmerz aushalten, ohne zu verzweifeln? Religion und Spiritualität bieten Sinndeutungen, um bohrende existenzielle Fragen zu beantworten und Traumatisierungen, Krankheiten und Begrenzungen besser zu bewältigen.

Zur Geschichte ganzheitlicher Gesundheit

Glaube und Heilung, Spiritualität und Psychotherapie waren bis ins 17. Jahrhundert untrennbar miteinander verknüpft. Im Altertum waren die Heiler Angehörige der Priesterklasse; im Mittelalter wurden psychotherapeutische Behandlungen von der Geistlichkeit ausgeübt (Reuter 2014). Mönche gründeten die ersten Hospitäler, Diakonissen prägten über Jahrhunderte das Leitbild für Diakonie und Pflege. Diesbezügliche Methoden und Haltungen werden heute im Rahmen einer traditionellen europäischen Medizin (TEM) neu entdeckt (Steinmetz und Webersberger 2019). Früher wurden religiöse Übungen und Rituale (wie Opfer, Anbetung oder Beichte) gezielt zu physischen und psychischen Heilzwecken eingesetzt (Brentrup und Kupitz 2015; Spitzer 2022). Mit der Aufklärung, der umgreifenden Technisierung des Alltags und den professionellen Spezialisierungen brachen das religiöse Heil und die säkulare Heilung auseinander. Therapie und Theologie wurden zu Rivalinnen. Besonders die Psychoanalyse grenzte sich scharf gegen alles Spirituelle ab, weil sie mit ähnlichen, meditativen Methoden das Innere erkundet. Moderne psychoanalytische Schulen haben sich hingegen gegenüber der spirituellen Dimension wieder geöffnet (Utsch et al. 2018). Verfolgt man den Begriff „Therapie“ auf seine älteste bezeugte Bedeutung zurück, tritt sein religiöser Kern deutlich hervor: Das Griechische „therapeuein“ bedeutet zunächst die Götter verehren, der Gottheit dienen, und dann auch: besorgen, warten, pflegen, ärztlich behandeln und eben auch heilen, (wieder-) herstellen.

Nachdem das Erbe religiöser Heilkunde lange Zeit vergessen schien, wird es gegenwärtig wiederentdeckt (Rosmarin und Koenig 2020). Psychologen erkunden die befreiende Wirkung des Verzeihens (Handrock und Baumann 2017), die stabilisierenden Funktionen der Dankbarkeit (Freund und Lehr 2020) oder die neuropsychologischen Grundlagen der Widerstandskraft von Hoffnung und spirituellem Vertrauen (Cyrulnik 2018). Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat mit einem Volumen von 2,5 Mio. € interdisziplinäre Studien über „Resilienz in Religion und Spiritualität“ unter Projektleitung einer Theologin durchführen lassen (Richter 2021).

4 Umgang mit psychologischen Widerständen gegen existenzielle und spirituelle Themen

Obwohl empirische Forschungen die Bedeutsamkeit positiver Spiritualität für das Wohlbefinden belegen, sind bis heute bei manchen Psychiatern und Psychotherapeuten antireligiöse und spiritualitätskritische Affekte festzustellen. Bonelli (2018) erklärt diese Haltung damit, dass sie eine „größere Wirklichkeit“ als persönliche Kränkung empfinden würden. Nachdem religiöse und spirituelle Themen in der Psychotherapie viele Jahre tabuisiert wurden (Kaiser 2007), markieren jedoch zahlreiche Veröffentlichungen der letzten Jahre einen bemerkenswerten Richtungswechsel (Hofmann und Heise 2017; Utsch et al. 2018; Frick et al. 2018; Juckel et al. 2018; Britten 2019; Mönter et al. 2020; Ohls und Kaiser 2021; Walach 2021; Mönter 2022). Mögliche Widerstände kann man mit Fakten (Abschn. 11.4.1.) oder kritischen Rückfragen an das eigene Weltbild (Abschn. 11.4.2) entkräften.

4.1 Widerstände mit Fakten entkräften

Während in früheren Jahren krank machende Aspekte der Religion im Mittelpunkt standen, werden heute stärker die salutogenetischen Faktoren gesundmachenden Glaubens untersucht. Zwingmann und Hodapp (2018) publizierten erstmals eine Metaanalyse über die vorliegenden 67 Primärstudien des deutschsprachigen Raums. Die Ergebnisse stützen statistisch signifikant den bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen ausgeprägter Religiosität und psychischer Gesundheit – wenn auch weniger deutlich im Vergleich zu Befunden aus den USA. Stärker als in den US-amerikanischen Studien sticht der Faktor des „negativen“ Umgangs mit Gott ins Auge. Dieser geht mit einer schlechteren Gesundheit einher, geprägt durch eine eher unsichere Beziehung zu Gott, der als richtend und strafend wahrgenommen wird. Hingegen bedeutet positive Religiosität eine eher sichere Beziehung zu Gott sowie Gefühle von Verbundenheit und das Finden von Sinn im Leben.

In einem systematischen internationalen Review haben Forscher kürzlich die Effekte religiöser und spiritueller Interventionen auf die körperliche Gesundheit und Lebensqualität untersucht. Über 7000 wissenschaftliche Studien wurden dazu ausgewertet und nach strengsten Kriterien aussortiert, übrig blieben 30 Untersuchungen. Empirisch konnten Vorteile religiös-spiritueller Interventionen im Vergleich zu anderen komplementären Heilbehandlungen festgestellt werden (Goncalves et al. 2017).

Psychiatrische Patienten, die beispielsweise in das McLean-Hospital in Massachusetts kommen, haben die Möglichkeit, an dem Gruppenprogramm SPIRIT (Spirituelle Psychotherapie für stationäre und ambulante Behandlungen) teilzunehmen. In diesem Gruppenangebot werden Religion und Spiritualität in die therapeutische Behandlung mit einbezogen.

In einem Fachartikel beschreiben die Kliniker die Effekte dieses Programms anhand einer Stichprobe von fast 1500 Patienten (Rosmarin et al. 2019). Ein Hauptergebnis besagt, dass die deutliche Mehrheit der Patienten sich mit Spiritualität in ihrer therapeutischen Behandlungen befassen möchte, aber nur wenige Behandler sich in diesem Bereich fachlich ausgebildet fühlen. Um diesem Bedarf gerecht zu werden, haben Rosmarin und seine Kollegen SPIRIT entwickelt. Im Mittelpunkt des Programms stehen Gruppensitzungen, in denen Patienten herausfinden können, wie ihre Spiritualität oder Religion in ihren Behandlungsplan einbezogen werden kann. Mehr als 80 % der McLean-Patienten gaben an, Religion zur Bewältigung von Stress zu verwenden, und 58 % sagten, dass sie Spiritualität als Teil ihrer Behandlung wünschten. Für den Großteil der Patienten ergab eine Einbeziehung der spirituellen Dimension ein verbessertes Wohlbefinden und eine schnellere Genesung.

Was aus deutscher Sicht mit ihrer stärker säkularen Brille verwundern mag: Systematische Metastudien verweisen mit empirischer Evidenz auf die Wirksamkeit religionsangepasster Therapiemethoden. Religiös-spirituelle Interventionen können offensichtlich bei bestimmten Störungen nachweisbare Effekte erzielen. Eine methodisch strenge Auswertung von elf Studien kam zu dem Schluss, dass Psychotherapie mit integrierter Religiosität bei der Behandlung von Depressionen und Angststörungen mindestens so wirksam ist wie säkulare Formen der gleichen Psychotherapie (Anderson et al. 2015). Eine aktuelle Metastudie, in der 97 Einzelstudien ausgewertet wurden, weist auf eine bessere Wirksamkeit von Behandlungen hin, wenn bei gläubigen Patienten ihre Religion oder Spiritualität mit einbezogen wird (Captari et al. 2018).

4.2 Widerständen mit Rückfragen an das eigene Weltbild begegnen

Religion und Spiritualität rühren an das Geheimnisvolle und Rätselhafte des Menschseins. Zu einer evidenzbasierten Medizin und qualitätskontrollierten Psychotherapie bestehen kaum Berührungspunkte. Werden an Psychotherapie häufig (unrealistische) technischen Machbarkeitserwartungen geknüpft, führt die Beschäftigung mit spirituellen Wegen zunächst einmal in die Stille und Einsamkeit. Nicht Nützlichkeit und Funktionalität sind gefragt, sondern Schweigen, Loslassen und Vertrauen. Gerade dadurch, so mutmaßen Forscher, werden aber eine neue Wahrnehmung, Haltung und ein neuer Umgang mit sich und mit belastenden Konflikten möglich.

Auf dem Gebiet der Religion und Spiritualität herrschen jedoch offensichtlich andere Gesetzmäßigkeiten als in den strengen Naturwissenschaften. Hier geht es nicht um Kontrolle, sondern Loslassen, nicht um aktives Steuern, sondern vertrauendes Zulassen. Eine spirituelle Haltung scheint von Akzeptanz, Achtsamkeit und Vertrauen geprägt zu sein. Für einen professionellen Umgang mit den letzten Fragen und spirituellen Krisen ist seitens therapeutisch Tätiger die Entwicklung einer authentischen Haltung auch gegenüber existenziellen und spirituellen Fragen nötig (Machleidt 2020). Eine günstige Voraussetzung für interkulturelle Erkundungen sieht der Hannoveraner Sozialpsychiater darin, wenn Therapeuten „Neugier und Interesse daran entwickeln, welche ‚Götter und Geister‘ sie selbst und die Seelenlandschaften ihrer interkulturellen Patienten bevölkern“ (Machleidt 2020, S. 235). Der erfahrene Supervisor empfiehlt Therapeuten, sich eine Reihe von Fragen zu stellen, um „religionsaffine Fremdheitsgefühle zu bewältigen“ (vgl. Übersicht):

Religionsaffine Fremdheitsgefühle bewältigen (Machleidt 2020, S. 233)

  • Geht es mir darum, Abstand zu religiösen Menschen zu halten, ihre Religion auszublenden, zu ignorieren, die Thematisierung zu vermeiden, ggf. die Flucht vor solchen Themen zu ergreifen?

  • Oder erlebe ich auch Neugier auf das Religionsverständnis der Anderen, habe ich Interesse und verbinde hilfreiche Einsichten für die Behandlung damit? Idealisiere ich einen Anderen, weil er einer bestimmten Religion angehört, z. B. dem Buddhismus? Verbinde ich Heilserwartungen mit einer bestimmten Religion, suche eine Guru oder versuche ich Abstand zu halten?

  • Verstehe ich mein Fremdheitsgefühl zum Anderen als ein Kennzeichen meiner Beziehung zu ihm? Mache ich Versuche, Gemeinsamkeiten zu finden und Konsense herzustellen, und führt das zu einem für mich erwünschten Beziehungswandel im Sinne größerer Vertrautheit?

  • Oder versuche ich Fremdheit zum Verschwinden zu bringen? Habe ich die (narzisstische) Fantasie, alle Menschen können oder sollten eigentlich so sein oder so werden wie wir (Therapeuten), wie ein „Ab(zieh)bild“ unserer selbst?