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1 Das Recht auf religions- und kultursensible Pflege und Behandlung

Die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (kurz Pflege-Charta) wurde 2005 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Altersfragen initiierten Arbeitsgruppe Runder Tisch Pflege verabschiedet, an der viele Vertreter:innen aus Verbänden, aus Ländern und Kommunen, Praxis und Wissenschaft teilnahmen. Im Art. 7 der Pflege-Charta zu Religion, Kultur und Weltanschauung heißt es: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, seiner Kultur und Weltanschauung entsprechend zu leben und seine Religion auszuüben“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] 2005). Diesem Recht von hilfe- und pflegebedürftigen Personen kann nicht Rechnung getragen werden, wenn Mitarbeitende im Gesundheits- und Sozialwesen nicht dafür sensibilisiert und dazu in die Lage versetzt werden bzw. darin befähigt sind, kulturelle, spirituelle und religiöse Gewohnheiten sowie Bedürfnisse von Menschen mit Hilfe- und Pflegebedarf zu beachten und in ihr professionelles Handeln einzubeziehen.

2 DiakonieCare – ein Projekt der Diakonie Deutschland (2010–2012), gefördert durch den Europäischen Sozialfonds im Programm rückenwind (3.0)

An Art. 7 der Pflege-Charta von 2005 anknüpfend führte die Diakonie Deutschland gemeinsam mit der Bundesakademie für Kirche und Diakonie (BAKD), dem Deutschen Evangelischen Krankenhausverband (DEKV), dem Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI), der Fachhochschule der Diakonie (FHdD) und weiteren Kooperationspartnern in den Jahren 2010 bis 2012 im Programm rückenwind (3.0) des Europäischen Sozialfonds (ESF) und mit Co-Finanzierung der Friede Springer Stiftung das Projekt Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege – zur Erhöhung der Verbleibdauer und Verbesserung gesundheitsfördernder Arbeitsbedingungen im Pflegeberuf durch.Footnote 1

Der Europäische Sozialfonds ist das wichtigste beschäftigungspolitische Finanzierungsinstrument und ein Kernstück der EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung. Der ESF unterstützt Maßnahmen, deren Ziel es ist, den Zugang zu einer Beschäftigung zu verbessern, Qualifikationen und Fähigkeiten der Menschen zu fördern und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt zu bekämpfen. Eine Reihe von Publikationen (Giebel et al. 2013), darunter Aufsatzbände (Diakonisches Werk der EKD et al. 2012; Ehm et al. 2016; Giebel et al. 2015), die Ergebnisse der flankierenden ForschungFootnote 2 und einige Folgeprojekte (Bundesverband evangelische Behindertenhilfe [BeB] et al. 2014), belegten nachweislich in der Personalentwicklung den inhaltlichen Bedarf an Religions- und Kultursensibilität im Gesundheits- und Sozialwesen (Albrecht et al. 2018) und die hohe Wirksamkeit dieses ESF-Projekts der Diakonie Deutschland, das später zusammenfassend DiakonieCare genannt wurde.

3 Initialzündung des Projekts SpECi (2020–2023)

Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen, so lautet der Kernsatz der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland (Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen 2010). Diese Charta wurde 2010 verabschiedet und hat seit 2013 den Status einer nationalen Strategie. Sie wird getragen vom Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV), der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und der Bundesärztekammer (BÄK). Seit ihrer Veröffentlichung haben sich über 2800 Organisationen und Institutionen sowie knapp 31.000 Einzelpersonen – darunter auch zahlreiche Politiker:innen, einzelne Bundesländer und Kommunen, Wohlfahrtsträger, Kirchen und Bildungseinrichtungen und weitere Organisationen/Institutionen – mit ihrer Unterschrift für die Charta und ihre weitere Umsetzung eingesetzt (Stand 03/2021). Die Verfasser der Charta schrieben den Anspruch jedes Menschen auf spirituelle Begleitung als Leitsatz fest. Sie folgten hier der WHO-Definition von Palliative Care (WHO 2002).

Kaum eine Stadt in Deutschland verfügt über eine so breit aufgestellte und leistungsstarke Hospiz- und Palliativversorgung, wie es sie in der Stadt Essen gibt. Eine der Wegbereiterinnen ist Marianne Kloke, die 2022 für ihr Engagement in der Palliativmedizin den Brost-Ruhr-Preis erhielt. Auf der Tagung Spiritual Care – ein neues Angebot im Krankenhaus? am 5. November 2016 im Deichmann-Auditorium in Essen stellte die Verfasserin dieses Beitrags auf Einladung von Marianne Kloke das Projekt DiakonieCare vor. Im Anschluss an die Veranstaltung sprachen Marianne Kloke, damals Direktorin der Klinik für Palliativmedizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM), Heiner Melching, der Geschäftsführer der DGP, und die Verfasserin dieses Beitrags über das Erfordernis, Spiritual Care nicht nur stärker in der Fachlichkeit von Hospiz und Palliative Care, sondern generell in allen Gesundheitsberufen und -feldern interprofessionell zu verankern. Hierfür, so der damalige Ausgangspunkt, sollten die Inhalte von Spiritual/Existential Care um einer breiten Anwendbarkeit willen auf 40 Unterrichtsstunden konzentriert, Schnittflächen und Abgrenzungen zu Palliative Care identifiziert und in einem ersten Schritt – von End-of-life Care ausgehend – die gesundheitliche Versorgung um Spiritual/Existential Care in der Begleitung von älteren und schwerkranken Menschen erweitert werden.

Gemeinsam mit Martina Kern, Leiterin der Ansprechpartner im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizversorgung und Angehörigenbegleitung (Alpha NRW), Arndt Büssing, Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke (UWH), arbeiteten Marianne Kloke und die Verfasserin dieses Beitrags den Förderantrag zum Projekt Spirituelle Begleitung am Lebensende – Entwicklung und Erprobung einer Implementierungsstrategie im Rahmen eines Modellprojektes mit Pilotcharakter aus, der 2019 von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW für den Zeitraum 2020 bis 2023 bewilligt und von der Friede Springer Stiftung sowie der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe kofinanziert wurde. Getragen wurde dieses Projekt durch die Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) in gleichberechtigter Partnerschaft mit der Universität Witten/Herdecke (UWH). Mit Letters of Intent haben sich die Diakonie Deutschland, DGP, DHPV sowie der Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln hinter das fortan sog. Projekt SpECi gestellt (siehe Kap. 2 in diesem Band).

4 DiakonieCare (2010–2012) ist monoprofessionell, SpECi (2020–2023) interprofessionell angelegt – ein Blick zurück

Zehn Jahre zuvor bezog sich das Projekt DiakonieCare im ESF-Programm rückenwind (3.0.) auf den Förderbereich Entwicklung von Konzepten zur Einführung gesundheitsfördernder Arbeitsbedingungen in Einrichtungen der Sozialwirtschaft, insbesondere mit dem Ziel, die Verbleibdauer im Bereich für Kräfte im Pflegebereich zu erhöhen. Die folgenden Auszüge – Abschn. 1.4.11.4.21.4.31.4.41.4.51.4.61.4.71.4.8, und 1.4.9 aus dem von der Verfasserin dieses Beitrags im Herbst 2009 im Programm rückenwind (3.0) eingereichten ESF-Antrag der Diakonie Deutschland – bilden den damaligen Sachstand ab. Sie sind – als Einblick in den Projektantrag aus dem Jahr 2009 und als Vorgeschichte zum Projekt SpECi – zeitbezogen zu lesen:

4.1 Zusammenfassung (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

In bewährter Praxis werden in medizinisch-therapeutischen Prozessen bei Patient:innen und Bewohner:innen bereits positive Korrelationen von Spiritualität und Gesundheit einbezogen, denn Menschen verarbeiten Gebrechen, Krankheit, Leid oder Krisen besser, wenn sie in spirituellen Bezügen leben. Darüber hinaus wird seit den 1990er-Jahren angesichts einer steigenden Anzahl von Pflegekräften, die an die Grenzen ihrer physischen und psychischen Belastung kommen, auch über spirituelle Dimensionen und religiöses Coping im Pflegeberuf geforscht (Lubatsch 2008 und passim). Spiritualität wird dabei als subjektiv erlebter Sinnhorizont verstanden, der sowohl innerhalb als auch außerhalb tradierter Religiosität verortet sein kann. In dem hier vorgestelltem Pilotprojekt (DiakonieCare) wird in der Diakonie die Umsetzung von Spiritualität in Pflegeberufen in der Praxis (training on the job) mit dem Ziel erprobt, gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen zu verbessern und die Verweildauer – insbesondere von älteren Mitarbeiterinnen – in der Pflege zu erhöhen, da künftig die Generation 50 + das Rückrat der Pflege bilden wird.Footnote 3 In sieben kleineren und mittleren Unternehmen (Krankenhäusern, ambulante Pflege, geriatrische Einrichtungen und Dienste) – in Kooperation mit vier weiteren großen TrägernFootnote 4 – wird Spiritualität im Pflegealltag mit Pflegekräften erprobt, die Ergebnisse ausgewertet und veröffentlicht.

4.2 Ausgangssituation (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Aktuelle Studien weisen auf einen künftigen Pflegekräftemangel bei gleichzeitigem Anstieg der Zahl von Pflegebedürftigen hin. Die zunehmende Arbeitsverdichtung im Pflegealltag in normierten Zeittakten führt zu hohen physischen und psychischen Belastungen von Pflegekräften (Robert Bosch Stiftung: Pflege neu denken [Robert Bosch Stiftung 2000]). Die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege warnt vor Fluktuationen und abnehmender Verweildauer im Beruf. Krankheitsbedingte Fehlzeiten im Pflegeberuf liegen fast 20 % höher als im Bevölkerungsmittel. Fast die Hälfte von befragten Pflegekräften denkt manchmal daran, den Beruf aufzugeben, bei jeder fünften ist dieser Wunsch stark ausgeprägt (NEXT-Studie (Research Gate 2005)). Der Pflegeberuf ist in Gefahr, zu einer beruflichen Sackgasse mit „Burn-out-Garantie“ zu werden (ADS-Studie: Brennpunkt Pflege/Pflegethermometer 2007 [Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e. V. 2007]). Neben körperlichen Belastungen gehören zu den psychischen insbesondere der tägliche Umgang mit Patient:innen- und Bewohner:innenleid. Durch Überlastung droht riskante oder gefährliche Pflege. Gegenwärtige Forschung belegt positive Effekte von Spiritualität zur Krankheitsbewältigung und Gesundheitsvorsorge (Utsch 2005; Bucher 2007). Während sich Religiosität auf verfasste Religionen bezieht, wird Spiritualität als persönliche sinnstiftende Grundeinstellung beschrieben, die neben anderen auch religiös sein kann. Positive Effekte von Spiritualität (in der Alternativ-, Palliativmedizin, Gerontologie, Psychotherapie … genutzt) beziehen sich auf Einordnung von existenziellen Fragen in Sinnzusammenhänge, stiften Identität, vermitteln Halt, fragen nach Werten, stärken Hoffnung/Vertrauen u. a. m. (Peteet 2007). Achtsamkeit, Akzeptanz und Mitgefühl (aus buddhistischen Traditionen), Annahme, Vertrauen, Vergebung, Wertschätzung, Loslassen (aus christlichen Traditionen) u. a. m. werden in prophylaktische und (gesprächs-) therapeutische Prozesse einbezogen. Entspannungstechniken, Bewältigungsverhalten, Stärkung positiver Emotionen … als „Tiefendimensionen der Heilkunde“ (Verres 2005) werden in existenziellen Krisen, bei Traumata, Stress, Überlastung etc. als spirituelle Ressourcen eingesetzt.

4.3 Handlungsbedarf (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Mitarbeitende in Pflegeberufen werden befähigt, existenzielle Kurzgespräche am Krankenbett zu führen und spirituelle Ressourcen im Pflegealltag angesichts von Grenzerfahrungen zu erschließen. Sie werden gefördert, erkennbare beziehungsweise geäußerte existenzielle Nöte von Pflegebedürftigen wahrzunehmen. Zudem werden sie in ihrer Sprachfähigkeit, Selbstwahrnehmung und Authentizität gestärkt sowie in ihren spirituellen, systemischen und kommunikativen Kompetenzen.

4.4 Projektziel (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Über einen Zeitraum von drei Jahren wird im Diakonischen Werk der EKDFootnote 5 ein Pilot-Praxis-Projekt zu Existenzieller Kommunikation und Spirituellen Ressourcen in der Pflege durchgeführt, um die Verweildauer von Mitarbeitenden in der Pflege zu erhöhen und einen Beitrag zu gesundheitsfördernden Arbeitsbedingungen zu leisten. Angesichts berufsbedingter Überlastungen durch den täglichen Umgang mit Patienten- und Bewohnerleid, Stresserfahrungen, einer abnehmenden Verweildauer und hohen Fluktuationen im Pflegeberuf, sind Kinder-, Gesundheits- und Krankenpflegende sowie Altenpflegende nach Training on the Job durch interdisziplinär zusammengesetzte Schulungsteams für existenzielle Fragestellungen am Krankenbett zu berührenden Kurzgespräche fähig und darin geübt, gesundheitsfördernde Ansätze von Spiritualität in der Pflege als heilende und heilsame Sorge für sich selbst zu identifizieren (Selbstpflege, Burn-out-Prophylaxe), wie auch diese in der Begleitung von Patient:innen, Bewohner:innen und deren Angehörigen einzusetzen.

4.5 Handlungskonzept (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Planungsvorhaben: Eine Steuerungsgruppe, zusammengesetzt aus Vertreter:innen des Diakonie-Bundesverbandes, einzelnen Landes- und Fachverbänden und externen Sozial- und Pflegewissenschaftlichen Fakultäten recherchiert – soweit vorhanden – Fort- und Weiterbildungsmodule zu existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen in der Pflege, entwickelt sie konzeptionell weiter, entwirft ein Curriculum, begleitet die Praxiserprobung in der Durchführung, wertet die Ergebnisse aus, veröffentlicht sie und sichert die Nachhaltigkeit des Praxisprojekts. An sieben Standorten in kleineren und mittleren Unternehmen (Krankenhäusern, ambulante Pflegediensten, geriatrische Einrichtungen und Dienste), die keine eigenen Fort- und Weiterbildungsinstitute vorhalten und über geringere ökonomische Ressourcen verfügen, werden im Training on the Job Kurzschulungen zu existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen in der Pflege durchgeführt. Ein interdisziplinär zusammengesetztes Schulungsteam (Gesprächstherapeut:innen, Expert:innen in Spiritualität, Geistliche Begleiter:innen, Psycholog:innen …) führt gemeinsam mit 20 bis 40 Pflegenden (je nach Standortgröße, im Mittel 30) im Abstand von ca. 4 Monaten sechsmal jeweils an zwei Tagen á 8 h (= 96 h plus Zusatzaufgaben: 120 h) Schulungsmaßnahmen zu existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen in der Pflege durch. Flankierend untersuchen die das Praxisprojekt begleitenden befreundeten Sozial- und Pflegewisseschaftlichen Institute, ob in arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischer Hinsicht die Förderung von existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen zu einer Erhöhung der Verweildauer und zur Gesundheitsförderung im Pflegeberuf beiträgt.

4.6 Mehrwert (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Durch das Praxisprojekt Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege können bisherige Forschungen zur positiven Korrelation von Kommunikationskompetenz und Begleitung, Spiritualität und Gesundheitsförderung auf den Pflegeberuf angewandt werden. Pflegende werden befähigt, spirituelle Dimensionen und existenzielle Kommunikation in ihren Pflegealltag einzubeziehen (Vauhan 1991: Eine gesunde Spiritualität hilft den Alltag meistern). Pflegende werden – über bereits vorhandene Ausbildungsmodule in existenzieller Gesprächsführung hinaus (u. a. Krohwinkel, 1993 AEDL [1984]) – in ihren systemisch-seelsorgerlichen, religiösen und interreligiösen Kompetenzen gestärkt und – angesichts erkennbarer Nöte oder geäußerter Sinnfragen von pflegebedürftigen Menschen/Angehörigen – in existenzieller Kommunikation und spiritueller Begleitung gefördert. Durch Einbezug spiritueller Dimensionen in den Pflegealltag erleben Pflegende ihre berufliche Tätigkeit zufriedenstellender (Benefit). Dieser wesentliche Bestandteil einer Burn-out-Prophylaxe trägt zu einer längeren Verweildauer im Beruf bei und erweist sich als Bestandteil gesundheitsfördernder Arbeitsbedingungen.

4.7 Bisherige Aktivitäten (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

In der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) wurde bislang kein Projekt zur Praxiserprobung von Existenzieller Kommunikation und Spiritualität in der Pflege durchgeführt. Am Thema Existenzielle Kommunikation und Spiritualität in der Pflege wird z. Zt. intensiv geforscht (in den USA schon länger; die Ergebnisse können aber aufgrund kultureller Unterschiede nur begrenzt auf den deutschsprachigen Raum übertragen werden). Eine Bündelung gegenwärtiger Forschung wurde vom Diakonischen Werk der EKD (heute Diakonie Deutschland) auf dem Symposion Spiritualität in der Pflege von 16.–17. Juni 2009 im Rahmen des DiakonieKongresses Zukunft:pflegen vorgestellt (siehe Tagungsdokumentation [Diakonisches Werk der EKD et al. 2010]). An der Fachhochschule der Diakonie/Bielefeld (FHdD) läuft zurzeit (2008–2010) das Forschungsprojekt Arbeit, Gesundheit und Religiosität mit dem Ziel, nationale und internationale Publikationen zum Thema Glaubenseinstellungen, religiöse Angebote und Gesundheit zu recherchieren und analysieren (Giebel et al. 2015). Seitens des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD liegt das Ergebnis einer Literaturrecherche zu Spiritualität von Pflegepersonen (Lubatsch 2008) und zu Zeiten der Pflege (Robert Bosch Stiftung 2000) vor. In Kooperation mit der Universität Bremen wurde im Zusammenhang des Projektverbundes Ethos fürsorglicher Praxis (Kumbruck und Senghaas-Knobloch 2006) eine Studie zu Spiritualität in der Pflege – quo vadis? (Kumbruck 2006) erstellt. In der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen wird über präventive Wirkungen positiver Spiritualität und Kommunikation im Gesundheitswesen (Utsch 2008) geforscht. Vom Deutschen Institut für ärztliche Mission (Difäm) wurde mit dem Diakonischen Werk der EKD gemeinsam ein Grundsatzpapier zu Gesundheit, Heilung und Spiritualität (Jakob und Laepple 2014) erarbeitet. Im Quiero-Projekt, Qualifikation durch Integration erfahrungsbezogener Ressourcen in Organisation der Pflege, Laufzeit von 2006–2010 und gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung,Footnote 6 wurden mittels Selbstreflexivität die Steuerung von Gefühlen im Pflegealltag untersucht (Netzwerk 2022).

4.8 Konzept zum Gender Mainstreaming (aus: ESF-Antrag rückenwind, 2009)

Von Chancengleichheit und Gleichbehandlung im Beruf sind (ältere) Arbeitnehmerinnen in der Pflege, die zurzeit und auch künftig schwerpunktmäßig in der Pflege tätig sein werden (Generation 50+ als Rückgrat der PflegeFootnote 7), immer noch weit entfernt. Bis heute tragen geschlechtsbezogene Ausbildungsstrukturen, ungleiche Karrierechancen und eine Überlagerung von Geschlechterhierarchien zur Reproduktion eines männlich dominierten Geschlechterverhältnisses bei (Friedrich Ebert Stiftung 2008). Nach wie vor ist eine untergeordnete Stellung der Pflege gegenüber anderen Professionen zu verzeichnen (Medizin, Ökonomie …). Ältere Frauen im Pflegeberuf verdienen weniger als jüngere, haben niedrigere Ausbildungsabschlüsse, schlechtere Positionen inne und geringere Aufstiegschancen. Gesundheitsbedingte Frühberentungen durch körperliche Verschleißerscheinungen und psychische Erkrankungen mit einhergehenden nachteiligen Auswirkungen auf Rentenniveau und -ansprüche sind in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich angestiegen.

  1. a.

    Mit berufsbegleitenden Fort- und Weiterbildungsangeboten (hier zur existenziellen Kommunikation und spirituellen Ressourcen in der Pflege), die Maßnahmen zum Erhalt, Training und Ausbau berufsspezifischer Kompetenzen vorhalten, kann vorhandenes Erfahrungswissen älterer Pflegekräfte ergänzt werden. Investitionen in kontinuierliche Weiterbildung von älteren Mitarbeiterinnen in der Pflege verbessern ihren Chancen auf dem Arbeitsmarkt (auch bei Arbeitgeberwechsel) und haben als nachhaltigen Motivationseffekt die Steigerung des persönlichen Selbstwertgefühls der Mitarbeiterinnen.

  2. b.

    Studien belegen eine höhere Affinität und häufigere Erfahrungen von Frauen zum Themenkreis Spiritualität (Bridges und Moore 2002 und passim). Zu vermuten ist, dass hinsichtlich angebotener Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen in der Pflege sich eher Frauen aufgeschlossen zeigen, diese zu nutzen. Das Praxisprojekt Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege strebt an, zur Angleichung der Geschlechter insbesondere auch bei Männern Interesse an Spiritualität in der Pflege zu wecken (Hochholzer und Kugler 2007) und Trainer:innenteams paritätisch zusammensetzen.

4.9 Beitrag des Projekts zum demografischen Wandel (aus: ESF-Antrag rückenwind 2009)

Bis 2020 steigt die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland um rund 1 Mio. auf 2,94 Mio., bis 2050 um 1,8 Mio. auf 4,7 Mio. mit Pflegebedarf (Destatis, Statistisches Bundesamt). Die Zahl jüngerer Bewerber:innen für den Pflegeberuf ist rückläufig. Die durch den demografischen Wandel entstehenden Lücken und absehbare Personalnot in Pflegeberufen lassen sich auch durch ausländische Pflegekräfte nicht kompensieren. Zudem erfordert die Umsetzung von Pflege- und Versorgungskonzepten insbesondere bei einer in den kommenden Jahren deutlich ansteigenden Zahl Demenzerkrankter eine hohe Kultur- und Kommunikationskompetenz. Das Praxisprojekt Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege ermöglicht intergenerativen Austausch, die Förderung wechselseitigen Verständnisses und Voneinander-Lernens, da spirituelle Haltungen, Entwicklungen, Effekte … sich in der Lebensbewältigung von älteren und jüngeren Menschen unterscheiden (Bucher 2007). Im Fokus auf Patienten:innen und Bewohner:innen (und hier in der Begegnung mit Sinnfragen, Krisensituationen, unerträglichen Lebenslagen, lebensweltlichen Problemanzeigen, Umgang mit Leid …) vermögen es durch die altersgegebene Nähe ältere Pflegende besser als jüngere, (auch in spirituellen Belangen) eine möglicher Kommunikationskluft zu (hoch-) betagten Pflegebedürftigen zu überbrücken. Aber auch für jüngere Pflegekräfte eröffnen sich neue Chancen im Beruf durch Einübung anderer Kommunikationsstile und Erschließung spiritueller Erfahrungshorizonte. Da der Fokus des Praxisprojekts Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen in der Pflege vorrangig auf die Erhöhung der Verweildauer von älteren Mitarbeiter:innen im Pflegeberuf liegt, werden in den geplanten Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen insbesondere spezifische Lernvoraussetzungen und Lernverhalten Älterer berücksichtigt und adäquate Lerngelegenheiten gestaltet (Hörwick 2003).

5 Ausblick

Im Projekt DiakonieCare ist es gelungen, ein Curriculum zu entwickeln, das von den Teilnehmenden für sich persönlich wie für ihren Arbeitsalltag als förderlich und belastungsreduzierend bewertet wurde (Diakonisches Werk der EKD et al. 2012, dort Band 2; S. 102). Obwohl das Curriculum DiakonieCare (120 Unterrichtsstunden) dreifach so umfangreich wie das Curriculum SpECi (40 Unterrichtsstunden) ist, wurde es von den beteiligten Bildungsträgern und neu hinzukommenden Diakonischen Einrichtungen in den Folgejahren weiterhin umgesetzt, jedoch mit abnehmender Tendenz. Gründe dafür lagen vor allem in einer mangelnden zeitlichen Freistellung durch einen steigenden ökonomischen Druck, zunehmenden Fachkräftemangel in der Pflege, einhergehend mit unterbesetzten Stationen, überlastungsbedingten Stundenreduzierungen von Pflegekräften und (später pandemiebedingt noch einmal verstärkt) einem erhöhten Krankenstand. Zudem wurden Inhalte von DiakonieCare in Pflegeausbildungen (in Caritas wie Diakonie) im Rahmen der Reform der Pflegeausbildung integriert und Inhalte in Fachhochschulstudiengänge der Sozialen Arbeit implementiert. Eine Mitarbeiterin aus der Diakonie in Niedersachsen berichtete 2022 rückblickend, dass bei zwei Trägern, die DiakonieCare in ihrem Unternehmen organisationell verankert hatten, eine spürbar positive Veränderung der Unternehmenskultur stattgefunden habe.

Konnte also tatsächlich das im ESF-Antrag rückenwind (3.0) gesteckte Ziel langfristig erreicht werden, durch DiakonieCare die Gesundheitsförderung von Fachkräften im Pflegebereich zu erhöhen? Und trug in arbeitsmarkt- und beschäftigungspolitischer Hinsicht die Förderung von existenzieller Kommunikation und spirituellen Ressourcen zu einer Erhöhung der Verweildauer bei? Die projektbegleitende Studie von Tim Hagemann zeigte, dass die Teilnehmenden gesundheitsfördernd in ihrer persönlichen Resilienz gestärkt worden sind (Diakonisches Werk der EKD et al. 2012). Es erwies sich zudem, dass ältere Pflegefachpersonen (über 40 Jahre) – mit der Gesamtsituation von Pflege besser arangiert – sich deutlich stressresistenter erwiesen als jüngere (unter 40 Jahren, hier kürzere Verweildauer im Beruf). Und es stellte sich heraus, dass die Effekte der Personalentwicklung ohne flankierende Organisationsentwicklung ins Leere laufen. Aus diesem Grund gründeten beteiligte Projektträger und Einzelpersonen das Netzwerk Existenzielle Kommunikation und Spiritualität e.V. (NEKS), um spirituelle Ressourcen und existenzielle Kommunikation in der Personal- und Organisationsentwicklung systematisch zu berücksichtigen und zu fördern (Lubatsch 2008).

Offen und unerledigt blieb auftragsbedingt im Projekt DiakonieCare der Transfer von Spiritual/Existential Care in die Fachlichkeit und Zusammenarbeit von interprofessionellen Teams, eine wissenschaftliche Studie zu den Auswirkungen von Spiritual/Existential Care auf Schwerkranke und Sterbende sowie deren An- und Zugehörigen, die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen und Implementierungsstrategien. Hier setzt das Projekt SpECi (2020–2023) mit folgender Ausrichtung an: interprofessionell statt monoprofessionell, Begrenzung des Curriculums auf 40 Unterrichtsstunden, Weiterführung des Selfcare-Ansatzes, Verknüpfung mit aktuellen Wissens- und Forschungsinhalten, Handlungsempfehlungen für Gesundheitsberufe, Handreichung zur Organisationsentwicklung und Erarbeitung einer Strategie zur Implementierung von Spiritual Care ins Gesundheitswesen.