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Institutionen sind Prozess und Umgebung: heterogene Gefüge, die Personen, Dinge, Praktiken und Zeichen historisch konsolidieren und in ein Austauschverhältnis bringen. Institutionen instituieren ein soziales Feld. Sie produzieren Wirklichkeiten. Sie können Gruppen unterwerfen oder Herde der Kreativität und Verantwortung katalysieren.

Der vorliegende Essay möchte nach einem ›positiven‹ Institutionsbegriff fragen: nach Politiken der Intervention, deren Aufgabe darin besteht, die Institution für neue Räume des Möglichen zu öffnen. Ausgangspunkt und Horizont der Überlegungen bilden Theorie und Praxis der ›institutionellen Psychotherapie‹, einer radikalen Strömung, die sich in den 1940er Jahren um Lucien Bonnafé und François Tosquelles im psychiatrischen Krankenhaus von St. Alban (Lozère) herausbildete und einen theoretischen Diskurs in Gang setzte. Dieser wurde insbesondere von Jean Oury, Gründer und medizinischer Leiter der 1953 eröffneten Klinik La Borde, und Félix Guattari in Auseinandersetzung mit einer Politik des Wahnsinns weiterentwickelt. Als Zufluchtsort antifaschistischer Aktivist*innen und Widerstandskämpfer*innen, surrealistischer Künstler*innen, psychoanalytisch geprägter Ärzt*innen und Marxist*innen entwickelte sich St. Alban zum Schmelztiegel einer avantgardistischen Praxis innerhalb der Psychiatrie, die zunächst die sozialen und politischen Bedingungen adressierte, welche die Institutionen daran hinderte, sich angemessen um ihre Patient*innen zu kümmern.Footnote 1 Drei Grundzüge bestimmen die politische Stoßrichtung der Bewegung: 1) Die institutionelle Psychotherapie ist eine Bewegung zur Aufhebung eines stets doppelten, psychischen und sozialen Entfremdungszusammenhangs. 2) Die Aufhebung der Entfremdung ist nicht mit einer Bewegung der De-Institutionalisierung gleichzusetzen. Sie ist Strategie einer instituierenden Praxis, die das institutionelle Ensemble im Sinne einer emanzipatorischen Politik modifiziert. Darauf verweisen Jean Oury und Marie Depussé, wenn sie zwischen établissement und institution unterscheiden: »Das établissement ist ein Gebäude und ein Vertrag mit dem Staat, ein Preis pro Tag, etc. […] Die Institution, wenn sie existiert, ist Arbeit, eine Strategie, um zu vermeiden, dass die Gruppe fermentiert, wie ein Marmeladenglas mit einem schlecht verschlossenen Deckel.«Footnote 2 Genau darin unterscheidet sich die institutionelle Psychotherapie von der weitaus bekannteren Antipsychiatrie-Bewegung um David Cooper, Ronald D. Laing oder Franco Basaglia, die die Auflösung der psychiatrischen Institutionen als prinzipiellen Orten der Entfremdung anstrebte. Ein solches Unterfangen verkennt nicht nur das revolutionäre Potential der Institution, sondern verwechselt »im Grenzfall die geistige Entfremdung mit der sozialen Entfremdung […] und [unterschlägt] so die Besonderheiten des Wahnsinns«.Footnote 3 3) Das Projekt der institutionellen Psychotherapie verlangt eine kontinuierliche Analyse dessen, was Oury als Pathoplastie bezeichnet: jene pathologischen Reaktionen, die auf ein Milieu zurückzuführen sind.Footnote 4 Als Bewegung zur Aufhebung der Entfremdung erfordert das therapeutische Unterfangenen einen multidimensionalen Ansatz, der eine Pluralität von institutionellen Dynamiken als therapeutische Operatoren instituiert: das Verhältnis zwischen Pfleger*innen, Ärzt*innen und Patient*innen, zwischen Klinik und Umgebung, die Verteilung von Aufgaben, Funktionen etc.

In Rückgriff auf die von Félix Guattari maßgeblich in Psychoanalyse et transversalité (1972), La révolution moleculaire (1977) und Chaosmose (1992) ausgearbeitete Theorie der Subjektivität skizziert der Essay eine Mikropolitik der institutionellen Intervention als instituierende Praxis. Die Institution wird hierbei stets für ihre eigene Problematisierung geöffnet, um nicht einer totalisierenden und technokratischen Ordnung zu verfallen. Gegenstand der Untersuchung ist die Medientechnik des Rasters (la grille): ein tabellarisches Organisationsprotokoll der täglichen Aufgaben der Klinik La Borde, das als problematisierender Operator die instituierten und instituierenden Prozesse moduliert (s. Abb. 1, 2 und 3).

Abb. 1
figure 1

(Aus: Histoires de La Borde, 1976)

»Raster« oder Arbeitsplan aus der psychiatrischen Klinik La Borde.

Abb. 2
figure 2

(Aus: Histoires de La Borde, 1976)

Zeitplan und Aufgaben in La Borde.

Abb. 3
figure 3

(Aus: Histoires de la Borde, 1976)

Vereinfachte Übersicht der Aufgaben und Aktivitäten.

Transversalität

Im Anschluss an die bereits von Jean Oury und François Tosquelles ausgearbeiteten Ansätze einer radikalen institutionellen Praxis entwirft Guattari in einem Vortrag, der in den frühen 1960er-Jahren vor der Groupe de travail de psychothérapie et sociothérapie institutionnelle (GTPSI) gehalten und 1972 in Auszügen in Psychoanalyse et transversalité veröffentlicht wurde. Er prägt in diesem Vortrag den Begriff der ›institutionellen Kreativität‹ im Sinne eines strategischen Unterfangens der ›Institutionalisierung‹, das stets dem ›Problem der Produktion von Institutionen‹ zugewandt bleibt:

»Wer produziert die Institution und gliedert ihre Untereinheiten? Gibt es eine Möglichkeit, diese Produktion in andere Bahnen zu lenken? Die in der zeitgenössischen Gesellschaft übliche Vermehrung von Institutionen bewirkt nichts anderes als eine zunehmend schärfere Entfremdung des Individuums. Ist Delegierung von Verantwortung möglich, so daß der Bürokratismus durch eine institutionelle Kreativität ersetzt werden könnte?«Footnote 5

Die somit aufgeworfene Frage nach den Bedingungen einer institutionellen Kreativität stellt sich unmittelbar als eine der kollektiven Organisation – als eine Frage der Situierung der Institution in einem Spannungsfeld zweier Modi kollektiver Aggregate: unterworfenen Gruppen (groupes assujettis) und Subjektgruppen (groupes sujets). Während unterworfene Gruppen sich einer dominanten Ordnung beugen, »ihr Gesetz von außen beziehen«,Footnote 6 sich in Bezug auf eine andere Gruppe organisieren und zugleich »jede Möglichkeit von Unsinn, Tod oder Bruch aus der Gruppe […] vertreiben, um so die Selbsterhaltungsmechanismen abzusichern, die auf dem Ausschluss anderer Gruppen beruhen«,Footnote 7 bestimmen Subjektgruppen sich »aus einem inneren Gesetz heraus«Footnote 8 und entwickeln die Mittel, ihre Existenz zu problematisieren. Als »Agenten der Aussage, Träger des Wunsches« bilden Subjektgruppen das revolutionäre Subjekt der Institution: Sie kultivieren eine Praxis, die sie »unaufhörlich mit der Grenze ihres eigenen Unsinns, ihres eigenen Todes oder Bruchs konfrontiert«.Footnote 9 Subjektgruppen sind fragile Konstellationen. Sie laufen stets Gefahr, sich als Subjekt der Gewissheit zu verewigen, indem sie ein Gesetz von außen inkarnieren und programmatisch befolgen. Subjektgruppen und unterworfene Gruppen verfügen über manifeste Instanzen (Oberflächenwirkungen, die sich »durch das, was gesagt und getan wird, durch die Einstellungen der Einzelnen, die Spaltungen, die Existenz von Führern« konstituieren) und latente Inhalte, die den Gruppenwunsch bestimmen und über »Sinnbrüche auf der phänomenalen Ebene dechiffriert werden müssen«.Footnote 10 Indem Subjektgruppen eine Konfrontation mit Unsinn und Auflösung riskieren, markieren sie bereits den konzeptuellen Übergang zu einem allgemeinen Maschinenvokabular, wie es Guattari schließlich 1972 gemeinsam mit Deleuze im Anti-Ödipus formulieren wird.Footnote 11 Als prekäre Konstellation können Subjektgruppen als Maschinen begriffen werden, deren Wesen, wie Guattari bereits 1969 im Aufsatz »Maschine und Struktur« formuliert, mit dem Ereignis als ›kausaler Einschnitt‹ zusammenfällt, das die gegebene Ordnung in Frage stellt:

»Das Wesen der Maschine besteht genau in dieser Operation der Ablösung des Signifikanten als Repräsentant, als ›Differentiator‹, als kausaler Einschnitt, als heterogenes Element in der gegebenen strukturellen Ordnung. […] Die Maschine als Wiederholung des Besonderen schafft […] die einzige Möglichkeit der eindeutigen individuellen oder kollektiven Vorstellung von den Formen der Subjektivität in der Ordnung des Allgemeinen. Wenn man die Dinge aus anderer Sicht betrachtet, ›ausgehend‹ vom Allgemeinen, erliegt man leicht der Illusion, dass man sich bei der zufälligen Begegnung mit dem Maschineneinschnitt auf einen bereits bestehenden strukturierten Zusammenhang stützen könnte.«Footnote 12

Die dem Begriff der Struktur gegenübergestellte Engführung von Maschine und Ereignis entwickelt Guattari in Auseinandersetzung mit dem Phänomen des revolutionären Einschnitts. Der Einschnitt ist der Ort der Gegenmacht, der »ein ganzes Feld von subjektiven Interventionen und revolutionären Umwälzungen«Footnote 13 eröffnet. Mit ihm manifestiert sich »das unbewusste Subjekt des Wunsches«,Footnote 14 das sich nicht vollständig in die Struktur integrieren lässt. Die Revolution ist das Ereignis: ein Schnitt »in der historischen Kausalität«,Footnote 15 ein Bruch mit dem Gewohnten. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass »fundamentale Signifikanten, Schlüssel-Einschnitte in die Geschichte eingetreten sind«,Footnote 16 »eine neue Axiomatik«Footnote 17 begründen und eine nicht rückgängig zu machende Sinnwirkung in Gang setzen. Der revolutionäre Einschnitt ist nicht an einen privilegierten Bereich gebunden, sondern kann sich im Feld der Politik, der Wissenschaft, der Poesie, im Privatleben oder im Traum vollziehen: »Wer kann sicher sein, dass eine künftige Revolution nicht nach Ausdrücken von Lautrémont, Kafka oder Joyce dekliniert wird? […] Die Blockierungen und potentiell revolutionären Brüche vollziehen sich synchron auf allen Ebenen des Subjekts und der Geschichte.«Footnote 18

Indem das Ereignis alle Ebenen des gesellschaftlichen Feldes durchkreuzt und »wie durch einen Kurzschluss in Verbindung«Footnote 19 setzt, konstituiert es ein notwendigerweise transdisziplinäres Forschungsfeld, das sich nicht durch die Gesamtheit an Gewissheiten, nicht auf der Grundlage bekannter Wertsetzungen (»Es musste so kommen, weil… «), sondern durch eine Grammatik situativ zu bestimmender Fragen organisiert: Was waren die Produktionsbedingungen, die diesen oder jenen Einschnitt ermöglicht haben? Welches Netzwerk von Signifikanten wurde ins Spiel gebracht? Wo liegen die Kippmomente, die die revolutionäre Bewegung in eine technokratische, zentralistische Ordnung abgleiten ließen? Ein so strukturiertes Forschungsfeld verlangt den Austausch von Historiker*innen, Ökonom*innen, Psychoanalytiker*innen und Linguist*innen und vermag es, einen »neuen Typus politisch aktiver Analytiker hervor[zu]bringen, die den Marxismus endlich von der tödlichen Krankheit befreien hülfen, die ihn lähmt: der Allgemeinheit«.Footnote 20 Guattaris Zugriff auf die Institution über das Vermögen der Subjektgruppe, einen signifikanten Einschnitt zu setzen, bildet das theoretische Fundament, um die Transformation der Institution ›von innen‹ heraus zu denken und ein therapeutisches Unterfangen zu entwerfen, das sich ganz auf »den Boden einer revolutionären Praxis stellt«Footnote 21 – auf den Boden einer Praxis als Arbeit an den Grenzen, die die Gewissheit und das Programm, das die aktuellen Handlungs- und Produktionsbedingungen totalisiert und neutralisiert, einer permanenten Befragung unterzieht und immer wieder von Neuem pragmatisch begründet:

»In diesem Sinne kennt die Analyse keine Grenzen; das unterscheidet sie von einem in sich geschlossenen Programm. Die analytische Arbeit stellt das politische Konzept fortwährend in Frage; es ist immer wieder ex nihilo zu begründen, es wird immer wieder zur Jungfrau gemacht und durch die analytische Arbeit vor vorbehaltloser Zustimmung bewahrt. Nichts ist gefährlicher als das totale Aufgehen in der angeblichen Wissenschaftlichkeit eines politischen Konzepts, die durch entsprechende philosophische ›Behandlung‹ erzeugt werden kann. […] [I]n diesem Bereich wird es nie eine absolute Sicherheit geben. Kein theoretisch-politisches Konzept könnte allein eine kohärente revolutionäre Praxis garantieren.«Footnote 22

Das Vermögen der Subjektgruppe, einen signifikanten Einschnitt zu setzen, fasst Guattari zunächst im Sinne eines Potenzials, dessen Aktualisierung der Veränderung stets historisch-situativer Kontexte bedarf. Sie verweist nie auf etwas »hinter der Geschichte, jenseits unserer realen Situation«Footnote 23, auf transzendente Wahrheit oder mythische Referenz. Es müssen jene Faktoren ans Licht gebracht werden, »die darauf drängen, die Gruppe auf sich selbst zurückzuwerfen – die Leaderships, die Identifikationen, die Suggestionseffekte, die Zurückweisungen, die Sündenböcke etc., alles, was darauf drängt, ein lokales Gesetz und idiosynkratische Bildungen […] nach vorn zu schieben, alles was darauf drängt, die Gruppe zu beschützen, sie gegen signifikante Stürme abzuschirmen«.Footnote 24 Es sind insbesondere die entfremdenden Effekte einer Arbeitsteilung, die die Voraussetzungen einer »erstarrte[n] Übertragung«Footnote 25 verdichten, den Ausdruck des latenten Gruppenwunsches und damit die Formation einer Subjektgruppe blockieren. Guattaris Kritik richtet sich dabei zunächst an die herrschende Klasse der Institution: die Direktor*innen, Ökonom*innen und Ärzt*innen:

»Insofern die Psychiater oder Pfleger durchaus über ein Stück Macht verfügen, müssen sie für die Beschneidung der Ausdrucksmöglichkeiten der unbewussten Subjektivität der Institutionen verantwortlich gemacht werden. Die erstarrte Übertragung, diese festgefahrene Mechanik, die obligatorische, prädeterminierte, ›territorialisierte‹ Übertragung auf eine Rolle, ein gegebenes Stereotyp, ist schlimmer als Widerstand gegen die Analyse; sie ist eine Form der Verinnerlichung bürgerlicher Repression durch repetitives Wiederbeleben archaischer und artifizieller Kastenordnungen mitsamt ihrem Konvoi von faszinierenden und reaktionären Gruppenphantasien.«Footnote 26

Um diese Blockade zu durchkreuzen und ihr »ein System des Ausdrucks […], das heißt: einen Status der Veränderbarkeit«Footnote 27 gegenüberzustellen, entwirft Guattari das Konzept der Transversalität als das eigentliche Objekt der institutionellen Praxis, das gegen »jeden verteidigt werden muss, der es aus dem realen gesellschaftlichen Lebenszusammenhang herauslösen will«.Footnote 28 Die Ordnung der Transversalität steht, wie Guattari formuliert, im Gegensatz zu zwei verschiedenen Modi der institutionellen Organisation, die es zu verwerfen gilt: 1) »im Gegensatz zu einer Vertikalität, wie man sie etwa im Schaubild der Struktur einer Pyramide (Chef, stellvertretender Chef etc.)« und 2) im Gegensatz zu »einer Horizontalität wie der, die sich etwa im Hof des Krankenhauses, in der Abteilung der Unruhigen oder in der der Bettnässer durchsetzen kann, das heißt in einem Zustand, wo die Leute sich, so gut sie können, mit der Situation arrangieren, in der sie sich befinden«.Footnote 29 Der Begriff Transversalität bezeichnet einen Typus der a-zentrierten und a-segmentarischen Organisation, die das kommunikative Potential zwischen den Ebenen und Richtungen der Institution erhöht und so »das allgemeine Klima, die realen Tausch- und Funktionsformen der Institution bestimmen und […] verändern kann«.Footnote 30 So ergibt sich:

»Die Transversalität soll beide Sackgassen überwinden: die der reinen Vertikalität und die der einfachen Horizontalität. Ihre Tendenz nach verwirklicht sie sich dann, wenn maximale Kommunikation zwischen den verschiedenen Ebenen und vor allem in verschiedene Richtungen vor sich geht. Sie ist der eigentliche Forschungsgegenstand der Subjektgruppe. Unsere Hypothese ist folgende: Es gibt Möglichkeiten, die Koeffizienten der unbewussten Transversalität auf den verschiedenen Ebenen einer Institution zu verändern.«Footnote 31

Für Guattari ist »in einem Krankenhaus […] der ›Koeffizient der Transversalität‹ am Grad der Blindheit eines jeden Personalmitgliedes abzulesen«,Footnote 32 der sich durch stereotype und von den tatsächlichen Personenbeziehungen zu unterscheidende Rollenbeziehungen manifestiert. Die Koeffizienten der Transversalität zu erhöhen, ist keine Frage des guten Willens der Therapeut*innen, die als wünschende Wesen stets innerhalb einer signifikanten institutionellen Struktur situiert werden müssen, sondern verlangt eine mikropolitische Intervention auf der Ebene des tatsächlichen Subjekts der Institution: des nicht ein für alle Mal gegebenen, »unbewusste[n] Subjekt[s], das die reale Macht innehat«Footnote 33 und nur über Umwege verfolgt und artikuliert werden kann. Der Begriff des Umwegs verweist auf Operationen der Vermittlung, die das gesamte institutionelle Ensemble aus Personen, Dingen, Praktiken und Zeichen organisieren und als solche zugleich Diskontinuitäten, Spielräume des Handelns eröffnen. Sie können in dem Maße, in dem sie den gewohnten Lauf der Dinge umgehen, eine existentialisierende Funktion freisetzen. Ich möchte im Folgenden das von Guattari eingeführte Raster (la grille) als eine Medientechnik skizzieren, die einen solchen Umweg verzeichnet.

Das Raster

Da die Klinik La Borde in den 1950er-Jahren zunehmend mehr Patient*innen aufnahm, das Personal aufgestockt wurde und die Aufgaben sich differenzierten, entwarf Guattari das Raster als ein zunächst von Ärzt*innen und Betreuer*innen, später von einem Kollektiv aus Patient*innen (les grilleurs, les grilleuses) verwaltetes Organigramm des Klinikbetriebs. Adressierte das Raster zunächst die Frage »nach der Eingliederung des Personals der Institution«,Footnote 34 wurde es später um die Einbindung der Patient*innen erweitert. Das Raster kodiert die Organisation der Klinik im Medium der Tabelle, die bestimmte Tätigkeiten einer jeweiligen Person (Ordinate) einem bestimmten Zeitraum zwischen 8:00 und 21:00 Uhr (Abszisse) zuordnet (siehe Abb. 1 und 2). Es instituiert ein System der Rotationen (système de roulements), das die involvierten Personen – die Patient*innen und das Personal – die verschiedenen institutionellen Milieus der Klinik (die Küche, die Krankenstation, die Ateliers, etc.) für einen bestimmten Zeitraum durchlaufen lässt. Die Tätigkeiten umfassen Aufgaben (tâches), die die für den kontinuierlichen Betrieb der Klinik unverzichtbaren Funktionen gewährleisten (die Nachtschichten, die Bedienung der Tische, die Pflege der Gänge) und sie umfassen Aktivitäten (activités), die im Wesentlichen die Arbeit der Ateliers betreffen:

»Was die ›Aktivitäten‹ von den ›Aufgaben‹ unterscheidet, ist die unterschiedliche Beziehung zum Funktionieren der Institution, aber zugleich viel mehr: Mit ersteren betritt man das privilegierte Feld der Psychotherapie, das Feld des ›Sprechens‹ [parole], der ›Beziehung‹, des ›Kontakts‹ mit dem Patienten. Außerdem sind die Tätigkeiten nicht von diesem unangenehmen Faktor betroffen, der die Aufgaben kennzeichnet. Über sie wird im Gegenteil gesagt, dass sie interessant sind.«Footnote 35

Die Verteilung der Aufgaben wurde über ein Punktesystem (le système de cotation) ermittelt, das einer bestimmten Aufgabe einen zeitlich variablen Punkt-Wert zuteilt, um eine Vergleichbarkeit der Aufgaben zu etablieren und zugleich den spezifischen Beliebtheitsgrad der Tätigkeit zu messen. Die Summe aller Aufgaben pro Woche ergibt einen Wert von insgesamt 350 Punkten (siehe Abb. 3). Punkte konnten gesammelt und in den Raster-Meetings getauscht werden. In La révolution moleculaire bezeichnet Guattari das Raster als abstrakte Maschine, als jene funktionale Menge also, die »den Bereich der unbewussten Möglichkeiten«Footnote 36 konstituiert und organisiert:

»Betrachten wir, was wir in La Borde als das Raster bezeichnen: In all seinen verschiedenen Aktualisierungen und all seinen Etappen ließe sich sagen, dass es die Emergenz einer abstrakten Maschine ins Spiel bringt. Es stellte sich das Problem, die Flüsse [flux] der Zeit, der Arbeit, der Funktion, des Geldes, etc. auf eine etwas andere Art und Weise zusammenzuführen, als dies gewöhnlich in ähnlichen Einrichtungen [établissments], die von einem relativ statischen Organigramm gekennzeichnet sind, üblich ist. Das auf Papier verfasste Raster der Arbeitszeiten, die Maschine der in einer gestischen Semiologie eingeschriebenen rotierenden Funktionen, die einer juristischen und sozialen Semiologie eingeschriebenen Modifikation hierarchischer Kategorien sind allesamt besondere Anzeichen desselben abstrakten Maschinismus, der eine gewisse […] Mutation der Produktionsverhältnisse zum Ausdruck bringt.«Footnote 37

Abstrakte Maschinen sind operative Feldgefüge, die virtuelle Mannigfaltigkeiten aktualisieren, indem sie »alle heterogenen Elemente, die sie durchziehen […] in ein Verhältnis […] bringen« und ihnen eine »Existenz, eine Effizienz, eine Potenz zur ontologischen Selbstbehauptung verleihen«.Footnote 38 Als prinzipielle Voraussetzung der Diagrammatisierung von Zeichen und Materie bildet die abstrakte Maschine die Bedingung der Ontogenese: »Quer durch seine verschiedenen Komponenten hindurch erzwingt ein maschinisches Gefüge seine Konsistenz, indem es ontologische Schwellen überschreitet […], Schwellen der kreativen Heterogenese und der kreativen Autopoiese.«Footnote 39 Indem das Raster die materiellen, sozialen, therapeutischen und bürokratischen Funktionen in Zirkulation versetzt, bildet es die eigentliche Produktivkraft der Institution. Das Raster ist instituierende Praxis – die »Politik als auch das Mittel dieser Politik«Footnote 40 –, die den revolutionären Einschnitt setzt und rahmt, um den bürokratischen Apparat in seiner gesamten Entwicklung über die Ordnung der Transversalität zu neutralisieren:

»Es war […] notwendig, ein System zu instituieren, von dem sich sagen lässt, dass es die ›normale‹ Ordnung der Dinge zu stören vermag [dérèglement], ein System, das ich ›das Raster‹ nenne und das darin besteht, ein entwicklungsfähiges Organigramm anzufertigen, in welchem jeder seinen Platz gemäß 1) den regulären Aufgaben, 2) den gelegentlichen Aufgaben und 3) den ›Rotationen‹ einnimmt, jenen kollektiven Aufgaben also, die wir nicht einer bestimmten Personalkategorie zuordnen wollen […]. Das Raster bezeichnet somit eine Tabelle mit zwei Eingängen, die es erlaubt, die individuellen Aufgabenzuweisungen kollektiv zu verwalten. Es handelt sich um eine Art Instrument, um die notwendige institutionelle Störung [dérèglement institutionnel] zu regulieren, damit diese möglich und gleichsam ›gerahmt‹ wird.«Footnote 41

Das Raster wird maßgeblich auf drei Ebenen wirksam: Es dient 1) als Aufzeichnungsfläche jener Vektoren, die das politische Feld der Institution als Kräfteverhältnis organisieren. Es ist »ein Instrument zur Dechiffrierung. Durch das Raster lesen wir die Institution.«Footnote 42 Es problematisiert 2) die Unterscheidung zwischen therapeutischen Aktivitäten – dem privilegierten Feld des Kontakts, der Beziehung mit dem Kranken – und Aufgaben, indem es letztere mit einem therapeutischen Koeffizienten markiert. Es instituiert 3) »ein ganzes Spiel von institutionellen Übertragungen und existentiellen Zuordnungen«,Footnote 43 die es der Subjektivität erlauben, die verschiedenen institutionellen Subensembles (die Küche, die Apotheke etc.) als bearbeitete Enunziationszonen zu durchqueren, um bisher unbekannte Alteritätsuniversen im Handeln zu erschließen.

Problematik und ästhetisches Paradigma

Guattari schließt seinen Vortrag zur Praxis des Rasters mit einem auf den ersten Blick ungewöhnlichen Vergleich, der eine Engführung von instituierender Praxis und ästhetischem Schaffen nahelegt, wie sie bereits im Begriff der »institutionellen Kreativität« in Grundzügen angelegt ist:

»Was wir den Technokraten sagen können, ist, dass man mit ein paar Noten eine einfache Musik komponieren kann, eine modale Musik zum Beispiel, aber ebenso eine unendlich reiche Musik. Dafür müssen wir die Tonleiter ändern, eine Polyphonie erzeugen... Mit einer Institution ist es das Gleiche. Wir können einen gregorianischen Gesang erzeugen, bei dem jeder einer monadischen Linie unterworfen bleibt oder […] eine barocke Komposition von großem Reichtum entwickeln. […] Aber all dies wird, wie im künstlerischen Schaffen, mit einem Messschieber berechnet.«Footnote 44

Um diesen Zusammenhang zwischen Ästhetik, Subjektivität und instituierender Praxis zu schärfen, möchte ich im Folgenden auf einige Überlegungen zurückgreifen, die Guattari maßgeblich in seinem letzten, 1992 erschienenen Buch Chaosmose entwirft. Obwohl sich Guattaris Interesse für eine Seinsweise der Kunst bis in seine frühen Schriften zurückverfolgen lässt, ist es insbesondere in Chaosmose, dass er ihr mit dem Begriff eines »neuen ästhetischen Paradigmas«Footnote 45 einen zentralen Stellenwert für das Verständnis der zeitgenössischen Subjektivität beimisst.Footnote 46 Das ästhetische Paradigma verweist nicht auf einen klar umschriebenen Bereich der institutionalisierten Kunst, nicht auf die Kunst, »die einer partikularisierten axiologischen Referenz untersteht«,Footnote 47 sondern auf eine protoästhetische Dimension als Praxis der Emergenz: auf »eine Schaffensdimension im Entstehungszustand, die sich selbst ständig vorgelagert und voraus ist; auf ein Emergenzvermögen, das die Kontingenz und die Zufälligkeit all der Vorhaben, immaterielle Universen ins Sein umzusetzen, in sich begreift«.Footnote 48 Ähnlich dem im Schaffen begriffenen Kunstwerk ist Subjektivität nicht an sich gegeben, sondern in einen transversalen Produktionsprozess eingebunden, der mit heterogenen, semiotischen Registern ohne zentrale Bestimmungsinstanz operiert. Subjektivität errichtet sich 1) »diesseits der Person« unter Berücksichtigung präverbaler Intensitäten und 2) »jenseits des Individuums«Footnote 49 als Positionierung in einem Alteritätsverhältnis, das ebenso präpersonale wie nicht-menschliche Instanzen umfasst:

»Man schafft neue Subjektivierungsmodalitäten, ebenso wie ein bildender Künstler von der Palette aus, über die er verfügt, neue Formen schafft. In einem solchen Kontext können die heterogensten Komponenten auf die positive Entwicklung eines Patienten hinwirken: das Verhältnis zum architektonischen Raum, ökonomische Beziehungen, das gemeinsame Festlegen der unterschiedlichen Pflegevektoren zwischen dem Kranken und dem Pflegenden, das Ergreifen aller Gelegenheiten der Öffnung zu Außenwelt, die prozessuale Nutzung von ereignishaften ›Singularitäten‹; alles, was zur Schaffung eines authentischen Verhältnisses zum anderen beitragen kann. […] Wir haben es nicht mit einer als an-sich gegebenen Subjektivität zu tun, sondern mit Prozessen von Autonomwerdung oder von Autopoiese […].«Footnote 50

Guattaris Entwurf eines ästhetischen Paradigmas zielt nicht darauf ab, das therapeutische Unterfangen mit einem Kunstwerk gleichzusetzen, sondern darauf, die Subjektivität in all ihrer Künstlichkeit zu begreifen, die Bedingungen und Modi ihrer Produktion zu untersuchen und mögliche existentielle Bifurkationen zu erschließen. Das ästhetische Paradigma lässt sich damit innerhalb einer Ordnung des Maschinischen situieren: eines »Maschinismus als das Sein der Produktion und die Produktion des Seins, als die Künstlichkeit des Seins und irreduzibler Charakter der Fabrikation des Seins«.Footnote 51

Wenn Guattari das ästhetische Paradigma als konstruktivistisches Unterfangen begreift, »immaterielle Universen ins Sein umzusetzen«, so schließt er damit an eine Vorstellung des schöpferischen Aktes an, wie sie der französische Philosoph und Ästhetiker Étienne Souriau bereits 1953 in seinem vor der Société Française de Philosophie gehaltenen Vortrag »Über den Modus der Existenz des zu vollbringenden Werks« entworfen hat.Footnote 52 Eine solche Engführung zwischen ästhetischem Paradigma (Guattari) und zu vollbringendem Werk (Souriau) ist in doppelter Hinsicht von Belang: Sie erlaubt es, den Anspruch der institutionellen Kreativität 1) im Sinne einer Emergenz zu denken, die eine aktive Handlung der Konstruktion involviert, die jedoch 2) nicht der Idee einer Finalität unterworfen, d. h. auf einen klar zu bestimmenden Zweck ausgerichtet ist, sondern zuallererst ein unbekanntes Territorium eröffnet. Der Begriff des ästhetischen Paradigmas ließe sich somit als die spezifische Bewegung einer revolutionären Praxis bestimmen, die die Gewissheit einer Programmatik produktiv durchkreuzt. Blicken wir also auf die Szene, mit der Souriau die Société konfrontiert.

Ausgehend von der Problematik einer »existentiellen Unfertigkeit von jedem Ding«Footnote 53 entwickelt Souriau eine auf ein prozessuales und pluralistisches Verständnis des Seins ausgerichtet Theorie der Instauration im Sinne einer schöpferischen Konkretisierung virtueller Existenzen:

»Ein Tonhaufen auf dem Block des Bildhauers. Eine unbestreitbare, vollkommen und erfüllte dingliche Existenz. Aber keine Existenz des ästhetischen Wesens, das sich erst entfalten muss. Jeder Druck der Hände, der Daumen, jede Aktion des Modellierstabs vollendet das Werk. Schaut nicht auf den Modellierstab, schaut auf die Statue. Mit jeder Aktion des Demiurgen nimmt die Statue allmählich Gestalt an. Sie geht auf die Existenz zu – auf die Existenz, die sich schließlich in einer erfüllten und starken, aktualen Anwesenheit zeigen wird.«Footnote 54

Souriaus Szene ist keine hylemorphistische, die einen Topos der künstlerischen Realisierung zur Geltung bringt, der im Sinne einer Planung oder Unternehmung aufzufassen ist. Souriaus Agens errichtet nicht, indem es der Materie das Ideal der Form aufprägt und so dem Ideal als vorgestellt Mögliches schrittweise eine konkrete Wirklichkeit verleiht. Vom Entwurf zum Werk führend, den Abstand zwischen zu vollbringendem und vollbrachten Werks schrittweise aufhebend, vermittelt das instaurierende Agens zwischen »Formen, die Materien suchen und Materien, die ihre Formen suchen«.Footnote 55 Die Instauration orientiert sich nicht an einer Finalität, an dem sich das Handeln stets zweifelsfrei ausrichten kann, sondern folgt jenem Modus, den Deleuze als immanente Ursache bezeichnet – als fortschreitend, verkettend – als einer Ursache »die von einem Effekt aktualisiert, integriert und differenziert wird«.Footnote 56

Souriaus Weg vom Entwurf zum Werk führt durch ein bisher unverzeichnetes Territorium, bei dessen erschließender Durchquerung sich das errichtende Agens auf keine »gestrichelte Linie, die den vollen Strich vorbereit«Footnote 57 vertrauen kann. Das zu vollbringende Werk konstituiert eine experimentelle Wirklichkeit, in der das Werk zu keinem Zeitpunkt mit Gewissheit spricht: »Hier, genau, das bin ich, genau das muss ich sein, ein Modell, dass du nur noch zu kopieren hast.«Footnote 58 Der Weg des Agens ist nicht die Realisierung eines Plans: keine Unternehmung, kein Projekt, sondern immer eine Überfahrt, entlang derer sich Handlungen anaphorisch wiederholen und differenzieren:

»Errichten, erbauen, konstruieren – eine Brücke, ein Buch oder eine Statue zu machen – heißt nicht einfach nur eine zunächst schwache Existenz nach und nach zu intensivieren. Es heißt, Stein auf Stein zu setzen, eine Seite nach einer Seite zu schreiben... […] Es heißt auch, auszuwählen, zu sichten, in den Paperkorb zu werfen. Und jede dieser Handlungen enthält ein Urteil, zugleich Ursache, Grund und Erfahrung dieser Anapher […]. Jede neue Information ist das Gesetz einer anaphorischen Etappe. Jeder anaphorische Gewinn ist der Grund einer vorgeschlagenen neuen Information. […] Meist gibt es keinerlei Vorhersage: das endgültige Werk ist bis zu einem gewissen Grad immer eine Neuheit, eine Entdeckung, eine Überraschung. Das also ist es, was ich suchte, was ich zu machen bestimmt gewesen war!«Footnote 59

Guattari schließt mit dem Begriff des ästhetischen Paradigmas an diese Vorstellung der Instauration an, wenn er, wie in einem Gespräch mit dem japanischen Tänzer und Performance-Künstler Min Tanaka, die künstlerische Tätigkeit als Errichtung eines experimentellen Dispositivs begreift: als improvisierte Konstruktion eines »theatralen Raum[s], der zugleich eine Welt der körperlichen Intensitäten umfasst«.Footnote 60 Hier arbeitet der Tänzer mit nicht fixierten, hyperkomplexen Objekten des Milieus (polysemiotischen, deterritorialisierten Ausdrucksmaterien), er positioniert sich und entwirft sich, wie Tanaka formuliert, unter der Bedingung eines Anderen, das die Subjektivität im Erschaffen dezentriert und kollektiviert: einer »Handlungsmacht außerhalb meiner Selbst«.Footnote 61 Der Tanz ist anaphorische Sequenzierung. Tanaka konstruiert und durchläuft eine Serie von Schwellen, wobei die Schwellen errichten und durchlaufen, bedeutet, »einen Pfeil in das Abstrakte des Alltäglichen«Footnote 62 zu projizieren, ein Abstraktes, dessen Koordinaten nie bereits gegeben sind, sondern im künstlerischen Schaffen instauriert werden. Der Tanz ist unbestreitbare, wenngleich fragile, dem Scheitern ausgelieferte Befragung und Entwurf einer problematischen Existenz.

Ich möchte vorschlagen, die mit dem Begriff der Instauration aufgerufene experimentelle Wirklichkeit als Konstruktion eines problematisierenden Zusammenhangs zu denken, wie sie bereits bei Guattari im Entwurf einer revolutionären analytischen Praxis angelegt ist, die sich dadurch auszeichnet, dass sie »das politische Konzept fortwährend in Frage« stellt und es in jeder Etappe »immer wieder ex nihilo«Footnote 63 begründet. Doch was meint hier eigentlich Problematisieren?

Die Problematik bezeichnet zunächst eine situative Aufforderung, die das Subjekt aufruft, sich gegenüber der Alterität des Ereignisses, auf eine bestimmte Art und Weise zu positionieren. Die Szene des zu vollbringenden Werks bringt dies par excellence zu Geltung: »In diesem Dialog des Menschen mit dem Werk ist die Tatsache, dass es eine Befragungssituation aufstellt und aufrechterhält, eine der auffälligsten Anwesenheiten des zu vollbringenden Werks.«Footnote 64 Indem das Agens anaphorisch konstruiert, entwirft es eine Sequenz von Befragungssituationen, die das Subjekt der Gewissheit fortwährend durchkreuzt.Footnote 65 Denn die experimentelle Wirklichkeit der Problematik läuft nicht auf sich selbst zurück, sondern ist differentiell angelegt: Hier ist jede Setzung zugleich die Prüfung, eine neue Handlung im Spannungsfeld von Wirksamkeit und Fehlbarkeit in den Akt der Konkretisierung einzubringen, jede Setzung »zugleich Ursache, Grund und Erfahrung dieser Anapher«.Footnote 66 Die Problematik bezeichnet, wie Isabelle Stengers mit Blick auf Souriau kommentiert, »eine Form des Experimentierens, die uns in unsere Gegenwart verwickelt und welche verlangt, dass man sich von dem berühren lässt, was die Gegenwart in Form eines Tests präsentiert, und dem, was uns berührt, die Macht einräumt, die Beziehung, die wir zu unseren eigenen Gründen unterhalten, zu verändern«.Footnote 67 Der hier zur Geltung gebrachte Dialog bedeutet nicht, einer Logik der theologischen Offenbarung zu verfallen. Er bezeichnet vielmehr jenen Modus einer doppelten Sinnprägung, wie ihn Paolo Virno im Begriff des »Erwartet-Unvorhergesehene[n]«Footnote 68 zu fassen sucht:

»Wie bei jedem Oxymoron befinden sich die zwei Begriffe in wechselseitiger Spannung, und zugleich sind sie untrennbar. Wenn nur das rettende ›Unvorhergesehene‹ in Frage stehen würde oder nur eine weitblickende ›Erwartung‹, könnten wir es mit der unbedeutendsten Zufälligkeit oder mit einer banalen Berechnung des Verhältnisses von Mittel und Zweck zu tun haben. Indes handelt es sich um eine Ausnahme, die vor allem den überrascht, der sie erwartet, um eine Anomalie, die derart wertvoll ist und in der Lage, unseren Begriffskompass ins Abseits zu stellen, der doch präzise den Ort ihres Auftretens angezeigt hat, um eine Diskrepanz von Ursache und Wirkung, deren Ursache man immer erfassen kann, ohne dadurch den Neuerungseffekt zu schwächen.«Footnote 69

Das Unvorhergesehene muss, wie Guattari schreibt, »wie im künstlerischen Schaffen mit einem Messschieber berechnet werden«.Footnote 70 Es verlangt nach Techniken, die das Ereignis rahmen und begründen.

Das Raster ist eine Technik, die die Konstruktion einer Problematik zur Aufführung bringt, eine Technik, die, mit Deleuze gesprochen, die Problematik als »ein[en] Weltzustand, eine Dimension des Systems und sogar sein[en] Horizont, sein[en] Brennpunkt«Footnote 71 bestimmt und zugleich »eine Teilhabe an den Problemen, ein Recht zu Problemen, eine Verwaltung von Problemen«Footnote 72 instituiert. Die im Raster angelegte Konstruktion der Problematik hat nichts mit einer Programmatik zu tun, die im Sinne eines Plans oder einer allgemeinen Axiomatik im Einschnitt einen neuen Sinn des Handelns, die den Einschnitt zugleich voraus und ins Werk setzt, präfiguriert. Die Problematik ist grundlegender angelegt: Sie verkoppelt Einschnitt und Produktion und denkt die Produktion vom Einschnitt her. Sie ist die Setzung der Entsetzung einer gegebenen Ordnung, eines beruhigenden Bezugsrahmens, einer stabilisierten Komposition von Signifikationen. Sie zieht eine Fluchtlinie, die das gesamte »System zum fliehen bringt«Footnote 73 – jedoch nur insofern, als sie das Register der Fragen selbst einer permanenten Befragung unterzieht und eine zirkuläre, unabgeschlossene Bewegung instituiert, die sich stets an einem von spezifischen Fragen bestimmten pragmatischen Kontext ausrichtet:

»Wie können wir verhindern, dass sich an einem solchen Ort ein demoralisierendes Klima der Einkreisung und Einsamkeit etabliert? Ist es angemessen, von Personen, die derzeit in der Apotheke arbeiten, zu verlangen, dass sie die Wäscherei übernehmen? Wird dies dazu beitragen, einige Personen, die wiederum in der Wäscherei erstarren, zu befreien, um ihnen Aufgaben anzuvertrauen, die ihnen besser gefallen?«Footnote 74

Indem das Raster die Aufgaben und Aktivitäten in Zirkulation versetzt, zerschneidet es die stereotype und serielle Wiederholung des Gleichen, in der das Sein sich in sich selbst verschließt und entleert. Das Raster ist, wie Deleuze formuliert, »eine Art ›Monstrum‹, das weder Psychoanalyse noch die Krankenhaus-Praxis ist – eine Produktions- und Ausdrucksmaschine des Wunsches«,Footnote 75 die darauf abzielt, der Subjektivität unbekannte Virtualitätsfelder zu eröffnen, eine irreversible, subjektive Richtungsänderung als Sinnproduktion zu rahmen: »die Wiederaufnahme des Kontakts mit Personen, […] die Möglichkeit, an Beziehungen zu früheren Landschaften wieder anzuknüpfen, wieder neurologische Selbstsicherheit zu erlangen«.Footnote 76 Jedes Ereignis – ein nur beiläufig geäußerter Wunsch, eine Gebärde, eine unbekannte Tätigkeit – kann als Nukleus eines komplexen Ritornells differenzierender Wiederholung zum »Träger einer neuen subjektiven Konstellation«Footnote 77 mutieren und die erschließen, was »Bereiche von unkörperlichen Entitäten, die man zur selben Zeit, in der man sie produziert, registriert und die sich, sobald man sie hervorbringt, als schon da erweisen«.Footnote 78 Damit mobilisiert das Raster einen politischen und therapeutischen Ansatz, der die Analyse der Produktionsbedingungen von Subjektivität und die Katalyse neuer subjektiver Referenzsysteme zusammenführt, um eine Komplexifizierung der subjektiven Register voranzutreiben. Aus einer solchen Perspektive ist die Analyse »nicht mehr transferentielle Deutung von Symptomen in Abhängigkeit eines präexistenten latenten Inhalts, sondern Erfindung von neuen katalytischen Herden, die dazu fähig sind, die Existenz zu verzweigen.«Footnote 79

Coda

Was Guattari mit seinem an die Technokraten gerichteten Plädoyer vorschlägt ist ein Dreifaches: 1) ein Begriff der Subjektivität aus dem Blickwinkel ihrer Produktion, 2) die Perspektivierung dieser Produktion aus dem Blickwinkel eines ästhetischen Paradigmas, welches 3) die Begriffe Ereignis und Konstruktion zusammenführt:

»Was wir durch unsere vielfältigen Aktivitäten und insbesondere durch die Übernahme von Verantwortung gegenüber sich selbst und anderen anstrebten, war ein Bruch mit der Serialität und die Wiederaneignung des Sinns der eigenen Existenz durch Individuen und Gruppen in einer ethischen und nicht mehr technokratischen Perspektive. Es ging darum, die Art von Aktivitäten voranzubringen, die eine Übernahme von kollektiver Verantwortung begünstigen und dennoch auf einer Resingularisierung des Verhältnisses zur Arbeit und, allgemeiner, zur persönlichen Existenz beruhen.«Footnote 80

Wenn Guattari die Klinik La Borde als ein »kleines Laboratorium«Footnote 81 beschreibt, das stets auf Umwegen operiert, so geht es ihm weniger darum, ein analytisches Ethos zu kultivieren, dessen Funktion darin liegt, eine verborgene Wahrheit zu enthüllen. In Auseinandersetzung mit einem nicht an sich gegebenen Subjekt der Analyse geht es vielmehr darum, eine neue soziale Funktion zu definieren, die ein Potential, eine »mögliche Beziehungen der Subjektivität innerhalb und zwischen den verschiedenen Kasten und sozialen Strata«Footnote 82 erschließt und potenziert. Was also auf dem Prüfstein steht, ist nichts anderes als der epistemische Anspruch der analytischen Praxis: die spezifische Art und Weise, wie die Institution einen Bezug zum Register der Wahrheit etabliert und was die impliziten Koordinaten sind, die diese Setzung rahmen und begründen. In Abgrenzung zur Psychoanalyse lacanianischer Tradition verfolgt diese Modellierung eine tatsächlich maschinische Konzeption der Wahrheit – ein Denken der Wahrheit als Denken der Wirksamkeit, ein problematisches und problematisierendes Denken, das nicht aufhört zu fragen »funktioniert es, […] wie funktioniert es«,Footnote 83 und funktioniert es immer noch?