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Subsumtionsautomaten

Unter Legal Tech wird die digitale Umsetzung von Rechtsanwendungen verstanden,Footnote 1 die Fälle aufgrund bestimmter Parameter systematisieren und vereinheitlichen, um sie in Datenbanken und Online-Systeme einpflegen zu können:

»Unter Legal Tech (im engeren Sinne) versteht man Software, die unmittelbar die juristische Leistungserbringung berührt, etwa automatisierte Dokumenten- oder Schriftsatzerstellung, Ablaufautomatisierung, Document Review, Self Service Tools und sog. intelligente Datenbanken (etwa IBM Watson oder ROSS). Diese Technologien ›ersetzen‹ Tätigkeiten, die von Anwälten durchgeführt wurden oder werden«.Footnote 2

Die Frage, die mit dieser argumentierten Ersetzungslogik entsteht, ist nicht nur die nach der juristischen Präzision der digitalen Verfahren, sondern vor allem eine, die sich an der Verallgemeinerung der Rechtsauslegung brechen muss, die durch diese Automatisierung von Fällen jedoch zur Voraussetzung erhoben wird. Die von Regina Ogorek bereits 1986 veröffentlichte Schrift Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert. Rechtsprechung, Materialien und Studien hat für die Prinzipien der Rechtsauslegung wichtige Argumente geliefert, die sich auf die aktuelle Entwicklung des Fachbereichs Legal Tech anwenden lassen.

Die Frage danach, wie die gesetzestreue, logische Rechtsanwendung als Leitidee für die Richter des 19. Jahrhunderts gilt, »welche die Rigorosität betreffen, mit der richterliche Entscheidungen als durch Rechtsnormen, speziell durch Gesetze vorausbestimmt anzusehen sind«,Footnote 3 kann weitergeführt auf die Automatisierungsverfahren im Recht übertragen werden: Wie geht die aktuelle digitale Rechtsdienstleistung mit dem Einzelfall um? Welche Daten werden erhoben und anhand welcher Rechtsgrundlagen wird entschieden? Sind diese Systeme, in denen ich meinen Fall online anlegen kann, überhaupt sicher? In ihrer Studie hält Regina Ogorek als Befund für all diese Fragen fest:

»Es wäre hoffnungslos, die Vielfalt der Antworten in wenige Sätze einfangen zu wollen. Es zeichnen sich aber Argumentationstypen ab, denen die meisten Beiträge zugeordnet werden können. Da sind zunächst einmal diejenigen, die eine strenge Bindung des Richters an das Gesetz für verfassungsrechtlich geboten, politisch wünschenswert und methodisch umsetzbar halten.«Footnote 4

Diese strenge Bindung der Rechtsordnung gilt gleichermaßen für die Anwendungsstrategien in Legal Tech. Die derzeit erscheinende Literatur hebt dabei die positive, organisatorisch-praktische und erkenntnisorientierte Herangehensweise im Umgang mit den Entscheidungsoptionen von Legal Tech hervor:

»Solche ›Richterautomaten‹ sind derzeit noch nicht eingesetzt und erst recht nicht rechtlich befugt, Rechtsfälle zu entscheiden, nicht zuletzt, weil dies zahlreiche verfassungsrechtliche Fragestellungen und natürlich auch viele philosophische Probleme aufwerfen würde, wie z. B., ob wir überhaupt wollen, dass Maschinen über Menschen in rechtlichen Angelegenheiten entscheiden sollen, etc. Die hier konkret aufgestellte und nachfolgend zu begründende Hypothese lautet: Es ist möglich, eine Theorie zu entwerfen, die erklärt, warum eine Maschine juristisches Denken bzw. wenigstens juristische Sprache so umfassend simulieren können müsste, dass ein Rechtsfall insgesamt entschieden werden kann.«Footnote 5

Um den Rechtsfall zu definieren, kann man ihn nur zur Sprache bringen, selbst ein Fall werden, oder in jedem Fall, zunächst die Zweckbestimmung auflösen, um sein Wesen vor der Verwaltung einzuholen – zurück in die Entscheidungsdrift vor der Einrichtung des Sachverhalts. Ausgehend vom Fall lässt sich feststellen, wie unterschiedlich die Systeme sein müssten, in denen digitalisierte und simulierte Anwendungen eine algorithmisierte Verwaltung der Fälle ermöglichen würden. Jeder Fall ist unterschiedlich. Ist in dieser Fülle von Eigenschaften und Abweichungen überhaupt eine Entscheidungs-Software denkbar, die Fälle systematisieren, vergleichen und interpretieren kann, und die dabei nicht wesentliche Eigenschaften des Einzelfalls vernachlässigen würde?

Transformationen des juristischen Falls

Eine Systematik des Falls als Einheit des Prozessierens von Verwaltungen und Gerichten zu beschreiben, bedeutet die Geschichte seiner Transformationen zu erzählen, die jedoch nicht historisch erzählt werden kann, weil die unzählbare Menge der Einzelfälle jeden Systematisierungsversuch zur Chronologisierung, Historisierung und Genealogie zerstören würde. Vor allem in der Literatur der letzten Jahre wurde der Fall immer wieder zu einem Motiv von Übertragungsgeschichten: vom Sachverhalt in den Tatbestand der Rechtsnorm, vom Recht in die Literatur,Footnote 6 von der Medizingeschichte zur Klassifizierung von Beobachtungen und in die Statistik,Footnote 7 von der Administration zum exzessiven Rechtsempfinden in die Querulanz,Footnote 8 zwischen Medien und Bürokratie,Footnote 9 als ideengeschichtliche Einordnung aus medizinhistorischer Perspektive,Footnote 10 in der Beziehung von Recht und Ästhetik,Footnote 11 vom Recht in die Übertragung,Footnote 12 von der Kasuistik in die WissensgeschichteFootnote 13 und vom Gerichtsprotokoll als Typoskript in den automatisierten Fallvergleich.Footnote 14 Diese Brüche und Transformationen zu erzählen, bedeutet nicht den Fall als Metatheorie von X in die Wissenschaftsgeschichte einzurücken, sondern ihn als Modell zu lesen, in dem ungesichertes Wissen von Lebensumständen zugunsten einer temporären Wissensanordnung suspendiert wird. Diese Transformation von Rechtsfiguren erzählt jedoch nicht nur Lebensumstände, sondern vor allem von dem Recht an Dingen, an Entscheidungen und an Räumen: »Res Nullius bezeichnet einen gefährlichen Moment: Die Transformation von Nicht-Besitz in Besitz.«Footnote 15 Die Frage nach dem Res Nullius verbindet die Forschung nach dem literarischen Niemandsland (in Gottfried Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe, 1855) und dem filmischen, gesetzlosen Flecken Grenzland (in Helmut Käutners Himmel ohne Sterne, 1955) mit dem wirklichen Fall. Dieser ereignet sich am 20. April 2010 und kommt zum Tragen, als die Bohrinsel Deepwater Horizon explodiert und in der Folge die schwerste Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko auslöst – was nach Michel Serres die drängende Frage aufwirft, ob es möglich ist, im Namen des Meeres BP anzuklagen.Footnote 16

Die Frage, wie das Fallwissen in eine digitale Einheit transformiert wird, wie sich Fälle automatisch vergleichen lassen und wie Legal Tech die Digitalisierungsstrategien für Fälle optimiert, impliziert das Problem des Res Nullius: Worin unterscheiden sich menschliche und automatisierte Entscheidungen und wem gehören sie? Dem Rechtsdienstleister im Internet, oder dem Gericht? Fragen, deren Leerstellen sich erst heute mit konkreten Fällen in der Rechtsprechung darstellen lassen.

»Moderne Komplikationen der traditionellen Methodik«

Ino Augsberg: »Rechtswissenschaftliche Methodenlehre«, https://www.augsberg.jura.uni-kiel.de/de/lehrveranstaltungen/rechtswissenschaftliche-methodenlehre (zuletzt aufgerufen am 2.2.2021).

Die vorausgehenden Komplikationen dieser Fragestellungen bringt ein Band von Friedemann Vogel mit dem Titel Recht ist kein TextFootnote 17 auf den Punkt. Die Texte sprechen Situationen an, die sich nicht offensichtlich verrechtlichen lassen oder deren Status im Fall unklar bleibt – es bleibt unsicher, ob sie unter das Gesetz fallen müssten oder könnten. Diese Vagheit, die sich bereits durch die unbestimmten Rechtsbegriffe und ihre Neu-Interpretation in jedem einzelnen Fall ergibt, findet sich in Konstellationen wieder, die sich nicht im Verfahren vor Gericht strukturieren lassen, z. B. in der Mimik, im Schweigen, im Subtext, in der Geräuschkulisse und im Nichtverstehen von Fragen. In der Transformation lebensweltlicher Sachverhalte in Fälle bestätigt Ina Pick schon in der Sachverhaltsbegutachtung den Möglichkeitsraum, der den Weg des Falls entscheidet: »Da die Falltransformation bis zur Einschätzung mental auf Seiten des Anwalts vollzogen werden kann, liegt hier eine wichtige Strukturstelle für Mandantengespräche vor, die die Verständigung systematisch verhindern kann.«Footnote 18 Weitere Komplikationen, die sich aus der Prämisse Recht ist kein Text ergeben, widmen sich den digitalen Brüchen: Was geschieht, wenn sich Fälle googeln lassen und Laien zu Experten werden, oder was passiert mit den nicht-digitalisierten Texten und Urteilen, wenn nur noch die Digitalisierten durch Filter und Suchmaschinen zur Recherche benutzt werden? Fallen die historischen Rechtsurteile, die eine Vergleichbarkeit mit anderen Rechtssystemen gewährleisten, dann durch das automatisierte Raster unserer Wahrnehmung? Der von Shoshana Zuboff eingeführte Begriff des AllgegenwärtigkeitsapparatesFootnote 19 trifft in Ableitung auf die Praktiken von Legal Tech zu, denn mit ihnen geschieht nicht nur eine Verallgemeinerung menschlichen Handelns, das den Einzelfall an sich aufzulösen droht, sondern auch ein Verwischen von rechtlichen Zuständigkeiten, denen die digitalen rechtlichen Verfahren zugrunde liegen und die Intransparenz der Prozessualität des Rechts vergrößert.

Die aktuellen rechtlichen Entwicklungen, die die historischen Fälle der Rechtsentwicklung in den Hintergrund rücken lassen, lösen durch die digitale Rechtsfindung ein vergegenwärtigtes Nachdenken in Anwendungsszenarien aus, um den Algorithmus nach ökonomischen und schnell veränderbaren Parametern zu skalieren. Aus den Fällen werden Anwendungsfälle.

In Wenn p, was dann? In Fällen denken resümiert John Forrester die Tatsache, dass der jeweilige Fall, als temporäre Wissenseinheit, die Methode selbst bestimmt, denn es gibt »auch nicht eine Methode der Wissenschaften, die, für alle Zeiten etabliert, als Maßstab und Garantie der Wahrheit dienen würde.«Footnote 20 Vom Fall aus lassen sich Umbrüche in der Wissensgeschichte lesen, die sich in temporären Anordnungen denken lassen, um exemplarisch, als Ausnahme von der Regel oder im Transfer zu anderen Wissensgegenständen eine Brücke zu schlagen. Das Wissen der eigenen Disziplin gerät im Fall vielmehr zur Überprüfung und Differenzierung, die eine Generalisierung, die strikte Historisierung und die empirische Beobachtung von Vorgängen und Ereignissen auf den Prüfstand und vor das Gericht einer neuen Urteilsfähigkeit stellt. Während Peter GalisonFootnote 21 für die Fallstudie in der Kunst, in der Wissenschaft und in der Anthropologie attestiert, nicht länger mehr nur der Beweis an sich, sondern der Vorläufer eines Prozesses zu sein, mit dem historische, kulturelle und literarische Praktiken in Frage gestellt werden können, hat der einzelne juristische Fall das Potential, die Rechtsnorm zu erneuern oder zu revidieren. Im juristischen Fall wird der zu erzählende Sachverhalt nicht unbedingt durch Kontingenz erzeugt, sondern er bestätigt die Abweichung von der Regel, oder ihr genaues Eintreffen und fügt sich damit unter die Abstrahierung menschlichen Verfehlens schlechthin.

Die Funktion des juristischen Falls als Instanz einer kritischen Auseinandersetzung legt Michael Niehaus in seiner Unterscheidung als von der Institution bearbeitete Einheit und im Fall, der in die öffentliche Diskussion eingeht, offen: »Wenn der Fall zum Gegenstand einer Darstellung gemacht wird, so impliziert dies vielmehr im Prinzip die Behauptung, dass in dieser Darstellung die relevanten Elemente des Falles – also die Kasueme – enthalten sind.«Footnote 22 Während die wissenschaftliche Literatur zum Fall und zur digitalen Rechtsfindung also immer eine Variable X argumentiert, um Fälle unterschiedlicher Disziplinen vergleichbar zu machen, ist es umso interessanter, was in der Wandlung der Fälle zu Anwendungsfällen digitaler Rechtsprechung vernachlässigt wird, was nicht als Kasuem zu fassen ist und so eine Offenlegung der Informationen meint, die nicht in den Fall eingehen: »Einen solchen relevanten Bestandteil möchte ich Kasuem nennen. Ein Kasuem soll also ein Merkmal sein, dessen Vorliegen oder Nichtvorliegen an einer bestimmten Stelle eines Verfahrensablaufs für die Fortsetzung dieses Verfahrensablaufes relevant ist.«Footnote 23 Das Kasuem ist ein differenzierendes, aber unbestimmtes Merkmal, das nichts Schematisches aufweist und statt des Tatbestandsmerkmals, wonach sich ein Fall unter den Sachverhalt subsumieren lässt, ein Verfahrensbestandsmerkmal ist. Die Rechtsphilosophie arbeitet an diesen Mittlerfiguren des Rechts und der Verwaltungssysteme, weil an ihnen auffällig wird, wie wenig sie als Ausnahme von der Regel in automatisierte Subsumtionsverfahren übertragbar sind: »Von der Falldarstellung wird erwartet, dass sie einerseits auf Tatbestandsmerkmale hin orientiert ist, aber andererseits noch nicht die Sprache der Tatbestandsmerkmale spricht. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Kasueme. Sie sind in der Sprache formuliert, die übersetzt werden muss, von der aber angenommen wird, dass sie übersetzt werden kann.«Footnote 24

Um sich von diesem Kasuem des Falls einen weiteren Begriff zu machen, setzen sich die Rechtshistoriker aktuell u. a. mit dem Enthymem auseinander, um aus der Rhetorik methodisch abzuleiten, was nicht-normative Modelle für die im Fall praktizierten Begründungsmuster der Subsumtion eines konkreten Sachverhalts sein können. Dieser Teil der Rechtsanwendung, den Thomas Seibert als das ungeschriebene Gesetz bezeichnet, lässt sich als enthymemisch nur in Fällen darstellen. Es lässt keine allgemeine Formel zu, da es für die Interpretation des Sachverhalts eher als Denkfigur steht und keine konkrete Rechtsanwendung zur Folge hat.

Um das Enthymem als Wahrscheinlichkeitsschluss in die Fälle juristischer Praxis aufzulösen, gibt Seibert seinen Anwendungsfällen nummerierte Obertitel mit dem Namen »Lücke«. Eine Benennung als Lücke ist insofern interessant, weil sie verdeutlicht, dass Vorannahmen ebenso in eine Urteilsfindung mit einziehen können, wie die Ambivalenz, die Widerspruchsfreiheit, oder die Heimsuchung durch Umstände. Diese zweite Lücke, die eine der enthymemischen Strukturen des Gesetzanwendung erklärt, heißt »Lücke 2: Etwas anderes ist der Fall«:

»Das Element der ›Lücke‹ tritt insofern auch als Darstellungsschirm für ein Gefühl auf, das lautet: Das kann man nicht glauben. Man kann – ist der BGH überzeugt – eigentlich nicht glauben, dass jemand auf einem Mobiltelefon blind, nämlich in der Tasche, eine Nachricht eingeben und versenden kann. Die Begründung wahrt die Form der Revision, die eine Lücke als Begründungsmangel vorstellt, und rügt: [BGH, Beschluss vom 27.9.2001 – 1 StR 349/01 – NStZ-RR 2002, 39.] ›Es versteht sich indessen gleichwohl auch für einen im Umgang mit einem Mobiltelefon und dem Versenden von SMS-Nachrichten in hohem Maße geübten, fingerfertigen Nutzer nicht von selbst, dass ein solches ›blindes‹ Schreiben und Versenden einer Mitteilung über ein in der Tasche befindliches ›Handy‹ möglich ist. Die entsprechende Feststellung hätte der Darlegung der Voraussetzungen bedurft, unter denen die Zeugin Kö. dies konnte; die Aussage der Zeugin hierzu wäre zu würdigen gewesen.‹ Der dahinterstehende Schluss nimmt geradezu syllogistische Form an, die lautet: Technische Geräte kann niemand blind bedienen. Ein Mobiltelefon ist ein – im Übrigen und überhaupt mit der Fingerfertigkeit von Oberrichtern – nicht ganz einfach zu bedienendes technisches Gerät. Also kann man es nicht in der Tasche bedienen. Damit wird eine Feststellung des Tatgerichts beseitigt, was so deutlich nicht gesagt werden darf. Es wird versteckt hinter der Formel, man habe die Aussage der Zeugin über ihre damit angenommene, anormale Fähigkeit überprüfen müssen, und durch Enthymem wird nahegelegt: Das konnte sie nicht.«Footnote 25

Diese Lücke hier ganz nachlesen zu können, ist aus dem Grund wichtig, weil die Details, von denen Seibert berichtet, wie Formulierungen für andere Tatbestände stehen könnten und auf ihrer Grundlage das Recht in andere Handlungsgeschehnisse und Vermutungen übertreten kann. Das Kommunikative des juristischen Falls tritt darin zutage und die »allseitige Anfälligkeit einer Sachverhaltsfeststellung und -begründung«.Footnote 26

Mediale Transformationen des Falls

Der Fall in den Medien besteht oftmals schlicht aus interessanten Ereignissen, die jedoch durch die Menge an verschiedenen Informationen zur Systematisierung des Falls führen. Es sind Versammlungen von Artikeln, Fotos, Forenbeiträgen, Twitterkommentaren, Interviews, Expertenmeinungen, Publikumsanrufen, Gerichtsreportagen, Gegendarstellungen und Hobbykolumnen.

Durch die Öffentlichkeit des Falls in den Medien wird nicht nur die Zuverlässigkeit der Quellen eine zu vernachlässigende Größe, auch die Zugangsbedingungen zum Fall scheinen immer und überall möglich zu werden. In diesem Sinne dokumentiert der Fall in den Online-Medien auch stets den Einsatz von Aufzeichnungs- und Auswertungsmedien. In Medien der Rechtsprechung von Cornelia VismannFootnote 27 geht es nicht nur um die Narrationsweisen des einzelnen Falls, sondern um die Beteiligung der Medien am Prozess und die Übertragung des Gerichtsverfahrens in verschiedene Medienformate. Die mediale Übersetzung, die den Fall im Fernsehen zur Sprache kommen lässt, transformiert die Verhandlung: »Medien haben unter bestimmten Umständen durchaus die verhängnisvolle Macht, die Gerichtsstätte zu schleifen und die Rechtsprechung zu ruinieren. Aber das Buch von Cornelia Vismann demonstriert, dass sie zugleich Mittel sind, mit denen sich eine systematische Reflexion der medialen ›Abhängigkeit‹ allen Rechtsprechens vollziehen lässt.«Footnote 28

Der Fall ist als Fallbeispiel nicht mehr nur länger Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens oder unter das Gesetz zu subsumieren, sondern er wird zum Exemplum eines veränderlichen Wissens, das fall-immanent nicht nur den Aussage-Arten verschiedener Beweislagen unterliegt, sondern durch seine Übersetzung in mediale Formate zu einem jeweils anderen Wissen fähig wird – dem Wissen über die Dispositionen der medialen Form.

Die in den letzten Jahren zum Fall erschienene Literatur versteht ihn als zu analysierende Einheit der Literaturwissenschaft, als Erkenntnisweg der medizinischen Forschung, als Qualitätssicherung ökonomischer Untersuchungen, als Erzählform noch im Prozess befindlicher Rechtsgebiete – und dennoch als Setzung einer interdisziplinär operierenden Wissensform, die Aufschluss darüber gibt, dass ein Fall von X oder die Regel des Falls nicht herzustellen sei und nur mehr als Singularität in der Pluralität aufgehen müsse. Der Fall, der im Gesetz keine unmittelbare Definition besitzt, liest sich in den unbestimmten Rechtsbegriffen z. B. als Härtefall – der sich durch seine sozialen Umstände festlegen lässt.

Man kann sagen, das Fall-Werden – und das ist im Hinblick auf die Automatisierung der Fälle als Anwendungsszenarios für Legal Tech wichtig, lässt sich als Amtshandlung nicht immer koordinieren und nicht generalisieren.

Die aktuelle Frage an das Fach Medienwissenschaft wäre, mit dem juristischen Fall im Hintergrund, nicht nur die nach dem Vorteil oder Nachteil einer normativ-interpretativen Methode, die die Disziplin absichert – so wie es in der Jurisprudenz zweifelsohne der Fall ist, sondern auch die nach der wissenschaftshistorischen Verschiebung methodischer Vorgänge in der Wissensvermittlung. Die Fälle, die aus Verwaltungsvorgängen kommen, seitens der Amtsgerichte und medizinische Fälle werden als Behördenpflege in den Staatsarchiven abgelegt und nach Verzeichnung in Findbücher oder unter Enthält-Vermerke und dem Nachweis von begründetem Forschungsinteresse wieder reponiert. Der Fall ist demnach auch eine Einheit, in der sich Medienübergänge nachweisen lassen: Die Unterscheidung, die Foucault in der Archäologie des Wissens zwischen Dokument und Monument trifft, stellt zudem eine Anziehungskraft heraus, eine Remanenz, die dem dokumentarischen Material eigen ist, nämlich sich gewebsartig in Beziehungen zueinander zu positionieren: »[S]ie ist die Arbeit und Anwendung einer dokumentarischen Materialität (Bücher, Texte, Erzählungen, Register, Akten, Gebäude, Institutionen, Regelungen, Techniken, Gegenstände, Sitten usw.)«Footnote 29 Dies ist vor allem im Übergang des Falls in seine Archivierung zu bemerken: Der Fall wird erzeugt durch die Vernachlässigung von nicht-relevanten Informationen und als Akte dann erneut einer Provenienz überführt, die ihn als relevant oder irrelevant für die Sammlung einstuft, bzw. die den Fall in eine neue Wissenskategorie überführt, von der unsicher ist, ob sie es möglich macht, den einzelnen Fall wieder aufzufinden.

Die Unterscheidung zwischen Dokument und Monument ist auch eine zum Einzelfall hin: Sie erlaubt ihn nicht mehr als Sammlungsbefund einer Ordnung zu lesen, sondern von dem Fall ausgehend zu fragen, welche Vermittlungsfunktion er hat. Genau das tut Carlo Ginzburg im Fall Sofri,Footnote 30 in dem er den Fall als Historiker auf seine juristische Schlüssigkeit hin befragt. Diese Modulation des Rechts durch eine neue Dokumenten-Lage thematisiert ebenso der Fall Lortie, den Legendre analysiert: Durch die Vorführung des Video-Mitschnitts vor den Augen des Angeklagten in der Verhandlung ergibt sich durch die Kamera die Figur eines Dritten, der Gerichtssaal wird zum Übertragungsraum: »Das zwingt zu einer Neubewertung der Ritualität des Rechts.«Footnote 31 Die Projektion des Videomitschnitts in den Verfahrensraum schreibt das Subjekt in ein normatives Verhältnis ein, »in dem es sich als menschliches Subjekt sehen und hören kann, als Subjekt, das de jure gespalten ist, das heißt gespalten im Namen eines Gesetzes, das über das Subjekt hinausgeht.«Footnote 32

Diese Herangehensweisen, die erlauben, den juristischen Fall unter variablen methodischen Techniken zu lesen und zu befragen, um ihn nicht der Jurisprudenz zu überlassen, legen offen, dass der Fall das Problematische ist und nicht das Offenkundige. Auch aus diesen Gründen ist es wichtig, an der Mediengeschichte der Rechtspraktiken weiter zu schreiben, denn sie erkennt fallweise den problematischen Umgang der normativen Ordnungen und darin das, was in ihnen durch die weitergehend automatisierende und digitalisierende Verwaltungspraxis an Informationen wegfällt, als lebensumständliche Anwendung zerfällt und den juristischen Techniken der Subsumtion und Verfahrens-Ökonomisierung zufällt, um auf eine Lösung des Falls, und damit auf sein Verschwinden in die Datenbanken zu hoffen. Doch geht es auch darum, die Hoffnung der Rechtstheoretiker zu zerstreuen, dass Medien die Verbreiterung des Archivs wären und dem Recht schlicht zuarbeiten:

»Die Verbreitungsmedien wirken zugleich als Speicher der Kommunikation – als Archive, die ihrerseits die Gedächtnisformen des Rechts strukturieren und damit sowohl die Bedingungen der wiederholten Verwendbarkeit rechtlichen Wissens konditionieren als auch den Grad der Neigung, tradierte Rechtsbestände zu variieren und Innovation zu ermöglichen. Medialität und Materialität des Rechts rücken damit ins Zentrum der Rechtstheorie.«Footnote 33

Kasuistik ist nicht nur als juristische, pathologische, historische oder literarische Wissensform zu denken – sondern als eine des Mediums, in dem sie prozessiert wird.

»Recht ex machina«

Oliver Raabe et al.: Recht ex machina. Formalisierung des Rechts im Internet der Dienste, Berlin, Heidelberg 2012.

Das Interessante an den Maschinen, die juristische Tätigkeiten verrichten, ist vor allem, dass sie in Fällen eine Systematik verstehen und ihnen eine Anwendbarkeit zugrunde legen, die das Fallgeschehen scheinbar simplifizieren. So eine Vereinfachung programmierte 2016 der Chaos Computer Club mit seiner Seite Abmahnbeantworter. Hier kann man in ein Online-Formular eintragen, warum man mit einer angemahnten Urheberrechtsverletzung nichts zu tun hat. Allerdings diente der Abmahnbeantworter nur dazu, das rechtliche Unwissen der Online-Rechts-Tools vorzuführen. Einen Widerspruch kann man damit nicht erreichen, aber sämtliche Online-Redaktionen fielen darauf herein und leiteten das Tool emphatisch weiter, darunter sogar Rechtswissenschaftler*innen.

Die Automatisierung von Rechtsakten trägt nicht nur zur Ökonomisierung des Verfahrens bei, sondern auch zu dessen weiterführender Intransparenz hinsichtlich der Entscheidungsgewalt: »So unbeirrbar sich Verwaltungen im Alltag zeigen, so unübersichtlich, verworren, konfliktreich und problematisch waren die Aushandlungsprozesse, die der Automatisierung von Verwaltungen vorausgingen oder sie begleiteten.«Footnote 34

Doch nicht nur, dass die digitalisierten Verfahren den Digitalisierungsvorgang des Verfahrens immer mitprozessieren müssen, auch die Subsumtion, die dabei das empfindliche Nadelöhr des Gesetzes ist, verlangt eine genaue Abbildung in automatisierten Verfahren, in all der ihr im Gesetz gebotenen Offenheit. Der Vorschlag, das Recht als Maschine zu lesen, erntet in der JuristenZeitung von 2014 wunderbar präzise analysierten Gegenwind:

»Das Modell, das die Verf. als ›Recht ex machina‹ präsentieren, vermag weder den Inhalt der Normen zu formalisieren bzw. das so aufgefasste Recht zu standardisieren noch dessen komplexe Strukturen zu analysieren. Komplexität ist der Preis für die Wissenschaftlichkeit der Rechtsdogmatik, die möglichst gerechte Lösungen (Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln) zu garantieren in der Lage ist. Rechner und KI sind dieser Aufgabe nicht gewachsen.«Footnote 35

Aus der aktuellen Rechtsprechung ergibt sich immer mehr die Forderung nach der Transparenz der Algorithmen der Rechtsdienstleister und die Maßgabe, Algorithmen lediglich als Berater wahrzunehmen und nicht als Maßgabe zur endgültigen Entscheidungsfindung. Im Urteil des Bundesgerichtshofes vom 27. November 2019 im Fall Lexfox gibt es einen klaren Zuspruch für Legal Tech: »Lexfox, früher Mietright, macht für Mieter Ansprüche gegen Vermieter geltend. Mieter treten ihre Ansprüche an das Inkassounternehmen Lexfox ab, das gegen Erfolgshonorar gegen Vermieter vorgeht.«Footnote 36

Die im Urteil vom Bundesgerichtshof in der Rechtssache argumentierten Maßstäbe sind dabei sehr offen. Die beiden Eigenschaften, die dabei im Urteilstext auffallen, sind der Ausschluss der unqualifizierten Rechtsberatung und das Beharren auf der Einzigartigkeit des Einzelfalls. Aber wie soll ein Online-Formular das leisten?

»Erforderlich ist vielmehr stets eine am Schutzzweck des Rechtsdienstleistungsgesetzes, die Rechtsuchenden, den Rechtsverkehr und die Rechtsordnung vor unqualifizierten Rechtsdienstleistungen zu schützen (§1 Abs. 1 Satz 2 RDG), orientierte Würdigung der Umstände des Einzelfalls einschließlich einer Auslegung hinsichtlich der Forderungseinziehung getroffenen Vereinbarungen. Dabei sind auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes zu berücksichtigen.«Footnote 37

Wie unterschiedlich die Rechtsprechung aktuell mit Legal Tech verfährt, zeigt dagegen das Urteil vom Landgericht Köln vom 08.10.2019 im smartlaw-Fall, das der Firma Wolters Kluwer die digitale Rechtsberatung mit Hilfe eines sogenannten Rechtsdokumentengenerators untersagte, weil dieser unerlaubt rechtliche Einzelfallprüfungen anbot und vornahm. Besonders die Werbung für die Dienstleistungen von smartlaw wurde dabei untersagt: »Günstiger und schneller als der Anwalt« und »Rechtsdokumente in Anwaltsqualität«Footnote 38. Diese Devise zeigt zwar die menschliche Rechtsauslegung als Maß der Dinge an, dennoch nimmt sie mit den Attributen günstig und schnell die Reduzierung der Rechtsleistung als Rechenleistung vor. Ohne die mit Hilfe von Anwälten entstandenen vorausgegangenen Urteile, die nun der Maschine als Futter dienen, gäbe es wohl auch keine Maschine.

Es kann an dieser Stelle kein abschließendes Urteil über Legal Tech geben, auch kein aus medienwissenschaftlicher Sicht juristisch gestütztes – jedoch einen Eindruck dessen, was der einzelne Rechtsfall in diesen automatisierten Verschaltungen der Rechtsanwendung vermag. Zunächst erwähnt wurden dazu die Denkmodelle zu Kasuem und Enthymem: Es gibt Merkmale eines jeden juristischen und administrativen Verfahrens, die sich durch das Verfahren in dessen Vollziehung ergeben und damit prozessuale Eigenschaften des Falls sind, die sich nicht durch Software abbilden oder nachvollziehen lassen (z. B. Verfahrensfehler lt. Verwaltungsverfahrensgesetz – § 44 VwVfG Nichtigkeit des Verwaltungsaktes,Footnote 39 Absatz 2: »Ohne Rücksicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 1 ist ein Verwaltungsakt nichtig, 4. den aus tatsächlichen Gründen niemand ausführen kann.« Das Interessante ist dabei, dass nicht näher bestimmt ist, was »tatsächliche Gründe« sind. Das wird allein durch den Einzelfall bestimmt.).

Die Enthymeme sind Wahrscheinlichkeitsvermutungen, die den Zugriff auf Entscheidungen wahlweise erweitern oder einschränken. Diese Denkgesetze lassen sich in der Qualität des einzelnen Falls argumentieren, jedoch nicht in der Quantität, in der statistischen Erfassung. Die Digitalisierungen der Fälle setzen den historischen Einzelfall bzw. Präzedenzfall aus, d. h. eine Rechtsauslegung nach historisch gegebenen Maßstäben wird im Online-Formular zu einer Auslegung der permanenten Gegenwart, die aktuelle Fälle vergleicht, um aus ihnen einen Datenabgleich zu ermöglichen. Mit der Auflösung der Singularität des Falles hin zu einer Sammlung, die aber keine Sammlung der merkwürdigen Rechtsfälle mehr ist, sondern im besten Fall eine prozessierende Statistik, verschwindet die Fokussierung auf den besonderen Fall, von dem aus sich die Rechtsprechung erweitert, aus der sie sich gründet und erneuert.

Weitergehend erforscht werden sollten die Medienübergänge in den Verfahren von Legal Tech: Die Digitalisierung von Fall-Informationen archiviert nicht das Medium mit, in dem der Fall zu Papier gebracht wurde oder in den Akten steht – dabei ist die Provenienz der Dokumente oft im Fall ein wichtiger Rückschluss auf die Rechtsquelle. Um die Apparate für die Fall-Informationen vorzubereiten, muss man ihnen die älteren Verwaltungstechniken implementieren: »also ihre Langsamkeit, ihre Rigidität, ihre Transparenz…«.Footnote 40

Die Texte von Cornelia Vismann nehmen genau dies als Ausgangsperspektive: Wie sich Aufschreibesysteme des Rechts dahingehend im Übergang vom Dokument zur automatisierten Applikation verändern und wie sie in dem Versuch der digitalisierten Standardisierung schließlich eine Verdopplung des Rechts bewirken. Das Gesetz wird erweitert um das, was gesetzt den Fall in Programme zur Rechtsfindung eingeschrieben wird, und das geschieht unwillkürlich und instituiert ein neues Verfahren, dessen rechtliche Prozesse und kulturellen Nachwirkungen wir noch nicht restlos abschätzen können, in dem was sie uns verbergen, typisieren oder insgeheim organisieren:

»Begutachtet man die Grundrechte in übertragungstechnischer Hinsicht, dann werden die computertechnischen Voreinstellungen, seine internen Juridismen, die proprietäre Ausgestaltung von Betriebsprogrammen, die Setzung von Kommunikationsstandards und auch die Implementierung von Eingriffen thematisierbar. Die Grundrechte sind in dieser Perspektive nicht darauf beschränkt, in bloßer Verdoppelung des geltenden Rechts die Oberfläche der Computeranwendung zu betrachten, um daran Chancen und Risiken der Computertechnologie auszuloten. Sie sind dann in der Lage, die medialen Bedingungen von Kommunikation zur Sprache zu bringen und auf Verfassungsebene ein Programm für ein Recht der Medien zu entwerfen, das mit der Medialität des Rechts ebenso rechnet wie mit der Rechtsförmigkeit des Rechners.«Footnote 41