»Herrschaft«, so Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft »ist im Alltag primär: Verwaltung«.Footnote 1 Doch auch Widerstand und Protest kommen im Alltag nicht um Fragen der Verwaltung herum. Die einen wollen regieren, die anderen nicht derartig regiert werden. Neben Fragen der politischen Ideologie stellen sich beiden Lagern gleichermaßen Fragen nach Techniken und Formen der Verwaltung und Organisation: Wer trifft wann welche Entscheidungen? Mit welcher Legitimität? Welche Techniken der Organisation dienen dem jeweiligen politischen Ziel am besten? Als ob diese Fragen für sich genommen nicht schon anspruchsvoll genug sind, kommt für das Lager emanzipativer Bewegungen, also derjenigen, die nicht derartig regiert werden wollen, eine zusätzliche Schwierigkeit hinzu. Ist das Ziel, nicht nur Macht zu erlangen, sondern im besten Fall Herrschaftsverhältnisse insgesamt zu transformieren, stellt sich die Frage, ob es Formen der Verwaltung gibt, die in der Lage sind, Machtverhältnisse eher zu irritieren, anstatt sie zu festigen.

Während für die einen politisch schlagkräftige, zentralisierte Massenorganisationen das beste administrative Tool zur Revolution und damit zur Überwindung von Herrschaftsverhältnissen sind, sehen andere in der dezentralen Selbstermächtigung den richtigen Weg zur Emanzipation. Es wäre vermessen, bei dieser Auseinandersetzung zur Gretchenfrage politischer Organisation, bei der sich schon Lenin und Luxemburg nicht einigen konnten, das letzte Wort haben zu wollen. Trotzdem kann dieser Konflikt zur richtigen Administration der Emanzipation mehr oder weniger produktiv geführt werden und neben der Einsicht, dass diese Debatte wohl auch noch in hundert Jahren laufen wird (falls es dann noch Gesellschaften gibt), ist manchmal auch ein Blick in die Vergangenheit hilfreich, um den Blick für die Paradoxien und Widersprüche zu schärfen, denen auf der Suche nach alternativen Verwaltungsformen nicht zu entkommen ist. In dieser Hinsicht aufschlussreich und unterhaltsam sind zwei Streitschriften zu Fragen des feministischen movement buildings aus den 1970er-Jahren zwischen Jo Freeman und Cathy Levine. In ihrer Polemik mit dem unzweideutigen Titel »The Tyranny of Structurelessness« kritisiert Freeman 1970 die Vorstellung von Struktur- und Hierarchielosigkeit im feministischen Aktivismus ihrer Zeit. Neun Jahre später beklagt Cathy Levine in ihrer Replik »The Tyranny of Tyranny« die destruktiven Auswirkungen von Freemans Text im Hinblick auf das Ziel, eine revolutionäre feministische Bewegung zu etablieren.

»The Tyranny of Structurelessness« vs. »The Tyranny of Tyranny«

»The Tyranny of Structurelessness« ist eine interne Kritik an den feministischen Bewegungen der frühen 1970er-Jahre, die laut Freeman einer verklärten Vorstellung von Struktur- und Hierarchielosigkeit anhingen. Was als Reaktion auf eine überstrukturierte patriarchale Gesellschaft entstand, sei mit der Zeit zu einer »goddess in its own right«Footnote 2 geworden. Das zentrale Problem von Strukturlosigkeit in Gruppen sei schlicht und ergreifend, dass es sie nicht gebe, so Freeman. Die Rhetorik der Strukturlosigkeit werde von Mächtigen innerhalb der Bewegung instrumentalisiert, um ihre Macht zu verschleiern: »This means that to strive for a ›structureless‹ group is as useful and as deceptive, as to aim at an ›objective‹ news story, ›value-free‹ social science or a ›free‹ economy. A ›laissez-faire‹ group is about as realistic as a ›laissez-faire‹ society; the idea becomes a smokescreen for the strong or the lucky to establish unquestioned hegemony over others«.Footnote 3 Die Reproduktion bestehender Machtstrukturen durch informelle Eliten lasse sich nur unterbrechen, wenn diese Strukturen explizit und dadurch veränderbar gemacht würden. »For everyone to have the opportunity to be involved in a given group and to participate in its activities the structure must be explicit, not implicit. The rules of decision-making must be open and available to everyone, and this can only happen if they are formalized«.Footnote 4 Freeman hebt in ihrer Argumentation unterschiedliche Entwicklungsstufen der feministischen Bewegung hervor. Gerade zu Beginn der consciousness-raising-Phase sei Informalität produktiv gewesen, da Teilnehmer*innen sich in vertrauensvoller Atmosphäre öffneten und so die Grundlage für solidarische Beziehungen legen konnten. Ab einem gewissen Punkt gehe es jedoch darum, politische Handlungsfähigkeit zu erlangen, und dafür sei eine formalisierte Organisationsstruktur notwendig, so Freeman. »Unstructured groups may be very effective in getting women to talk about their lives; they aren’t very good for getting things done«.Footnote 5 Freeman plädiert am Ende ihres Textes für einen experimentellen Umgang mit verschiedenen Strukturen und Techniken, darunter die Verteilung von Macht auf möglichst viele Mitglieder der Bewegung und rotierende Rollen. »Mostly, we will have to experiment with different kinds of structuring and develop a variety of techniques to use for different situations«.Footnote 6

Cathy Levines Replik »The Tyranny of Tyranny« erschien 1979 und damit neun Jahre nach Freemans »The Tyranny of Structurelessness«. Levine argumentiert, dass eine Formalisierung der Bewegungsstrukturen eine Angleichung zu patriarchal und kapitalistisch geprägten Organisationsmodellen bedeuten würde, was es unter allen Umständen zu verhindern gelte: »Men tend to organise the way they fuck–one big rush and then that ›wham, slam, thank you maam‹, as it were. Women should be building our movement the way we make–gradually, with sustained involvement, limitless endurance–and of course, multiple orgasms«.Footnote 7 Im Gegenzug zu Freemans Forderung nach formalen Strukturen und einer zentralisierten Bewegung plädiert Levine für dezentrale, kleine und ehrenamtliche Gruppen, oder auch: das Modell der Freundschaft. Levine verteidigt die Versuche der feministischen Linken, hierarchiefreie Gruppen zu etablieren und sich damit gegen etablierte Organisationsformen zu stellen, als absolut notwendige Voraussetzung, um mit Formen zu experimentieren, die gleichsam als Modell für die Organisation einer neuen Gesellschaft fungieren können:

»But what people fail to realize is that we are reacting against bureaucracy because it deprives us of control, like the rest of this society; and instead of recognizing the folly of our ways by returning to the structured fold, we who are rebelling against bureaucracy should be creating an alternative to bureaucratic organisation. The reason for building a movement on a foundation of collectives is that we want to create a revolutionary culture consistent with our view of the new society; it is more than a reaction; the small group is a solution«.Footnote 8

Im Gegensatz zu Freeman sieht Levine consciousness-raising nicht als ein vorübergehendes Stadium der Bewegung an, sondern als andauernden Prozess der Befreiung. Zwar stimme es, dass viele in der Bewegung darüber hinausgehend politisch aktiv werden wollen, ohne genau zu wissen, wie, doch das Problem politischer Ratlosigkeit betreffe nicht nur die feministische Bewegung: »It is equally true that other branches of the Left are at a similar loss, as to how to defeat capitalist, imperialist, quasi-fascist America«.Footnote 9 Als größte Hürde der feministischen Bewegung sieht Levine nicht die Illusion der Strukturlosigkeit, sondern die psychosozialen Folgen von Gefühlen persönlicher Unzulänglichkeit und Machtlosigkeit, oder auch »the feelings of personal shittiness«. Die beste Antwort darauf sei eine neue feministische Kultur und Art des Zusammenlebens basierend auf freundschaftlichen Beziehungen: »Friendships, more than therapy of any kind, instantly relieve the feelings of personal shittiness–the revolution should be built on the model of friendships«.Footnote 10

Obwohl sie entgegengesetzte Positionen vertreten, möchte man nach dem Lesen der jeweiligen Texte sowohl Freeman als auch Levine zustimmen. Beide Autor*innen problematisieren soziale Dynamiken der Exklusion und des Wettbewerbs um Anerkennung, sehen dafür jedoch unterschiedliche Gründe. Bei Freeman sind es die informellen Eliten, die einen Austausch auf Augenhöhe verhindern: »At any small group meeting anyone with a sharp eye and an acute ear can tell who is influencing whom«.Footnote 11 Bei Levine ist die Größe der Massenorganisation das Problem: »The individual is alienated by the size, and relegated, to struggling against the obstacle created by the size of the group–as example, expending energy to get a point of view recognised«.Footnote 12 Formalisierte Strukturen, für Freeman ein Weg der Emanzipation, sind für Levine Mechanismen der Unterdrückung. Umgekehrt verhält es sich mit Freundschaften, die für Levine den Schlüssel zur Befreiung darstellen und für Freeman die Grundlage intransparenter Eliten sind. Die Positionen laufen dabei analog zu Grundsatzdebatten zur Bürokratie. So lässt sich Freemans Argument in einem weberschen Sinne lesen, in dem der unpersönliche Verwaltungsstaat eine Emanzipation von Willkürherrschaft und personaler Herrschaft bedeutet. Besser eine explizit formalisierte und zumindest dem Anspruch nach rationale Herrschaft akzeptieren, als von launischen Despoten abhängig zu sein. Levine hingegen hängt sich genau an dieser Unpersönlichkeit formaler Strukturen auf und weist auf die daraus folgende Entfremdung und charakterliche Deformation aller von Bürokratie Betroffenen hin. Zudem werden unterschiedliche Politikverständnisse deutlich. Während Freeman ein eher ›klassisches‹ makropolitisches Verständnis von Veränderung hat – institutionelle Mehrheiten organisieren –, scheint Levine den Fokus auf Mikropolitiken und damit einer Veränderung der Art und Weise von Beziehungen zu legen.

Experimentelle Verwaltungsformen

Welche Organisationform wirkt nun emanzipativ? Und was wäre die Konsequenz, wenn wir sowohl Levine als auch Freeman zustimmen würden? Wenn wir davon ausgingen, dass keine formalisierten Strukturen auch keine Lösung sind, aber formalisierte Strukturen nicht ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu haben sind? Wenn sich die Spannungslagen zwischen »Tyranny of Structurelessness« und »Tyranny of Tyranny«, zwischen Organisation und Person nicht auflösen lässt? Akzeptiert man, dass sich Formen der Organisierung entlang des von Levine und Freeman gesetzten Spektrums bewegen und dabei gewissen Widersprüchen nicht zu entkommen ist, wird vor dem Hintergrund von Grundsatzdebatten der Blick frei für institutionelle Experimente, die bereit sind, mit den unauflösbaren Spannungslagen umzugehen. Geht man sowohl von der Notwendigkeit formaler Strukturen als auch von deren notwendigem Scheitern und deren Vorläufigkeit aus, lässt sich produktiv nach alternativen Formen der Organisation fragen.

Vor diesem Hintergrund kann auch eine der interessantesten Interventionen der letzten Jahre zur Frage der Revolution gelesen werden, Beziehungsweise Revolution von Bini Adamczak. Darin untersucht Adamczak die Revolutionswellen von 1917 und 1968 hinsichtlich ihrer Utopien, Methoden und letztendlich ihres Scheiterns auf der Suche nach einem neuen Revolutionsbegriff. Die beiden Pole 1917 und 1968 erinnern dabei strukturell an die Dynamik zwischen Freeman und Levine (oder auch Lenin und Luxemburg): zentralisierte und formalisierte revolutionäre Organisationen auf der einen, dezentrale, prozessorientierte, lose Bündnisse des Widerstands auf der anderen Seite. Mit dem Begriff »Beziehungsweise« bezeichnet Adamczak einen Modus von Revolution, der ermöglichen soll, Veränderung als Ergebnis pluraler kollektiver Praxis zu verstehen.Footnote 13 Bewegliche und im Wandel befindliche solidarische Bündnisse zeichnen die revolutionären Bewegungen aus, die Adamczak vorschweben. Nach »der Gleichheitsorientierung von 1917 und der Freiheitsorientierung von 1968« kann mit dem Begriff der Beziehungsweise »die Solidarität ins Zentrum (…) rücken, die wesentlich ein Beziehungsgeschehen ist«.Footnote 14 Fragen der Mikro- und Makropolitik werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern stellen unterschiedliche Punkte auf dem Spektrum möglicher Beziehungsweisen dar. »Der Begriff der Beziehungsweise erlaubt es, Mikro- und Makroebenen zugleich zu fassen, intime, informelle wie versachlicht formalisierte, Nah- wie Fernbeziehungen auf einem terminologischen Niveau zu diskutieren, wobei die Wortwahl einem universalistischen Feminismus in strategischer Absicht folgt«.Footnote 15 Mit anderen Worten: Gewerkschaftliche Arbeitskämpfe und queere Beziehungsweisen müssen sich nicht widersprechen. »Warum sollten Ziel und Ausgangspunkt von Befreiung nicht Kommunen, WGs, romantische Dreierbeziehungen, Nachbarschaftstreffen, Betriebsräte sein?«Footnote 16 Ist die Beziehungsweise Revolution eine der »organisierten Freundschaften«? Adamczaks Buch kann nicht zuletzt als Plädoyer für experimentelle Formen der (Selbst)-Verwaltung gelesen werden, die sowohl Ziel als auch Mittel der Revolution sind.