»Die rein bureaukratische, also: die bureaukratische aktenmäßige Verwaltung ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: Berechenbarkeit für den Herrn wie für die Interessenten, Intensität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung.« So Max Weber.Footnote 1 Rationaler als die Verwaltung geht es nicht. Die Verwaltung entbehrt jeder Phantasie und Kreativität. Sie minimiert individuelle Abweichung soweit, dass selbst ihre Subjekte bereits bei E.T.A. Hoffman von nichts anderem als von verlorenen AktenstückenFootnote 2 zu träumen vermögen.

Tatsächlich gibt es wohl kaum eine andere Methode, mit der sich der Mensch die Welt effektiver zum Untertanen gemacht hat als mit der Verwaltung. Denn mit der Verwaltung erst ist es ihm gelungen, Gesellschaft effektiv zu kontrollieren – und dies weniger, weil die Verwaltung von außen Macht ausüben würde, sondern weil sie jene Subjekte formt, die zum Protagonisten ihrer Rationalität werden.Footnote 3 Die Verwaltung ist nicht nur rational, indem sie Aufgaben und Anfragen intern rational bearbeitet. Sie rationalisiert auch die Welt, indem sie außerhalb ihrer Selbst das rationalisierte Subjekt formt, das sich selbst verwaltet.Footnote 4 Hierin ist sie das paradigmatische Vehikel einer rationalisierten Moderne und als solches sowohl bestaunt wie kritisiert.Footnote 5

Doch mit der Rationalität ist es so eine Sache. Auch die Verwaltung baut weniger auf einer vernunftmäßigen Substanz, einem objektiven Vermögen als vielmehr auf einem merkwürdigen methodischen Winkelzug auf. So wie Max Weber in seinen berühmten »methodischen Vorbemerkungen«Footnote 6 das rationale Handeln zum Gegenstand der Soziologie macht und mit luzider Konsequenz alle anderen Formen des Handelns (die er sehr wohl bemerkt) aus seiner Betrachtung ausschließt, so verfährt auch die Verwaltung primär methodisch. Sie setzt eine Unterscheidung, trennt rational von irrational, stellt sich auf die eine Seite und verkündet: Das machen wir jetzt so. Die Welt ist mit rationalen Mitteln beherrschbar. Rational ist das, was wir machen. Ihre Rationalität ist mehr Fiktion als Wirklichkeit, mehr ›Als Ob‹ denn Realität.

Die Integrität der Verwaltung setzt mithin die Rationalität außerhalb ihrer selbst voraus. Sie ist darauf angewiesen, dass ihre Subjekte rational auf die rationalen Herrschaftsansprüche reagieren. Sie steht und fällt mit der Effektivität, mit der diese Grenze aufrechterhalten werden kann. Das gelingt solange gut, wie ihre Subjekte in und außerhalb der Verwaltung mitspielen. Solange der kritische Theoretiker brav seine Steuern zahlt, Klausurthemen stellt, Hausarbeiten bewertet und sich ob seines Beamtenstatus freut, hat die Verwaltung keine Probleme. Selbst die Abweichung von der Norm bestätigt die Geltung derselben.Footnote 7 Denn erst im Verstoß kann die Verwaltung die Geltung ihrer Norm bestätigten. Der Kriminelle ist insofern rational, als dass er seinen Eigennutzen in bewusster und kalkulierter Abweichung vom Gesetz zu maximieren versucht. Auch die Zurichtung der Subjekte zu rationalen Subjekten setzt so zumindest die Rationalität der Anpassung voraus. Der Schüler muss gelehrig sein. Der Kriminelle muss als zurechnungsfähig erkannt werden.

Nun fällt schon bei Weber auf, dass die Gespenster durch die Hintertür wieder ihren Weg in die Welt der Soziologie finden. Der Geist des KapitalismusFootnote 8 mag zwar ein rationaler sein. Dennoch ist er ein Geist, der sich in dezisionistischer Manier selbst setzt. Problematisch wird es für die Verwaltung damit, wenn das abweichende Subjekt nicht von der Norm abweicht, sondern von der Rationalität, wenn es also auf die Frage nach der Tat nicht mit »Ja« oder »Nein«, sondern mit »Muh« antwortet. Strafe setzt Zurechnungsfähigkeit, Erziehung setzt Folgsamkeit voraus. Die Abweichung bestätigt die Geltung der Norm nur, wenn sie dies artikuliert tut.

Die Verwaltung möchte die Welt rationalisieren, kann dies jedoch nur, wenn sie auf eine zumindest in Teilen rationalisierte Welt trifft. Erst dort greifen ihre Mittel. Gleichzeitig muss sie jedoch den Anspruch erheben, auch das Irrationale in ihren Geltungsbereich überführen zu können. Täte sie dies nicht, so hieße das ein völliges Eingeständnis ihrer Impotenz.Footnote 9 Die Verwaltung muss also den Irrsinn rationalisieren. Sie muss, wenn sie »Muh« hört, eine Antwort finden und »Muh« in »Ja« oder »Nein« transformieren.

Dabei steht sie vor der nicht trivialen Aufgabe, den von ihr ausgeschlossenen Bereich wieder zu integrieren. Sie muss Rationalität dort anlegen, wo Rationalität nicht waltet. Gleichzeitig jedoch muss sie die Unterscheidung aufrechterhalten. Das Irrationale muss als Außenseite des Rationalen weiter Bestand haben. Ohne Irrsinn kein Sinn.

Die Verwaltung stößt hier auf ihre konstitutive Paradoxie, der das destruktive Potential eines ausgestellten Passierscheins A 38 innewohnt.Footnote 10 Gelänge ihr der Nachweis der Rationalität des Irrationalen, so würde sie sich selbst untergraben. »Muh« darf und kann keine angemessene Antwort auf die Frage nach einem gültigen Sachverhalt sein. Gleichzeitig darf »Muh« sich dem rationalen Zugriff nicht entziehen. Das hieße, einen Bereich der Welt aufzuzeigen, in der die Rationalität keine Gültigkeit hätte. Der Kaiser trüge keine Kleider.

Die Bewirtschaftung des Irrationalen

Die Verwaltung hat gleich mehrere Brandmauern eingezogen. So rechnet sie den Irrsinn Personen zu – irrational ist die Person, nicht der Umstand oder die Welt.Footnote 11 Zudem wird die Bearbeitung an eine Profession ausgelagert, die nicht unmittelbar die Verwaltung vertritt, dafür aber Erfahrungen mit dem Handeln unter Bedingungen der Unsicherheit hat.Footnote 12 Das Problem der Irrationalität wird ein medizinisches, indem man jene Menschen, deren Handeln sich der rationalen Begründung entzieht, in die Psychiatrie, oder, wenn mit Deliquenz verbunden, aufgrund »einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit« (bis vor kurzem der Wortlaut des § 63 StGB) in die forensische Psychiatrie einweist. Damit ist der Verwaltung der erste Schritt hin zur Eindämmung des Irrationalen gelungen. Die Störung ist benannt und einem vorab definierten Verfahren überantwortet, das alles Weitere zu regeln hat. Anders kann die Verwaltung überhaupt nicht vorgehen.

Das Problem ist damit jedoch keineswegs gelöst. Vielmehr taucht es in all seiner Vielschichtigkeit jetzt erst auf. Der Psychiater mag ein Experte für Krankheiten sein. Von der Normalität, mithin dem, was die Verwaltung darunter versteht und anstrebt, hat er jedoch keine Ahnung. Nach Definition der WHO ist der einzig gesunde Mensch einer, der sich wohl fühlt. Asmus Finzen bemerkt, dass dies wohl nur auf Maniker zutrifft.Footnote 13 Schlimmer noch: Mit dem ICD-10 an der Hand kann der Psychiater prinzipiell jeden Menschen diagnostizieren – was er am Stammtisch auch tut.Footnote 14 Denn Normalität zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht individuell ist. Menschen aber sind individuell. Sobald Abweichung jedoch nicht mehr als Individualität, sondern als Störung begriffen wird, kommt man praktisch nicht mehr aus der Situation hinaus. Die Psychiatrie trifft hier wieder auf das grundlegende Problem der Verwaltung, Rationalisierung als Vereinheitlichung – hier als Normalität – anzustreben, es aber mit einem nicht-einheitlichen Gegenstand zu tun zu haben.

Dieses Dilemma zeigt sich auch in der Rollenverteilung. Denn von einem psychiatrischen Patienten wird erwartet, Symptomverhalten zu zeigen. Tritt es nicht auf, so ist der Patient verdächtig. Tritt es auf, so ist er nicht hinreichend gebessert, um entlassen zu werden.Footnote 15 Kurzum: Eine Institution, die von ihren Insassen pathologische Abweichung erwartet und erwarten muss, wird immer dazu neigen, in jeder Form von Individualität Störung zu sehen. Sie wird ihre Insassen auf Abweichung hin abtasten und dieselbe finden (weil jeder Mensch abweicht), die Abweichung als im Zweifelsfall pathologisch ansehen und sich bestätigt sehen. Weil Abweichung erwartet wird (es handelt sich immerhin um psychiatrische Patienten), ist dabei gerade der Mangel an derselben Anlass zur Sorge. Damit stellt sich die Frage, wie man einen Patienten wieder aus der Psychiatrie hinausbekommt.

Es bleibt der Psychiatrie nichts anderes übrig, als die Sache anzugehen. Das, wovon sie keine Ahnung hat, muss angesprochen und rationalisiert werden. Es bleibt also nur, das Verfahren in Gang zu bringen. So tritt der Psychiater dem Patienten gegenüber und spricht ihn an, wie man ein rationales Subjekt anspricht. »Sie«, mag der Psychiater sagen, »haben in einem wahnhaften Zustand ihre Mutter mit einem Küchenmesser erstochen. Dann haben Sie den Leichnam ins Bad gezerrt und sich in ihm auf die Suche nach einer technischen Apparatur gemacht, da Sie Ihre Mutter für einen ferngesteuerten Klon gehalten haben. Daher sind Sie zu uns gekommen. Denn die Sache ist die: Sie leiden unter einer paranoiden Psychose. Sie sind für ihre Taten nicht verantwortlich zu machen. Sie sind krank. Daher müssen sie nun Verantwortung übernehmen. Sie sind nicht Herr Ihrer Selbst. Daher müssen Sie nun Herr über Ihre Krankheit und über sich selbst werden.«

Die Psychiatrie versucht, das Irrationale zu kontrollieren, indem es von ihm Einsicht fordert. »Sie sind irrational. Seien Sie rational«, sagt sie – und hofft. Sie appelliert an die Unvernunft, doch endlich vernünftig zu sein. Der Verrückte soll nicht nur vernünftig sein – was sich im Eingeständnis der Unvernunft dokumentiert. Er soll auch die Diagnose (oder zumindest eine der Diagnosen) der Psychiatrie teilen. Er muss nicken und zustimmend sagen »ja, ich bin schizophren«, »ja, ich nehme meine Medikation«, »ich nehme an meinen Gruppen teil, ich bin einsichtig«. Doch selbst, wenn dies geschieht, bleibt die Frage, wie das Gesagte gemeint ist. Simuliert der Patient seine Rationalität? Ist er adhärent – oder einfach nur psychiatrieerfahren? Ist die Einsicht echt oder nur gespielt? Der Patient soll authentisch sein – doch jede Form individueller Authentizität sprengt das korrekte Rollenverhalten, weil kein Mensch nur ein adhärenter Patient ist.

Der Joker

Die Verwaltung, in ihrem Versuch den Wahn einzudämmen, produziert ihre eigenen Formen der Irrationalität. Sie irrlichtert und verliert den Boden unter den Füßen in dem Versuch, zwischen rational und irrational, zwischen normal und gestört zu unterscheiden. Dennoch funktioniert es. Denn nicht nur gibt es die forensische Psychiatrie nach Jahrzehnten noch immer. Auch hat sie eine geringere Rückfallquote als der reguläre Justizvollzug, der von der Rationalität des Delinquenten ausgeht.Footnote 16

Die forensische Psychiatrie hat einen Joker.Footnote 17 Dieser besteht jedoch weniger in einer Technologie oder in einem Programm, als vielmehr in dem Geschehen der Praxis selbst und der Fähigkeit des Personals, das Unwahrscheinliche als das Erwartbare zu behandeln. Die Kunst der Psychiatrie besteht weniger in der Zurichtung als vielmehr in der Kunst, so zu tun als ob. Die Psychiatrie beobachtet ihren Patienten und lernt sich an ihn anzupassen. Sie lernt, ihn ›zu nehmen‹, richtig anzusprechen und zu adressieren. Sie schafft einen Rahmen, in dem die Interaktion so verläuft, dass man so tun kann, als ob alles in Ordnung wäre. Es ist nicht ungewöhnlich, mit Radios zu werfen. Man gewöhnt sich daran, wenn ein Patient gerade ein neues Perpetuum Mobile entwickelt. Es wird normal, dass der Patient mal wieder Bemerkungen über Vampire macht. Das Irrationale wird als Irrationales im Kontext der Institution normalisiert. Zwar arbeitet man immer noch daran, es irgendwie zu ändern. Doch entscheidender ist, dass man weiß, womit man zu rechnen hat.

Die Psychiatrie weiß aus ihrer Schwäche ihre Stärke zu machen. Wenn sie von den Patienten auch erwartet, irrationales Verhalten zu zeigen, so kann sie das Irrationale innerhalb ihrer Mauern doch normalisieren. In der Psychiatrie ist es normal, nicht normal zu sein. Man adaptiert sich aneinander. Damit entsteht eine Situation wechselseitiger Erwartungssicherheit, eine Situation nicht-normaler Normalität. Entscheidend sind damit nicht Gesundheit oder Rationalität, sondern das, was man mit Finzen Normalisierbarkeit nennen könnte.Footnote 18 Entscheidend ist nicht, dass der Patient ein rationales Subjekt wird; nach jenen Regeln, die ›draußen‹ gelten, sondern dass der Alltag funktioniert. Entscheidend ist, dass sich eine Sonderzone bildet, in der das Irrationale als das Normale gelten kann. Die Psychiatrie als Institution liefert hierzu den Rahmen.

Dieses alltägliche Funktionieren der nicht normalen Normalen erlaubt nach einer Weile den Sprung in die Alltäglichkeit: Man hat sich aneinander gewöhnt und tut so, als sei eigentlich alles normal. Die Regelmäßigkeit des Alltags schafft Mechanismen der Hoffnung:Footnote 19 Man geht davon aus, dass es schon funktionieren wird, wenn der Patient entlassen wird – auch wenn einiges dagegenspricht. Man hofft, dass er etwas gelernt hat – selbst wenn er das noch nicht zeigt. Irgendwie hat sich die Situation auch gebessert – zumindest kann man ein Verfahren in Gang setzen, dass auf eine Lockerung hinausläuft.

Auch die hohe Kontingenz in der psychiatrischen Diagnostik erweist sich in der Praxis als Vorteil. Denn wenn man Fortschritte beobachtet, die zwar nicht so sind, wie man sich das vorgestellt hatte, dann kann man sich immer noch in der Diagnostik getäuscht haben. Die Verwaltung, die mit den »vagen Dingen«Footnote 20 betraut ist, bedarf einer requisite varietyFootnote 21. Man kann im Zweifelsfall ein bestimmtes Symptomverhalten neu interpretieren oder eine Störung als »Persönlichkeitsakzentuierung« oder nicht deliktrelevant interpretieren. Die Klinik lernt die Kunst, so Symptomverhalten einzuklammern und die Arzt-Patient-Interaktion nahtlos in eine Verwaltungsinteraktion übergehen zu lassen. Man behandelt den Patienten als rational und schaut, ob es klappt.

Das alles ist nicht Sache des Personals allein. Entscheidend ist, dass der Patient sich auf das Spiel einlässt. Er muss morgens aufstehen – nicht unbedingt höflich, aber auch nicht zu unhöflich sein. Er muss Einsicht zeigen. Er muss bereit sein, seine Medikation zu nehmen und immer wieder eine relevante Passage aus seinem Leben zu erzählen. Er darf nicht mit Radios werfen und das Klinikpersonal nicht mit der Mafia identifizieren. Er muss sich also zumindest so verhalten, dass die Klinik annehmen kann, dass er auch draußen funktioniert. Das wird erleichtert durch eine Umgebung, die darauf spezialisiert ist, Abweichung zu normalisieren. Hält er das lange genug durch, so sind die Chancen hoch, dass man sich darauf einigt, es nun mit einem rationalen Subjekt zu tun zu haben. Man muss nicht normal sein. Das eigene Verhalten muss nur die Möglichkeit der Konstruktion von Rationalität im Als-Ob-Modus zulassen.

Dieser Prozess kann durchaus auch Täuschung und Simulation beinhalten. Ein Patient weiß, dass er von Stimmen erzählen muss, dass diese aber irgendwann verschwinden müssen. Also nimmt er seine Medikamente und erzählt, dass er keine Stimmen mehr hört. Oder er erzählt, dass er noch immer Stimmen hört, diese aber weniger drängend sind. Beides ist eine viable Option für die Entlassung – im ersten Fall ist alles gut. Im zweiten Fall ist der Patient adhärent und einsichtig – also auch rational. Die Wirkung der Medikation ist dafür notwendige Voraussetzung. Sie ist jedoch nicht hinreichende Bedingung zur Normalisierung des Patienten. Denn letztlich entscheidend ist die korrigierte Narration. Auch muss der Patient in der Lage sein, seine Biographie retrospektiv so zu korrigieren, dass bestimmte Ereignisse als Wahnvorstellung erzählt werden.Footnote 22

Ob der Patient das selbst glaubt, ist nicht die Frage. Psychiater denken natürlich immer wieder darüber nach, ob insbesondere sogenannte psychiatrieerfahrene Patienten sie nicht auf den Arm nehmen. Kontrollieren können sie das nicht. Aber wer andere auf den Arm nehmen kann, kann so krank nicht sein.

Das mag für den Arzt zwar frustrierend sein, da es ihm um die ›wirkliche‹ Heilung geht. Für das Funktionieren der Psychiatrie ist es aber gleichgültig, da ein Patient, der die gelungene Performance rationaler Subjektivität beherrscht, vermutlich ähnlich ungefährlich ist, wie einer, der tatsächlich gesundet ist. Vielleicht ist der Simulant sogar noch ein Stück ungefährlicher, weil er weiß, was die Klinik nicht weiß, und dass er dafür verantwortlich ist, diesen Teil seiner Selbst zu kontrollieren, weil er sonst mit hoher Wahrscheinlichkeit genau wieder dort anfängt, wo er aufgehört hat. Der Simulant verkörpert damit die Rationalität der Beherrschung der Irrationalität in weit höherer Form als der wirklich einsichtige Verrückte, der sich doch stets misstrauen muss und potentiell von der Klinik abhängig bleibt. Normalität ist nur möglich, weil sie weder gegen die noch mit der Rationalität des klinischen Blickes erreicht wird. Sie entsteht vielmehr dort, wo der rationale Blick von beiden Seiten antizipiert wird und beide Seiten fünf gerade sein lassen. Das rationale Subjekt entsteht in gewisser Weise tangential zur Rationalität. Es entsteht dort, wo der Patient selbst die Begrenzung der Psychiatrie begreift und versteht, dass die Psychiatrie eine Verwaltung ist wie jede andere. Man kommt nur raus, wenn man sich an die Regeln hält und sich seinen Teil denkt. Dasselbe trifft auf das Personal zu: Man kann seine Patienten nur dann entlassen, wenn man die eigenen Ansprüche an Heilung und Besserung an der richtigen Stelle zu übersehen lernt und hofft, dass alles gut gehen wird.

Das schließt nicht aus, dass die Psychiatrie nicht tatsächlich Menschen ändert. Fraglos bietet sie ein wirksames Set an Selbsttechniken und Psychopharmaka an. Zur Entlassung führen diese Änderungen jedoch nicht. Es bleibt der konstitutive Hiatus, der Umstand, dass kein Mensch voll rational, vollständig normal ist und nicht sein kann. Die Klinik ist nur dann erfolgreich, wenn sie es schafft, an diesem Umstand vorbeizusehen und zu handeln.

Instrumentelle Rationalität und Phronesis der Psychiatrie

Das Irrationale entzieht sich der Verwaltung, weil die Rationalität derselben Rationalität auf Seite ihrer Subjekte voraussetzt. Regierbar ist nur, wer durch die Regeln der Regierung ansprechbar ist. Dennoch muss die Verwaltung verwalten, was sie nicht verwalten kann. Die Psychiatrie übernimmt die Aufgabe der Rationalisierung des Irrationalen, verfängt sich dabei jedoch ihrerseits in Paradoxien. Denn auch sie kann nur Rationalität fordern oder Irrationalität erwarten. Abweichung vermag sie nur greifbar zu machen, indem sie pathologisiert. Vom Patienten vermag sie nur abweichendes Verhalten zu erwarten. Was draußen als normal gilt, gilt drinnen als verdächtig. Denn prinzipiell ist überall Symptomverhalten zu erwarten und selbst, wenn es nicht gesehen wird, kann auch die Abwesenheit desselben als Symptom betrachtet werden. Psychiatrischer Patient wird man nicht durch objektive Eigenschaften, sondern durch die Rahmung, die innerhalb der Psychiatrie angelegt wird.

Die Psychiatrie zeigt ihre Macht jedoch nicht in der Durchsetzung ihrer Unterscheidung, sondern in der Aussetzung derselben. Sie ist nicht erfolgreich, wenn der Mensch maximal an die eigenen Erwartungen angepasst wird. Sie ist erfolgreich, wenn sie den Patienten wieder entlässt. So besteht denn die Phronesis der Psychiatrie in der Fähigkeit, die Pathologisierung wieder fallen zu lassen. Sie besteht darin, so zu tun, als ob alles normal wäre. Das aber ist nur möglich, wenn man sich innerhalb der Klinik aneinander gewöhnt hat, wenn die Klinik gelernt hat, den Patienten richtig zu ›nehmen‹, eine Erwartungsstruktur zu schaffen, die dem Patienten entspricht. Entlassung resultiert nicht nur aus der Änderung des Patienten, sondern aus der Änderung der Erwartungshaltung der Klinik. Es handelt sich um eine Kollaboration, die im Kern offen lässt, was denn tatsächlich der Fall ist.

Das Gelingen der Psychiatrie liegt damit in einer Praxis, die in der Regel als defizitär beschrieben wird, als ein Scheitern an den eigenen Ansprüchen. Damit unterscheidet sich die Psychiatrie nicht von der Kritik, die die Verwaltung im weiteren Sinne erfährt. Betrachtet man dieses ›Durchwurschteln‹ jedoch nur als defizitär, als Leistung entweder des Widerstandes von Patienten gegen eine totale InstitutionFootnote 23 oder als Technologiedefizit, so verpasst man die wesentliche Leistung, die sowohl von der Psychiatrie wie auch von Verwaltung erbracht wird. Denn stets gilt es einen Hiatus zu überbrücken. Auf der einen Seite stehen Realitätsanforderungen, die auf Allgemeines setzen. Auf der anderen Seite steht aber die Welt als individuelle, nicht-rationale. Dieser Hiatus, der als Spannungsfeld der Moderne beschrieben werden kann, ist jedoch nicht zu überbrücken – zumindest nicht auf Seite des Anspruches. Die Leistung der Psychiatrie wie auch der Verwaltung liegt also auf Ebene einer praktischen Vermittlung zwischen ihren eigenen Ansprüchen und den Grenzen derselben. Es geht nicht darum, eine zunehmend individualisierte Welt zu vereinheitlichen.Footnote 24 Vielmehr muss es darum gehen, Praxen und Diversität zu erlauben, die ein Eingreifen nicht nötig machen. Das erst erlaubt die Fiktion der rationalen Herrschaft.

Verwaltung ist damit kein aktiver Prozess der Rationalisierung und der Vereinheitlichung. Begreift man ihn als solchen, bleibt er stets defizitär. Es handelt sich vielmehr um einen Prozess anlassgebundenen Handelns. Ähnlich wie Wertekommunikation erst im Fall von Verunsicherung auftritt,Footnote 25 tritt Verwaltungshandeln erst auf, wenn es ein Problem gibt.Footnote 26 Doch selbst hier kann das Ziel nicht die durchgehende Rationalisierung sein, sondern nur eine so weitgehende Angleichung, dass die Wahrnehmung des Problems verschwinden kann, wenn man wegschaut.

Die Praxis der Verwaltung unterläuft sich also stets selbst. Sie vermittelt zwischen ihrem eigenen Anspruch und der Wirklichkeit. Sie praktiziert brauchbare Illegalität, lässt sich auf fragwürdige Kommunikation an Grenzstellen ein und weiß, sich an die Logik der Situation anzupassen.Footnote 27 Genau hierin besteht ihre Phronesis, die nicht durch Technologien zu ersetzen ist. Sie ist nicht als einheitlich und rational zu beschreiben, weil es sich um eine Vermittlung zwischen unterschiedlichen Rationalitäten handelt, deren Ziel am Ende die Aufrechterhaltung des Anspruches an Rationalität ist – nicht aber die Wirklichkeit einer rationalen Welt. Die Rationalität ihrer Praxis liegt darin, ihre formale Rationalität immer ein Stück weit zu desavouieren. Erst wenn sie um die Grenzen ihrer Macht weiß, ist sie in der Lage, ihre Rationalität auszuüben. Der Kaiser, möchte man sagen, verliert seine Macht nicht dann, wenn ein Mädchen darauf hinweist, dass er nichts anhat. Er gewinnt sie, wenn er in der Lage ist, die Situation so zu handhaben, dass alle zumindest auch dann noch so tun, als habe er etwas an. Die Phronesis des Untertanen besteht darin, dieses Spiel mitzuspielen.Footnote 28 Dies eingedenk führt der Weg der Verwaltung dann weder in die Verzweiflung ob der eigenen Machtlosigkeit noch in die Kritik rationalisierender Zurichtung, sondern vielmehr in die Anerkennung des alltäglichen Durchwurschtelns als eigentliche und nicht substituierbare Leistung der Verwaltung. Rationale Herrschaft zu beanspruchen und an den richtigen Stellen den Versuch der Durchsetzung halbherzig zu betreiben – erst das ermöglicht die rationale Herrschaft Webers.