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Erste Annäherung: Von Lagertexten zur Exilliteratur – Tierlektüren

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Der Mensch spiegelt sich im Blick der Tiere

Part of the book series: Exil-Kulturen ((EK,volume 9))

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Zusammenfassung

Am Beginn dieser Arbeit steht die Beobachtung, dass in Texten, in denen ehemals Inhaftierte der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager über ihre Erfahrungen berichten, oft die Analogie mit Tieren herangezogen wird, um die Art und Weise der Herabwürdigung sowohl auf sprachlicher als auch physischer Ebene zu beschreiben. Die Berichte der Überlebenden der Shoah bezeugen die NS-Vernichtungspolitik, deren planmäßig durchgeführte Massenmorde strafrechtlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden und für die der Historiker Dan Diner aufgrund von Umfang und Einmaligkeit den Begriff des „Zivilisationsbruches“ geprägt hat. Das Aufrechthalten der Humanität wird in vielen Schilderungen als lebenserhaltende Aufgabe benannt und als Widerstand gegen das Herabsinken zum „Tier“ in den Lagern gewertet.

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Notes

  1. 1.

    Zur Zitierweise: Metasprachliche Äußerungen werden durch doppelte Anführungszeichen hervorgehoben. Einfache Anführungszeichen werden für sonstige Hervorhebungen und bereits belegte, nochmals aufgegriffene Zitate gebraucht, sofern sie nicht noch mal belegt werden. Titel sowie fremdsprachige Ausdrücke werden kursiv gesetzt. Sämtliche Hervorhebungen in Zitaten werden einheitlich kursiv wiedergegeben und sind, wenn nicht explizit anders angegeben, aus den zitierten Quellen übernommen. Bei direkt aufeinanderfolgenden Zitaten aus einem Text werden die Angaben ggf. gebündelt. Bereits zitierte Sammelbände werden anschließend in Kurzform zitiert und sind gesondert im Literaturverzeichnis aufgeführt.

  2. 2.

    Vgl. Dan Diner: Vorwort des Herausgebers. In: Ders. (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Übers. v. Susanne Hoppmann-Löwenthal. Frankfurt a. M. 1988, S. 9. Zur ausführlichen Aufarbeitung der NS-Kriegsprozesse und der am 8. August 1945 in London verabschiedeten Charta zur Verfolgung von Kriegsverbrechen vgl. Annette Weinke: Die Nürnberger Prozesse. 3., durchgesehene Aufl. München 2019, v. a. S. 17–24. Es ist verschiedentlich versucht worden, einen einheitlichen Namen für den nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Jüdinnen und Juden zu etablieren. Neben der metonymischen Bezeichnung „Auschwitz“ haben sich mit je unterschiedlichen Implikationen und Konnotationen v. a. „Holocaust“ und „Shoah“ durchgesetzt (vgl. u. a. Axel Dunker: Die anwesende Abwesenheit. Literatur im Schatten von Auschwitz. München 2003, S. 24; Walter Schmitz: Erinnerte Shoah? Literaturwissenschaftliche Anmerkungen zur Literatur der Überlebenden. In: Ders. (Hg.): Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden. Dresden 2003, S. 497–521, hier S. 500; Rudolf Freiburg, Gerd Bayer: Einleitung: Literatur und Holocaust. In: Dies. (Hgg.): Literatur und Holocaust. Würzburg 2009, S. 1–21, hier S. 2–4). Die Frage nach der richtigen Bezeichnung führte zu einer ausgewachsenen terminologischen Diskussion. „Die unglückliche Bezeichnung ‚Holocaust‘“, bemerkt Giorgio Agamben mit Bezug auf Primo Levi und Robert Antelme und unter Berücksichtigung der Begriffsgeschichte, „entspringt diesem unbewußten Bedürfnis, einen Tod sine causa zu rechtfertigen, dem Sinn zu verleihen, was keinen Sinn zu haben können scheint“ (Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III) [ital. 1998]. Übers. v. Stefan Monhardt. Frankfurt a. M. 2003, S. 25). Ein weiteres Problem sei, dass „Holocaust“ historisch polemisch und mit deutlich antisemitischer Konnotation gebraucht wurde, weshalb Agamben dem alttestamentarischen Begriff „Shoah“ (der in Deutschland v. a. durch den 1986 ausgestrahlten gleichnamigen Film von Claude Lanzmann populär wurde) den Vorzug gibt, da dieser zumindest frei von Hohn sei (vgl. ebd., S. 27). Der Begriff „Genozid“, der ebenfalls vielfach Verwendung findet, ist weitgehend neutral, allerdings wird ebendas auch kritisiert, da somit die Einmaligkeit des nationalsozialistischen Massenmords nicht widergespiegelt wird. Im Folgenden werden nach Abwägung der Debatte die Begriffe „Shoah“ und „Genozid“ verwendet, im Wissen um die terminologischen Differenzen und auch ihre jeweiligen Problematiken. Für eine ausführlichere Problematisierung der verschiedenen Bezeichnungen vgl. Gabriele von Glasenapp: Von der Endlösung der Judenfrage zum Holocaust. Über den sprachlichen Umgang mit der deutschen Vergangenheit. In: Ekkehard Felder (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin 2006, S. 127–156.

  3. 3.

    Vgl. z. B. Thomas Taterka: Dante Deutsch: Studien zur Lagerliteratur. Berlin 1999, S. 61.

  4. 4.

    Primo Levi: Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht [ital. 1947]. Akt. Ausg. Übers. v. Heinz Riedt. Frankfurt a. M. 2015. Der Untertitel gibt zwar an, dass es sich um einen autobiographischen Bericht handele, doch wird Levis Text hier aufgrund der Literarisierungen als autobiographischer Roman verstanden, dessen Genrecharakteristikum es ist, dass sich Literarizität und autobiographische Referenzialität nicht ausschließen (vgl. dazu auch Dorothea Kliche-Behnke: Nationalsozialismus und Shoah im autobiographischen Roman. Poetologie des Erinnerns bei Ruth Klüger, Martin Walser, Georg Heller und Günter Grass. Berlin, Boston 2016, v. a. S. 99). Aus diesem Grunde wird hier auch zwischen Autorperson und Erzählfigur unterschieden.

  5. 5.

    Zur ausführlicheren Auseinandersetzung mit Levis Ist das ein Mensch? und der im Titel angesprochenen Frage vgl. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, v. a. Kap. 2.

  6. 6.

    Beide Zitate aus Levi: Ist das ein Mensch?, S. 9.

  7. 7.

    Das Gedicht schrieb Levi unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Es trägt den Hebräischen Titel Shem’a, womit auf das wichtigste Gebet im Judentum verwiesen wird, das als Aufruf Gottes an die Menschheit zur Anerkennung seiner völligen Herrschaft gilt. Levis Gedicht lässt den religiösen Kontext zwar paratextuell im Titel aufscheinen, gestaltet sich auf inhaltlicher Ebene jedoch als Aufruf an die Menschen zur Anerkennung und Wertschätzung anderer Menschen (vgl. Isaac Hershkowitz: Ethik nach dem Holocaust. Jüdische Antworten. Wolfgang Bialas, Lothar Fritze (Hgg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus. Göttingen 2014, S. 399–415, hier S. 410–411). In seinem autobiographischen Roman ist es allerdings unter dem gleichlautenden Titel Ist das ein Mensch? abgedruckt.

  8. 8.

    Levi: Ist das ein Mensch?, S. 41.

  9. 9.

    Levi: Ist das ein Mensch?, S. 40. Auch in Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen wird beschrieben, wie die KZ-Insassen nur noch „so etwas wie Menschen“ seien (Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen [ungar. 1975]. Übers. v. Christina Viragh. Reinbek bei Hamburg 172004, S. 178).

  10. 10.

    Levi: Ist das ein Mensch?, S. 24.

  11. 11.

    Levi: Ist das ein Mensch?, S. 164.

  12. 12.

    Levi: Ist das ein Mensch?, S. 38–39.

  13. 13.

    Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. München 1994. Auch Klügers Text wird der Argumentation Dorothea Kliche-Behnkes folgend als autobiographischer Roman verstanden, weshalb hier ebenfalls zwischen Autorenperson und Erzählfigur unterschieden wird (vgl. Kliche-Behnke: Nationalsozialismus und Shoah, S. 99).

  14. 14.

    Klüger: weiter leben, S. 18.

  15. 15.

    Derartige Verbotsschilder werden des Öfteren in Erinnerungsberichten geschildert, vgl. z. B. Erika Weinzierl: Das österreichische Judentum von den Anfängen bis 1938. In: Dies., Otto D. Kulka (Hgg.): Vertreibung und Neubeginn: israelische Bürger, österreichischer Herkunft. Wien, Köln, Weimar 1992, S. 17–166, hier S. 106; Gerda Lerner: Feuerkraut. Eine politische Autobiografie [2002]. Übers. v. Andrea Holzmann-Jenkins u. Gerda Lerner. Wien 2012, S. 174.

  16. 16.

    Vgl. z. B. Oskar Maria Graf: Unruhe um einen Friedfertigen [1947]. München 2003. Neben zahlreichen Beispielen für Beschimpfungen mit Tierbezeichnungen wird dort in der Beschreibung eines Angriffs von Nazis auf einen Juden nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler berichtet: „Immer wieder hörte man ‚Saujud‘! Misthund!‘“ (ebd., S. 447). Vgl. auch Veza Canetti: Die Schildkröten. München, Wien 1999. Hier heißt es, dass der jüdische Protagonist sich mit Wien „in einer Stadt befand, in der seinesgleichen weit nach den Hunden rangierten“ (ebd., S. 155). Ausführlicher zur Geschichte des Vergleichs von Jüdinnen und Juden mit Hunden, die größtenteils eine Geschichte der Beleidigung ist, vgl. Winfried Frey: Wölt Gott man hing sie wie die Hund. Vergleiche von Juden mit Hunden in deutschen Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: Das Mittelalter 12 (2007), S. 119–134.

  17. 17.

    Klüger: weiter leben, S. 114.

  18. 18.

    Beide Zitate Klüger: weiter leben, S. 134.

  19. 19.

    Klüger: weiter leben, S. 147.

  20. 20.

    Klüger: weiter leben, S. 113.

  21. 21.

    Klüger: weiter leben, S. 151.

  22. 22.

    Klüger: weiter leben, S. 148.

  23. 23.

    Klüger: weiter leben, S. 108.

  24. 24.

    Dies soll in keiner Weise der Versuch sein, den KZ-Erfahrungen etwas Läuterndes zuzusprechen, denn wie auch Klüger und Levi in ihren Texten und Aussagen wiederholt betonen, ist der Verfolgung und den Ermordungen durch den NS-Staat nichts Gutes oder Sinnstiftendes abzugewinnen. „Ich hake ein, bemerke, vielleicht härter als nötig, was erwarte man denn, Auschwitz sei keine Lehranstalt für irgend etwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz“, berichtet Klügers Erzählerin von einem ebensolchen Versuch und kommentiert: „Von den KZs kam nichts Gutes, und ausgerechnet sittliche Läuterung erwarte er? Sie seien die allernutzlosesten, unnützesten Einrichtungen gewesen, das möge man festhalten, auch wenn man sonst nichts über sie wisse“ (Klüger: weiter leben, S. 72). In einem Interview stellt auch Levi klar, dass er jede Form von religiöser wie weltlicher Erklärung ablehne, die versucht, den KZs bzw. der in ihnen durchgeführten massenhaften Ermordung von Jüdinnen und Juden einen Sinn zuzuschreiben, und bekräftigt: „Nein, das akzeptiere ich nicht! Die Tatsache, daß sie [die Vernichtung; C. S.] sinnlos war, macht sie nur noch entsetzlicher.“ (Primo Levi: Gespräche und Interviews. Hg. v. Marco Belpoliti. Übers. v. Joachim Meinert. München 1999, S. 231).

  25. 25.

    Häufig wird Levinas Nachname in einer dem Französischen angepassten Schreibweise als „Lévinas“ angegeben. Levinas selbst habe seinen Nachnamen ohne Accent aigu auf dem „e“ geschrieben, erklärt u. a. Ludwig Wenzler. Daher wird auch hier der Schreibung ohne Akzent gefolgt (vgl. Ludwig Wenzler: Zeichen und Antlitz. Ontologische Destruktion und ethische Einsetzung des Subjekts nach Emmanuel Levinas. In: Wissenschaft und Glaube 1 (1988), S. 138–152, hier S. 151).

  26. 26.

    Emmanuel Levinas: „Nom d’un chien“ oder das Naturrecht [franz. 1963]. In: Frank Miething, Christoph von Wolzogen: Après vous. Denkbuch für Emmanuel Levinas 1906–1995. Übers. v. Frank Miething. Frankfurt a. M. 2006, S. 55–59. Der Text erschien als philosophischer Beitrag in einer Festschrift für den niederländischen Maler Bram van Velde. Der Titel heißt wörtlich übersetzt „Name eines Hundes“, jedoch bedeutet dies im Französischen im übertragenen Sinne, wie der Übersetzter anmerkt, ebenfalls so etwas wie „verflixt und zugenäht!“ (ebd., S. 56).

  27. 27.

    Levinas: „Nom d’un chien“, S. 57–58.

  28. 28.

    Levinas: „Nom d’un chien“, S. 57.

  29. 29.

    Levinas: „Nom d’un chien“, S. 58–59.

  30. 30.

    Vgl. auch Jacques Derrida: Das Tier, das ich also bin [franz. 2006]. Übers. v. Markus Sedlaczek. Hg. v. Peter Engelmann. 2., durchges. Aufl. Wien 2016, S. 173; im Folgenden zitiert unter DT, alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.

  31. 31.

    Levinas: „Nom d’un chien“, S. 59.

  32. 32.

    Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Abt. 1: Werke. Bd. 4: Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781), Prolegomena, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Hg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911, S. 385–463, hier S. 429.

  33. 33.

    Diese These folgt Ole Frahms Ausführungen, der sich ausgiebig mit der Funktion der Tierdarstellung in Spiegelmans MAUS beschäftigt. Vgl. Ole Frahm: Genealogie des Holocaust. Art Spiegelmans MAUS – A Survivor’s Tale. München 2006, v. a. S. 10, 27–43.

  34. 34.

    Vgl. Art Spiegelman: Maus II. Und hier begann mein Unglück. Übers. v. Christine Brinck, Josef Joffe. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 11–12.

  35. 35.

    Vgl. Frahm: Genealogie des Holocaust, S. 37–38.

  36. 36.

    Sarah Kofman: Erstickte Worte [franz. 1987]. Hg. v. Peter Engelmann. Übers. v. Birgit Wagner. Wien 1988, S. 59; vgl. auch S. 94.

  37. 37.

    Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz [franz. 1955]. Übers. v. Hans-Joachim Metzger u. Bernd Wilczek. München, Wien 1991, S. 195.

  38. 38.

    Vgl. Blanchot: Das Unzerstörbare, S. 195.

  39. 39.

    Interessanterweise hat dies wiederum Rückwirkungen auf die Theoretisierung von Tieren. So formuliert der Schriftsteller, Maler und Kunstkritiker John Berger die These, dass der Zoo das Verhältnis von Mensch und Tier veranschauliche. Der Zoo stellt für das Tier „das äußerste Minimum einer Umgebung dar, in der es physisch existieren kann“ (John Berger: Warum sehen wir Tiere an? [1981]. In: Ders: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens. Übers. v. Stephen Tree. Berlin 2003, S. 12–35, hier S. 32). Isoliert und auf die Pfleger konzentriert führten die Tiere dort ein unfreies Leben. Strukturell sei der Zoo daher vergleichbar mit anderen „Orte[n] des erzwungenen Rückzuges – Ghettos, Barackenstädte, Gefängnisse, Irrenhäuser, Konzentrationslager –“ (ebd., S. 34), in denen Menschen von der Gesellschaft isoliert werden und ebenfalls ein unfreies Leben führen. Diese Parallelsetzung legt keine schlichte Gleichsetzung all der genannten Orte und auch nicht von Menschen und Tieren nahe, sondern weist auf strukturelle Ähnlichkeiten von Gewalt- und Ausschlussmechanismen hin, die sich überall dort finden, wo eine Gruppe in Unfreiheit und absoluter Abhängigkeit von einer anderen Gruppe lebt. Diese Beobachtung lässt sich mit Giorgio Agambens Überlegungen zum Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne zusammenführen. In den nationalsozialistischen Lagern stellt Agamben eine vollständige Übereinstimmung zwischen Norm und Ausnahme fest. Die gesetzliche und biopolitische Organisation der Lager macht dieses eigentlich Unmögliche möglich (vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [ital. 1995]. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt a. M. 2002, besonders das Kapitel „Das Lager als biopolitisches Paradigma der Moderne“, S. 127–198).

  40. 40.

    Zur ausführlichen Beschäftigung mit dem Lager als Ausnahmezustand vgl. Agamben: Homo sacer, v. a. das Kapitel „Das Lager als nómos der Moderne“, S. 175–189; vgl. auch Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.1) [ital. 2003]. Übers. v. Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt a. M. 2004. Allerdings ist die Schrift Ausnahmezustand eher auf Phänomene der Gegenwart konzentriert und die Ausweitung von Agambens These des Ausnahmezustands diskussionswürdig, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.

  41. 41.

    Beide Zitate Doerte Bischoff: Exilliteratur als Literatur des Überlebens. Zum Beispiel Peter Weiss. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 34 (2016): Exil und Shoah, S. 253–268, hier S. 253, 266. Das Verständnis von „Exilliteratur als Literatur des Überlebens“ gilt, wie Bischoff ausführt, in erhöhtem Maße für die späte Exilliteratur, die im Wissen um das Ausmaß der Shoah entstanden ist.

  42. 42.

    Unter Exilliteratur werden hier fiktionale wie faktuale Texte verschiedener Gattungen gefasst, die eine Exilerfahrung reflektieren oder gestalten und/oder von Autorinnen und Autoren verfasst wurden, die vor dem Nationalsozialismus ins Exil flohen. Ausführlicher zum Begriff der Exilliteratur vgl. z. B. Gregor Streim: Deutschsprachige Literatur 1933–1945. Eine Einführung. Berlin 2015, S. 137–138.

  43. 43.

    Anna Seghers: Transit [1951]. Berlin 112007. Seghers schrieb den Roman zwischen 1940 und 1941 im mexikanischen Exil. Er erschien zunächst in Fortsetzung von August bis November 1947 in der Berliner Zeitung, bevor 1951 eine überarbeitete Printausgabe veröffentlicht wurde.

  44. 44.

    Die kulturhistorische Bedeutungszuschreibung von Doggen als Repräsentanten politischer Gewalt findet sich z. B. bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in Georg Büchners Drama Danton’s Tod, wie Aline Steinbrecher und Roland Borgards nachweisen. Zudem machen sie auf die wechselseitige Dynamik der Bedeutungszuweisung zwischen Bildspender und Bildempfänger bzw. – um den Eindruck eines einseitigen Wirkmechanismus schon in der Bezeichnung zu vermeiden – den beteiligten Bedeutungsproduzenten aufmerksam (vgl. Aline Steinbrecher, Roland Borgards: Doggen, Bologneser, Bullenbeisser. Hunde in historischen Quellen um 1800 und in Danton’s Tod von Georg Büchner. In: Meret Fehlmann, Margot Michel, Rebecca Niederhauser (Hgg.): Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen. Zürich 2016, S. 151–171, hier S. 165–167). U. a. äußern sich auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zur bildlichen Signalwirkung von Doggen: „Wenn Industriekönige und Faschistenführer Tiere um sich haben, sind es keine Pinscher, sondern dänische Doggen und Löwenjunge. Sie sollen die Macht durch den Schrecken würzen, den sie einflößen. So blind steht der Koloß des faschistischen Schlächters vor der Natur, daß er ans Tier nur denkt, um Menschen durch es zu erniedrigen.“ (Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung [1947]. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 172008, S. 269; im Folgenden zitiert unter DA, alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe).

  45. 45.

    Vgl. Carla Swiderski: Hunde als literarische Reflexionsfiguren von Flucht- und Exilerfahrungen. In: Tierstudien 19 (2021): Tiere und Migration, S. 162–172.

  46. 46.

    Hans Weigel: Der grüne Stern. Ein satirischer Roman [1943]. Wien, München, Zürich 1976. Der Text ist zunächst 1943 in der Basler Arbeiter-Zeitung abgedruckt worden, bevor er 1946 in Buchform im Wiener Verlag erschien.

  47. 47.

    Diesen Zusammenhang erwähnt Weigel selbst nicht, doch weist er ausdrücklich auf Hitler als Vorbild für seine Figur des Gottfried Hofer hin. Zur Wiederauflage 1976 erläutert er: „Der Roman ‚Der grüne Stern‘, durch eine Antivivisektions-Initiative im Kanton Basel-Stadt angeregt, war zwar durchaus als eine satirische Ablehnung jeglicher Diktatur gedacht; das Modell aber war unverkennbar Adolf Hitler, seine ‚Bewegung‘, sein Reich, seine Politik. Dies wurde auch allgemein von der Presse und den Lesern erkannt.“ (Weigel: Der grüne Stern, S. 248). Neben dem angeführten zeitgeschichtlichen Bezug bietet sich die vegetarische Bewegung an, da auf einer rein semiotischen Ebene, lässt man die ersten fünf Buchstaben beiseite, die „arische Bewegung“ stets mitgenannt wird.

  48. 48.

    Stephan Lackner: Der Mensch ist kein Haustier [1937]. Drama. Illustriert v. Max Beckmann. Worms 1977.

  49. 49.

    Lackner: Der Mensch ist kein Haustier, S. 64.

  50. 50.

    Lackner: Der Mensch ist kein Haustier, S. 87.

  51. 51.

    Ausführlicher zu den Versuchen rund um den Verein „Lebensborn“ vgl. u. a. Georg Lilienthal: Der „Lebensborn e. V.“. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. Überarb. u. erw. Ausg. Frankfurt a. M. 1993; Dorothee Schmitz-Köster, Tristan Vankann: Lebenslang Lebensborn: Die Wunschkinder der SS und was aus ihnen wurde. München 2012.

  52. 52.

    Beide Zitate aus Lackner: Der Mensch ist kein Haustier, S. 39.

  53. 53.

    Vgl. Carla Swiderski: Das Experiment ‚Mensch‘ in Stephan Lackners Exildrama Der Mensch ist kein Haustier. Zwischen „behaarte[m] Mordaffen“ und rationalem „Zukunftsmenschen“. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 39 (2021): Mensch und Tier in Reflexionen des Exils. Berlin, Boston 2021, S. 133–150.

  54. 54.

    Käte Werner: Wir sind alle nur Menschen. Tel Aviv, S. 52. Das Erscheinungsdatum ist in der Publikation nicht vermerkt. Meist wird ca. 1948 angegeben (vgl. z. B. „Käte Werner“, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet v. Wilhelm Kosch. Bd. 31: Werenberg – Wiedling. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin, Boston 2012, S. 128). Die Titellisten des Verlags geben jedoch Anlass dazu, die Veröffentlichung auf das Jahr 1953 zu datieren (vgl. Roland Jaeger: Martin Feuchtwanger und sein Exilverlag „Edition Olympia“ in Tel Aviv. In: Aus dem Antiquariat 14/2 (2016), S. 75–88, hier S. 86).

  55. 55.

    Werner: Wir sind alle nur Menschen, S. 52.

  56. 56.

    Beide Zitate aus Werner: Wir sind alle nur Menschen, S. 310.

  57. 57.

    Beide Zitate aus Ernst Lothar: Die Rückkehr. Salzburg 1949, S. 21 u. S. 23.

  58. 58.

    Lothar: Die Rückkehr, S. 269.

  59. 59.

    Der Vogel wird in der Exilliteratur vielfach als Symbol für Freiheit, Grenzenlosigkeit (bzw. vom menschlichen Standpunkt aus Grenzüberschreitung) oder auch Deterritorialisierung verwendet. So z. B. in Hilde Domins Gedichten u. a. Wen es trifft, Nur eine Rose als Stütze und Winterbienen (vgl. Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Nikola Herweg u. Melanie Reinhold. Frankfurt a. M. 2009, S. 38–45, 48, 68–69). Nelly Sachs bezeichnete sich selbst angesichts ihrer Flucht ins schwedische Exil als „den fremden Flüchtlingsvogel“ (Nelly Sachs: Brief an Käte Hamburger, 6.1.1958. Zit. n. Aris Fioretos: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Eine Bildbiographie. Übers. v. Paul Berf. Berlin 2010, S. 45). Dennoch ist der Vogel nicht auf diese symbolische Bedeutung begrenzt, sondern erscheint z. B. auch als Bote, gutes ebenso wie schlechtes Omen oder als Friedensbringer. Zudem sind verschiedene Vogelarten, sofern sie angeführt werden, auch noch einmal mit jeweils eigenen verschiedenen Bedeutungsfeldern verbunden. Zum Motiv des Vogels in der Exilliteratur vgl. auch Sanna Schulte: Vom Schreiben als Fliegen und vom Flüchten mit Flügeln. Über „Vögel mit Wurzeln“ in der Exilliteratur. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 39 (2021): Mensch und Tier in Reflexionen des Exils. Berlin, Boston 2021, S. 53–68.

  60. 60.

    Veza Canetti floh nach dem erzwungenen Anschluss Österreichs 1938 gemeinsam mit ihrem Ehemann Elias Canetti nach England. Im britischen Exil entstand auch der Roman, der 1999 posthum veröffentlicht wurde.

  61. 61.

    Canetti: Die Schildkröten, S. 59; vgl. auch S. 46–49, 56–59.

  62. 62.

    Canetti: Die Schildkröten, S. 14.

  63. 63.

    Canetti: Die Schildkröten, S. 25.

  64. 64.

    Canetti: Die Schildkröten, S. 44.

  65. 65.

    Dies legt der Erzähltext selbst nah, z. B. wenn Kain seinen Bruder Werner mit einer Schildkröte vergleicht (vgl. Canetti: Die Schildkröten, S. 24–25) oder Hilde, die jüdische Freundin der Familie Kain, die gemeinsam mit ihnen fliehen will, zum SA-Mann Pilz sagt: „Der Drache sind Sie, die Schildkröten sind wir“ (ebd., S. 82). Ausführlicher zur allegorischen Verwendung der Schildkröte in Canettis Roman vgl. Bettina Englmann: Poetik des Exils: Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur. Tübingen 2001, S. 309–322; Gerhild Rochus: Veza Canetti: Die Schildkröten (1999). In: Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hgg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin, Boston 2013, S. 270–277, hier S. 272.

  66. 66.

    Dieser Beobachtung widmet sich Dagmar Lorenz in einem Beitrag zu Die Schildkröten. Ihre zentrale These ist: Die Erfahrungen, die Jüdinnen und Juden unter der NS-Herrschaft machen mussten, „führten bei Veza und Elias Canetti wie auch bei anderen jüdischen Autoren, z. B. Gertrud Kolmar, zu einer grundsätzlichen Neubetrachtung der Kategorien Mensch und Tier“ (Dagmar Lorenz: Veza Canettis Roman Die Schildkröten als Beitrag zur Kritik des anthropozentrischen Weltbildes im Nationalsozialismus. In: Ingrid Spörk, Alexandra Strohmaier (Hgg.): Veza Canetti. Graz, Wien 2005, S. 32–56, hier S. 32).

  67. 67.

    In den Cultural and Literary Animal Studies, die sich mit der Verhandlung der Tierfrage in Kunst und Kultur beschäftigen, wird von einer nicht auflösbaren Spannung zwischen Nähe und Distanz, Identität und Alterität ausgegangen (vgl. u. a. Roland Borgards: Die Tiere und wir. In: Sabine Schulz, Dennis Conrad (Hgg.): TIERE. Respekt/Harmonie/Unterwerfung. München 2017. S. 26–33, hier S. 31).

  68. 68.

    Hartmut Böhme, Franz-Theo Gottwald, Christian Holtorf, Thomas Macho, Ludger Schwarte, Christoph Wulf: Vorwort der Herausgeber. In: Dies. (Hgg.): Tiere. Eine andere Anthropologie. Köln, Weimar, Wien 2004, S. 9–10, hier S. 9.

  69. 69.

    Vgl. z. B. Markus Wild: Tierphilosophie zur Einführung. Hamburg 2008, besonders S. 26–27. Wobei bedacht werden muss, dass das Verhältnis zwischen Mensch und Tier noch etwas komplizierter ist. Das besondere Spannungsfeld zwischen Menschlichkeit und Animalität eröffnet sich dabei auch im Menschen selbst, indem er sich (spätestens in der Folge von Charles Darwins Evolutionstheorie) als Tier und zugleich als vom Tier Verschiedenes begreift.

  70. 70.

    Die „Spur“ ist nach Jacques Derrida das, was das Sichtbare mit hervorbringt, zugleich selbst aber permanent vom Verschwinden bedroht ist und somit als sichtbare Abwesenheit beschrieben werden kann (vgl. Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché u. Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1972, S. 326, 348–349) oder auch als „in Einzelereignisse eingeschriebene Alterität“ (Wild: Tierphilosophie, S. 201).

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Swiderski, C. (2023). Erste Annäherung: Von Lagertexten zur Exilliteratur – Tierlektüren. In: Der Mensch spiegelt sich im Blick der Tiere. Exil-Kulturen, vol 9. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67629-5_1

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