Skip to main content

Tiefenzeit und Zeitgenoss:innenschaft

Der erdgeschichtliche Gegenwartsbezug des Anthropozäns – semiotische Grundlagen und lyrische Darstellung (Asmus Trautsch)

  • Chapter
  • First Online:
Zeiten der Natur

Part of the book series: LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik ((LiLi,volume 5))

  • 125 Accesses

Zusammenfassung

Vor dem Hintergrund des Anthropozän-Diskurses kann die Erdgeschichte nicht mehr als das Andere der menschlichen Geschichte gedacht werden. Der Aufsatz fragt in diesem Kontext nach den epistemologischen und semiotischen Bedingungen des Bezugs von menschlichen Individuen und Gruppen auf die Erdgeschichte sowie nach der Möglichkeit einer literarischen Vermittlung zwischen der menschlichen Erfahrung und der Geschichte des Planeten. Die Frage nach einer entsprechenden tiefenzeitlichen Zeitgenoss:innenschaft wird in drei Facetten beleuchtet: 1) der erdgeschichtliche Zeithorizont als notwendiger Rahmen und implizite Grundlage für die Debatten um die Klimakrise und das Artensterben; 2) die materiellen Ablagerungen erdgeschichtlicher Ereignisse als epistemologisch-semiotische Möglichkeitsbedingung ihrer Vergegenwärtigung; 3) die Konstitution einer bewussten und selbstreflexiven tiefenzeitlichen Zeitgenoss:innenschaft in Asmus Trautschs Gedicht „Die Urwälder Europas“ (2016).

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 54.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 69.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Erste Überlegungen zu einer tiefen geologischen Zeit finden sich schon früher, z. B. im 11. Jahrhundert in den Schriften des islamischen Gelehrten Ibn Sina und des Chinesen Sen Kuo oder im 17. Jahrhundert in Nicolaus Stenos De Solido (1669) und Thomas Burnets Sacred Theory of the Earth (1681/1684) (vgl. Hüpkes 2020, S. 2). Im 18. Jahrhundert aber konsolidiert sich dieses Wissen im Zuge der Aufklärung und erfährt eine breitere kulturelle Rezeption.

  2. 2.

    Der Ausdruck ‚Tiefenzeit‘ (engl. deep time) wurde erst 1981 von John McPhee in der Schrift Basin and Range geprägt, bezeichnet der Sache nach aber genau jene zeitlichen Dimensionen, die im 18. Jahrhundert zu einem zentralen Erkenntnissinteresse der Geologen wurden. Mittlerweile ist der Begriff zur Bezeichnung geologischer Zeiträume etabliert und hat sich mit Goulds berühmter Phrase von der ‚Entdeckung der Tiefenzeit‘ auch wissenschaftshistorisch retrospektiv durchgesetzt.

  3. 3.

    Im Laufe des Arguments werde ich den Begriff der Zeitgenoss:innenschaft unter Bezug auf verschiedene theoretische Positionen weiter ausdifferenzieren.

  4. 4.

    Für den Beginn des Anthropozän sind auch viele andere Datierungen vorgeschlagen worden, die in Teilen mit der ‚Early Anthropocene Hypothesis‘ mehrere tausend Jahre zurückreichen. Für die Frage einer historischen Gegenwärtigkeit, in der auch eine starke Gemeinsamkeit gesellschaftlicher Strukturen besteht, scheinen mir diese weiter zurückreichenden Vorschläge nicht passend, zumal auch die Anthropocene Working Group (AWG) unter der Leitung von Jan Zalasiewicz sich mittlerweile darauf geeinigt hat, dass es für eine Datierung des Anthropozän in der Mitte des 20. Jahrhunderts, also am Beginn der ‚Great Acceleration‘ am meisten Evidenz gibt (vgl. Zalasiewicz et al. 2017, S. 58; siehe auch den offiziellen Internetauftritt der AWG: http://quaternary.stratigraphy.org/working-groups/anthropocene/ (27.03.2022)).

  5. 5.

    Mit Armen Avanessian und Suhail Maliks (vgl. 2016, S. 24) Begriff könnte man hier auch von einer ‚tiefenzeitlichen Zukunftsgenossenschaft‘ sprechen. Mir scheint diese Wendung allerdings überflüssig und einengend, da der Begriff der ‚Zeitgenossenschaft‘, wenn man ihn ernst nimmt und nicht bloß als Schlagwort verwendet, gerade nicht eine Fetischisierung der Gegenwart bedeutet (vgl. Avanessian und Malik 2016, S. 25), sondern deren anteilnehmende Verflechtung mit Vergangenheit und Zukunft (siehe dazu auch Abschn. 2 „Geologische Semiose und die Lesbarkeit der Erde“). Die Kritik von Avanessian und Malik mag deshalb in Bezug auf eine selbstreferentielle Kunstwelt und deren Verwendung der Begriffe ‚zeitgenössisch‘ bzw. ‚contemporary‘ zutreffen. Eine Gegenwärtigkeit mit geologischen Zeitdimensionen ist aber in gewisser Weise das genaue Gegenteil dieser Art des ‚engen Zeitgenössisch-Seins‘. Die geologische und ökologische Gegenwärtigkeit zielt vielmehr auf ein Bewusstsein für die Eingewobenheit der menschlichen Gegenwart in andere Zeitlichkeiten, Geschwindigkeiten, Rhythmen, ihre Herkunft aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit – und ihr Hineinreichen in eine unabsehbare Zukunft (vgl. Bjornerud 2020, S. 28 und 200; Tsing 2018, S. 37–42). Auch scheint mir die emphatische Bevorzugung der Zukunft über Gegenwart und Vergangenheit (vgl. Avanessian und Malik 2016, S. 7) nicht hilfreich, um die komplexen Verflechtungen aller drei Dimensionen der Zeit und die Art und Weise zu verstehen, wie das Zusammenspiel unterschiedlicher Zeitlichkeiten die Erde prägt (vgl. Haraway 2016, S. 11).

  6. 6.

    Georg Braungart hat für das Denken Georg Christoph Lichtenbergs festgestellt, dass es für ihn – als einem Zeitgenossen der französischen Revolution im engeren Sinn – der Begriff der Revolution ist, der es ihm erlaubt, seine Gegenwart und die Erdgeschichte bedeutungsvoll aufeinander zu beziehen (vgl. 2009, S. 69).

Literatur

  • Agamben, Giorgio: Was ist Zeitgenossenschaft? In: Ders.: Nacktheiten. Frankfurt am Main 2010 (ital. 2009), 21–36.

    Google Scholar 

  • Avanessian, Armen/Malik, Suhail: Der Zeitkomplex. In: Armen Avanessian/Suhail Malik (Hg.): Der Zeitkomplex. Postcontemporary. Berlin 2016, 7–36.

    Google Scholar 

  • Baker, Victor: Geosemiosis. In: Geological Society of America Bulletin 111/5 (1999), 633–645.

    Google Scholar 

  • Bird Rose, Deborah: Wild Dogs Dreaming. Love and Extinction. Charlottesville/London 2011.

    Google Scholar 

  • Bjornerud, Marcia: Reading the Rocks: The Autobiography of the Earth. New York 2006.

    Google Scholar 

  • Bjornerud, Marcia: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Berlin 2020 (engl. 2018).

    Google Scholar 

  • Boes, Tobias/Marshall, Kate: Writing the Anthropocene: An Introduction. In: Minnesota Review 83 (2014) 60–72.

    Google Scholar 

  • Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main 2015.

    Google Scholar 

  • Braungart, Georg: Poetik der Natur. Literatur und Geologie. In: Thomas Anz (Hg.): Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Paderborn 2009, 55–78.

    Google Scholar 

  • Ceballos, Gerardo/Ehrlich, Paul/Barnosky, Anthony/García, Andrés/Pringle, Robert/Palmer, Todd: Accelerated modern human–induced species losses: Entering the sixth mass extinction. In: ScienceAdvances 1/5 (2015). https://doi.org/10.1126/sciadv.1400253.

  • Chakrabarty, Dipesh: Anthropocene Time. In: History and Theory 57/1 (2018), 5–32.

    Article  Google Scholar 

  • Chakrabarty, Dipesh: Humanities in the Anthropocene. The Crisis of an Enduring Kantian Fable. In: New Literary History 47/–3 (2016), 377–397.

    Google Scholar 

  • Chakrabarty, Dipesh: The Climate of History. Four Theses. In: Critiqual Inquiry 35/2 (2009), 197–222.

    Google Scholar 

  • Crutzen, Paul J./ Stoermer, Eugene F.: The Anthropocene. In: IGBP 41 (2000), 17–18.

    Google Scholar 

  • Farrier, David: Anthropocene Poetics. Deep Time, Sacrifice Zones, and Extinction. London/Minneapolis 2019.

    Google Scholar 

  • Gould, Stephen Jay: Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil und Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde. München 1990 (engl. 1987).

    Google Scholar 

  • Hamilton, Clive: Defiant Earth. The Fate of Humans in the Anthropocene. Cambridge/Malden 2017.

    Google Scholar 

  • Haraway, Donna J.: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham/London 2016.

    Google Scholar 

  • Head, Lesley: Hope and Grief in the Anthropocene. Re-conceptualizing human-nature relations. London/New York 2016.

    Google Scholar 

  • Heise, Ursula K.: Imagining Extinction: The Cultural Meanings of Endangered Species. Chicago 2016.

    Google Scholar 

  • Heringman, Noah: Deep Time at the Dawn of the Anthropocene. In: Representations 129/1 (2015), 56–85.

    Google Scholar 

  • Hickman, Caroline/Marks, Elizabeth/Pihkala, Panu/Clayton, Susan/Lewandowski, Eric/Mayall, Elouise/Wray, Britt/Mellor, Catriona/van Susteren, Lise: Young people’s voices on climate anxiety, government betrayal and moral injury: a global phenomenon. The Lancet (preprint 2021). https://doi.org/10.2139/ssrn.3918955 (28.12.2021).

  • Horn, Eva; Schnyder, Peter: Romantische Klimatologie. Zur Einführung. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2016), 9–18.

    Google Scholar 

  • Hüpkes, Philip: Tiefenzeit. In: Grundbegriffe des Anthropozän 2020. https://voado.uni-vechta.de/bitstream/handle/21.11106/299/Huepkes_Philip_Tiefenzeit_2020.pdf?sequence=3 (28.12.2021).

  • Hüpkes, Philip: Anthropocenic Earth Mediality: On Scaling and Deep Time in the Anthropocene. In: Gina Comos/Caroline Rosenthal (Hg.): Anglophone Literature and Culture in the Anthropocene. Newcastle upon Tyne 2019, 163–180.

    Google Scholar 

  • International Panel on Climate Change (IPCC): Climate Change 2021. The Physical Basics. Summary for Policymakers. 2021.

    Google Scholar 

  • IPBES: Summary for policymakers of the global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. 2019.

    Google Scholar 

  • Kaufmann, Sina Kamala/Timmermann, Michael/Botzki, Annemarie: (Hg.): Wann wenn nicht wir. Ein extinction rebellion Handbuch. Frankfurt am Main 2019.

    Google Scholar 

  • Kolbert, Elizabeth: The Sixth Extinction: An Unnatural History. London 2015.

    Google Scholar 

  • National Research Council (NRC): Basic Research Opportunities in Earth Science. Washington DC 2011.

    Google Scholar 

  • Playfair, John: Illustrations of the Huttonian Theory of the Earth [1802]. New York 1964.

    Google Scholar 

  • Probst, Simon: Wie die Geschichte(n) der Erde bewohnen? (Literarische) Kompositionen von planetarer Zeit zwischen Moderne und Anthropozän. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 7 (2022), Sonderheft Moderne Zeitlichkeiten und das Anthropozän, 52–68.

    Google Scholar 

  • Rockström, Johan/Will Steffen/Kevin Noone et al.: A Safe Operating Space for Humanity. In: Nature 461 (2009), 472–475.

    Google Scholar 

  • Salk, Jonas: Are We Being Good Ancestors? In: World Affairs: The Journal of International Issues 1/2 (1992), 16–18.

    Google Scholar 

  • Schalansky, Judith: Verzeichnis einiger Verluste. Berlin 2018.

    Google Scholar 

  • Subcomission on Quaternernary Stratigraph: Working Group on the Anthropocene. http://quaternary.stratigraphy.org/working-groups/anthropocene/ (27.03.2022).

  • Szerszynski, Bronislaw: The End of the End of Nature: The Anthropocene and the Fate of Human. In: Oxford Literary Review 34/2 (2012), 165–184.

    Google Scholar 

  • Thober, Benjamin: Anthropozänlyrik. Überlegungen zur Neuordnung des Mensch-Natur-Verhältnisses jenseits des Narrativen. In: Gabriele Dürbeck/Simon Probst/Christoph Schaub (Hg.): Anthropozäne Literatur. Poetiken – Genres – Lektüren. Berlin 2022, 163–179.

    Google Scholar 

  • Töpfer, Georg: Archive der Natur. In: Trajekte 27 (2013), 3–7.

    Google Scholar 

  • Trautsch, Asmus: Die Urwälder Europas. In: Anja Bayer/Daniela Seel (Hg.): All dies hier, Majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Berlin/München 2016, 8.

    Google Scholar 

  • Tsing, Anna Lowenhaupt: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin 2018 (engl. 2015).

    Google Scholar 

  • Vogel, Mikael: Dodos auf der Flucht. Requiem für ein verlorenes Bestiarium. Berlin 3., akt. Auflage 2021.

    Google Scholar 

  • Woods, Derek: Scale Critique for the Anthropocene. In: The Minnesota Review 83 (2014), 133–142.

    Article  Google Scholar 

  • Zalasiewicz, Jan, Colin N. Waters, Colin P. Summerhayes et al.: The working group on the Anthropocene: Summary of evidence and interim recommendation. In: Anthropocene 19 (2017), 55–60.

    Google Scholar 

  • Zalasiewicz, Jan: The Earth after Us. What Legacy will Humans leave in the Rocks. Oxford 2008.

    Book  Google Scholar 

  • Zanetti, Sandro: Poetische Zeitgenossenschaft. In: Variations 19 (2011), 39–53.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Simon Probst .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2023 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Probst, S. (2023). Tiefenzeit und Zeitgenoss:innenschaft. In: Pause, J., Prokić, T. (eds) Zeiten der Natur. LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik, vol 5. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_9

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_9

  • Published:

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg

  • Print ISBN: 978-3-662-67587-8

  • Online ISBN: 978-3-662-67588-5

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics