Zusammenfassung
Enzensbergers Roman-Essay Nicht Eins und Doch. Geschichte der Natur, 2013 bei Die Andere Bibliothek erschienen, zeichnet sich dadurch aus, dass die Transformation der menschlichen Umwelt bzw. Natur in anorganische und leblose Materie nicht so sehr durch eine exzentrische und dystopische Handlung, sondern durch besondere semantische Mittel (Aphasie, Stottern, Verstummung und Zerstörung der Sprachstruktur, kryptische und hermetische Analogismen, Verwendung dialektaler Sprache) entworfen wird. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, wie jene Form der Literatur die geschichtliche und die biologische Zeit des Menschen mit der „unmenschlichen“ geologischen und kosmologischen „Tiefenzeit“ der Natur ins Verhältnis setzt und so die ontologische Dissonanz zwischen Natur und Mensch, Geologie und Biologie im Medium der Sprache greifbar werden lässt.
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Notes
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Zu Recht betont Falb, dass nicht jede Dichtung im Anthropozän Dichtung des Anthropozäns ist; nicht jede Dichtung zwar, die von technologischer Dynamik und der Entfremdung des Menschen in der großstädtischen Umwelt spricht oder einen asemantischen Zerfall der Sprache inszeniert (als Allegorie der Ausdrucksunfähigkeit des sprachlichen Mediums der Umweltkrise gegenüber), ist es eine Dichtung, die diese Krise nach raumzeitlichen Parametern kontextualisieren kann, die über die Größenordnung von Millionen von Jahren hinaus die „erstaunliche Endlichkeit“ des Raumschiffs Erde hervorheben. Was insbesondere die Öko-Lyrik von der des Anthropozäns wesentlich unterscheidet, so Falb, ist die Beziehung zu ihrem Objekt: erstere glaubt ihr Objekt in seiner Gesamtheit vor sich zu haben, letztere kann nicht nur die gesamte Raumzeitausdehnung der Erdepoche nicht erfassen, sondern hat auch mit unsichtbaren Objekten und Materialien zu tun, wie zum Beispiel Bevölkerungswachstum, Stoffveränderungen in der Atmosphäre, Daten zum Aussterben nichtmenschlicher Arten, Berechnungen und Grafiken zum CO2-Verbrauch und Natur Ressourcen, Klimawandel etc.
- 2.
In Enzensbergers Roman identifizieren sich Erzähler und Protagonist der Erzählung, wobei der erste auf ein kursiv gesetztes „Ich“ rekurriert, der zweite durch das Pronomen „er“ identifizierbar ist, und beide auf ein „du“, den „günstigen Leser“, appellieren. Das ergibt eine Mehrstimmigkeit, eine „pronominale Verwirrung, die in jedem ‚er‘ zugleich ein ‚ich‘ und ein ‚du‘, in der ersten Person eine zweite und dritte – und so fort – auftreten lässt, ein stets wankendes grammatisches Subjekt“ (Linck und Vogl 2013, S. 525).
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Übertrieben scheinen die Urteile von Linck/Vogl zur philosophischen Originalität des Textes. Nachdem Enzensbergers Naturwanderer und „Mangelwesen“ dem “weltoffenen“ und „weltbildenden“ Philosophen der „Holzwege“ entgegengestellt wird (523), wird seine ironische Perspektive zur „Verkehrung aller abendländischen Metaphysik“ erhoben. Ripplinger verweist auf die antiken Materialisten Demokrit, Epikur und Lukrez, auf die Romantiker Novalis, von Baader und Böhme, auf die kritische Philosophie Kants und Schopenhauers (Ripplinger 2013, S. 7).
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Auch die neuere Forschung zur Dialektliteratur – also zur nicht-referenziellen Rede, die ganz oder nur teilweise in Mundart geschrieben ist – verweist auf das seit langem bekannte Problem, dass ihren Gegenstand sowohl unter einer dialektologisch-linguistischen als auch unter einer literaturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten wäre. Doch weder in der Lehre noch in der Forschung ist bisher diese notwendige Doppelperspektive berücksichtigt worden (Mattheier 1993, S. 633; Hermann und Siebenhaar 2015, S. 48; Neuhaus 2017, S. 324–326). Die vor Kurzem erschienene Geschichte der deutschsprachigen Dialektliteratur von Peter Pabisch (Pabisch 2019) in sechs Bänden stellt in diesem Panorama eine glückliche Ausnahme dar, auch wenn in dieser Geschichte der Akzent deutlich auf den ästhetisch-literarischen Wert der Mundartliteratur liegt. Wie bereits von Hein 1983 deutlich formuliert, „[liegen] die Schwierigkeiten unter anderem darin, daß kein Literaturwissenschaftler die verschiedenen Dialekte mühelos erkennen und lesen kann […], und daß auf der anderen Seite kaum ein Dialektologe an literarisch-ästhetischen Phänomenen des Dialekts im hochsprachlichen Kontext interessiert ist“ (Hein 1983, S. 1624).
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Dogà, U. (2023). Die Sprache des Menschen und der Dialekt der leblosen Welt. In: Pause, J., Prokić, T. (eds) Zeiten der Natur. LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik, vol 5. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_8
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_8
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Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg
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