Zusammenfassung
In der erfolgreichen Sonntagszeitung Die Grüne Post publizierte Wilhelm Lehmann zwischen 1927 und 1932 eine Reihe kenntnisreicher und poetisch verdichteter Naturkolumnen. Die Texte, die den Grundstock des Bukolischen Tagebuchs bilden, setzen gegen die in den ‚Goldenen Zwanzigern‘ weitgehend unhinterfragte Logik technisierter, modern durchgetakteter Naturbeherrschung die sinnliche Aufmerksamkeit für die natürliche Mannigfaltigkeit und Eigenzeitlichkeit der Natur. Sein präzises naturkundliches Wissen verwebt Lehmann mit Reflexionen über Phänomene der Metamorphose und Morphologie zu ästhetisch durchgeformten Prosaminiaturen. Durch ein close reading exemplarischer Passagen arbeitet der Aufsatz heraus, wie Lehmann in seinen lyrisch verdichteten Texten genau wahrgenommene, ökologisch vernetzte Natur emphatisch in ihrem So-Sein versprachlicht. Dieses Naturschreiben wird im Horizont englischer ‚Country Diaries‘ sowie der Naturgeschichten und ‚Naturvignetten‘ Jules Renards situiert.
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Notes
- 1.
Zur Publikationsgeschichte vgl. bereits Schäfer (1969); vgl. aber insbesondere auch den hervorragenden Kommentar von Verena Kobel-Bänninger in Lehmann (1999). Einige wenige Texte, die ins Bukolische Tagebuch Eingang gefunden haben, publizierte Lehmann zuerst nicht in der Grünen Post, sondern in anderen Zeitschriften. Die versammelten Kolumnen aus den Jahren 1927–1932 tragen in der zuerst 1948 erschienenen Buchfassung den Titel Bukolisches Tagebuch. Zusätzlich hat Lehmann im selben Jahr 1948 auch eine neue Reihe vergleichbarer Texte geschrieben; diese Feuilletons zu Naturereignissen aus dem Jahre 1948 hat er zusammengefasst unter dem Titel Bukolisches Tagebuch aus dem Jahr 1948. Dieser zweite Tagebuch-Band wird hier nicht mitberücksichtigt.
- 2.
Zugrundgelegt wird Lehmann (2017), die Passage ebd. 88–89. Zitate aus diesem kurzen Eintrag werden in der folgenden Analyse nicht noch einmal eigens nachgewiesen; andere Zitate aus dem Bukolischen Tagebuch werden mit Angabe des Datums und der Seitenzahl angegeben, so dass ein Auffinden der Textstellen auch in anderen Ausgaben problemlos möglich ist. – Die Umdatierung des Eintrages, die sich auch bei anderen aus der Grünen Post übernommenen Kolumnen nachweisen lässt, ist möglicherweise auf das ursprüngliche Datum des Entstehens des Textes zurückzuführen.
- 3.
Aktuelle gesellschaftliche, politische oder ökonomische Ereignisse werden nur sehr selten angedeutet, etwa in dem Eintrag aus dem Oktober 1929, in dem es heißt, dass der Gutsverwalter Adamsdotter „auf meine Klagen über die Wirtschaftslage, über die Abnutzung der Nerven nicht“ antwortete; Lehmann 2017, 14. Oktober 1929, S. 95.
- 4.
Die Hervorhebungen der Landschaftselemente und Tier bzw. Pflanzennamen stammen ebenso wie die die Parataxe der Lebensbereiche markierenden Schrägstriche von mir, T.v.H.
- 5.
Zur klassischen Naturgeschichte und ästhetischen Rückgriffen auf dieses Modell vgl. van Hoorn (2016).
- 6.
- 7.
Vgl. den Hinweis von Droster (1982, S. 39–40). Droster hebt auch hervor, wie sehr Lehmann an der englischen Literatur und Kultur interessiert war, was sich insbesondere darin ausdrückte, dass Lehmann mehrere englische Zeitungen und Zeitschriften abonnierte (vgl. ebd., S. 70–72).
- 8.
Ausdrücklich hergestellt wird der Bezug zur Goetheschen Morphologie in Lehmann (2017, Mitte März 1930, S. 100).
- 9.
Zur extensiven Klarheit Baumgartens vgl. Krauß 2016.
- 10.
Die Annahme einer Natursprache legt Lehmann dem Verwalter Adamsdotter in den Mund, der einzigen im Bukolischen Tagebuch namentlich genannten Figur, vgl. Lehmann (2017, 14. Oktober 1929, S. 96).
- 11.
Vgl. zur Anemone Lehmann (2017, S. 128–129); zum Mauersegler ebd., 8. Juli 1931, S. 138–139.
- 12.
- 13.
Dem „merkwürdige[n] Thoreau“, der von „der wimmelnden Fülle“ am Walden Pont erzählt, widmet Lehmann eine Passage in seinem Tagebuch; Lehmann (2017, 17. Dezember 1928, S. 66).
Literatur
Anon.: [Art.] ‚Kantor‘. In: Der Große Brockhaus. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden. 15., völlig neu bearb. Aufl. 9. Bd. Leipzig 1931, 670.
Barnes, Julian: Dachskrallen. Jules Renards „Natur-Geschichten“. In: Sinn und Form 6/63 (2011), 732–738.
Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Erfordernisse eines Gedichts [lat. 1735]. Übersetzt u. mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Hamburg 1983.
Christiansen, Detlev Nikolaus: Frühlingsflora im Jenischpark. In: Vor den Toren der Groszstadt [sic]. Heimat und Wanderbücher 2: Am hohen Elbufer. Hg. vom Altonaer Schulmuseum. Altona [1929a], 127–130. (Christiansen 1929a).
Christiansen, Detlev Nikolaus: Ein botanischer Spaziergang nach den Schuttplätzen und Mühlen in Elmshorn. In: Aus der engeren Heimat. Beiträge zur Weckung von Heimatsinn und Heimatfreude [= Beilage zu den Elmshorner Nachrichten], 7/8 [4] und 9 [3–4] (1929b). (Christiansen 1929b).
Country Diary. In: The Guardian 05.02.1918. https://www.theguardian.com/environment/2018/feb/05/country-diary-1918-spring-like-weather-stirs-the-blood (15.02.2022).
Detering, Heinrich: Der verbrecherische Hahnenfuß. Wilhelm Lehmanns Bukolisches Tagebuch zwischen Romantik und Avantgarde. In: Uwe Pörksen (Hg.): Merlinszeit. Wilhelm Lehmann braucht ein Haus in Eckernförde. Eckernförde 2010, 15–30.
Die Grüne Post Nr. 27, 07.07.1929; Nr. 33, 18.08.1929; Nr. 34, 25.08.1929.
Droster, Ute: Wilhelm Lehmann. Marbacher Magazin 22 (1982).
Gaedechens, Erich: Die Vogelwelt des hohen Ufers. Eine ornithologische Wanderung im Mai und Juni. In: Vor den Toren der Groszstadt. Heimat und Wanderbücher 2: Am hohen Elbufer. Hg. vom Altonaer Schulmuseum. Altona [1929], 236–258.
Goodbody, Axel: Lehmanns Bukolische Tagebücher: Der Dichter als ‚Nature Writer‘. In: Wilhelm Lehmann zwischen Naturwissen und Poesie. Hg. von Uwe Pörksen. Göttingen 2008, 51–67.
Grössel, Hanns: Nachwort. In: Ideen, in Tinte getaucht. Aus dem Tagebuch von Jules Renard. München 1986, 345–363.
Hoorn, Tanja van: Naturgeschichte in der ästhetischen Moderne. Max Ernst, Ernst Jünger, Ror Wolf, W.G. Sebald. Göttingen 2016.
Krauß, Andrea: Nuancen des Firmaments. Versuchsanordnungen ‚extensiver Klarheit‘ zwischen Alexander Gottlieb Baumgarten und Barthold Heinrich Brockes. In: Schönes Denken. A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik. Hg. von Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach. Hamburg 2016, 223–251.
Lehmann, Wilhelm: Gesammelte Werke in acht Bänden. Bd. 8: Autobiographische und vermischte Schriften. Stuttgart 1999.
Lehmann, Wilhelm: Bukolisches Tagebuch und weitere Schriften zur Natur. Mit einem Nachwort von Hanns Zischler. Berlin 2017.
Malkmus, Bernhard: Wilhelm Lehmann: Nature Writing als Verhaltenslehre. In: Deutschsprachiges Nature Writing von Goethe bis zur Gegenwart. Kontroversen, Positionen, Perspektiven. Hg. von Gabriele Dürbeck und Christine Kanz. Berlin 2020, 207–226.
Renard, Jules: Naturgeschichten. Übers. von Kuno Weber, Nachwort von Wilhelm Lehmann. Mit 68 Illustrationen von Bonnard. Zürich 1960.
Schäfer, Hans Dieter: Wilhelm Lehmann. Studien zu seinem Leben und Werk. Bonn 1969.
Schmidt, Rainer G.: Editorische Notiz. In: Henry David Thoreau: Tagebuch I. Übers. von Rainer G. Schmidt. Berlin 2016, 313–319.
Thoreau, Henry David: Tagebuch III. Übers. von Rainer G. Schmidt. Mit einem Nachwort von Dieter Schulz. Berlin 2018.
Vor den Toren der Großstadt. Heimat und Wanderbücher 1: Wedel und die Haseldorfer Marsch. Hg. vom Altonaer Schulmuseum. Altona [1928].
Vor den Toren der Groszstadt [sic]. Heimat und Wanderbücher 2: Am hohen Elbufer. Hg. vom Altonaer Schulmuseum. Altona [1929].
Vor den Toren der Stadt [sic]. Heimat und Wanderbücher 3: Am Nordrande Altonas. Hg. vom Altonaer Schulmuseum 1930.
White, Gilbert: The Natural History and Antiquities of Selbourne, in the County of Southampton, to which are added The Naturalists Calendar; Observations of Various Parts of Nature; and Poems. London 1813.
White, Gilbert: Journals. Hg. von Walter Johnson. London 1931.
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van Hoorn, T. (2023). Die ‚unübertriebene Zeit‘ des Hopfens. In: Pause, J., Prokić, T. (eds) Zeiten der Natur. LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik, vol 5. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67588-5_7
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