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3.1 Postkoloniale Perspektiven

Ein komplexes Projekt wie die India Occidentalis-Sammlung aus der Werkstatt der Verlegerfamilie de Bry bedingt eine fast unüberschaubare Zahl an Vermittlungsprozessen: Diese beginnen mit dem Erleben der Reisenden und dessen Verschriftlichung – in welchem Verhältnis Erlebtes und Geschriebenes tatsächlich stehen, sei hier einmal dahingestellt – und münden in einer erneuten Rezeption und Präsentation durch die Verleger, inklusive der Auswahl, Anordnung und Bearbeitung der Texte sowie der Herstellung der berühmten Kupferstiche der Sammlung. Zahlreiche dieser Vermittlungsprozesse lassen sich in mehr oder weniger engem Verständnis des Begriffs als Übersetzungen lesen. Dazu zählen neben Übersetzungen von gesprochener Rede oder geschriebenen Texten auch Übersetzungen von „Denkweisen, (fremden) Weltbildern und differenten Praktiken.“Footnote 1 Auch eine solche Übersetzung oder Repräsentation stellt aber in der Regel – Talad Asad schreibt „unvermeidlich“Footnote 2 – ein textliches Konstrukt dar, das „auf der jeweiligen Darstellungsautorität gründet, auf den damit verbundenen Konventionen der Darstellung […] sowie auf dem Einsatz rhetorischer Erzählstrategien.“Footnote 3

Zwischen 1590 und 1634 erschienen insgesamt vierzehn Bände mit Reiseberichten über Amerika, herausgegeben von dem Goldschmied, Kupferstecher und Verleger Theodor de Bry und seinen Erben.Footnote 4 Zeitgenössisch wurde die Sammlung als India Occidentalis oder America bezeichnet, in der Forschung ist sie auch als Grands Voyages bekannt. Wie die meisten der Publikationen aus der Werkstatt de Bry ist die Sammlung reich illustriert mit Kupferstichen, welche die de Brys selbst herstellten und die bis heute als vermeintlich authentische Darstellungen das Bild von der europäischen Kolonisierung prägen – dies gilt besonders für die Landung des Kolumbus auf Guanahani, die in dieser Form auch heute noch in Schulbüchern auftaucht.Footnote 5

Die Liste der Autoren der abgedruckten Werke umfasst Engländer, Franzosen, Deutsche, Spanier, Italiener, Portugiesen und Holländer. Die Bände der Sammlungen wurden zum überwiegenden Teil jeweils auf Deutsch und Latein veröffentlicht – der erste Band zusätzlich auf Englisch und Französisch –, wobei es zwischen den Fassungen einige Unterschiede und Verschiebungen gibt. Dabei wurden auf der einen Seite viele fremdsprachige Texte erstmals auf Deutsch gedruckt, wodurch die Vielfalt der europäischen Kolonisierung Amerikas in den deutschen Sprachraum eingeführt wurde. Auf der anderen Seite wurden viele der volkssprachigen Texte erstmals auf Latein veröffentlicht und somit einem europäischen Publikum zugänglich gemacht.Footnote 6 Die de Brys schufen damit – um einen Begriff von Stephen Greenblatt aufzugreifen – eine europäische Repräsentation.Footnote 7

Dies zeigt bereits die enorme Zahl an Übersetzungen im engeren Sinne, die für die Herstellung der India Occidentalis-Sammlung notwendig war. Michiel van Groesen hat die de Brys – in Anlehnung an Peter Burke – als „Entrepreneurs of Translation“ bezeichnet und in seinem gleichnamigen Aufsatz die Übersetzungspolitik als „cornerstone of the careful editorial policy“Footnote 8 der Werkstatt beschrieben. Die ‚translation policy‘ der de Brys – verstanden im Sinne Gideon Tourys als „those factors that govern the choice of text-types, even of individual texts, to be imported into a particular culture / language via translation at a particular point in time“Footnote 9 – ist also untrennbar verbunden mit ihrer Auswahl von Texten zur Publikation sowie deren Bearbeitungen.

Neben den Übersetzungen im engeren Sinne lassen sich aber zahlreiche weitere Vermittlungsprozesse aufzeigen. Tatsächlich sind die de Brys gerade an den Transferprozessen von einer Sprache in eine andere kaum selbst beteiligt gewesen, wie van Groesen dargelegt hat. Wenn ich also die de Brys als ‚Übersetzer‘ bezeichne, dann in dem doppelten Sinne, dass sie zum einen viele Übersetzungen zwar nicht selbst vorgenommen, aber in Auftrag gegeben und als Verleger letztlich zu verantworten haben, und zum anderen Transferprozesse anderer Art durchgeführt haben. Dazu zählen vor allem die Anpassung ihrer Vorlagen an das jeweilige Zielpublikum ihrer Sammlung, die Rahmung und Umdeutung durch Paratexte wie Titelblätter und Vorreden sowie die Übertragung der Texte in das Medium der Kupferstiche.

3.2 Wer übersetzt?

Aufgrund der skizzierten Vermittlungsprozesse stellt bei der Arbeit mit der India Occidentalis-Sammlung die Frage: Wer schreibt? – oder, für meine Fragestellung noch entscheidender: Wer übersetzt? – eine besondere Herausforderung dar. Ein kurzes Beispiel soll diese Problematik verdeutlichen, bevor ich mich den komplexeren Fragen von Übersetzungspolitiken widme.

René de Laudonnière beschreibt in dem Bericht über seine Schifffahrten nach Florida auch die Flora und Fauna, darunter sowohl Arten, die seinem europäischen Publikum vertraut sind, wie Zedern, Zypressen, Lorbeer und Kirschen, als auch solche, die er umschreiben muss. So heißt es in der französischen Fassung des Werkes, die erstmals 1586 in Paris gedruckt wurde: „une petite graine que nous appellons entre nous bleues, qui sont fort bons a manger“;Footnote 10 ‚Eine kleine Frucht, die wir unter uns ‚die Blauen‘ nennen, die sind gut zu Essen‘. Es liegt nahe, dass mit dem ‚nous‘ die Gruppe der Reisenden gemeint ist, in der sich Laudonnière bewegt, zugleich ist ‚bleues‘ ein Begriff, der seinem französischen Publikum eine Vorstellung vom Äußeren der fraglichen Frucht liefert.

Die de Brys nehmen Teile des Textes in den zweiten Band ihrer Sammlung auf, der Florida gewidmet ist.Footnote 11 Dabei wird der französische Text gleich doppelt übersetzt, zunächst ins Lateinische und dann ins Deutsche. Als Übersetzer ins Lateinische ist der bedeutende Botaniker Charles de l’Escluse aus Arras genannt,Footnote 12 der, wie es in der Vorrede der de Brys heißt, die verschiedenen französischen Texte geordnet und dann übersetzt habe: „Gallicum Historiae sermonem ille expolivit, & eam deinde Latinam fecit“;Footnote 13 ‚Jener hat die französische Sprache der Erzählung verfeinert und sie dann Lateinisch gemacht‘. In der lateinischen Fassung lautet die oben zitierte Passage folgendermaßen: „quidam fructus palato valde grati, quos Galli Bleues (Germanorum Heydelbeer forte) appellant“;Footnote 14 ‚gewisse dem Gaumen sehr angenehme Früchte, welche die Franzosen ‚Bleues‘ nennen (vielleicht die Heidelbeere der Deutschen)‘. Der Übersetzer löst sich hier von der Sprecherposition Laudonnières und schreibt den Gebrauch des Begriffs ‚Bleues‘ nun ‚den Franzosen‘ zu. Damit könnte zwar noch die Gruppe der französischen Reisenden gemeint sein, aber der Zusatz ‚Germanorum Heydelbeer forte‘ macht deutlich, dass der Übersetzer hier an Sprachgemeinschaften denkt. Passend zur Ausrichtung der lateinischen Ausgabe auf einen europäischen Buchmarkt, löst sich der Übersetzer aus einer nationalen Zuordnung heraus.

Besonders deutlich wird dies im Vergleich mit der deutschen Fassung, die von dem Frankfurter Prediger Oseas Halen übersetzt wurde. Hier heißt es: „etliche schlechte Frücht / gar wolgeschmack / welche die Frantzosen Bleues nennen / mögen vielleicht bey uns Teutschen Heydelbeer seyn“.Footnote 15 Das Sprecher-Ich positioniert sich eindeutig als Teil der deutschen Sprachgemeinschaft – und sogar als Deutscher – und kann damit nicht René de Laudonnière sein. Der Übersetzer nutzt die inklusive Formulierung „uns Teutschen“, um sich selbst in den Text einzuschreiben, möglicherweise auch als Stellvertreter der Verleger de Bry, die sich häufig bemühen, die Relevanz der Reiseberichte und -beschreibungen für das Publikum zu betonen.

Bemerkenswert ist auch die Typographie der Passage in den beiden Ausgaben: In der deutschen Fassung, die in Fraktur gedruckt ist, wird zur Auszeichnung des Begriffs ‚Bleues‘ eine Antiqua-Type verwendet. In der lateinischen Ausgabe, die komplett in Antiqua gesetzt ist, wird an dieser Stelle wie auch sonst zur Auszeichnung von ‚Bleues‘ eine Kursive verwendet – für den Begriff ‚Heydelbeer‘ nutzt der Drucker hingegen Fraktur. Die unterschiedlichen Herkunftssprachen der Begriffe ‚Bleues‘ und ‚Heydelbeer‘ werden also auch im Druckbild markiert.

Zugleich wird deutlich, dass die Übersetzungen auch zusätzliche Informationen bieten, wenn l’Escluse und Halen die Frucht, die Laudonnière nur mit einem beschreibenden Namen versieht, mit einer konkreten europäischen Frucht identifizieren. Alle drei stellen damit eine Nähe zwischen der Frucht und dem Publikum her, die an anderer Stelle in der de Bryschen Sammlung bewusst vermieden wird.

3.3 Übersetzungen als Marker von Distanz

Besonders deutlich wird dies am Beispiel von Hans Stadens Warhafftigen Historia. Dieser Text wurde erstmals 1557 in Marburg gedruckt und von den de Brys in den dritten Band ihrer India Occidentalis-Sammlung aufgenommen, der Berichte über Brasilien versammelt. Staden war ein Landsknecht aus Hessen, der in den 1550er Jahren auf zwei Reisen nach Amerika in spanischen und portugiesischen Diensten stand. Sein Reisebericht handelt im Wesentlichen von seiner (angeblichen) Gefangenschaft beim Volk der Tupinamba, wo er, so der Text, in ständiger Angst davor lebte, getötet und verzehrt zu werden. Dementsprechend legt bereits das Titelblatt der Erstausgabe von 1557 einen Schwerpunkt auf den (angeblichen) Brauch der Anthropophagie, nicht nur im Titel, sondern auch in der beigefügten Illustration. Auf dem kleinen Holzschnitt ist ein Indio in einer Hängematte zu sehen, der ein menschliches Bein in der Hand hält, auf einem Rost sind weitere menschlichen Gliedmaßen zu erkennen – allesamt topische Motive. Von besonderem Interesse ist hier ein darüber abgebildetes Spruchband mit der Aufschrift „Sete katu“.Footnote 16 Die Äußerung, die dem Indio von dem unbekannten Illustrator in den Mund gelegt wird, heißt übersetzt ‚Es ist gut‘, was als Floskel während des Essens zu verstehen ist.Footnote 17 Bemerkenswert ist, dass die Worte nicht übersetzt werden, weder auf dem Titelblatt noch an einer anderen Stelle im Werk, das Publikum wird also neben Fremdheitsmarkern wie Anthropophagie, Nacktheit und Hängematten auch mit einer unüberwindbaren Sprachdifferenz konfrontiert. Dabei geht es mehr um Fremdheitseffekte als um ein Postulat der Unübersetzbarkeit, denn im Laufe des Werkes thematisiert und überwindet Staden die Sprachbarriere ausdrücklich, etwa wenn es im Zuge seiner Gefangenschaft heißt: „Aprasse / Das Wort verstund ich da nicht / es heist aber tantzen“.Footnote 18 Mit Lawrence Venuti lässt sich dieses Vorgehen als exoticizing translation bezeichnen, denn im Unterschied zu einer foreignizing translation werden hier Werte, Glaubenssätze und Repräsentationen von Stadens Publikum nicht in Frage gestellt. Stattdessen erzeugt sie

a translation effect that signifies cultural difference, usually with reference to specific features of the foreign culture ranging from geography, customs, and cuisine to historical figures and events, along with the retention of foreign place names and proper names as well as the odd foreign word.Footnote 19

Neben der Exotisierung kann das Verfahren, Begriffe oder auch ganze Sätze zunächst in der Sprache der Tupi vorzustellen und dann zu übersetzen, als ein rhetorisches Mittel zur Spannungssteigerung verstanden werden, bei dem das Publikum für einen Moment im Ungewissen über das Geschehen gelassen wird.

Vor allem aber verstärkt es die Rolle des Erzählers Hans Staden als Vermittler der Ereignisse. Er selbst betont seine Augenzeugenschaft, wenn er nach der Beschreibung eines anthropophagen Rituals schreibt: „Diß alles hab ich gesehen und bin darbey gewesen“.Footnote 20 Als entsetzter und hilfloser Beobachter wird er nicht nur zur wertenden Instanz, sondern seine Anwesenheit beim Ritual ermöglicht dem Publikum die Einnahme seines Blickwinkels, der durch die Illustrationen, auf denen er zu sehen ist, zusätzlich beglaubigt wird. Dieser Fokus auf das Visuelle im Allgemeinen und auf Stadens Rolle als Zuschauer im Speziellen darf aber die Bedeutung des Akustischen und seine Rolle als Zuhörer nicht überdecken. Staden berichtet von zahlreichen Gesprächen mit Indigenen, außerdem von Gesängen, Kriegsrufen und Klagelauten, für die er der Gewährsmann des Publikums ist, einschließlich der häufig mitgelieferten, aber in der Regel nachgestellten Übersetzungen. Er nennt dabei unter anderem die indigenen Namen von Orten, Völkern, Gegenständen, Tieren und Pflanzen, aber nicht systematisch (wie etwa Jean de Léry, siehe unten), sondern situativ im Kontext ihres jeweiligen Auftauchens in der Erzählung. Staden bedient sich auch selbst der Sprache der Indigenen, beispielsweise wenn nach seiner Gefangennahme den Frauen des Dorfes zurufen muss: „A Iunesche been ermi vramme. Das ist: Ich ewer Essenspeise komme.“Footnote 21 Er lässt auf diese Weise sein Publikum in der Metropole an der indigenen Sprache teilhaben, fungiert also als go-between zwischen den verschiedenen kulturellen und sprachlichen Sphären, wie Alida Metcalf herausgearbeitet hat: „a traveler and cultural intermediary; a translator and an interpreter of one world to another“.Footnote 22 Die Aneignung der indigenen Sprache als rhetorisches Mittel durch den Vertreter der Metropole ist dabei das Gegenstück zu postkolonialen Schreibstrategien, bei denen die Verwendung unübersetzter Begriffe durch Autor*innen der kolonisierten Kultur in der Sprache der Metropole als widerständiger Akt verstanden wird.Footnote 23 Staden bleibt zudem stets in seiner Rolle als gate-keeper, der entscheidet, welche Informationen dem Publikum präsentiert werden. So stammt das vermittelte Vokabular vorrangig aus den Themenbereichen, die ohnehin vorherrschend sind, nämlich Anthropophagie und Idolatrie.

Ganz anders geht der spätere calvinistische Geistliche Jean de Léry vor, der kurz nach Staden in Brasilien war, allerdings auf der anderen Seite des aus Europa importierten Konflikts von Spaniern und Portugiesen mit den Franzosen.Footnote 24 Das hält die de Brys jedoch nicht davon ab, seinen Bericht, der erstmals 1578 auf Französisch veröffentlicht wurde, neben Stadens Text im dritten Band ihrer Sammlung abzudrucken. Léry lebte als Gast unter den Tupinamba und sein Bericht enthält ein langes Kapitel, das ein Gespräch zwischen ihm und einem Indigenen zweisprachig wiedergibt. Zur Betonung der Authentizität verweist Léry auf die Hilfe eines „Dolmetschen / der die Americanische Sprach perfect außreden kundt“.Footnote 25 In dem Gespräch präsentiert Léry nicht nur Begrüßungsfloskeln für einen friedlichen Erstkontakt, sondern führt lange, zweisprachige Listen an Nahrungsmitteln, Pflanzen, Tieren, meteorologischen Phänomenen, Körperteilen und Verwandtschaftsbeziehungen; dazu kommt ein kurzer Grammatikteil mit Beispielen. Wo Staden also seinem Publikum nur einen engen Einblick in die Sprache der Tupinamba bietet, der zudem auf die Bereiche konzentriert ist, in denen Momente von Alterität besonders ausgeprägt sind – indigener Glauben und Anthropophagie –, eröffnet Léry verschiedene Dialogmöglichkeiten, indem er seinem Publikum das nötige Werkzeug für ein zumindest rudimentäres Gespräch an die Hand gibt. Auch wenn nur äußerst wenige Leser*innen von Lérys Werk das so erworbene Wissen tatsächlich praktisch genutzt haben dürften und die Aufnahme des Gesprächs in Text wohl eher als Ausweis seiner ethnographischen Autorität gedient hat,Footnote 26 bietet Léry seinem Publikum hier eine Möglichkeit zur Annäherung an die Tupinamba.

Léry übersetzt aber nicht nur die indigene Sprache, er ordnet auch indigene Praktiken wesentlich klarer in einen europäischen Kontext ein, als es bei Hans Staden der Fall ist. Wie schon bei der Sprache wahrt Staden die Distanz und macht kulturelle Praktiken zu Markern von Fremdheit. Léry hingegen macht Bezüge zu europäischem Verhalten selbst dort explizit, wo es um eindeutig negativ konnotierte Aspekte wie Teufelsbesessenheit oder Anthropophagie geht. Die Teufelsbesessenheit thematisiert Léry im Kontext der religiösen Vorstellungen und Bräuche der Tupinamba, wo er einen rituellen Gesang folgendermaßen beschreibt:

Da hörten wir die Weiber eben dasselbige Wörtlein darauff so baldt mit zitternder Stimme repetirn, und nachsingen / he he he, etc. […] Sie heuleten nicht allein uber die massen grewlich / sondern sprangen darzu auch mit gewalt auff / zerschüttelten die Brüste / hatten einen Schaum vor dem Maul / und etliche fielen auff den Boden / nicht anderß als wenn sie die grosse Kranckheiten hetten. Darumb ich gäntzlich glaubte / der Teuffel sey damals gar in sie gefahren / und seyen so baldt besessen worden.Footnote 27

Es ist offensichtlich, dass hier Beschreibungstopoi europäischer Hexen anklingen, was Léry mit intertextuellen Verweisen auf Jean Bodins Démonomanie des Sorciers (1580) belegt, dessen Abhandlungen über den Hexensabbat Léry im Folgenden zitiert.Footnote 28 Denn Hexen, so liest Léry bei Bodin, kämen nie zusammen, ohne zu tanzen, wobei „sie alle mit einander schreyen / Har / Har / welches denn gar wol mit unserem Americanischen he, he, ubereinstimmet.“Footnote 29

Auch die Anthropophagie ist nicht auf die Indigenen beschränkt. Ausführlich berichtet Léry von historischen europäischen Beispielen, die, wie er ausdrücklich schreibt, das böse Verhalten der Indios mildern, also die essentialistische Differenz nivellieren und Europäer und indigene Amerikaner einander annähern.Footnote 30 Darüber hinaus greift er in seinen Werken wiederholt auf eigene Erfahrungen während der Belagerung von Sancerre zurück, wo eine hungernde Familie ihr gestorbenes Kind verzehrt hatte. Léry lässt keinen Zweifel an seinem Abscheu und vermutet eine teuflische Eingebung – wiederum klingen hier Elemente europäischer Hexenangst an, wenn es in seiner Darstellung eine alte Frau ist, die ihrem Mann den Plan vorschlägt.Footnote 31 Auch in Amerika beschreibt Léry die alten Frauen als diejenigen, die mit dem größten Genuss am kannibalistischen Ritus teilnehmen, während das zentrale Motiv der Männer die Rache an ihren Feinden ist. Léry unterscheidet also zwei Formen von Anthropophagie anhand der damit verbundenen Motivation: Einerseits Hunger oder auch die Lust am Verzehr von Menschen, also das Verzehren zum Selbstzweck; andererseits Rache, die das Verzehren auf einen symbolischen Akt reduziert.Footnote 32

3.4 Anthropophage Eucharistie

Léry differenziert hier das Stereotyp des indigenen Kannibalen und stärkt damit zugleich seine koloniale Position in mehrfacher Hinsicht: Zum einen sichert erst die Ambivalenz die Wiederholbarkeit des Stereotyps in sich wandelnden Kontexten und Diskursen.Footnote 33 Zum anderen verlagert Léry die essentialistische Differenz zwischen Europäern und amerikanischen Indigenen auf Protestanten und Katholiken, wobei er die legitime Herrschaft über die Kolonien den Protestanten zuspricht.Footnote 34 In seiner Diskussion der verschiedenen Formen von Anthropophagie klingt zudem ein Nachhall jener Debatte über das richtige Verständnis der Eucharistie an, die zum Konflikt innerhalb der französischen Kolonie führte. Léry gehörte zu einer Gruppe reformierter Kolonisten, die streng der Lehre Johannes Calvins folgten, während die Anführer der Kolonie, vor allem Nicolas Durand de Villegagnon, zwischen den Konfessionen schwankten. Villegagnon hielt auch an dem Dogma der Realpräsenz Christi in Brot und Wein fest, das von den Calvinisten strikt abgelehnt wurde. Léry, der sich auf rhetorische Lesarten der Bibel verstand und den Frank Lestringant als „‚tropist‘, a lover of tropes“Footnote 35 bezeichnet hat, findet drastische Worte: „non seulement ils vouloyent manger grossierement plustost que spirituellement la chair de Iesus Christ, mais que pis est à la maniere des Sauvages nommez Ou-etacas, […] ils la vouloyent mascher & avaler toute crue.“Footnote 36; ‚sie wollten das Fleisch Christi nicht nur in grober statt in geistlicher Weise essen, sondern, was noch schlimmer ist, sie wollten es wie die Wilden namens Ouetaka […] roh kauen und schlucken.‘

Die Ouetaka, von denen Léry an anderer Stelle berichtet, sie würden das Fleisch ihrer getöteten Feinde roh verzehren, werden von ihm deutlich an jenem Ende des anthopophagen Spektrums verortet, an dem Hunger und die Lust am Verzehr die bestimmenden Motivationen sind. Nicht nur vergleicht Léry hier also die katholische Eucharistie, bei der Villegagnon und seine Anhänger das Fleisch – nicht den Leib! – Christi tatsächlich essen wollen, statt ihn nur geistlich aufzunehmen, mit der Anthropophagie, er vergleicht sie auch noch mit der schlimmsten Form von Anthropophagie, die sich neben der Lust am Verzehr auch durch den Verzicht auf die Kulturtechnik des Kochens auszeichnet. Die Verknüpfung von Anthropophagie und katholischer Eucharistie findet sich häufig in der konfessionellen Propaganda der Frühen Neuzeit, Léry zeichnet hier aber ein komplexeres Bild.Footnote 37 Der Realpräsenz, die hier mit dem Volk der Ouetaka verknüpft wird, steht ein rhetorisches, metonymisches Verständnis gegenüber, das in Brot und Wein nur Zeichen für den Leib und das Blut Christi sieht. Diese Sichtweise überträgt Léry nun auf die Anthropophagie der Tupinamba, die in dem verspeisten Fleisch ihrer Feinde nur einen symbolischen Akt von Rache sähen.

Ich habe obenstehende Passage auf Französisch zitiert, weil sie in den Fassungen der de Brys fehlt. In der deutschen Ausgabe betrifft das nur diesen Satz, in der lateinischen Ausgabe fehlt das ganze Kapitel mit den theologischen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen. In beiden Fällen ist die Vorlage der de Brys eine lateinische Ausgabe, die 1586 von dem calvinistischen Pastor Urbain Chauveton in Genf herausgegeben wurde.Footnote 38 Die lateinische Fassung der de Brys weist dabei wesentlich mehr Streichungen und Änderungen auf als die deutsche Übersetzung, die – ebenso wie die Übersetzung von Stadens Bericht ins Lateinische – von dem Dichter und Arzt Johann Adam Lonicer angefertigt wurde. Der Grund für die zusätzlichen Streichungen dürfte zum einen die Orientierung am europäischen – und damit potentiell auch katholischen – Lesepublikum sein, zum anderen die Angst vor einer Zensur des Werkes.Footnote 39 Gestrichen wurden die theologischen Debatten rund um die Eucharistie, Angriffe auf Nicolas Durand de Villegagnon, eine Lobrede auf Calvin, ein Bericht über die Gräueltaten der Bartholomäusnacht sowie der 107. Psalm, ein Grundpfeiler calvinistischer Theologie, der in der Vorrede sowohl der Vorlage als auch der deutschen Fassung zur Gänze abgedruckt ist. Insgesamt wurde Lérys Text für die lateinische Ausgabe der de Brys um rund 22 Seiten gekürzt, immerhin ein Zehntel des gesamten Werkes.

Die de Brys streichen aber nicht nur konfessionell problematische Passagen, sie rahmen die Texte auch neu. Zwischen den beiden Werken von Staden und Léry, die nebeneinander im dritten Band der India Occidentalis-Sammlung abgedruckt wurden, besteht keine direkte Verbindung; ihre Gemeinsamkeiten bei der Beschreibung Brasiliens und der indigenen Bevölkerung beruhen darauf, dass sich beide Verfasser in den 1550er Jahren in einer ähnlichen Region aufgehalten und daher ähnliche Beobachtungen angestellt haben. Dennoch verknüpft Theodor de Bry die beiden Texte in seiner Vorrede miteinander, indem er das Gottvertrauen der Verfasser hervorhebt. Er fordert die Leser*innen auf, sie sollten Gott für seine Barmherzigkeit danken, und nennt als Exempel die beiden Autoren, „deren der eine ein geborner Teutscher / der ander aber ein Frantzose gewesen / welche von wegen ihres glaubens unnd vertrawens / daß sie auff Gott gesetzt / von vielen gefährlichkeiten deß Todtes seind erlediget worden.“Footnote 40 De Bry greift damit auf den grundlegenden – und dezidiert protestantischen – Diskurs von Stadens Werk voraus, der die Befreiung aus seiner Gefangenschaft bei den Indigenen Gottes Macht zuschreibt. Für Jean de Léry fehlt eine entsprechende Errettungssituation aus den Händen der Indios, hier finden die wesentlichen Konflikte zwischen den protestantischen und den katholischen Siedlern der französischen Kolonie statt. Unter Verweis auf die Hinrichtung dreier Protestanten sieht Erich Hassinger in der Abfassung des Werkes allerdings durchaus die Absicht Lérys, „Zeugnis von seinem Glauben abzulegen und kundzutun, daß er allein durch Gottes besondere Gnade davor bewahrt blieb, das Schicksal der drei hingerichteten Glaubensgenossen erleiden zu müssen.“Footnote 41 Da Theodor de Bry die „gefährlichkeiten deß Todtes“, vor denen Gott die beiden Autoren bewahrt habe, nicht genauer benennt, werden die Errettungssituationen von Staden und Léry gleichgesetzt – Indios und Katholiken werden also gleichermaßen zur Bedrohung für die beiden Autoren stilisiert. Ohne eine explizit konfessionelle Aussage zu treffen, stellt Theodor de Bry so seine beiden protestantischen Autoren gemeinsam unter den besonderen Schutz Gottes.

3.5 Das Unglück der Anderen

Wegen dieser und ähnlicher Passagen hat die Forschung die India Occidentalis-Sammlung lange als ein protestantisches Propagandawerkzeug betrachtet und den de Brys in erster Linie konfessionspolitische Motive zugeschrieben.Footnote 42 Michiel van Groesen hat dagegen überzeugend dargelegt, dass für die Verleger wirtschaftliche Interessen im Vordergrund standen und konfessionelle Invektiven sogar eher abgeschwächt denn hervorgehoben wurden, um einen Absatz der Bücher auch in katholischen Regionen zu ermöglichen.Footnote 43 Neben den oben genannten Eingriffen in das Werk Jean de Lérys streichen die de Bry beispielsweise in der Vorrede zum Werk von Hans Staden im Kontext einer Kritik an Heiligenanrufungen in Notlagen den Passus „nach papistischer weise“Footnote 44. In den India Occidentalis-Bänden IV–VI, die die Historia del Mondo Nuovo von Girolamo Benzoni enthalten, wurden zwar viele der anti-katholischen Angriffe im Text übernommen, für die prominenten Bildunterschriften hingegen – die Charles de l’Escluse im Auftrag der de Brys angefertigte – wurden polemische Verweise auf den Papst und die Jungfrau Maria nicht aufgegriffen.Footnote 45 Das heißt aber natürlich nicht, dass konfessionelle oder politische Momente keine Rolle bei der Publikation gespielt hätten, sowohl für die de Brys als auch für deren Umfeld. So hat der englische Geograph und Geistliche Richard Hakluyt massiv auf die Entstehung der ersten beiden India Occidentalis-Bände – über die englische Kolonie in Virginia und die französische Kolonie in Florida – eingewirkt und die Publikation der Sammlung erst angestoßen.Footnote 46 Hakluyt war maßgeblich an der Etablierung einer englischen Präsenz in Amerika beteiligt, nicht zuletzt durch seine verlegerische Arbeit. Welche konkreten Interessen Hakluyt mit der Veröffentlichung von Reiseberichten verband, zeigt sich an einer von ihm besorgten Ausgabe von René de Laudonnières Werk, das die Konflikte der Franzosen mit den Spaniern und letztlich den Untergang der französischen Kolonie in Florida schildert. Erstmals 1586 auf Französisch gedruckt, wurde der Text bereits ein Jahr später ins Englische übersetzt. In dem Vorwort der englischen Ausgabe schreibt Hakluyt über das desaströse Ende der französischen Kolonie: „Other mens misfortune ought to be our warning.“Footnote 47. Hakluyt tritt hier als Mahner auf, der vor einem kolonialen Konflikt mit den Spaniern warnt und seine Position durch die Verbreitung eines abschreckenden Beispiels zu stützen sucht. Zugleich betont er individuelle Fehler auf französischer Seite, die zum Untergang der Kolonie beigetragen haben, sodass zwar einerseits Franzosen und Engländer durch die Kontrastierung mit den Spaniern in eins gesetzt werden, anderseits aber die Möglichkeit offengehalten wird, durch besonnenes Verhalten dem französischen Schicksal zu entgehen.

Die de Brys drucken den Bericht Laudonnières im zweiten Band ihrer India Occidentalis-Sammlung ab, zusammen mit handschriftlichen Aufzeichnungen des Malers Jacques Le Moyne, der an einer der Fahrten Laudonnières teilgenommen hatte. Die Zusammenstellung des Materials dürfte Charles de l’Escluse vorgenommen haben, der auch als Übersetzer ins Lateinische fungierte. Auch in der Ausgabe der de Brys liegt ein Schwerpunkt auf individuellem Fehlverhalten und den daraus resultierenden Konsequenzen, nicht nur für Laudonnière und die Kolonie im Ganzen, sondern beispielsweise auch für den französischen Händler Pierre Gambie: Die verschiedenen Vorlagen stellen die Ereignisse etwas unterschiedlich dar; l’Escluse folgt aber den Aufzeichnungen Le Moynes, der in dem tyrannischen Auftreten des Händlers den Grund dafür sieht, dass dieser die Gunst der Indios verlor und schließlich von ihnen umgebracht wurde.Footnote 48 Damit werden die Ereignisse zur Metapher für das Fehlverhalten der französischen Kolonisten, die zum Bruch mit den Indios und damit letztlich zum Untergang der Kolonie führten. Die französischen Verfehlungen bilden das Scharnier zwischen den Auseinandersetzungen mit den Indigenen und den Konflikten mit den Spaniern und stellen somit eine wichtige Klammer zwischen den verschiedenen Teilen des India Occidentalis-Bandes dar. Sogar der von den de Brys vorangestellte Kupferstich, der Noahs Brandopfer zeigt, kann in diesem Kontext gelesen werden: Das Fehlverhalten seines Sohnes Cham führt zu Noahs Fluch über dessen Nachkommen, zu denen, wie Theodor de Bry in der Vorrede explizit schreibt, auch die indigene Bevölkerung Amerikas zählt.Footnote 49 Dieses moralisch-genealogische Programm bietet eine ‚neutrale‘ Lesart des Stiches an, der in der Forschung vielfach als konfessionelle Botschaft aufgefasst wurde – Amerika als sicherer Zufluchtsort für die verfolgten Protestanten, ein gelobtes Land, in dem ein neuer Bund mit Gott möglich wird.Footnote 50 So wie die de Brys hier eine eindeutig konfessionelle Festlegung umgehen, so vermeiden sie auch den expliziten politischen Kontext, den Laudonnières Werk in der Fassung von Hakluyt noch hatte.

Eine bemerkenswerte Parallele hierzu ist die Vereinnahmung der Brevíssima relación des spanischen Dominikaners Bartolomé de Las Casas durch anti-spanische Kreise in Frankreich und in den Niederlanden. Die Brevíssima relación entstand Anfang der 1550er Jahre im Kontext der Disputationen von Valladolid, bei denen ein innerspanischer Richtungsstreit über den Umgang mit der indigenen Bevölkerung ausgetragen wurde.Footnote 51 Las Casas spricht in seinem Werk für die kolonialisierten Subjekte und setzt sich für ihren Schutz ein, er spricht aber auch für sie, in dem Sinne, dass die Indios selbst kaum zu Wort kommen. Spivaks berühmte Frage, ob die Subalternen sprechen können, muss für diesen Fall klar verneint werden, es bedarf hier eines Vertreters der Metropole, der sie repräsentiert.Footnote 52

Bei aller Kritik, die Las Casas vorbringt, dürfte es aber kaum in seinem Sinne gewesen sein, dass das Werk später kanonischen Status unter den Texten des anti-spanischen Widerstandes erlangte. Dafür wurde die Brevíssima relación nicht mehr ‚nur‘ als Anklage gelesen, sondern auch als Warnung, dass einer von Spanien unterworfenen Bevölkerung in Europa ein ähnliches Schicksal bevorstünde.Footnote 53 Aus dieser Funktionalisierung des Textes für die innereuropäischen Konflikte erklärt sich die Verbreitung des Textes seit Ende der 1570er Jahre, als sie zunächst ins Niederländische und dann ins Französische und Englische übersetzt wurde. So sind der ersten französischen Übersetzung, die von dem flandrischen Geistlichen Jacques de Miggrode übersetzt und 1579 in Antwerpen gedruckt wurde, Verse vorangestellt, die das Publikum auffordern, aus dem Leiden der Indios ihre Lehren zu ziehen: „Heureux celuy qui devient sage / En voyant d’autruy le dommage.“Footnote 54; ‚Glücklich ist, wer weise wird, wenn er den Schaden anderer sieht.‘ Die kolonialen Gräueltaten waren fester Bestandteil der leyenda negra, wobei aber die Kritik am kolonialen Terror nicht als genuine Sorge um das Wohl der Indios gelesen werden sollte. Vielmehr findet auch hier in der Gegenüberstellung zu den spanischen Eroberern eine diskursive Parallelsetzung der indigenen Bevölkerung Amerikas und der Bevölkerung in Frankreich und den Niederlanden statt.

Auch die Brevíssima relación wurde von den de Brys gedruckt, aber nicht als Teil der großformatigen India Occidentalis-Serie, sondern – 1598 auf Latein und 1599 auf Deutsch – im Quartformat. Es ist plausibel, dass die de Brys sich wegen des kontroversen Inhalts und vor allem wegen der Rezeption des Werkes als anti-spanische Propagandaschrift dagegen entschieden haben, es in die Sammlung aufzunehmen. Die Sorge vor einer Zensur des Werkes, die möglicherweise die gesamte India Occidentalis-Serie gefährdet hätte, dürfte hier entscheidend gewesen sein.Footnote 55 Interessant sind dennoch die Unterschiede zwischen der deutschen und der lateinischen Ausgabe, die einen Hinweis auf die Ausrichtung der de Bryschen Publikationen in den beiden Sprachen liefern. Bei der deutschen Ausgabe handelt es sich um eine Übersetzung der französischen Fassung von 1579. Zwar fehlt der zuvor zitierte Vers auf dem Titelblatt, aber schon der Titel lässt keinen Zweifel an der Botschaft der Ausgabe: „Warhafftiger und gründtlicher Bericht der Hispanier grewlichen / und abschewlichen Tyranney / von ihnen in den West Indien / so die Neuwe Welt genennet wirt / begangen […]“.Footnote 56 Auch das Vorwort von Jacques de Miggrode wurde von den de Brys übernommen, einschließlich programmatischer Passagen wie dieser:

Zu dieser Vorrede aber / welche ich an alle Provintzen der Niderlande gerichtet / haben mich zwo ursachen bewogen: Die erste / daß sie doch einmal von irem teiffen Schlaff auffwachen / und sich auffmuntern / auch anfangen möchten / an Gottes urteil und gericht zugedencken […] Die andere / daß sie fleissiger betrachten wollten / mit was für einem Feinde sie zuthun haben / und daß sie gleich / wie auff einer taffel / für inen abgemahlet sehen / was ir thun für einen außgang erreichen werde […] und was sie als dann zugewarten haben.Footnote 57

Das Werk wird also von den de Brys in seinem ursprünglichen politischen Kontext belassen, ungeachtet der zwanzig Jahre, die seit der Publikation ihrer Vorlage vergangen sind und ungeachtet auch des veränderten Publikums durch die Übersetzung ins Deutsche. Es dürfte sich hierbei um die Veröffentlichung mit der explizitesten politischen Botschaft handeln, die in den Anfangsjahren der Offizin gedruckt wurde – was eine mögliche Erklärung dafür ist, dass sich weder der Name der Verleger noch der des Übersetzers auf dem Titel finden. Die lateinische Ausgabe verwendet interessanterweise dieselbe Illustration wie die deutsche Fassung, allerdings steht hier der Name der Verleger auf dem Titelblatt. Johann Theodor und Johann Israel de Bry, die Söhne Theodor de Brys, haben zudem ein eigenes Widmungsschreiben hinzugefügt, in dem sie ausdrücklich auf die Amerikaberichte verweisen, die ihr kürzlich verstorbener Vater herausgegeben hatte.Footnote 58 Der Grund dafür, dass die de Brys sich nicht scheuen, die lateinische Fassung mit ihrer Werkstatt und der India Occidentalis-Sammlung zu verknüpfen, dürfte in der Wahl der Vorlage liegen: Nicht Jacques de Miggrodes polemische Übersetzung dient ihnen hier als Vorlage, sondern die editio princeps, die 1552 in Sevilla gedruckt wurde.Footnote 59 Natürlich vermeiden die de Brys mit der Wahl der lateinischen Erstausgabe einen zusätzlichen Arbeitsschritt – nämlich die (Rück-)Übersetzung ins Lateinische –, zugleich befreien sie ihre Publikation aber von dem politischen Ballast der Miggrode-Ausgabe, was der entscheidende Grund gewesen sein dürfte. Zum einen war die lateinische Ausgabe, wie eingangs erwähnt, für den europäischen Buchmarkt bestimmt, also für ein breiteres und durchaus nicht nur protestantisches Publikum. Zum anderen dürften die iberische und katholische Zensur das Werk weniger kritisch betrachtet haben, wenn es keine Anzeichen einer politischen Funktionalisierung aufwies.

3.6 Fazit

Die präsentierten Beispiele vermitteln einen Eindruck von der Komplexität der Übersetzungsprozesse in der India Occidentalis-Sammlung und von der vielschichtigen Funktionalisierung der Texte im Zuge dieser Prozesse. Ebenso wie die Verfasser der abgedruckten Texte ihrer Position als Vermittler und Übersetzer indigener Sprache und Kultur nutzen, um Fremdheit oder Nähe, essentialistische Differenz oder Zugehörigkeit zur Menschheitsfamilie zu markieren, nutzten die de Brys ihre Rolle als gate-keeper bei der Auswahl, Anordnung, Bearbeitung, Kontextualisierung und Übersetzung der Texte. Durch die Zusammenstellung der Texte und durch vermeintlich beiläufige Rahmung in den Vorreden gelang es den de Brys, neue Bedeutungsebenen zu schaffen, die durchaus in konfessioneller Hinsicht gelesen werden können.Footnote 60 Ihr oberstes Ziel scheint aber – wenig überraschend für eine Familie von Verlegern und Kupferstechern – der Markterfolg ihrer Publikationen gewesen zu sein, und für dieses Ziel waren die de Brys bereit, radikal in die Texte einzugreifen und potentiell problematische Passagen zu streichen. Die vorgestellten Eingriffe etwa in das Werk Jean de Lérys zeigen, wie selbstbewusst sich die de Brys ihr Material aneigneten und an das jeweilige Zielpublikum anpassten. Dazu gehören wie gezeigt Übersetzungen in eine andere Sprache, aber eben auch Übersetzungen in andere kulturelle, konfessionelle und politische Kontexte.