Ende 1681 erwarb König Karl II. von England das etwas außerhalb von London gelegene „Chelsey College“ und ließ auf dessen Terrain ab 1682 ein Heim für Kriegsveteranen errichten.Footnote 1 Als Vorbild für die neue Institution, die fortan als Royal Hospital bezeichnet wurde, diente das 1671 von Ludwig XIV. gegründete Hôtel des Invalides in Paris.Footnote 2 Etwa 1687 oder 1688 konzipierte Antonio Verrio für den großen Speise- und Versammlungssaal des Hospitals in Chelsea ein programmatisches Wandbild (Abb. 14.1), das ‒ so die hier vertretene These ‒ nicht nur den Stifter würdigen sollte, sondern auch die politische und kulturelle Konkurrenz zwischen England und Frankreich in der Spätphase der Stuart-Herrschaft veranschaulichte.

Abb. 14.1
figure 1

(Aus Worsley (2007), S. 57)

Antonio Verrio und Gehilfen (vollendet von Henry Cooke), Wandbild in der Great Hall des Royal Hospital in Chelsea, ca. 1687‒1692.

Das Wandbild nimmt mit einem imposanten Format von 4,5 × 7,5 Metern die gesamte Breite der westlichen Schmalseite in der Great Hall ein. Der aus Süditalien stammende Maler Antonio Verrio hatte sich durch Studienaufenthalte in Neapel, Rom, Florenz und Paris mit den aktuellsten Tendenzen der Gegenwartskunst vertraut gemacht und war in jener Zeit der wichtigste Hofkünstler Englands.Footnote 3 Die repräsentative Ausgestaltung des Royal Hospital besaß ein entsprechend hohes Prestige, ist erstaunlicherweise aber bis heute von der Forschung quasi unbeachtet geblieben.Footnote 4

Die in diesem Beitrag vorgestellte neue Interpretation des Gemäldes basiert auf der Analyse von drei verschiedenen Arten von Übersetzungsprozessen. Zunächst wird die interlinguale Übersetzung von Roland Fréart de Chambrays Parallèle de l’architecture antique et de la moderne besprochen und deren politische Funktion thematisiert. Danach rücken bildkünstlerische Übersetzungsleistungen in den Blick. Dabei wird unterschieden zwischen intramedialen Übersetzungen (innerhalb desselben künstlerischen Mediums) und intermedialen Übersetzungen (von einem Medium in ein anderes, z. B. von Graphik in Architektur sowie von Skulptur in Malerei).

Die Verwendung des Begriffs ‚Übersetzung‘ in einem kunsthistorischen Kontext mag zunächst ungewohnt erscheinen. Etablierter ist es, von Rezeption oder Transfer zu sprechen. Beide Begriffe werden der Thematik des vorliegenden Texts jedoch weniger gut gerecht. Während ‚Rezeption‘ etymologisch eine passive Aufnahme fremder Vorbilder impliziert, besitzt der Begriff ‚Übersetzung‘ einen deutlich aktiveren Charakter und ist daher besser geeignet, die kreative, modifizierende Übertragungsleistung des Künstlers zu fassen. Und wenngleich die im Folgenden besprochenen Phänomene durchaus auch als ‚Transfer von Ideen‘ klassifiziert werden könnten, erlaubt es die oben eingeführte terminologische Differenzierung, genauer zwischen verschiedenen Arten von Übertragungsprozessen zu unterscheiden. Indem von interlingualen, inter- und intramedialen Übersetzungen die Rede ist, wird der generelle Begriff des ‚Ideentransfers‘ präzisiert durch eine Fokussierung auf die unterschiedlichen Medien, in denen dieser Transfer stattfindet.Footnote 5

Ausgehend von einer genauen Betrachtung des Wandbilds im Royal Hospital von Chelsea, möchte ich drei Thesen zur Diskussion stellen, die ‚Übersetzungspolitiken‘ und somit das Leitthema des vorliegenden Bandes betreffen:

  1. 1.

    John Evelyns englische Übersetzung von Roland Fréart de Chambrays Parallèle de l’architecture antique et de la moderne bildet einen Referenzrahmen, der einen neuen Zugang zum Verständnis bestimmter künstlerischer Gestaltungsmerkmale des Royal Hospital eröffnet.

  2. 2.

    Antonio Verrios Wandbild ‚übersetzt‘ die Querelle des Anciens et des Modernes in eine bildliche Form.

  3. 3.

    Im Kontext der urbanistischen Neukonzeption von ‚Restoration London‘ akzentuieren die von Verrio vollzogenen intra- und intermedialen Übersetzungsprozesse die politische und kulturelle Konkurrenz zwischen England und Frankreich in der Spätphase der Stuart-Herrschaft.Footnote 6

Wegen des unzureichenden Forschungsstands ist es zunächst erforderlich, die Ikonographie des Gemäldes zu erörtern. Es sei vorausgeschickt, dass das Werk zwei Signaturen trägt, und zwar von Verrios Werkstattmitarbeiter Gerard Lanscroon und von seinem Konkurrenten Henry Cooke.Footnote 7 Dies erklärt sich daraus, dass Antonio Verrio nach der sogenannten ‚Glorious Revolution‘ als Katholik und früherer Hofkünstler in Ungnade fiel. Daher erhielt 1689 Henry Cooke den Auftrag, das Wandbild fertigzustellen. Spätestens 1692 dürften die Arbeiten abgeschlossen gewesen sein.Footnote 8 Zahlungsdokumente belegen jedoch, dass Verrio zuvor bereits einen beträchtlichen Teil des Gemäldes ausgeführt hatte und dass somit auch die Konzeption des Werks von ihm stammt.Footnote 9 Insofern werde ich das Bild im Folgenden als ein Werk Verrios besprechen, auch wenn es dabei zu bedenken gilt, dass mehrere Künstler an der Ausführung beteiligt waren.

14.1 Zur Ikonographie von Verrios Wandbild

Die einzige Künstlermonographie, die einen Überblick über das Œuvre Antonio Verrios gibt, behandelt sein Wandbild im Royal Hospital von Chelsea nur knapp und behauptet, der Monarch im Zentrum des Gemäldes sei Jakob II.Footnote 10 Dies liegt insofern nahe, als Verrio seine Arbeit an dem Wandbild während der Regierungszeit Jakobs II. aufnahm.Footnote 11 Dennoch kann es nicht stimmen, denn über dem Kopf des Königs befindet sich ein Monogramm aus zwei ineinander verschlungenen Buchstaben C (s. Abb. 14.1) ‒ ein klarer Verweis auf Charles II. bzw. Karl II. Da Karls Rolle als Gründer der Institution auch in der Inschriftkartusche zu Füßen des Monarchen gewürdigt wird, handelt es sich um eine posthume Ehrung des 1685 verstorbenen Königs.Footnote 12

Vor dem Hintergrund des Royal Hospital kommt uns Karl II. in Rüstung und hoch zu Ross entgegen. Scheinbar mühelos triumphiert er über ein vielköpfiges Fabelwesen ‒ die Lernäische Hydra, die Herkules im Lauf seiner zwölf Arbeiten überwinden musste. Die Hydra kann in der barocken Kunst sowohl für innen- als auch für außenpolitische Gegner stehen.Footnote 13 In Anspielung auf den englischen Nationalheiligen Georg, den Drachentöter, präsentiert Verrio Karl II. hier als einen Monarchen, der alle Widersacher ohne Probleme im Griff hat.

Zu beiden Seiten des Königs lagern zwei Gruppen allegorischer Personen. Sie werden optisch durch die in der Luft schwebenden Figuren miteinander verbunden, so dass der König von einer dreiecksförmigen Komposition umschlossen ist. Im Zentrum der linken Gruppe befindet sich die Themse, personifiziert als antiker Flussgott. Das Füllhorn und die große Muschel verweisen auf den Reichtum, den London aus dem Fernhandel bezieht.Footnote 14

Die Figurengruppe, die in der linken Bildhälfte zum Himmel emporsteigt, veranschaulicht die Tugenden des Königs. Die vier Kardinaltugenden sind durch ihre Attribute leicht zu erkennen.Footnote 15 Die Frau mit dem gelben Gewand ist Temperantia (Mäßigung), die Wasser in den Wein gießt. Darüber schwebt Prudentia (Klugheit) mit ihrem Standard-Attribut, der Schlange. Justitia (die weiß gewandete Frau mit Richtschwert und Waage) wendet sich dem Hospital zu, während Fortitudo (Stärke) nicht wie üblich von einer Frau verkörpert wird, sondern uns hier in der Gestalt des Herkules entgegentritt.

Herkules und die geflügelte Siegesgöttin Victoria bekrönen Karl II. mit einem Lorbeerkranz. Dieser umschließt optisch den Globus, der auf der gebauten Laterne über dem Vestibül des Hospitals angebracht wurde.Footnote 16 Die bildliche Verzahnung verbindet den König mit der von ihm gegründeten Institution und impliziert, dass auch die Bewohner des Hospitals einen entscheidenden Anteil an den Siegen des Königs hatten. Für die Veteranen, die sich vor diesem Bild zu ihren Mahlzeiten versammelten, war das Gemälde ein sinnstiftendes Angebot: Es veranschaulichte die Bedeutung des Monarchen, in dessen Dienst sie ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel gesetzt hatten.

In den beiden oberen Ecken des Gemäldes schweben allerhand Putten und zwei geflügelte Personifikationen der Fama, die mit ihren Posaunen den Ruhm Karls II. verkünden. Gleichzeitig schlagen sie einen gemalten roten Vorhang zurück und verleihen dem Bild damit den Charakter einer theatralischen revelatio: Den Veteranen und den Besuchern des Royal Hospital wird eine allegorische Wahrheit enthüllt, die den Augen normalerweise verborgen bleibt.Footnote 17 Diese Wahrheit betrifft nicht nur die Tugenden des Königs, die hier ein anschauliches Gesicht bekommen, sondern auch die Macht über seine Feinde (die Hydra) und die Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs. Der von Lorbeer umkränzte Globus impliziert den Anspruch auf Weltherrschaft – ein Thema, das durch die Gruppe in der rechten Bildhälfte noch deutlicher ausgeführt wird.

Personifikationen der damals bekannten vier Kontinente haben sich um einen Globus versammelt, den sie Karl II. mit bewundernden Blicken darzubringen scheinen. Drei der vier Erdteile sind durch ihre Standard-Attribute leicht zu identifizieren.Footnote 18 Im Vordergrund sitzt Europa, besonders hervorgehoben durch ihr Füllhorn und das rote Gewand. Ganz rechts kniet Amerika mit Feder-Kopfschmuck, und hinter ihr steht Afrika, die an einem Elefantenrüssel auf dem Kopf zu erkennen ist. Die inmitten dieser Gruppe knieende Frau mit ockerfarbenem Gewand dürfte folglich Asien sein.Footnote 19

Noch ungedeutet ist bisher die Frau, die links neben dem Globus steht. Sie hat eine wichtige Rolle inne, da sie durch ihre Gesten und Blicke zwischen dem Monarchen und der Welt vermittelt. Wer ist sie?

Die Frau trägt eine Mauerkrone, was sie als Personifikation einer Stadt ausweist. Diese Darstellungskonvention war in England geläufig, denn nach dem verheerenden Stadtbrand von 1666 wurde London wiederholt als eine bekümmert am Boden sitzende Frau mit Mauerkrone dargestellt. Diese Ikonographie findet sich sowohl in der Druckgraphik als auch an dem Monument, das in den 1670er Jahren zur Erinnerung an den Brand errichtet wurde.Footnote 20 Es ist daher naheliegend, dass die grau gekleidete Frau in Verrios Gemälde die stark zerstörte, fast eingeäscherte Stadt London versinnbildlichen soll.

London schaut appellierend in Richtung des Königs. Mit ihrer linken Hand hält sie ein Winkelmaß, das sich wirkungsvoll vor dem hellen Hintergrund abhebt. Dieses Winkelmaß, ein geläufiges Attribut von Personifikationen der Architektur, ist so platziert, dass es die Aufmerksamkeit auf das im Hintergrund dargestellte Gebäude lenkt. Die Betrachter sollen dadurch verstehen, dass das Hospital, in dem sie sich befinden, ein entscheidender Beitrag des Königs zur Erneuerung Londons nach dem Brand ist.

14.2 John Evelyn, Fréart de Chambrays Parallèle und die Erneuerung Londons

Der verheerende Stadtbrand war am 2. September 1666 ausgebrochen und hatte mehrere Tage lang unaufhaltsam gewütet.Footnote 21 Am 13. September 1666 veröffentlichte Karl II. eine Erklärung, in der er den Betroffenen Mut zusprach, zugleich aber einen ungeordneten Wiederaufbau zu verhindern suchte. Er kündigte an, dass schon bald ein „whole design“ für die Stadtplanung vorliegen werde, und versicherte den Londonern, die Stadt sei von dem Feuer nicht zerstört, sondern vielmehr „gereinigt“ worden, so dass sie anschließend in größerer Schönheit neu errichtet werden könne.Footnote 22

Wenig später wurden erste Projekte für den Wiederaufbau vorgelegt.Footnote 23 An den Planungen beteiligte sich auch der vielseitig interessierte Gelehrte John Evelyn, der sich bereits vor dem Brand mit Fragen des Städtebaus auseinandergesetzt hatte.Footnote 24 Beispielsweise argumentierte er 1659 in seinem Character of England, dass die schlechte Luft, die engen Straßen und beengten Wohnverhältnisse ein Grund für die soziale und politische Unruhe in London seien, und kritisierte 1661 in der Publikation Fumifugium erneut die starke Luftverschmutzung in der Metropole.Footnote 25

Durch seine 1664 veröffentlichte Übersetzung von Roland Fréart de Chambrays Parallèle de l’architecture antique et de la moderne machte Evelyn den englischen Bauherren und Architekten einen Text zugänglich, der seiner Ansicht nach geeignet war, einer künftigen Neugestaltung Londons wichtige Impulse zu geben.Footnote 26 Es lohnt sich, diesen Traktat im Kontext des vorliegenden Beitrags genauer zu betrachten, denn Evelyn war von Anfang an in die Planungen für das Royal Hospital in Chelsea involviert.Footnote 27 Zudem hatte er gerade 1680, kurz vor Baubeginn, eine Neuauflage seiner Übersetzung der Parallèle herausgebracht.Footnote 28 Daher ist zu überlegen, inwiefern die darin formulierten Ideen für das Verständnis des Baus und seiner Ausstattung relevant sind.

Gideon Toury hat darauf hingewiesen, dass Übersetzungen von einer Zielkultur oft dann initiiert werden, wenn etwas in dieser Kultur zu fehlen scheint: „there is something ‘missing’ […] which should rather be there and which, luckily, already exists elsewhere, preferably in a prestigious culture, and can be taken advantage of.“Footnote 29 Daher können Übersetzungen die Zielkultur deutlich verändern: „translation activities and their products not only can, but very often do cause changes in the target culture. Indeed, it is in their very nature. After all, cultures resort to translating precisely as a way of filling in gaps, whenever and wherever such gaps may manifest themselves.“Footnote 30 Worin bestand also die Lücke, die John Evelyn durch seine Übersetzung zu schließen suchte? Was wollte er seinen englischen Zeitgenossen dadurch vermitteln?

Die französische Erstausgabe der Parallèle de l’architecture antique et de la moderne erschien 1650 in Paris und ist, wie der Untertitel verrät, ein Traktat über die antiken Säulenordnungen.Footnote 31 Die Aussagen italienischer und französischer Architekturtheoretiker, die im 16. und 17. Jahrhundert über Säulenordnungen geschrieben haben, werden kritisch miteinander verglichen und durch Illustrationen veranschaulicht. Obwohl der Titel einen Vergleich von antiker und moderner Architektur erwarten lässt, kommt die Baukunst der Renaissance und des Barock im Hauptteil des Traktats nur indirekt vor, nämlich durch die von Fréart de Chambray zitierten Theoretiker, die gleichzeitig auch als Architekten aktiv waren: Leon Battista Alberti, Andrea Palladio und Vincenzo Scamozzi, Jacopo Barozzi da Vignola und Sebastiano Serlio, Jean Bullant und Philibert de l’Orme. Ihre eigenen Bauwerke werden zwar nicht besprochen, doch beurteilt Fréart, was sie als Theoretiker zum Verständnis der Antike beigetragen haben.Footnote 32 Zwischen den Zeilen geht es dabei auch um die Frage, wie exakt oder frei sie in ihren eigenen Werken mit antiken Vorbildern umgingen.Footnote 33

Den im Titel angesprochenen Vergleich von antiker und moderner Architektur behandelt Fréart nur in einem kurzen Vorwort. Die Vorstellung, dass jede Zeit und Nation eine Architektur nach eigenem Geschmack erfinden könne, bezeichnet der Autor als „raisonnemens vagues & frivoles“.Footnote 34 Für ihn besitzt die Antike höchste Autorität. Fréart empfiehlt den Architekten seiner Gegenwart, sich an der griechischen Antike zu orientieren, und zwar möglichst getreu. Phantasievolle Neuschöpfungen verurteilt er streng.Footnote 35

Dem Vorwort vorangestellt ist ein Widmungsbrief an die beiden Brüder des Autors, die hohe Ämter am französischen Königshof bekleideten. Roland Fréart de Chambray erklärt darin, dass der eigentliche Autor des Traktats der verstorbene François Sublet de Noyers sei, in dessen Auftrag er das Werk verfasst habe. Dieser habe als Surintendant des Bâtiments die Künste in Frankreich zu einer bisher ungekannten Blüte gebracht, vor allem durch Orientierung an der Antike.Footnote 36

John Evelyn bewunderte die französische Kultur, da er sich während seiner ‚grand tour‘ und auch später wiederholt in Paris aufgehalten hatte.Footnote 37 Seine 1664 in London veröffentlichte Übersetzung von Fréarts Traktat umfasst alle genannten Textteile, fügt aber noch einige weitere Texte hinzu.Footnote 38 Im Zusammenhang des vorliegenden Beitrags sind die beiden neuen Widmungsbriefe besonders interessant, da Evelyn darin Auskunft über die Absichten seiner Übersetzung gibt. Der erste Widmungsbrief richtet sich an König Karl II., der zweite an John Denham, der als ‚Superintendent and Surveyor‘ damals die Oberaufsicht über das königliche Bauwesen besaß und somit dasselbe Amt bekleidete wie Fréarts Patron Sublet de Noyers.

John Denham war primär Dichter, so dass er selbst nicht als Architekt tätig wurde.Footnote 39 Evelyn nutzte daher den Widmungsbrief, ihm den Architekten Hugh May zu empfehlen, der später tatsächlich wichtige königliche Bauaufträge erhielt.Footnote 40 Vor allem aber bringt der Brief Evelyns Hoffnung zum Ausdruck, Denham möge dafür sorgen, dass die englischen „workmen“ durch den übersetzten Traktat eine bessere Ausbildung erhielten, denn bislang stünden zu wenige Architekturlehrbücher in englischer Sprache zur Verfügung. Dadurch komme es zu absurden architektonischen Neuschöpfungen, die noch vom gotischen Stil beeinflusst seien. Evelyn empfiehlt Fréarts Werk als ein besonders nützliches Kompendium, weil es die Traktate verschiedener Autoren zusammenfasse und dadurch einen raschen Überblick über das Feld ermögliche. Ziel sei es, die nationale Baukunst von Grund auf zu erneuern: „we might promise our Country, and the Age to come, a miraculous improvement of their Buildings in a short time.“Footnote 41

Es ist daher nur folgerichtig, dass Evelyn seiner Übersetzung eine Widmung an König Karl II. höchstpersönlich voranstellt, den er als obersten Bauherrn der Nation adressiert und mit Kaiser Augustus vergleicht. Dadurch impliziert er eine Parallele zwischen Rom und London, die nicht nur das Bauwesen, sondern auch die politische Situation umfasst: Denn so wie unter Augustus nach einer Phase des Bürgerkriegs ein neues, angeblich ‚goldenes‘ Zeitalter begann, so soll auch London nach dem Interregnum wieder aufblühen.Footnote 42

Schon aus dieser knappen Zusammenfassung geht hervor, dass Evelyns Übersetzungsprojekt eine klar politisch akzentuierte Zielsetzung besaß. Ähnlich wie Fréart, der die Rolle seines Mäzens für die französische Kunstpolitik betont hatte, wollte auch Evelyn Leitlinien für das gesamte englische Bauwesen der Restaurationsepoche bereitstellen. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Karl II. erst 1660 aus dem französischen Exil zurückgekehrt war. Wie das antike Rom hatte auch England ab 1642 eine Phase des Bürgerkriegs durchlebt, die 1649 in der Hinrichtung König Karls I. gipfelte. Während des sogenannten Interregnum kam es in London zu massivem Vandalismus. Daher lobt Evelyn in seinem Widmungsbrief, Karl II. habe in drei oder vier Jahren seiner Herrschaft schon wieder mehr aufgebaut, als seine Widersacher in zwanzig Jahren zerstört hätten.Footnote 43

Evelyn begreift die Epoche der Restauration quasi im Wortsinne als ein Bauprojekt, als Wiederaufbau einer angegriffenen Ordnung. Wie bereits Anne Myers bemerkt hat, ist seine Übersetzung der Parallèle „a piece of Restoration political historiography, reflecting the simultaneous process of building and repairing that underwrote the very notion that a Restoration was possible at all.“Footnote 44

In seiner Widmung an John Denham stellt Evelyn eine deutliche Beziehung zwischen der Städteplanung und dem sozialen bzw. psychischen Wohlbefinden der Einwohner her: „it is from the asymmetrie of our Buildings, want of decorum and proportion of our Houses, that the irregularity of our humours and affections may be shrewdly discern’d: But it is from His Majesties great Genius […] that we may hope to see it all reform’d.“Footnote 45 Mit anderen Worten: Eine neue, klassische, symmetrische Architektur soll nicht nur London verschönern, sondern auch den Bürgern Bedingungen bieten, die keinen Anlass mehr zu Rebellion und Bürgerkrieg geben.

14.3 Die Parallèle als Referenzrahmen für das Royal Hospital in Chelsea

Am 14. September 1681 notierte John Evelyn in seinem Tagebuch, er habe mit Sir Stephen Fox gespeist, der als ‚treasury commissioner‘ für die königlichen Finanzen zuständig war.Footnote 46 Dabei ging es um „the purchasing of Chelsey Coll[ege]; which his Majestie had some time since given to our Society, & would now purchase it of us againe, to build an Hospital for Souldiers there; in which he desired my assistance as one of the Council of the R[oyal] Society.“Footnote 47 Offenbar hat Evelyn den gewünschten tatkräftigen Beitrag geleistet, denn Ende 1681 konnte Karl II. das Terrain erwerben. Anfang 1682 entwickelten Evelyn und Fox den ersten Plan für die Administration der neuen Institution. Dem Tagebuch zufolge bat Fox den Gelehrten „to consider of what Laws & Orders were fit for the Government, which was to be in every respect as strickt as in any religious Convent.“Footnote 48 Das bedeutete, dass Evelyn sich auch mit dem Architekten des Neubaus austauschen musste, denn die Sorge um soziale Ordnung hatte direkte Konsequenzen für die architektonische Strukturierung des Gebäudes.Footnote 49

John Evelyn und der Architekt Christopher Wren waren seit rund zwei Jahrzehnten befreundet und gehörten beide seit den frühen 1660er Jahren der Royal Society an.Footnote 50 Als Wren 1665 zu einer Studienreise nach Paris aufbrach, gab Evelyn ihm nicht nur Empfehlungen an seine Pariser Bekannten mit, sondern versorgte ihn auch mit einem Exemplar der Parallèle: „There has lain at Dr. Needham’s a copy of the Parallel bound up for you, and long since designed you, which I shall intreat you to accept; not as a recompense of your many favours to me, much less a thing in the least assistant to you (who are yourself a master), but as a token of my respect, as the book itself is of the affection I bear to an art which you so happily cultivate.“Footnote 51

Eine spätere Ausgabe von Evelyns Übersetzung der Parallèle lässt sich ebenfalls in Wrens Bibliothek nachweisen, was sein anhaltendes Interesse an diesem Text bezeugt.Footnote 52 Da Evelyn gerade 1680 eine neue Auflage des Traktats herausgebracht hatte,Footnote 53 war die Parallèle zweifellos beiden Männern höchst präsent, als sie sich 1681/82 an die Planungen für das Royal Hospital machten. Bislang ist Fréarts Text in der Forschung jedoch noch nicht in Bezug auf Chelsea diskutiert worden.

Das Royal Hospital in Chelsea war der erste Bau in England, der Kriegsveteranen in einer dermaßen großzügigen und würdevollen Unterkunft unterbrachte, und bedeutete somit eine große soziale Verbesserung.Footnote 54 Als Vorbild für eine solche Institution diente das Hôtel des Invalides in Paris, das Ludwig XIV. 1671 gegründet hatte.Footnote 55 Dieser Vergleich wurde London-Besuchern offenbar aktiv nahegebracht, denn 1695 schrieb Antonio Francesco dal Pino, der London im Gefolge eines toskanischen Gesandten besuchte: „Dicono quello di Francia assai più grande, ma questo più vago“ (‚Sie sagen, dass das französische Hospital deutlich größer, dieses hier jedoch schöner sei‘).Footnote 56

Bei Betrachtung der stattlichen Pariser Anlage fällt das völlig unklassische Eingangsportal auf, das von einem gigantischen halbkreisförmigen Tympanon überfangen wird. Es wirkt wie eine überdimensionierte kirchliche Portalarchitektur, quasi als Eingang zum Invalidendom, dessen Kuppel dahinter bereits sichtbar ist.Footnote 57 Im Kontrast dazu zeichnet sich die Hauptfassade des Hospitals in Chelsea durch eine bemerkenswerte Klassizität aus (Abb. 14.2). Es dürfte kein Zufall sein, dass die sehr gestreckten Proportionen der Portikus an die einzige in Fréarts Parallèle abgebildete antike Tempelfront erinnern (Abb. 14.3).Footnote 58 Die Illustrationen des Traktats, die in den Ausgaben von 1664 und 1680 exakt die Pariser editio princeps von 1650 reproduzierten, waren in England neuartig und nach Ansicht König Karls II. „the best printed and design’d that he had ever seene.“Footnote 59

Abb. 14.2
figure 2

(Foto: Strunck)

London, Royal Hospital at Chelsea, Hauptfassade im Süden des Gebäudekomplexes.

Abb. 14.3
figure 3

Charles Errard, Der Tempel der Fortuna Virilis in Rom. Stich aus Fréart (1650), S. 59. (ETH Library Zurich, Rar 221)

Da Tempelfronten im 18. Jahrhundert zum Standardrepertoire klassizistischer Architektur gehörten, lässt sich leicht übersehen, wie selten dieses Motiv im England des 17. Jahrhunderts war. Inigo Jones hatte St. Paul’s Cathedral und St. Paul’s in Covent Garden mit neoklassischen Portiken versehen,Footnote 60 aber erst der zwischen 1654 und 1657 von John Webb umgestaltete Landsitz The Vyne in Hampshire besaß „the first projecting temple front to be applied to an English house.“Footnote 61 Das Royal Hospital in Chelsea war der zweite britische Profanbau dieser Art,Footnote 62 unterschied sich allerdings deutlich von den genannten Vorläufern. Während Jones und Webb dem Vorbild Vincenzo Scamozzis gefolgt waren, der die mittleren Säulen einer Portikus durch quadratische Pfeiler rahmte,Footnote 63 stehen die vier gleichartigen Säulen von Wrens Portikus in Chelsea dem Stich aus der Parallèle deutlich näher.

Es war besonders passend, diese Graphik (Abb. 14.3) als Inspiration für ein Veteranenheim zu nutzen, stellte sie doch einen antiken Tempel dar, der der „männlichen Tugend“ (Fortuna Virilis) gewidmet war.Footnote 64 Wren verlieh seiner Portikus einen noch männlicheren Charakter, indem er statt der ionischen die maskulin konnotierte dorische Säulenordnung verwendete.Footnote 65 Dies bedeutete allerdings, dass er von den kanonischen, deutlich gedrungeneren Proportionen der Dorica abweichen musste. Die über der Portikus aufragende gebaute Laterne besitzt ebenfalls keine antiken Vorbilder, ebenso wie die Kombination eines unverputzten Baukörpers aus Backstein mit einem Tempel-Frontispiz.

Wrens Backsteinarchitektur ist einerseits vom Material her bescheiden und damit dem Status der Kriegsveteranen angemessen. Andererseits kommt durch die klassische Tempelfront ein Würdemotiv hinzu, das sowohl das Prestige der königlichen Stiftung als auch die Verdienste der Veteranen betont.Footnote 66 Das Hospital wird quasi zu einem nationalen Tempel für die Veteranen. Seine Symmetrie veranschaulicht nicht nur die im Innern herrschende vorbildliche Ordnung, sondern trägt (nach Evelyns Vorstellung) auch dazu bei, bessere Wohnbedingungen zu schaffen, in denen Menschen sich ausgeglichener fühlen können ‒ denn „it is from the asymmetrie of our Buildings, want of decorum and proportion of our Houses, that the irregularity of our humours and affections may be shrewdly discern’d: But it is from His Majesties great Genius […] that we may hope to see it all reform’d.“Footnote 67

Wie ich bereits herausgearbeitet habe, würdigt Antonio Verrios Wandbild den Beitrag des Königs zur Erneuerung Londons nach dem Stadtbrand von 1666. Durch die Errichtung einer symmetrischen, klassisch akzentuierten und dadurch besonders ehrenvollen Unterkunft für die Kriegsveteranen hat Karl II. ein Werk geschaffen, das dem von John Evelyn in seinen Widmungstexten zur Parallèle formulierten Ideal eines neuen, an der Antike orientierten Städtebaus nahekommt. Damit erschöpft sich die Bedeutung von Fréarts Text für meine Interpretation jedoch noch lange nicht. Gerade der durch Evelyns Übersetzung in die englische Diskussion eingeführte Vergleich von Antike und Moderne besitzt für Verrios Wandbild hohe Relevanz, wie im folgenden Abschnitt dargelegt werden soll.

14.4 Die Konkurrenz zwischen Paris und London und die Querelle des Anciens et des Modernes

Obwohl John Evelyns 1666 vorgelegter Generalplan für den Wiederaufbau Londons nicht realisiert wurde, dürfte er die neuen Bauprojekte in der Stadt insgesamt mit Wohlgefallen verfolgt haben. An vielen Stellen wurde nun auf die Antike Bezug genommen: Beispielsweise imitierte die Kolossalsäule, die zwischen 1671 und 1677 zur Erinnerung an den großen Brand errichtet wurde, die antiken Triumphsäulen Roms.Footnote 68

1664 hatte der Hof-Historiograph Charles Howell im Auftrag des Königs die Monographie Proedría Basilikè: A Discourse Concerning the Precedency of Kings veröffentlicht, in der er nachzuweisen suchte, dass der englische König rechtmäßig den Vorrang vor allen anderen europäischen Monarchen beanspruchen dürfe.Footnote 69 Karl II. wollte diesen Führungsanspruch durch seine eigenen Bauprojekte untermauern und natürlich auch im Stadtbild von London kommunizieren. Bereits John Evelyn hatte den König als Bauherren mit Kaiser Augustus verglichen. Diesem Topos entsprechend, sollte London zu einem ‚neuen Rom‘ und damit zur Hauptstadt Europas stilisiert werden. Solche Gedanken manifestierten sich z. B. in mehreren öffentlichen Ehrenstatuen Karls II., die den König als antiken Imperator präsentierten.Footnote 70

Daraus ergab sich zwangsläufig eine Konkurrenz mit Paris, denn auch Ludwig XIV. sah sich selbst als legitimen Nachfahren der antiken Imperatoren.Footnote 71 Die britische Öffentlichkeit betrachtete Frankreich seit den späten 1660er Jahren als den politischen Hauptfeind.Footnote 72 Für Karl II., der die Zeit seines Exils größtenteils am französischen Königshof verbracht hatte, sah die Situation etwas komplexer aus. Während er zu Anfang seiner Herrschaft nicht nur kulturell, sondern auch politisch die Nähe zu Ludwig XIV. gesucht hatte, distanzierte er sich in der zweiten Hälfte der 1670er Jahre zunehmend von dem mächtigen Cousin. Zugleich nahmen seine Kunstprojekte aber immer wieder auf französische Vorbilder Bezug.Footnote 73

Wie bereits gesagt, konkurrierte die Gründung des Royal Hospital in Chelsea mit dem Hôtel des Invalides. Darüber hinaus referenziert Wrens Architektur jedoch noch ein weiteres zentrales Monument der französischen Monarchie. Die paarweise angeordneten (gekuppelten) Säulen der Kolonnaden, die die zentrale Portikus seitlich einfassen, besitzen kein antikes Vorbild (Abb. 14.2). Vielmehr erinnern sie an die damals erst vor kurzem fertiggestellte Louvre-Fassade und verweisen damit auf die in Paris heftig geführte Debatte zwischen ‚anciens‘ und ‚modernes‘.Footnote 74 Es ging dabei u. a. um die Frage, inwiefern moderne Architekten vom antiken Vorbild abweichen dürften. Fréart de Chambray hatte die Antike zur absoluten Autorität erklärt, während der Kreis der ‚modernes‘ um Claude und Charles Perrault das Recht reklamierte, die antiken Vorbilder (wie im Fall der Louvre-Kolonnade) auf neue Art zu interpretieren.Footnote 75 Sowohl John Evelyn als auch Christopher Wren waren aufgeschlossen für die Position der ‚modernes‘.Footnote 76 Wenngleich Evelyn mit der Parallèle einen Schlüsseltext der ‚anciens‘ übersetzt hatte, war er bereit, zeitgenössischen Architekten kreative Freiheiten zuzugestehen, z. B. „changes of proportion“.Footnote 77

Verrios Wandbild hebt genau die ‚modernen‘ Aspekte von Wrens Architektur hervor. Die den König umgebenden Allegorien sind so angeordnet, dass in der rechten Bildhälfte ein Durchblick auf das Hospitalgebäude entsteht (Abb. 14.1). Dadurch ist das Frontispiz des rechten Seitentrakts mit den extrem gelängten Proportionen der Kolossalpilaster gut sichtbar, ebenso wie die Kolonnade mit den gekuppelten Säulen und die Kombination von Backstein und Haustein. Die unklassische Laterne wird durch den Lorbeerkranz besonders betont. Der Giebel der zentralen Portikus scheint den Kopf des Königs zu bekrönen. Karl II. wird gewissermaßen in die Architektur eingeschrieben, wodurch die Funktion des Hospitals als königliches Monument (in Konkurrenz zum Hôtel des Invalides des französischen Königs) unmittelbar anschaulich ist.

Im Zusammenhang der Rivalität mit Frankreich verdient auch die Präsentation Karls II. hoch zu Ross besondere Beachtung. 1685 hatte die französische Regierung eine Statuenkampagne initiiert, die die Großstädte des Landes mit Reitermonumenten Ludwigs XIV. überziehen sollte. In den Jahren 1685 und 1686 wurde beschlossen, Reiterstatuen zu Ehren des Königs in Paris, Besançon, Grenoble, Nantes, Toulouse, Lille, Montpellier, Aix-en-Provence, Marseille, Lyon und Dijon zu errichten.Footnote 78 Der Mercure Galant, die wichtigste französische Zeitschrift jener Epoche, berichtete fast jeden Monat über neue Initiativen dieser Art.Footnote 79

Referenzgröße für die zahlreichen Reiterstatuen der Frühen Neuzeit war stets das antike Reitermonument für Kaiser Mark Aurel, das von Michelangelo auf dem Kapitol aufgestellt worden war.Footnote 80 Die Errichtung einer Reiterstatue implizierte folglich immer auch den Vergleich mit dem antiken Rom. Ludwig XIV. verstärkte diese Parallele noch, indem er sich durchgehend all’antica gekleidet porträtieren ließ.Footnote 81 Die Statuenkampagne von 1685/86 sollte die imperiale Selbstsicht des französischen Königs in allen Hauptstädten seines Reiches anschaulich machen. Zugleich war diese antikisierende Präsentation Ludwigs XIV. verknüpft mit der damals intensiv debattierten Querelle des Anciens et des Modernes, die nicht nur die Architektur, sondern alle Kunstgattungen betraf und letztlich in der Frage kulminierte, ob das Frankreich von „Louis le Grand“ vielleicht sogar die Antike übertreffe.Footnote 82

Daher dürfte es kein Zufall gewesen sein, dass Antonio Verrio nur ein paar Jahre später ausgerechnet die Reiterfigur des Königs zum Zentrum seines Wandbildes im Royal Hospital von Chelsea machte. Das traditionelle Stifterbild hätte eine ganz andere Ikonographie vorgesehen, nämlich die Übergabe einer Stiftungsurkunde an eine Versammlung von Würdenträgern.Footnote 83 Dass Verrio von dieser überlieferten Bildformel abwich, erklärt sich meiner Meinung nach aus dem Versuch, es ganz bewusst mit der französischen Statuenkampagne aufzunehmen. Vielleicht kannte er sogar einen Stich, der Ludwig XIV. in ähnlicher Weise als Triumphator über die vielköpfige Hydra inszenierte (Abb. 14.4).Footnote 84

Abb. 14.4
figure 4

(Aus Martin (1986), S. 197)

Louis David nach Pierre Péru (Perru), Reiterstandbild Ludwigs XIV. mit Hydra, Stich.

In London existierte bereits eine steinerne Reiterstatue Karls II., die künstlerisch aber ausgesprochen bescheiden war (Abb. 14.5). Die Skulptur war in unvollendetem Zustand aus Italien importiert und 1672 auf dem Stocks Market aufgestellt worden, nachdem Jasper Latham sie mit einem neuen Kopf versehen hatte. Das Ganze geschah auf Initiative des Bankiers Robert Vyner, der schließlich 1674 zum Bürgermeister von London gewählt wurde.Footnote 85 Ein weiterer Getreuer des Königs, sein Kammerdiener Tobias Rustat, suchte Karl II. durch ein qualitätvolleres Reitermonument zu ehren. Das bei Grinling Gibbons in Auftrag gegebene und von seinem deutschen Mitarbeiter Josias Ibach realisierte Bronzestandbild, das 1680 im Schlosshof von Windsor Castle errichtet wurde, zeigte den König all’antica (Abb. 14.6)Footnote 86 ‒ „almost naked“, wie Zeitgenossen pikiert berichteten.Footnote 87 Im Vergleich dazu wollte Verrio offenbar klarstellen, dass er imstande war, ein wesentlich besseres und wahrhaft würdiges Reiterbildnis Karls II. zu liefern.

Abb. 14.5
figure 5

(Aus Stevenson (2013), S. 197, fig. 98)

Unbekannter italienischer Künstler und Jasper Latham, Reiterstatue Karls II., 1672. Früher auf dem Stocks Market in London, heute Newby Hall bei Leeds.

Abb. 14.6
figure 6

(Aus Thurley (2018), S. 227, fig. 19.9)

Grinling Gibbons und Josias Ibach, Reiterstandbild Karls II. all’antica, 1679. Windsor Castle, Schlosshof.

Als Inspirationsquelle diente ihm van Dycks berühmtes Reiterporträt Karls I., das der Hofmaler Verrio in den königlichen Sammlungen studieren konnte (Abb. 14.7, vgl. Abb. 14.1).Footnote 88 Während der bronzene Reiter in Windsor zu groß für sein Pferd und stocksteif wirkt, dynamisiert Verrio die Pose des Königs und imitiert dabei das Bildnis Karls I. Das Pferd ist jeweils schräg von links gesehen und strebt mit erhobenem rechten Vorderbein diagonal aus dem Bild heraus, während der Reiter die Betrachter fixiert. In beiden Gemälden kommt das Licht von links und bildet schimmernde Reflexe auf der Rüstung, die sich dunkel gegen das helle Fell des Pferdes abhebt. Sogar die Rahmung Karls II. durch die schwebenden Allegorien korrespondiert mit der optischen Einfassung Karls I. durch den gemalten Triumphbogen. Die Parallelen sind insgesamt so zahlreich, dass man hier von einem bildkünstlerischen, intramedialen Übersetzungsprozess sprechen kann.

Abb. 14.7
figure 7

(Aus Shawe-Taylor (2018), S. 143)

Anton van Dyck, Reiterbildnis Karls I. mit Seigneur de Saint Antoine, 1633.

Die italienische Kunsttheorie des 16. und 17. Jahrhunderts war geprägt von der Vorstellung eines Wettstreits der Künste und Künstler. Unter dem Oberbegriff des sogenannten paragone suchten Maler und Bildhauer die künstlerische Rivalität.Footnote 89 Antonio Verrio inszenierte im Royal Hospital von Chelsea sogar einen mehrfachen paragone: Er konkurrierte mit den Reitermonumenten, die gleichzeitig im Zuge der französischen Statuenkampagne entstanden, führte den Betrachtern die Überlegenheit seines gemalten Reiterbildnisses im Vergleich zu den englischen Reiterstatuen Karls II. vor Augen und bewies seine Ebenbürtigkeit mit Anton van Dyck, einem berühmten Vorgänger im Amt des englischen Hofmalers.

Die Pointe besteht nun darin, wie Verrio sein Reiterbildnis im Gemälde platzierte. Auf einem Stich aus dem späten 17. Jahrhundert ist zu erkennen, dass sich das Royal Hospital ursprünglich der Themse zuwandte (Abb. 14.8). Im Vordergrund erscheint der Fluss, von dem aus ein breiter Weg direkt auf die Mittelachse des Hospitals hinführt. Vor dem Haupteingang ist eine Statue Karls II. von Grinling Gibbons eingezeichnet, die sich ab spätestens 1686 im Royal Hospital befand. Gibbons’ vergoldete Skulptur, die wie das Reiterstandbild in Windsor von Tobias Rustat gestiftet wurde, präsentiert den König wiederum all’antica mit den Gesichtszügen Julius Caesars (Abb. 14.2, 14.9).Footnote 90 Wenn der Sockel nicht mit dem Namen des Dargestellten beschriftet wäre, könnte man in der Figur unmöglich Karl II. erkennen. Gibbons geht es darum, die historische Bedeutung des Königs bzw. seine Ebenbürtigkeit mit den antiken Kaisern herauszuarbeiten.

Abb. 14.8
figure 8

(Aus Bolton und Hendry (1942), pl. XXXI)

Das Royal Hospital in Chelsea aus der Vogelperspektive, Stich aus dem späten 17. Jh.

Abb. 14.9
figure 9

(Foto: Strunck)

Grinling Gibbons, Standbild Karls II. vor dem Royal Hospital in Chelsea, vollendet 1686.

Verrios Wandbild zeigt denselben Blick auf das Royal Hospital wie die erwähnte Vedute (Abb. 14.1, 14.8). Der König reitet auf dem Weg, der von der Themse zum Hauptgebäude verläuft. Gibbons’ Statue, die auf derselben Achse stehen müsste, ist hingegen völlig verdeckt. So triumphiert Verrio nicht nur über Gibbons, den führenden Hofbildhauer, sondern nimmt auch Stellung zur Querelle des Anciens et des Modernes: Durch das Reiterbildnis greift er zwar einen antiken Bildtypus auf, interpretiert ihn aber unter Bezugnahme auf van Dyck dezidiert modern und stellt damit Gibbons’ antikisierende Statue des Königs buchstäblich in den Schatten.

14.5 Zusammenfassung und Ergebnisse

Der vorliegende Text befasst sich mit drei verschiedenen Arten von Übersetzungsprozessen. Ausgehend von Reflexionen über die Absichten der interlingualen Übersetzung von Fréart de Chambrays Parallèle, nimmt diese Studie künstlerische Übersetzungsprozesse in den Blick, die sowohl die Architektur als auch die Ausstattung des Royal Hospital in Chelsea betreffen. Wenn Wren in seinem Hospitalbau die Louvre-Kolonnade referenziert bzw. wenn Verrios Wandbild van Dycks Reiterbildnis Karls I. zitiert, kann dies als intramediale Übersetzung (innerhalb desselben Mediums) bezeichnet werden (Abb. 14.1, 14.7). Dass eine gestochene Illustration aus der Parallèle in gebaute Architektur umgesetzt wurde, hat hingegen als intermedialer Übersetzungsprozess zu gelten (Abb. 14.2, 14.3). Auch die Bezüge von Verrios Gemälde zu einer französischen Graphik (Abb. 14.4), zu englischen Reiterstatuen Karls II. (Abb. 14.5, 14.6) sowie zur französischen Statuenkampagne besitzen eine intermediale Komponente.

Abschließend möchte ich auf meine eingangs formulierten Thesen zurückkommen. John Evelyns englische Übersetzung der Parallèle bildet einen Referenzrahmen, der es ermöglicht, Charakteristika der Architektur und Ausstattung des Royal Hospital genauer zu verstehen. Es konnte gezeigt werden, wieso das Gebäude ungewöhnlicherweise mit einer antiken Tempelfront versehen wurde und inwiefern Antonio Verrio den von Fréart thematisierten Vergleich von Antike und Moderne visualisierte. Indem Verrio in seinem Wandbild klar zugunsten der Moderne Position bezog, lieferte er gewissermaßen einen bildlichen Kommentar zur Querelle des Anciens et des Modernes.

Seit der Gründung des Royal Hospital stand fest, dass dieses in Konkurrenz zum Hôtel des Invalides in Paris gesehen werden sollte. Evelyn und Verrio nahmen ebenfalls auf französische Vorbilder (Fréart bzw. die Statuenkampagne Ludwigs XIV.) Bezug, doch wurden diese im Übersetzungsprozess neu interpretiert. Während für Fréart die griechische Antike das unübertreffliche Modell war, zielte Evelyn darauf ab, London zu einem ‚neuen Rom‘ zu machen, um die imperiale Größe Karls II. herauszustreichen. Damit formulierte er eine Idee, die in der urbanistischen Gestaltung von ‚Restoration London‘ vielfach aufgegriffen wurde, um die politische und kulturelle Konkurrenz zwischen England und Frankreich zu pointieren. Entsprechend setzte sich Wrens klassizistische Architektur des Royal Hospital dezidiert vom Hôtel des Invalides ab.

Ein ebenso vielschichtiger Übersetzungsprozess konditionierte die Entstehung von Verrios Wandbild. Für das militärische Publikum des Royal Hospital in Chelsea dürfte eine all’antica-Darstellung des Königs („almost naked“) inakzeptabel gewesen sein. Indem Verrio Karl II. bewusst in moderner Rüstung präsentierte, schuf er nicht nur ein Bild des Monarchen, das die Veteranen an aktuelle Siege Großbritanniens (u. a. im Kampf gegen Frankreich) erinnerte, sondern entwarf auch ein zeitgenössisches ‚image‘ der Monarchie. Verrio überbot Grinling Gibbons und die all’antica-Reiterstatuen Ludwigs XIV., von denen ab 1685 regelmäßig in den Zeitungen berichtet wurde, in doppelter Hinsicht: Zum einen zeigte er einen ‚modernen‘ König, zum anderen suggerierte er durch die Kontextualisierung des Bildnisses, dass dieser König sich nicht primär um die eigene Selbstdarstellung, sondern um das Wohl seines Staates und seiner Untertanen kümmere.

In Bezug auf das Leitthema ‚Übersetzungspolitiken‘ bleibt festzuhalten, dass die hier thematisierten interlingualen, architektonischen und bildkünstlerischen Übersetzungsprozesse eine eminent politische Funktion besaßen. Durch die Übersetzung von Fréarts Parallèle wollte John Evelyn dem Monarchen Leitlinien für eine neue britische Baupolitik an die Hand geben, um eine Verbesserung der sozialen Situation in London zu erreichen. Im Dialog mit Christopher Wren suchte Evelyn diese Maximen beim Bau des Royal Hospital umzusetzen. Indem Verrio das Gebäude als Beitrag Karls II. zum Wiederaufbau Londons nach dem verheerenden Stadtbrand präsentierte, visualisierte er die Fürsorge des Königs für die (als Personifikation an ihn appellierende) Stadt London und warb damit um Zustimmung für die Politik des Monarchen.