8.1 Zusammenfassung 

Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass Heideggers Darstellung von Affektivität – obgleich seine programmatische Behandlung dieser Thematik eine ontische Dimension oder gelebte, persönliche Erfahrung begrifflich enthält – von einer dichten Ontologie überschattet ist. So haben wir bei Heidegger ein klassisches Beispiel, wie die Stimmung (Affektivität), nichts anderes als eine Art und Weise zeigt, in der das Dasein direkt, unmittelbar in seine Welt involviert ist. Wir stellten fest, dass dieser ontologische Aspekt für Richir phänomenale Erfahrungen verdeckt und unmöglich macht. Deshalb hat Heidegger keine Erklärung für andere mentale, affektive Dispositionen, Emotionen, Gefühle und die Rolle des Leibes in der Affektivität. Zusätzlich macht diese Darstellung es uns unmöglich, die Frage zu beantworten, ob es sich bei der Stimmung um „eine“ oder „viele“ („mehrere“) handelt. Unser Ziel ist es daher herauszustellen, wie diese Defizite bezüglich Heideggers Stimmungslehre durch Richirs Beschreibung der Affektivität überwunden werden können, in der aus unbestimmten Hintergrundgefühlen (Affektionen) durch eine architektonische Umsetzung bestimmte Emotionen (Affekte) entstehen könnten. Der Vorteil dieses Vorgehens ist eine reichhaltige ontische Darstellung der Affektivität, bei der der Leib im Kontext der Weltbezüglichkeit eine fundamentale Rolle spielt. Wenn Richir Heidegger also einen existenzialen Solipsismus vorwirft – und wir werden uns von diesem Vorwurf kritisch distanzieren – so lässt sich die Frage stellen, ob man umgekehrt Richir nun einen existenziellen Solipsismus vorwerfen kann. Am Ende lege ich nahe, dass diese beiden entgegengesetzten Kernaspekte der Affektivität (das Ontologische und das Ontische) der gleichen Realität zugehörig sind. Dieser Vorschlag versucht darzulegen, wie Gegensätze miteinander kompatibel sein könnten: Dasein ist nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch im Dasein, da letzteres von innen bewegt werden und an der Welt teilhaben kann.

8.1.1 Einleitung

An dieser Stelle ist zunächst eine wichtige methodologische Anmerkung notwendig: Zwar hat Heidegger die Weltbezogenheit oder besser gesagt die Weltsituiertheit der Affektivität anhand seiner Stimmungs- bzw. Befindlichkeitslehre artikuliert, aber dies war nicht die erste Analyse der Affektivität in der phänomenologischen Tradition seit Husserl. So lässt sich die Frage stellen, warum Richirs erste phänomenologische Analyse der Affektivität, wie wir sie seit Méditations phénoménologiques kennen, sich mit Heidegger befasst hat. Es ist offenkundig, dass Richirs Beschäftigung mit der Affektivität ironischerweise nicht mit Husserl begann, obwohl dieser es war, der die ersten detaillierten Analysen der Affektivität in der Phänomenologie durchgeführt hatte. Diese Idee hat Sacha Carlson bereits in seinem Artikel Le langage, l’affectivité et le hors langage (Richir, Heidegger) vorgestellt. Husserls umfangreiche Analysen der Affektivität in den Logischen Untersuchungen haben gezeigt, dass affektiven Erfahrungen Intentionalität innewohnt. Durch eine solche Vermittlung wird deutlich, dass der affektive Akt nicht nur (wie bei Descartes) eine Bewegung der Seele für sich istFootnote 1 – oder sogar (wie bei Michel Henri) ein Gefühl im Sinne von sentiment, das die affektive Erfahrung auf die Auto-Apperzeption des Selbst und nicht auf etwas anderes reduziert. Der Schmerz ist sozusagen ein Selbsterlebnis und nichts von den Dingen der WeltFootnote 2. Es wird dabei nichts von der Welt offenbart – sondern etwas, das über die inneren Schichten (Innerlichkeit) der Subjektivität hinausgeht. Die Weltbezüglichkeit der Affektivität verdankt sich begrifflich Husserls Analyse. Der affektive Akt ist etwas, das über sich hinausreicht, um ein Objekt der Welt darzustellen. So wird in der Trauer das Objekt der Trauer dargestellt, das in die Welt hineinreicht. Auf diese Weise kann die Affektivität von solchen nichtintentionalen Akten wie Empfindungen oder Gefühlen (sentiment) oder der Bewegung der Seele unterschieden werden. Wir sehen also, dass Husserl bereits Affektivität in Bezug auf Innerlichkeit und Äußerlichkeit artikuliert hat. Später wird Richir darauf zurückgreifen, um seine Analyse von der Immanenz und Transzendenz der Affektivität zu formulieren, so wie Kants dritte Kritik (in Bezug auf das Erhabene) ihn inspiriert hat, eine radikale Form der Transzendenz als die Spur des Affektiven zu verstehen, eine Transzendenz, die radikaler ist als diese bloße Äußerlichkeit. Wir haben diesen späteren Aspekt bereits im vorigen Kapitel behandelt. Über die Logischen Untersuchungen hinaus hat Husserl auch andere Beiträge zur Affektivität geleistet, allerdings im Kontext seiner Arbeiten zur Intersubjektivität (wir werden später darauf zurückkommen). Eine weitere Arbeit zur Affektivität findet sich in Hua XXIII. In dieser konnte Richir eine tiefgreifende Entdeckung in der Phänomenologie machen. Von großer Bedeutung war dabei die Entdeckung des Begriffs der Phantasia, durch die er seinen eigenen, originellen Weg zur Frage der affektiven Welterschließung auftat. Primär jedoch – wir haben dies bereits erwähnt – erfolgte sein erster Zugang (Ausgangspunkt) zur Affektivität, wie es CarslonFootnote 3 bereits erläutert hat, über Heideggers Sein und Zeit. Wie wir sehen werden, geht es im Hauptwerk von Heidegger um einen besonderen Zugang zur Welt, jenseits aller Subjektivität angesichts einer objektiven Welt. Denn Dasein muss nicht zunächst in die Interiorität gehen, um erst danach in die Welt gelangen zu können. Es ist ohne die Seinsverfassung des In-der-Welt-seins undenkbar.

Heideggers Affektivitätslehre zielt darauf ab, eine Bezüglichkeit zur Welt zu entwickeln, die in der ontisch-ontologischen Differenz verwurzelt ist. Jedoch merkt man dabei, dass der Ontologie ein Vorrang eingeräumt wird, wenngleich die ontische Seite auch thematisiert wird. Dies wird nicht nur bei der begrifflichen Markierung ersichtlich, die mittels der Befindlichkeit und Stimmung erfolgt, sondern auch bei der Schwierigkeit, der Stimmung eine reiche ontische Dimension zu verleihen. Auch dort erfährt man die Mächtigkeit des Seins, sprich der Ontologie, der Heidegger nicht entgehen konnte, wie sich die vorliegende Analyse zu skizzieren bemühen wird. Daraus folgt unter anderem die Schwierigkeit – und hierauf zielt unsere These –, die Singularität und Pluralität der Stimmung ontologisch und ontisch voneinander abzugrenzen. Wie kann zum Beispiel Rechenschaft über die Umwandlung (Richir spricht von architektonischer Umsetzung) einer tiefen, diffusen Affektivität in eine bestimmte, konkrete Emotion abgelegt werden? Genau in diesem Zusammenhang markiert Richirs Entwicklung der Affektivität zwei miteinander verbundene, jedoch voneinander abgegrenzte Teile: „Affektion“ und „Affekte“. Mit dieser Differenzierung kann Richir nicht nur den Zusammenhang der Singularität und Pluralität der Affektivität erhellen, was auch tiefgehend das Symbolische und das Phänomenologische (wir könnten auch von dem Ontologischen und dem Ontischen sprechen, um Heidegger treu zu bleiben) betrifft, sondern auch Antwort auf die Schwierigkeit liefern, wie Heideggers Affektivitätslehre die Stimmung von der konkreten Emotion hätte unterscheiden bzw. erklären können. Das ist die positive oder konstruktive Seite. Darüber hinaus geht aus Richirs Auseinandersetzung mit Heidegger aber auch eine negative oder destruktive, massive Kritik an diesem hervor. Im Kontext dieser Kritik wurde die Leiblichkeit nicht nur als notwendig für die Empfänglichkeit der Affektivität, sondern auch als sinnverleihende Instanz jeder affektiven „Ansteckung“, sprich als Bezug zur Welt thematisiert, um u. a. den Heidegger vorgeworfenen existenzialen Solipsismus zu überwinden. Hiervon distanzieren wir uns von Richir, zumindest bezüglich einiger Dimensionen der Kritik.

Dieses Kapitel ist in drei Hauptteile unterteilt. Der erste beschäftigt sich mit dem Schema der existenzialen Analytik des Daseins, wo die Grundverfassung des In-der-Welt-seins und ihre Konsequenz für die existenziale Weise der Erschließung von Dasein zum Vorschein kommen. Zugleich werden hier sowohl die „Befindlichkeit und das ontologische A priori der Weltbezogenheit“, als auch der „Unterschied zwischen Befindlichkeit und Stimmung“ thematisiert. Dieser Teil schließt damit, die „Geworfenheit“ (Faktizität), das „In-der-Welt-sein“ und die „Weltoffenheit“ als drei unterschiedliche Erschließungsweisen der Stimmung zu erläutern. Im zweiten Teil wenden wir uns ausführlich der Frage zu, ob die Stimmung eine Singularität oder eine Pluralität ist, und der dritte Teil befasst sich mit der negativen und der konstruktiven Seite von Richirs Auseinandersetzung mit der Affektivität. Bezüglich Richirs Kritik des existenzialen Solipsismus – von dem wir uns distanzieren – lässt sich die Frage stellen, ob man auch Richir einen existenziellen Solipsismus vorwerfen kann. Am Ende lege ich nahe, dass diese beiden entgegengesetzten Kernaspekte der Affektivität (das Ontologische und das Ontische) der gleichen Realität zugehörig sind. Dieser Vorschlag versucht darzulegen, wie Gegensätze miteinander kompatibel sein könnten: Dasein ist nicht nur in der Welt, sondern die Welt ist auch im Dasein, da letzteres von innen bewegt werden und an der Welt teilhaben kann.

8.2 Das Schema der existenzialen Analytik des Daseins in Sein und Zeit

Damit unsere Beschäftigung mit der Stimmung und der Befindlichkeit als Begriffe Heideggers für die Affektivität verständlich wird, wollen wir zunächst kurz den Zusammenhang und die Verortung dieses Begriffspaars in Heideggers Schema der existenzialen Analytik darstellen. Bei der existenzialen Analytik des Daseins wird die Grundverfassung dieses dem „Wer“Footnote 4 zugeschriebenen Seienden thematisiert, auf deren (Analytik) Grundlage die Seinsbestimmungen des Daseins erläutert werden. Dabei stellt sich diese Seinsverfassung als ein In-der-Welt-sein heraus.Footnote 5 Die Betonung der existenzialen Analytik markiert nicht die Heidegger’sche ontologische Differenz, also die Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, sondern sie artikuliert die Differenz zwischen Dasein als Seiendem und allen anderen vorhandenen und zuhandenen nicht daseinsmäßigen Seienden. Auch aus der Grundverfassung des In-der-Welt-seins, aus der sich dreierlei Verfassungsmomente der ontologischen Struktur der Weltlichkeit, des Seienden, um das es hier eigentliche geht und der ontologischen Konstitution des In-Seins herausstellen lassen, lässt sich diese Differenz erkennen. Damit wollte Heidegger klarmachen, dass es um Dasein und nicht um irgendein vorhandenes Seiendes geht, dessen Seinsverfassung als ein Innerweltliches offenbart wird. Somit stellt sich dann die Frage, wie dieses letzte Moment des In-Seins zu verstehen ist. Es ist kein „Sein in“, welches ein „Seinsverhältnis zweier im Raum ausgedehnter Seienden zueinander“Footnote 6 bezeichnet, wie etwa ein Klavier im Wohnzimmer:

Diese Seienden, deren „In“ einandersein so bestimmt werden kann, haben alle dieselbe Seinsart des Vorhandenseins als „innerhalb“ der Welt vorkommende Dinge. Das Vorhandensein „in“ einem Vorhandenen, das Mitvorhandensein mit etwas von derselben Seinsart im Sinne eines bestimmten Ortsverhältnisses sind ontologische Charaktere, die wir kategoriale nennen, solche, die zu Seiendem von nicht daseinsmäßiger Seinsart gehören.Footnote 7

Diese ontologische Abgrenzung des In-Seins vom Sein in hängt mit der Seinsverfassung des Daseins zusammen, dem weder eine Beziehung des räumlichen Ineinanderseins (der „Inwendigkeit“) noch eine Nebeneinanderbeziehung des Seienden mit der Welt zugeschrieben werden kann. Heidegger dazu: „In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat“.Footnote 8

Mit dieser Wesensstruktur des In-Seins richtet sich Heidegger gegen die Intentionalitätslehre von Husserl, die die erkenntnistheoretische Frage beantworten wollte, wie sich das nicht materielle Bewusstsein auf die materielle Welt richten kann. Hier geht es nicht mehr wie bei Husserl um einen geistigen Zustand auf der einen Seite und ein Raumding auf der anderen Seite, wobei der Abstand dazwischen durch die Intentionalität überwunden wird. Außerdem besagt der Seinsmodus des In-Seins zunächst weder ein Bewusstsein noch einen ihm nahestehenden Begriff der Leiblichkeit, als ob die Letztere dann einen Vorrang vor der Räumlichkeit hätte. Für Heidegger wäre es eine Art Naivität, dass „der Mensch […] zunächst ein geistiges Ding“ „sei“, „das dann nachträglich ‚in‘ einen Raum versetzt wird“, denn weder das Bewusstsein noch die Leiblichkeit können dieses A priori des In-Seins ontisch ersetzen oder erschöpfen:

Das In-Sein kann daher ontologisch auch nicht durch eine ontische Charakteristik verdeutlicht werden, daß man etwa sagt: Das In-Sein in der Welt ist eine geistige Eigenschaft, und die „Räumlichkeit“ des Menschen ist eine Beschaffenheit seiner Leiblichkeit, die immer zugleich durch Körperlichkeit „fundiert“ wird [….] Das Verständnis des In-der-Welt-Seins als Wesensstruktur des Daseins ermöglicht erst die Einsicht in die existenziale Räumlichkeit des Daseins.Footnote 9

Der Bezug zur Welt ist demnach möglich, da „Dasein in-der-Welt-sein ist“, sodass man von einem Primat des Ontologischen ausgehen kann. Das heißt für den Leibbegriff, den Heidegger in Sein und Zeit nicht ausführlich thematisiert hatte, dass der Leib ein Modus des In-der-Welt-seins ist. Sobald wir geboren sind, sind wir als Leiber in der Welt und haben somit ein vertrautes Verhältnis zu Dingen in der Welt, die keine Intellektualisierung oder Kontemplation über die Dinge ersetzen können. Diese Idee bringt Meidert Peters zum Ausdruck:

At the moment when we become conscious of the world, we already stand in relation to these objects. We are already familiar with them, we are already using them as tools. Rather than contemplating these objects from a distance, we already have knowledge of them in their usefulesness, or what Heidegger calls their Zuhandenheit […]. A fork, for example, is always already seen as a thing to eat with. I can, of course, see a fork as a piece of metal of certain measurements, I can rationalize it – this is what Heidegger states that science does – but that actually takes me a step back from how this thing has meaning to me in my everyday existence.Footnote 10

Mit anderen Worten der Leib ist das Dasein selbst, das wiederum nichts anderes ist, als in-der-Welt-sein. Somit ist die Intellektualisierung nicht mehr nötig, wodurch man sich auf das Objekt der Welt beziehen oder dasselbe in Erwägung ziehen kann. Denn diese würde das A priori der Ontologie zerstören, wodurch der Leib (Dasein) mit seiner Umwelt vertraut ist. Sobald ich über die Dinge in der Welt nachdenke, und sie aus Entfernung betrachte, so würden sie ihre impliziten vertrauten Verhältnisse zu mir verlieren, die sie für mich im Alltag haben. Das erklärt den Grund, warum die Leiblichkeit das A priori des-in-der-Welt-seins nicht ersetzen kann.

Es sieht also so aus, als wäre die transzendentale Subjektivität Husserls im Handumdrehen aufgelöst worden und an ihre Stelle ein Universalismus getreten, der eine Ganzheit des Daseins und der Welt aufrichtet, wo Seele und Welt auf einen Schlag erfahren werden. Damit ist aber die erkenntnistheoretische Frage behoben, ohne dass dabei der cartesianische Dualismus von Objekt und Subjekt nötig wird, denn schon in der Wesensstruktur des In-der-Welt-seins ist Erkennen dem Dasein zugänglich: „Erkennen ist eine Seinsart des Daseins als In-der-Welt-sein.“ „Es hat seine ontische Fundierung“ „in einem Schon-sein-bei-der-Welt, als welches das Sein von Dasein wesenhaft konstituiert“Footnote 11 ist. Mit anderen Worten muss das Erkennen der Dinge oder der Bezug zur Welt kein Außen und Innen voraussetzen, da das Dasein Dinge schon erkennt, seitdem es in der Welt ist. Hat Heidegger damit dem je schon die Welt erkennenden Dasein eine InnerlichkeitFootnote 12 abgesprochen? Damit bleibt auch noch unbeantwortet, inwieweit solch ein Erkennen ohne eine Innerlichkeit möglich wäre.

Nachdem die Weltlichkeit – damit ist die Struktur des In-der-Welt-seins gemeint – als die existenziale Bestimmung des Daseins und nicht irgendeines Seienden ausgearbeitet worden ist, öffnet Heidegger ein anderes Arbeitsfeld, das sich mit der Frage beschäftigt: Wie lässt sich eine phänomenologische Fassung dieser einheitlichen ursprünglichen Struktur des Daseins erklären, die sich als eine Grundverfassung des Daseins versteht? Von dieser phänomenologischen Schicht wird erwartet, die Öffnung der „Weise[n]“ des Daseins zu sein, wobei später bewertet werden soll, ob diese phänomenologische Aufgabe erfolgreich bewältigt ist oder nicht. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wodurch diese „Weise“ thematisiert werden kann. Anhand des „Da“ des Daseins, welches sowohl ein „Hier“, als auch ein „Dort“ darstellt, wird dies untersucht. Daraus wurde ersichtlich, dass das „Da“ die existenziale Bestimmung des Daseins enthüllt, denn durch dieses „Da“ ist sich Dasein selber vertraut: Dasein „ist selbst je sein ‚Da‘.“Footnote 13 Die Frage muss aber gestellt werden, was mit dieser Vertrautheit des „Da“ gemeint ist. Darauf geht Heidegger ein: „‚Da‘ meint diese wesenhafte Erschlossenheit. Durch sie ist dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da-sein von Welt für es selbst ‚da‘“.Footnote 14 Allein aus diesem Grund, dass Dasein mit dem „Da“ seines Seins vertraut ist oder es sich sogar erschlossen hat, ist ihm deshalb das vorhandenen Seiende zugänglich. So viel, wie diese grundlegende Charakteristik der Erschlossenheit auch über das „Da“ des Daseins sagen mag, so ist doch die Frage nach der „Seinsart, in der“ das Dasein „alltäglich sein Da ist,“ – wir könnten auch von der „ursprünglichen konstitutiven Weise“ des Daseins, „‚da‘ zu sein“ sprechen, wie es Heidegger formuliert – noch nicht beantwortet. Diese Lücke wird später durch die Untersuchung der Befindlichkeit, des VerstehensFootnote 15 und der Rede gefüllt. Manchmal wird eine vierte konstitutive Weise von Dasein da zu sein, hinzugefügt: „das Verfallen“. Bevor wir mit der Analyse fortfahren, ist es von großer Bedeutung zu erwähnen, dass diese konstitutive Weisen „da“ zu sein in der Welt nicht als einzelne voneinander getrennte Momente, sondern als eine Ganzheit gedacht werden sollen, wo jede Weise des Da zu sein mit der anderen verflochten ist: „Jedes Verstehen hat seine Stimmung. Jede Befindlichkeit ist verstehend. Das befindliche Verstehen hat den Charakter des Verfallens. Das verfallend gestimmte Verstehen artikuliert sich bezüglich seiner Verständlichkeit in der Rede.“Footnote 16 Wir werden nicht in der Lage sein, alle diese konstitutive Weise des Da-seins in der Welt zu diskutieren, da dies über die Grenzen dieser Arbeit hinausgeht. Wir werden uns also nur auf eine dieser konstitutiven Weisen konzentrieren: die Befindlichkeit. Denn somit lässt sich fragen, ob das affektive Leben anhand dieser bestimmten konstitutiven Weise vortheoretisch nicht bereits verdorben ist.

8.3 Befindlichkeit und das ontologische A priori der Weltbezogenheit

Von großer Bedeutung ist die geschichtliche Notwendigkeit der Einführung des Begriffs der Befindlichkeit. Sie zielt auf eine programmatische Funktion ab, die in der Entwicklung nach Aristoteles in den Wind geschlagen wurde. Obwohl die konstitutive Weise der Befindlichkeit als Affekte und Gefühle in der philosophischen Geschichte immer schon thematisiert worden ist – Heidegger erwähnte einige dieser Thematisierung im Stoizismus, in der patristischen und scholastischen Theologie und in der neuzeitlichen Philosophie –, hat diese Thematisierung den FundierungszusammenhangFootnote 17 vergessen, geschweige denn ihn entwickelt. Diese Entwicklung hat aus Heideggers Sicht fatale Folge für die Philosophie: Zum einen verfehlten die Begriffe der Affekte und Gefühle so ihr „Ziel“ und wurden zu einem rein „psychischen“, bzw. zum „Begleitphänomen“Footnote 18 degradiert und zum anderen verlor die „grundsätzliche ontologische Interpretation des Affektiven“ ihre Notwendigkeit, wie sie in Aristoteles Rhetorik entwickelt wurde. Dieser hatte im zweiten Buch seiner Rhetorik die πάθη (etwa die von Aristoteles behandelten Emotionen wie: Zorn, Kränkung, Unverschämtheit, Sanftheit, Liebe, Freundschaft, Hass, Angst, Mut, Vertrauen, Scham, Wohlwollen, Mitleid, Entrüstung, Neid usw.) u. a. in einer Situiertheit des Alltäglichen behandelt. Dabei ließen sich diese in drei grobe Teile gliedern. In Bezug auf Zorn oder Wut zum Beispiel sind dies 1) die Gemütsdispositionen, die Menschen wütend machen 2) die Personen auf die sie normalerweise wütend sind 3) die Gelegenheiten, die Zorn oder Wut hervorrufen.Footnote 19 Dieser aristotelischen Herangehensweisen nach kommt deshalb vor allem dem drittgenannten Teil der Affektivität eine sozial existenziale Dimension zu; Heidegger erhebt den Anspruch, diese aristotelische Herangehensweise in seiner eigenen existenzialen ontologischen Untersuchung wiederzubeleben. So verstanden, ist die Befindlichkeit eine bewusste Befreiung der Affektivität von psychischen Eigenschaften, um stattdessen die Weltbezogenheit dieser zu betonen, womit auch DaseinFootnote 20 sich selbst enthüllt. Darum ist jedes Verständnis oder jede Übersetzung der Befindlichkeit – auch wenn dieser Begriff bei Heidegger an Aristoteles διάθεσις (Disposition) angelehnt ist, wie Francesca BrencioFootnote 21 erläutert – im Sinne von DispositionenFootnote 22 abzulehnen. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob die Lehre der Affektivität ohne die Thematisierung solcher Begriffe wie Disposition vollständig ist.

Wenn nun von der Umdrehung der Affektivität zur Situiertheit des Daseins in der Welt die Rede ist, was Heidegger erst mit dem Begriff der Befindlichkeit gelingt, dann geht es ihm darum, die Voraussetzung a priori jeglicher Art von Bezug zur Welt aufzuweisen. Damit Dasein sich auf seine Welt beziehen kann, muss sich Dasein zunächst in seiner Welt befinden. Deshalb schreibt Francesca Brencio: “Befindlichkeit stresses the basic state of Dasein in its being situated: finding ourselves already in situatedness, means finding ourselves gathered to a ‘there’ […] The situatedness is strictly related to the existence’s facticity.”Footnote 23 Dieser Bezug durch ein Sich-in-der-Welt-befinden bedeutet aber keine Intentionalität implizierende Subjekt-Objekt-Aufteilung, wie wir in einem früheren Absatz erwähnt haben und wie es bei Husserl der Fall ist. Für diesen Bezug wählt Heidegger einen eigenen Begriff: „Erschließen“. Damit ist weder eine Entzifferung einer Tatsache gemeint, als hätte man nach einer Evidenz gesucht: „Existenzial-ontologisch besteht nicht das mindeste Recht, die ‚Evidenz‘ der Befindlichkeit herabzudrücken durch Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoretischen Erkennens von purem Vorhandenen“,Footnote 24 noch ist die Wahrnehmung und das kognitive Erkennen eines Gegenstands der Maßstab des Erschließens, wie von einem räumlichen Punkt zu einem anderen räumlichen Punkt. Das Erschließen der Befindlichkeit ist vielmehr ein „je schon“, da es einer ontologischen Struktur dient. Dieses je schon sagt noch lange nicht aus, was die Befindlichkeit erschließt. Jedoch weist es auf eine Passivität hin, auf die Richir später begrifflich zugreifen wird. Denn dieses je schon wird mit einem Gewesensein gleichgesetzt:

Das Verstehen gründet primär in der Zukunft, die Befindlichkeit dagegen zeitigt sich primär in der Gewesenheit […] der existenziale Grundcharakter der Stimmung ist ein Zurückbringen auf…. Dieses stellt die Gewesenheit nicht erst her, sondern die Befindlichkeit offenbart für die existenziale Analyse je einen Modus der Gewesenheit.Footnote 25

Besagt dieses Zurückbringen auf (Gewesensein) dann nicht eine ewige Wiederholbarkeit der Stimmung als einer ontologischen Instanz? Die Befindlichkeit erschließt auf dreifache Art, die alle ihren Wesenscharakter konstituieren. Das heißt es gehört zum Grundcharakter der Befindlichkeit, dass sie diese erschließt, worauf wir bald zurückkommen werden. Davor soll jedoch die Frage beantwortet werden, wie die Befindlichkeit mit der StimmungFootnote 26 zusammenhängt – einem Begriff, den Heidegger im Kontext der Befindlichkeit einführt, um die affektive SituiertheitFootnote 27 zu explizieren. Zwar sind sie eng verbunden in der Bedeutung, drücken jedoch unterschiedliche Subtilitäten aus.

8.3.1 Unterschied zwischen Befindlichkeit und Stimmung

Die Ausräumung des problematischen Zusammenhangs dieser Begriffe geschieht durch die Unterscheidung zwischen „ontologisch“ und „ontisch“, welche eindeutig auf die ontologische Differenz hinweist. Diesbezüglich schreibt Heidegger: „Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.“Footnote 28 Wie ist das zu verstehen? Hier könnte uns das Gespräch Heideggers mit Peter Meier-Classen hilfreich sein: „Ontologisch bedeutet, ‚die Lehre des Seins auslegend‘, ontisch bedeutet ‚das Sein betreffend‘.“Footnote 29 Da Heidegger diese Unterscheidung einführt, um den Unterschied zwischen dem nicht gegenständlichen seienden Sein und dem so und so vorkommenden Seienden zu markieren, kann man das Ontologische auf das Sein selbst und das Ontische auf das Seiende selbst beziehen. Erst in diesem Zusammenhang macht der im Gespräch mit Peter Meier-Classen formulierte Satz Sinn:

Das Dasein ist uns zwar ontisch das Nächste, ja wir sind dieses Dasein sogar – trotzdem oder gerade deshalb ist es uns ontologisch das Fernste. Das Dasein ist ein Seiendes, das nicht nur unter anderem Seienden vorkommt. Es ist vielmehr dadurch ontisch ausgezeichnet, daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.Footnote 30

Das Ontische ist uns nah. Das Ontologische ist uns fern. Gerade deshalb soll die an die Ontologie geknüpfte Befindlichkeit als konstitutive Weise des auf der Grundverfassung des Seins basierten Da (das Sein des Daseins betreffend) verstanden werden, wohingegen die an das Ontische verhaftete Stimmung als die die Alltäglichkeit des Daseins betreffenden Seienden (sie betrifft das Seiende des Daseins) verstanden werden soll. Da „das Sein […] dem Seienden vorgelagert“Footnote 31 ist, ist das Ontologische von vornherein a priori. Zugleich drückt sich die Befindlichkeit in der Stimmung ontischFootnote 32 aus.

Um diesem Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen näher zu kommen, beziehen wir uns jetzt auf eine Passage aus Grundbegriffe der Metaphysik, in der sich Heidegger reichlich mit der Problematik auseinandergesetzt hat. Zunächst lehnt Heidegger explizit jede Bezugnahme auf eine Innerlichkeit auf der einen und eine Äußerlichkeit auf der anderen Seite ab. Die Stimmung sei weder in der einen noch in der anderen:

Die Stimmung ist sowenig darinnen in irgendeiner Seele des anderen und sowenig auch daneben in der unsrigen, daß wir viel eher sagen müssen und sagen: Diese Stimmung legt sich nun über alles, sie ist gar nicht „darinnen“ in einer Innerlichkeit und erscheint dann nur im Blick des Auges; aber deshalb ist sie auch ebensowenig draußen.Footnote 33

Jedoch geht er der Frage nach: „Wo […] ist sie dann?“ Die Antwort, welche er uns liefert, klingt zwar merkwürdig, ist aber stimmig: „Es scheint so, als sei gleichsam je eine Stimmung schon da, wie eine Atmosphäre, in die wir je erst eintauchten und vor der wir dann durchstimmt würden. Es sieht nicht nur so aus, als ob es so sei, sondern es ist so.“Footnote 34

Mit anderen Worten geschieht die Stimmung nicht außerhalb von Dasein. Sie geschieht auch nicht in einem Teil seiner privaten inneren Subjektivität. Vielmehr befindet sich das Dasein selbst auf eine bestimmte Weise in der Stimmung, eine Weise des „so und so“: „Stimmungen sind das Wie, gemäß dem einem so und so ist.“Footnote 35 So und so kommt die Affektivität zu, da es offenbart, wie einem ist, wie das Da des Daseins Sein ist. Ein trauriger Mensch sieht die Welt auf eine bestimmte Weise. Ihm erscheint die Welt in einem bestimmten Licht, das bei einem freudigen Menschen gar nicht infrage kommt. Erst jetzt ist unsere Bezeichnung der Stimmung als affektive Situiertheit eindeutig, denn sie macht klar, wie das Ontologische und das Ontische, also die Situiertheit und das Affektive zusammenhängen.

Wenn oben von einem bestimmten Licht der Erscheinung der Welt für das Dasein in der Stimmung die Rede ist, vermitteln wir dann nicht den Eindruck, als wäre die Stimmung nur ein Gerichtetsein, das einem anhand eines Gegenstandes singulär verfügbar ist, so, als ob diffusen und ungerichteten affektiven Lagen keine Stimmung zukommen würde? Ist die Stimmung denn entweder bestimmt oder unbestimmt, gerichtet oder ungerichtet, eine Singularität oder eine Pluralität?

8.4 Die Erschließungen der Stimmung

Bevor wir den oben genannten Fragen nachgehen, wollen wir uns zunächst dem dreifachen Wesenscharakter der Befindlichkeit zuwenden, dem die Erschließungsweise der Stimmung zukommt:

8.4.1 Die Geworfenheit des Daseins

Oben haben wir schon darauf hingewiesen, dass Heidegger den Anspruch erhebt gegen die Vergessenheit oder die Reduktion des Seins anzuarbeiten, die die philosophische Geschichte bis zur Sein und Zeit ausmacht. Hinter dem oft untersuchten Seienden liegt seine Grundvoraussetzung: Sein. Auch bei der Erschließung des Seins des Daseins wird dies wieder im Alltag merklich. Zum Sein gehört dabei ein Nichtsein. Denn da wo sich dieses als pures „Daß es ist und zu sein hat“ zeigt, kommt diesem durch die Stimmung erschlossenen Sein eine entzogene Seite zu. Da gibt es ein pures „Daß es ist“ (Erschließen); jedoch bleiben dessen „Woher und Wohin“ „im Dunkel“ (Verhüllung).Footnote 36 Der Name für „diesen in seinem Woher und Wohin verhüllten“ aber zugleich „erschlossenen Seinscharakter des Daseins“ ist die Geworfenheit (Faktizität, die sich auf eine dem vorhandenen Seienden zukommende Tatsächlichkeit reduzieren lässt) des Daseins, wie es in seiner Welt Da ist. Was sagt uns diese Geworfenheit des Daseins in seiner Welt, die die Stimmung erschließt? Worum geht es hier eigentlich, wenn nicht um die Faktizität, in der wir uns befinden? Geworfen heißt, dass Dasein ein „Kind“ seiner Welt ist. Es befindet sich da, wo es ist. „Da“ seiend „ist“ es sich selbst. Mag man es als sein Schicksal verstehen oder nicht – Dasein hat in seinem Da keine Wahl. Dieses Da macht es aus und drückt diese unvermeidliche Situiertheit aus, die in der Tat auch wirtschaftlich, politisch, religiös oder affektiv sein kann. Das ist der Zusammenhang zwischen dem affektiven Leben und der Geworfenheits-Befindlichkeit. Slaby nennt dies „the unshakable condition of sheer ‘being there’“Footnote 37 und lehnt ein Verständnis und Deutung dessen als „ways of finding oneself in the world“, (Ratcliffe)Footnote 38 ab, da ein solches daran scheitert, „the full drama of factual situatedness, its ‘hardness’“ einzufangen.Footnote 39 In der Stimmung werden solche affektiven Lagen ausgedrückt, in die wir geworfen sind und denen wir nicht entgehen können, egal wie groß unser Wissen und wie tiefgreifend unser kognitives Vermögen sein mag:

Auch wenn Dasein im Glauben seines „Wohin“ „sicher“ ist oder um das Woher zu wissen meint in rationaler Aufklärung, so verschlägt das alles nichts gegen den phänomenalen Tatbestand, daß die Stimmung das Dasein vor das Daß seines Da bringt, als welches es ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstarrt. Existenzial-ontologisch besteht nicht das mindeste Recht, die „Evidenz“ der Befindlichkeit herabzudrücken durch Messung an der apodiktischen Gewißheit eines theoretischen Erkennens von purem Vorhandenen.Footnote 40

Die Faktizität der affektiven Lage des Daseins starrt uns ins Gesicht. Sie ist da. Wenn sie da sein soll, müsste sie dann aber nicht erkennbar sein? Und sollte sie erkennbar sein, müsste das Dasein dann nicht davon wissen? Sollte es nicht in der Lage sein, Bescheid über die affektive Lage seiner Geworfenheit zu wissen? Hat Dasein also einen Zugang zu dieser affektiven Lage, in die es geworfen ist? Diese Problematik findet sich schon in Sein und Zeit,Footnote 41 das auch zugleich ihre Behebung enthält, und zwar genau da, wo Heidegger der Kognition einen Zugang zu der schon erschlossenen Faktizität des Daseins untersagt. Diese Bewegung stellt er mit dem Begriff „Abkehr“ dar:„Die Stimmung erschließt nicht in der Weise des Hinblickens auf die Geworfenheit, sondern als An- und Abkehr […] Diese Abkehr ist, was sie ist, immer in der Weise der Befindlichkeit.“ Das heißt, dass das Dasein es nicht vermag, sich der anhand der Stimmung erschlossenenFootnote 42 Faktizität zu nähern, nur weil es über sie wissen könnte – sei es durch Perzeption oder durch einen theoretischen Weg der Erkenntnis. Denn die schon in der Stimmung erschlossene Faktizität entgeht diesem theoretischen Weg. Darum Abkehr: Das, was die Stimmung als Faktizität erschlossen hat, geht über das Erkennbare, das dem Dasein Zugängliche hinaus. Da gibt es ein „Mehr“ (dieses wird in dem Satz deutlich: „Man würde das, was Stimmung erschließt und wie sie erschließt, phänomenal völlig verkennen, wollte man mit dem Erschlossenen das zusammenstellen, was das gestimmte Dasein ‚zugleich‘ kennt, weiß, glaubt“Footnote 43), einen „Überschuss“, wenngleich er uns auch entgeht. Damit taucht wieder die Kehrseite auf (z. B. die Stimmung und Ungestimmtheit, die zum allgemeinen Programm von Sein und Zeit passen, wo Heidegger unter anderem über die Vergessenheit des Seins klagt, das zwar da ist, aber vergessen oder verdinglicht ist), auf die wir schon hingewiesen haben und die sowohl allgemein bei Heideggers Feststellung der Seinvergessenheit thematisiert wird als auch spezifisch in seine ganze Abhandlung über die Stimmung hineinreicht. Was sagt uns diese Kehrseite der Stimmung? Dass der Affektivität auch eine Pluralität entspricht? Dass zu jeder Hinkehr eine Abkehr gehörtFootnote 44?

8.4.2 In-der-Welt-sein

Die Stimmung wirkt so sehr und hartnäckig auf Dasein, dass man besser sagen kann, Dasein wird von der Stimmung überfallen. Es hat keinen Ausweg und keine Wahl, weder von der Außenwelt noch von der Innenwelt. Bei Heidegger wird der cartesianische Dualismus überwunden, sodass man eher von einer Welt ausgehen kann, in der das Dasein und die Welt zusammenfallen. Zwischen dem Außen und dem Innen besteht kein Kausalzusammenhang: „Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt“.Footnote 45 Aufgrund dieses Mangels eines Kausalzusammenhangs stellt sich dann die Frage, auf welche Weise die Stimmung übertragen werden kann; eine Übertragung, die auf vielfältige Weise sowohl in der Ästhetik durch die Wahrnehmung, als auch in der Intersubjektivität geschieht. Bei Heidegger wird diese Dimension so gut wie nie thematisiert, was Richir ernst nehmen wird. Später wird diese Idee deutlicher.

Da wo Dasein und Welt zusammenfallen, drückt sich die Stimmung affektiv als „das ganze In-der-Welt-sein“ aus. Das heißt, Stimmung offenbart die Weise des Daseins – Da, in der Welt zu sein – in der Welt zu sein. Ab sofort kann Dasein nicht in den gleichen Topf der innerweltlichen vorhandenen Seienden geworfen werden. Und gerade bei dieser Erschließung handelt es sich um die Ganzheit des In-der-Welt-seins als solches, was von großer Bedeutung ist: „Die Stimmung hat je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen und macht ein Sichrichten auf…allererst möglich“.Footnote 46 Das „je schon…erschlossen“ markiert eine gewisse schon abgeschlossene Zeitlichkeit als Grundboden, während das erschlossene Ganze die Welt, Mitdasein und Existenz umfasst. Dieses Ganze verstehen wir als eine Pluralität, eine Allgemeinheit, aus der eine Besonderung, sprich eine Singularität, entstehen kann. Dies wird an späterer Stelle wieder aufzugreifen sein.

8.4.3 Weltoffenheit

Zwischen der zweiten und der dritten Wesensbestimmung der Stimmung gibt es einen klaren Zusammenhang, denn die Struktur des In-der-Welt-seins ermöglicht die Weltoffenheit allen Seienden gegenüber, denen weder durch ein Empfinden noch durch ein Anstarren, sondern nur durch Umsicht begegnet werden kann. Das bedeutet, dass einem innerweltlichen Seienden dadurch begegnet werden kann, dass es ein In-der-Welt-sein ist: „Die Betroffenheit aber durch die Undienlichkeit, Widerständigkeit, Bedrohlichkeit des Zuhandenen wird ontologisch nur so möglich, dass das In-Sein als solches existenzial vorgängig so bestimmt ist, daß es in dieser Weise von innerweltlich Begegnendem angegangen werden kann.“Footnote 47 Nur einem Seienden, dem das Strukturmoment des In-der-Welt-seins zukommt, wird die Welt zugänglich. Erst als ein im Fürchten und in der Furchtlosigkeit gestimmtes In-der-Welt-seiendes kann das Dasein einem umweltlichen Bedrohlichen als solches begegnen. Das heißt: „Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins […]. In der Befindlichkeit liegt existenzial eine erschließende Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann.“Footnote 48 Einfach ausgedrückt: Alles ist schon in der Stimmung als ein In-der-Welt-Sein Erschließendes erschlossen. Eine Begegnung mit einem innerweltlichen Seienden, also eine Eröffnung zur Welt, ist nur deswegen möglich.

8.5 Ist die Stimmung eine Singularität oder eine Pluralität?

Wie oben bereits angekündigt können wir nun die Frage angehen, ob die Stimmung eine Singularität oder eine Pluralität ist. Wir nähern uns diesem Thema anhand von zwei wichtigen Stimmungen als Beispielen, denen bei Heidegger ein wichtiger Platz eingeräumt wird: Diese sind Furcht und Angst. Wir werden aus Platzgründen auf eine Auseinandersetzung mit Heideggers Überlegungen zur Langweile verzichten. Um die für uns so wichtige Frage zu beantworten, werden wir uns mit ihren Erschließungsgehalten, bzw. ihren Erschließungsweisen beschäftigen.

Auf den ersten Blick erscheint die Stimmung bei Heidegger als eine, die „schon da ist“Footnote 49 und etwas „was den Charakter des Da hat.“Footnote 50 Der Charakter des Da verweist auf das Wesen eines bekannten affektiven Zustands, der einen besonderen Namen trägt. Zwar ist er in keiner Weise ein Gerichtetsein auf etwas, denn Heidegger wollte vermeiden, dass ein Subjekt auf der einen und das Objekt auf der anderen Seite vorausgesetzt werden. Er kennzeichnet jedoch eine gewisse bekannte Lage, eine Begebenheit, die aber auch ein bestimmtes Verhalten auslösen kann. Furcht, Traurigkeit, Freude, Hoffnung, Verzweiflung, Überdruss usw. sind einige Beispiele, die inhaltlich einer vertrauten, bekannten Lage, Begebenheit oder einem bestimmten zeitlichen Zusammenhang entsprechen.Footnote 51

Was die systematische Behandlung der Furcht anbelangt, werden bei Heidegger das „Wovor der Furcht“, das „Fürchten“ und das „Worum der Furcht“ analysiert. In seinen Überlegungen zum „Wovor der Furcht“ erweist sich das „Furchtbare“ als das „Wovor der Furcht“, das den Charakter der Bedrohlichkeit innehat, wobei es wiederum auf vielfache Weise furchtbar sein kann (als Zuhandenes, Vorhandenes oder Mitdasein). Diese Vielfältigkeit ist auf keinen Fall ein Hinweis auf eine Pluralität. Sie drückt vielmehr eine Bestimmtheit aus, die wir aus ihren Eigenschaften entnehmen:

1. Das Begegnende hat die Bewandtnisart der Abträglichkeit. Es zeigt sich innerhalb eines Bewandtniszusammenhangs. 2. Diese Abträglichkeit zielt auf einen bestimmten Umkreis des von ihr Betreffbaren. Sie kommt als so bestimmte selbst aus einer bestimmten Gegend. 3. Die Gegend selbst und das aus ihr Herkommende ist als solches bekannt, mit dem es nicht „geheuer“ ist.Footnote 52

Durch all dies sehen wir allerdings, dass bei der Furcht die Welt in einer spezifischen, affektiv gefärbten Ansicht erscheint, die ein gewisses Handlungsfeld ermöglicht. Genau dies steht bei der Frage nach dem zweiten oben genannten Begriff, dem des „Fürchten[s] selbst“, im Fokus: „Das Fürchten als schlummernde Möglichkeit des befindlichen In-der-Welt-seins“. Da es einen gewissen Zugang zur Welt verleiht, ist es diese „schlummernde Möglichkeit“: „Das Fürchten […] hat die Welt schon darauf hin erschlossen“. Die Spezifizität der Erschließung bringt Slaby zum Ausdruck: „Das Fürchten selbst entdeckt das jeweils Bedrohliche als Bedrohliches. Das Fürchten besteht also in einem spezifischen affektiven Gewahrsein von etwas als bedrohlich“.Footnote 53 Hier ist von keiner schattenhaften, diffusen sondern von einer gewissen Erschließung die Rede. Es geht weder um ein „Sich-Anfühlen“, noch um Qualia.Footnote 54 Und beim dritten Begriff, „Worum die Furcht fürchtet“, hat die Erschließung den Zweck, „das Dasein vorwiegend in privater Weise“Footnote 55 zu enthüllen. Zugleich geht diese Erschließung der Furcht mit einer Verschließung einher. Das heißt, dass Dasein keinen Zugang zu Stimmungen wie Trauer oder Freude hat, während es fürchtet. Im Falle eines traurig gewordenen Menschen ist das Gleiche zu beobachten: „Der verschließt sich, er wird unzugänglich“. Um die Unzugänglichkeit oder Verschließung des traurigen Menschen zu explizieren, schreibt Heidegger: „Die Art und Weise, wie wir mit ihm sein können und er mit uns ist, ist eine andere. Diese Traurigkeit ist es, die dieses Wie (wie wir zusammen sind) ausmacht.“Footnote 56 So bestimmt die Stimmung das Miteinandersein. Mit anderen Worten: sie ist die spezifische, konkrete Art der Welterschließung. Darum gehört es dann zum Traurigsein dieses traurigen Menschen, mit uns in seiner Stimmung auf eine Weise zu sein. Dies wiederum zeigt, dass bei Heidegger die Stimmung einer Singularität entspricht, d. h. eine bestimmteFootnote 57 Weise des „so“ und „so“ zeichnen kann, sich auf die Welt zu beziehen.

Diese Auslegung wird aber verkompliziert, sobald wir unsere Lektüre von Heideggers Die Grundbegriffe der Metaphysik genau da fortsetzen, wo wir oben aufgehört haben: „Es drückt zugleich aus, daß sie in gewisser Weise nicht da ist. Merkwürdig, die Stimmung ist etwas, was da und zugleich nicht da ist.“Footnote 58 Dies erinnert wieder an die doppelseitigen Begriffspaare, mit denen die Stimmung schon oben assoziiert wurde: Gestimmtheit und Ungestimmtheit, Hinkehr und Abkehr, Erschließung und Verschließung. Jedes bildet das Heidegger’sche Verständnis der Stimmung und spiegelt sich im Wesen des Daseins wieder, denn auch zum existenzialen Modus vom Da-sein des Daseins gehört das Vermögen des Wegseins: „Wenn die Stimmung so etwas ist, was den Charakter des Da und Nicht-da hat, dann hat sie selbst mit dem innersten Wesen des Seins des Menschen, seinem Dasein, zu tun“.Footnote 59

Dieser Mischung in der Stimmung selbst nähert sich dem, was bei Musils Beschreibung des mentalen Lebens auftaucht, dessen Beschaffenheit schwer ist. Das Affektive dabei ist eher verwoben oder verflochten. Musil schreibt:

Man sieht in dem seelischen Grundbegriff eine ohnehin bloß gedankliche Vorlage, nach denen sich das innere Geschehen ordnen läßt, erwartet aber nicht mehr, daß es sich wirklich aus Elementen solcher Art aufbaue wie ein Vierfarbendruck. In Wahrheit sind nach dieser Anschauung die reinen Beschaffenheiten des Gefühls, der Vorstellung, der Empfindung und des Willens in der inneren Welt so wenig anzutreffen wie etwa in der äußeren ein Stromfaden oder einer schwerer Punkt, und es gibt bloß ein verflochtenes Ganzes, das bald zu wollen und bald zu denken scheint, weil diese oder jene Beschaffenheit in ihm überwiegt.Footnote 60

Es muss so verstanden werden, dass mentales Leben in sich ungeordnete unspezifische Zustände verbergen kannn. Wie Musil aufweist, scheint das affektive Leben daher unspezifisch zu sein, da es neblige Empfindungen vermittelt, die schwer als dies oder jenes zu charakterisieren sind. Was aber das Unspezifische im affektiven Leben angeht, wird im folgenden Zitat deutlich:

Die eigentümliche Weise, auf die das Gefühl dabei sowohl von Anfang an vorhanden als auch nicht vorhanden ist, läßt sich aber durch den Vergleich ausdrücken, daß man sich sein Wachsen und Werden nach dem Bild eines Waldes vorstellen müsse, und nicht nach dem eines Baumes.Footnote 61

Zwar handelt es sich hierbei um affektives Leben, wie ein Gefühl (das aber nicht mit der Stimmung verwechselt werden sollte), jedoch offenbart dieses affektive Leben die Idee einer Abschaffung einer spezifischen Bezugnahme, die manche affektive Leben betreffen kann. Doch Musil hat die eindeutige Trennung zwischen bloßen Gefühlen und Stimmungen vor Augen. Die Zuschreibungen von „vorhanden“ und zugleich „nicht vorhanden“ entsprechen den Begriffen „Da-sein“ und „nicht Da-sein“ in Heideggers Grundbegriffe der Metaphysik. Was das zur Folge hat, wird uns anhand von Musil klarwerden. Zunächst geht das Gefühl Hand in Hand mit etwas Bestimmtem, das

einer Lebenslage entspringt, ein Ziel hat und sich in einem mehr oder minder eindeutigen Verhalten ausdrückt, wogegen die Stimmung von alledem ungefähr das Gegenteil zeigt; sie ist umfassend, ziellos, ausgebreitet, untätig, enthält bei aller Deutlichkeit etwas Unbestimmtes und ist bereit, sich auf jeden Gegenstand zu ergießen […] So entspricht dem bestimmten Gefühl ein bestimmtes Verhalten zu etwas und dem unbestimmten ein allgemeines, ein Verhalten zu allem, und das eine zieht uns ins Geschehen, während uns das andere bloß hinter einem farbigen Fenster daran teilnehmen lässt.Footnote 62

Anhand dieser Erläuterung Musils dürfen wir unter Vorhandensein und Nichtvorhandensein von Sein im Sinne Heideggers eine Unbestimmtheit der Stimmung verstehen. Aber lässt sich diese Behauptung bei Heidegger selbst begründen? Bleiben wir unserer schon angekündigten Herangehensweise treu, gemäß derer die Erschließungsweise der Angst untersucht werden soll, so erweist sich das „Wovor der Angst“ als unbestimmt:

Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes. Daher kann es damit wesenhaft keine Bewandtnis haben. Die Bedrohung hat nicht den Charakter einer bestimmten Abträglichkeit, die das Bedrohte in der bestimmten Hinsicht auf ein besonderes faktisches Seinkönnen trifft. Das Wovor der Angst ist völlig unbestimmt. Diese Unbestimmtheit läßt nicht nur faktisch unentschieden, welches innerweltliche Seiende droht, sondern besagt, daß überhaupt das innerweltliche Seiende nicht „relevant“ ist.Footnote 63

Unter der Unbestimmtheit soll die Belanglosigkeit eines spezifischen vorhandenen oder zuhandenen Seienden als das „Wovor der Angst“ (diese Angst gleicht der Stimmung) verstanden werden. Mit anderen Worten es gibt hier kein konkretes Gerichtetsein in der Angst auf ein Objekt. Wenn also die als Angst bezeichnete Grundstimmung herrscht, kann man keine Bezugnahme auf eine spezifische Begebenheit richten. Die Angst sieht daher „nicht ein bestimmtes ‚Hier‘ und ‚Dort‘, aus dem her sich das Bedrohliche nähert“. Bei Furcht hatte Heidegger ein konkretes Objekt aufgewiesen: Das Furchtbare, das den Charakter des Bedrohlichen hat. Bei Angst verhält es sich anders. Das Bedrohliche ist also ein „Nirgends“, das ein „Unheimliches“ und „Nicht-zuhause-sein“ mit sich bringt. Bei diesen letzten Begriffen mangelt es an einem Vertrautsein und einer Selbstsicherheit der Alltäglichkeit. Daher gehen wir von der Unbestimmtheit der Angst aus. Dies ist auch der Fall bei der LangweileFootnote 64 (der zweiten und vor allem der dritten Form). Außerdem wird Dasein als ein solus ipse erschlossen: „Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als ‚solus ipse‘“. Anhand dieses Beispiels kann man – von dem Vorhandensein und Nichtvorhandensein der Stimmung ausgehend – sagen, dass die Stimmung auch eine Pluralität enthält. Damit meinen wir eine Einbeziehung von ineinander verflochtenen, diversen affektiven Inhalten, die noch keinen bestimmten Namen tragen. Ist die Angst dann auch wirklich so zu verstehen? Enthält sie nicht eine konkrete Weise, die Welt zu betrachten? Beruht nicht die Unbestimmtheit eher auf der Belanglosigkeit des bedrohlichen vorhandenen oder zuhandenen Seienden und nicht auf einem Mangel eines spezifischen Inhalts? Denn Heidegger fügte auch hinzu, dass die Angst Dasein auf das zurückwirft, „worum es sich ängstet, sein eigenstes In-der-Welt-sein-können.“Footnote 65 Die Angst ist wie eine bestimmte „Emotion“ – sie vereinzelt Dasein zum Beispiel als solus ipse und erweckt den Eindruck, dass es auch um ein Vorhandenes geht – als auch ein unbestimmtes „Gefühl“ (was Heidegger Stimmung nennt). Wie kann nun die Vieldeutigkeit der Stimmung erklärt werden, dass sie auf der einen Seite über einen bestimmten konkreten Inhalt verfügen mag, genauso wie die einzelnen Emotionen (z. B. Liebe, Eifersucht, Freude etc.,) Subjekte auf eine konkreteFootnote 66 Begebenheit in der Welt beziehen und dass sie auf der anderen Seite auf eine nebelhafte, diffuse affektive Lage verweist? Wir sehen zunächst eine Lücke zwischen den Emotionen und der Stimmung. Es scheint, als müssten wir es so sehen, als ob Heidegger die Emotionen und die Stimmung in einen Topf geworfen hätte. Oder – besser gesagt – Heidegger hat fast nichts über die Emotionen und Gefühle als der Affektivität zugehörig und als Weise des Seins in der Welt geäußert. Außerdem ist auch der Zusammenhang zwischen der Stimmung und den Emotionen gar nicht herausgearbeitet.Footnote 67 Während Emotionen Subjekte auf bestimmte Weltereignisse lenken, sind Stimmungen ihrer Natur nach nicht auf Weltereignisse gerichtet. In diesem Sinne drücken Emotionen diese Bestimmtheit im Allgemeinen nicht aus, während Emotionen bestimmte Zustände oder Beziehungen von Subjekten zu bestimmten Weltereignissen ausdrücken. Laut Epidorou und Freeman sollte Furcht im Sinne Heideggers als eine Emotion und nicht als eine Stimmung verstanden werden: „The fact that fear is directed at a specific worldly entity can be taken as evidence in support of the claim that fear, even in Heidegger’s understanding, is an emotion and not a mood. Heidegger’s discussion of the different variations of fear further supports this pronouncement“.Footnote 68 Der Grund, warum Furcht eher als eine Emotion zu verstehen ist, ist eindeutig: wie wir oben festgestellt haben, verfügt das Fürchten über ein spezifisches Objekt (das Furchtbare, das sich als das Bedrohliche erweist). Oder um das mit Slaby auszudrücken: „Das Fürchten besteht also in einem spezifischen affektiven Gewharsein von etwas als bedrohlich.“Footnote 69 Darüber hinaus – und das ist uns sehr wichtig – ist aber noch nicht klar, wie Stimmung sowohl einer Singularität, als auch einer Pluralität entsprechen kann. Hier tut sich eine ungeheure Lücke auf.

Unsere Aufgabe besteht nun darin, diese verbleibende Lücke zu füllen. Wir fangen genau dort an, wo Heidegger die Stimmung in einem Hintergrund situiert und zitieren diese Stelle daher ausführlich:

Zunächst und zumeist treffen uns nur besondere Stimmungen, die nach „Extremen“ ausschlagen: Freude, Trauer. Schon weniger merklich sind eine leise Bangigkeit oder eine hingleitende Zufriedenheit. Scheinbar überhaupt nicht da und doch da ist aber gerade jene Ungestimmtheit, in der wir weder mißgestimmt noch „gut“ gestimmt sind. Aber in diesem „weder-noch“ sind wir gleichwohl nie nicht gestimmt […]. Warum wir aber die Ungestimmtheit für ein Überhaupt-nicht-gestimmtsein halten, hat Gründe, die ganz wesentlicher Art sind. Wenn wir sagen, daß ein gut aufgelegter Mensch in eine Gesellschaft Stimmung bringt, so heißt das nur, daß eine gehobene oder ausgelassene Stimmung erzeugt wird. Es heißt aber nicht, daß vorher keine Stimmung da war. Es war eine Ungestimmtheit da, die scheinbar schwer zu fassen ist und etwas gleichgültig Indifferentes zu sein scheint, es aber in keiner Weise ist. […] Wir sehen erneut: Stimmungen tauchen nicht immer im leeren Raum der Seele auf und verschwinden wieder, sondern das Dasein als Dasein ist immer schon von Grund aus gestimmt. Es geschieht nur immer ein Wandel der Stimmungen.Footnote 70

In diesem Zitat geht es Heidegger um eine zunächst erscheinende neutrale existenziale Befindlichkeit, in der uns eine affektive Lage noch nicht zugänglich ist. Diese hat die ontologische Struktur des „Weder-nochs“. Die herrschende Stimmung scheint noch keinen Bestand zu haben – da ist sie aber, und zwar schattenartig. Das heißt, sie ist da als eine Grundlage für andere affektive Erlebnisse. Das ist die Bedeutung von: „Es heißt aber nicht, daß vorher keine Stimmung da war“. Denn erst später, wenn uns andere affektive Erlebnisse durch eine Weckung zugänglich werden, wird diese schattenartige Eigenschaft der Stimmung als Grundlage deutlich: „Eine Stimmung wecken, das sagt doch, sie wachwerden lassen und als solche gerade sein lassen. Wenn wir aber eine Stimmung bewußt machen, um sie wissen und sie eigens zum Gegenstand des Wissens machen, dann erreichen wir das Gegenteil einer Weckung.“Footnote 71 Ganz offensichtlich hat Heidegger die Veränderung einer Stimmung vor Augen. „Sie wird dann gerade zerstört oder zumindest nicht verstärkt, sondern […] verändert.“Footnote 72 Das ist das Gegenteil einer Weckung: Veränderung. Doch verändert wozu? Anhand eines aus Heidegger entnommenen Beispiels werden wir diese Frage weiter bearbeiten, mit dem sich zeigen lässt, dass die Stimmungen als Grundlage notwendig für die Entstehung anderer Stimmungen – wir haben gezeigt, dass Heidegger keinen Platz für Emotionen hatte, sodass er keine Antwort auf unsere Problemstellung hat, wie aus einer unbestimmten Grundlage andere bestimmte Emotionen entstehen können –, und im weitesten Sinne für eine Welterschließung, einen Weltbezug sind. Sie ermöglichen eine Sichtweise; verleihen mir eine Brille, mit der ich die Welt betrachten kann.

Die Untersuchung, welche darin besteht, die Lücke zwischen bestimmten oder spezifischen Stimmungen (dies verstehen wir als die Emotionen) und den unbestimmten Stimmungen (die Stimmung als solche) zu überwinden, lässt sich anhand der beiden Stimmungen (Angst und Furcht) rekonstruieren. Es handelt sich um eine Modifikation der Stimmung hin zu einer anderen Stimmung. Deutlich wird es da, wo Heidegger Furcht auf Angst gründet: „Die Abkehr des Verfallens gründet vielmehr in der Angst, die ihrerseits Furcht erst möglich macht.“Footnote 73 Da diese Unbestimmtheit der Angst das Dasein unter den Druck der Selbstunsicherheit setzt, versucht Dasein dieser ontologischen Situation durch eine Flucht zu entgehen, die in der Furcht verwurzelt ist und die nach der beruhigten Selbstsicherheit und Vertrautheit der Öffentlichkeit strebt. Diese Flucht verschafft dem Dasein eine vorübergehende Ruhe, da es nicht mehr dem unheimlichen (also unbestimmten) Bedrohlichen – wie es in der Angst der Fall ist – ausgesetzt wird, das es ständig verfolgt. Unter dieser beruhigenden Selbstsicherheit und Vertrautheit der Öffentlichkeit verstehen wir eine Modifikation der unheimlichen und unbestimmten Stimmung der Angst in eine Bestimmtheit der Stimmung, die sich nun als Furcht darstellt.Footnote 74 Denn Angst als das Un-zuhause ist die Grundlage, aus der die Furcht entstehen kann und nicht umgekehrt: „Das beruhigt-vertraute In-der-Welt-sein ist ein Modus der Unheimlichkeit des Daseins, nicht umgekehrt. Das Un-zuhause muß existenzial-ontologisch als das ursprünglichere Phänomen begriffen werden.Footnote 75 Anders gesagt ist Furcht ein Modus der Angst und die Angst ist ursprünglicher als die Furcht. Deshalb ist Furcht „verborgene Angst“. Die Furcht kann sich aber wiederum in andere Stimmungen modifizieren: Sie kann „zum Erschrecken“, „zum Grauen“ und „zum Entsetzen“ werdenFootnote 76. Diese gleiche Bewegung wird auch im Falle der LangweileFootnote 77 bei Heidegger klar. So sehen wir, wie für Heidegger Stimmung sowohl eine Singularität als auch eine Pluralität beinhaltet. Es soll am Ende dieses Kapitels noch deutlich gemacht werden, wie die Pluralität und die Singularität explizit zu verstehen sind, denn bisher ist es so, dass die Stimmung sich in eine andere Stimmung verwandelt. Eigentlich hat Heidegger eine gewaltige Leistung erbracht. Er war kurz davor zu verstehen, dass aus einer unbestimmten affektiven Lage (z. B. ein vages Gefühl) eine bestimmte affektive Lage (z. B. eine klare Emotion wie Freude) entstehen kann. Insofern war Heidegger wie der biblische Mose, der das verheißene Land gesehen hat, es aber nicht betreten konnte. Bevor wir zu diesem Punkt kommen, in dem Richir uns begleiten wird, lässt sich nur beobachten – und das ist unser Verdacht – dass es so aussieht, als ob hier die Phänomenologie mit der Ontologie verwechselt oder durch sie ersetzt oder sogar mit ihr in einen Topf geworfen würde. Die Erstere wird in der Letzteren vergraben. Genau dies wird Richir sehr stark beschäftigen. Sein Versuch ist es, die beiden auseinanderzuhalten und ihnen ihren richtigen Platz zu geben.

Die Analyse der Befindlichkeit bzw. Stimmung hat uns etwas Tieferes offenbart und zwar, dass das Phänomenon bei Heidegger vielleicht nicht ganz vergessen wurde, sondern in das Sein der Seienden übergeht. Dies ist schom im methodischen Plan von Sein und Zeit angelegt, wo das „Phänomen im phänomenologischen Verstande immer nur das ist, was Sein ausmacht.“Footnote 78 Im nachfolgenden Zitat kommt unser Verdacht zur Geltung:

Stimmungen – ist das nicht gerade das, was sich am wenigsten erfinden lässt, sondern was über einen kommt, was wir nicht aufreden können, sondern was sich von selbst bildet, was sich nicht erzwingen läßt, sondern wohin wir geraten? Demnach können wir und dürfen wir eine solche Stimmung, wenn wir sie Stimmung sein lassen, nicht künstlich und willkürlich erzwingen. Sie muß schon da sein. Was wir tun können, ist nur das „Wachwerdenlassen dessen, was schläft.Footnote 79

Das, was Stimmung phänomenologischFootnote 80 ausmachen sollte, was thematisiert werden sollte, wird in der Seinsverfassung vergraben: Es sieht so aus, als wäre das Phänomen bei Heidegger wie Kants Raum und Zeit als Anschauung a priori (und als Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen) nur implizit und gar nicht explizit. Das Phänomen wird verstanden als das Sein des Seienden. Es ist implizit vergraben im Seienden. Aber das Phänomen könnte explizit gemacht werden, genauso wie die Vorstellungsweise der Zeit und des Raumes als Anschauung a priori in der Erfahrung thematisch werden kann. Eine solche Vergrabung entdecken wir darin, dass die Stimmung schon da ist. Nur durch ein „Wachwerdenlassen dessen, was schläft“, also anhand einer expliziten Herangehensweise kann uns das Phänomen zugänglich werden. Wir sind überzeugt, dass bei Heideggers Untersuchung der Stimmung die Ontologie die Oberhand gewinnt – dies entspricht auch dem programmatischen Plan von Sein und Zeit – und, dass das Phänomenologische sich in das Unvermeidliche fügt. Wie kann man nun das Phänomen als Phänomen zurückgewinnen? Es scheint die Aufgabe jener Phänomenologie zu sein, die nach Heidegger selbst „die Wissenschaft vom Sein des Seienden – Ontologie“ ist.Footnote 81 Das bedeutet, dass nur die Phänomenologie den Zugang zu dem geben kann, was in der Ontologie thematisiert wird, sodass „die Ontologie“ uns möglicherweise nur in der Phänomenologie zugänglich ist.Footnote 82 Genau an diesem Punkt wird Richir diese Intuitionen bis zur Spitze ihrer Dehnungsgrenzen treiben, indem er die beiden Welten auseinanderhält, wo die Ontologie dem Symbolischen und die Phänomenologie dem Phänomenologischen entspricht.

8.6 Richirs negative und positive Phänomenologie in Bezug auf die Affektivität

Nun wenden wir uns Richir zu, durch den deutlich gesagt wird, dass die Weltbezogenheit von Stimmung eine andere Tendenz aufweist. Heidegger hat diese andere Tendenz aber kritisch bewertet. Die Aufgabe der Stimmung im Sinne Richirs besteht allerdings auch nicht, wie Heidegger annahm, darin, eine Antwort auf die Seinsfrage überhaupt zu liefern, sondern darin, einen wahren, leibhaftigen, leiblichen phänomenologischen Bezug zur Welt zu ermöglichen. Es gibt dabei eine negative und eine positive Herangehensweise. Unter der ersten ist eine Art Kritik zu verstehen, während mit der zweiten eine phänomenologische Entwicklung des affektiven Lebens bezeichnet wird, die die Intuition und Schwierigkeiten Heideggers jeweils erhellt und behebt. Darüber hinaus zielt Richirs Ausarbeitung der Affektivität auf eine Erschließung der Welt als Sinn ab. Wir werden sehen, wie Richir Antwort auf die Frage liefert, wie aus einer unbestimmten affektiven Lage (z. B. vages Gefühl) eine bestimmte affektive Lage (eindeutige Emotion z. B. Freude) entstehen kann und somit den Zusammenhang zwischen Gefühlen und Emotionen zu artikulieren.

8.6.1 Einwand gegen Richirs Vorwurf des existenzialen Solipsismus

Wir fangen mit der negativen Herangehensweise an. Richir kommt direkt zur Sache: Er stellt Heideggers Stimmungslehre in Frage und kritisiert sie als sehr streng und exklusiv. Das betrifft das Dasein, das neben sich stehe, also keinen Zugang zu sich selbst habe. Man kann dies so verstehen, dass Dasein „voll“ mit Existenz, aber entleert von Erlebnissen ist. Außerdem hätte sich Heideggers Stimmungslehre mit der Frage nach der Empfänglichkeit der Daseinsfaktizität gar nicht auseinandergesetzt. Heideggers Gedanken und Thesen über die Intersubjektivität seien daher sehr schwach: Zum Beispiel wäre der Begriff „Mitsein“ eher eine verbale Lösung, eher ein abstraktes „Existenziell“ (Richir), als eines, welches eine konkrete Erfahrung artikuliert,Footnote 83 denn die ontischen, existenziellen Ausdrücke dieses Mitseins seien sehr eingeschränkt und thematisierten die Erfahrung nicht. Die Frage wäre dann, wie die Stimmung berechtigt die Welt des Daseins eröffnen kann, wenn sie die ontischen und erfahrungsmäßigen Erlebnisse ausblendet und ihnen keinen freien Lauf lässt. Da die Welt, die die Stimmung dem Dasein eröffnet, eine Verschließung der dem Dasein legitim gegebenen ontischen-erfahrungsmäßigen Welt impliziert, schreibt Richir der Stimmungsleistung bei Heidegger einen existenzialen SolipsismusFootnote 84 zu. Diese Stellungnahme wird dann dadurch gerechtfertigt, dass Heidegger sowohl in Sein und Zeit als auch in Die Grundbegriffe der Metaphysik sehr wenig über „Leiblichkeit und Inkarnation“ (Leiblichkeit et l’incarnation) zu sagen habe,Footnote 85 was sich später in den Zollikoner Seminaren aber geändert habe.

Heidegger wird vorgeworfen, den Leibbegriff vernachlässigt zu haben, besonders was seine ontologische Tragweite angehe. Sartre ist einer der ersten, der ihm diesen Vorwurf gemacht hat. Ihm geht es schlicht darum, dass der Leib schlecht von Heidegger bedacht wird. Auf diesen Vorwurf ging Heidegger im Gespräch mit Medard Boss mit zwei Punkten ein: „1. Die Behandlung der Leibphänomene ist gar nicht möglich ohne zureichende Ausarbeitung der Grundzüge des existenzialen In-der-Welt-seins. 2. Es gibt noch keine zureichende verwendbare Beschreibung des Leibphänomens, nämlich eine solche, die vom In-der-Welt-sein aus gesehen wird.“Footnote 86 Der Grundgedanke ist hier, dass es dabei nichts anderes außer den Grundzügen der existenzialen Seinsverfassung des In-der-Welt-seins gibt, womit diese Beschreibung gelingen kann. Weicht man dieser aus, so kommt man nicht zum Wesentlichen des Leibes.Footnote 87 Außerdem birgt die Seinsverfassung des In-der-Welt-seins ein A priori, dem Heidegger nicht entkommen konnte. Da er einiges im Verständnis des Selbst verändern wollte, hat er auf dieses ontologische A priori bestanden. Zum Beispiel sah er die Technologisierung oder die Psychologisierung des Selbst sehr kritisch.Footnote 88 Aho argumentiert in Bezug auf diesen Punkt, dass Heidegger einen bedeutenden Beitrag zur Leibtheorie geleistet hat, auch wenn er selten über den Leib schreibt. Dies tut Heidegger, indem er das technologische Selbst kritisierte und andere ursprünglichere Seinsarten (Seinsweisen) freigelegt hat, die eine ontologische Vernetzung mit anderen Seienden und anderem Dasein (Mitsein) artikulieren.Footnote 89 All das verdankt sich dem A priori des In-der-Welt-seins. Auf diesem A priori sollen alle Leibphänomene beruhen und nicht umgekehrt. Und gerade deswegen könne die Leiblichkeit ihre Möglichkeit der Räumlichkeit des Daseins ausleihen: „Das Dasein ist nicht räumlich, weil es leiblich ist, sondern die Leiblichkeit ist nur möglich, weil das Dasein räumlich ist.“Footnote 90

Es stellt sich deshalb die Frage, ob man Heidegger gerechterweise einen Solipsismus vorwerfen kann. Richirs Vorwurf hat uns nicht überzeugt, auf ihn könnten wir folgendermaßen antworten: Wenn Heidegger behauptet, dass Stimmung nicht als ein Geisteszustand zu verstehen ist, der von einer empirischen Wissenschaft wie der Psychologie untersucht werden soll, sondern dass Stimmung ein Modus des In-der-Welt-seins ist, dann deshalb, weil für ihn Stimmungen nicht nur Empfindungen von mir (Interiorität), sondern auch von der Welt sind. Anders ausgedrückt, es wird also bei Heidegger kein Innen und Außen benötigt, damit aus einer Innerlichkeit Dasein zu einer äußeren Welt im Sinne Husserls gelangen kann. Es wird also keine Innenleiblichkeit (oder ein Leib) und Außenleiblichkeit (oder ein Körper) benötigt denn Erkennen ist „eine Seinsart des Daseins als „In-der-Welt-seins“. Warum ist das so? Der Grund ist, dass Heidegger den Cartesianischen Dualismus vermeiden wollte, in dem man von einer Trennung zwischen dem Bewusstsein oder der Seele (Psychologisierung des Selbst) und dem Körper (Technologisierung des SelbstFootnote 91) ausgeht. Descartes würde zum Beispiel bei Tränen oder dem Erröten vor Scham oder Verlegenheit zwischen einem psychischen und einem somatischen Phänomen trennen.Footnote 92 Anders als das Erröten zwischen psychischen und somatischen Phänomenen aufzuteilen, deuten die verschiedenen Weisen des Errötens auf unterschiedliche Arten in der Welt zu sein: Manchmal deutet es auf Scham; anderes Mal zeigt es die Verlegenheit usw.

Das Erröten erschließt zuerst die Stimmung, in der ich mich befinde. Diese Stimmung mag eine Verlegenheit sein oder Scham. Die Stimmung deutet damit auf die Lage der Welt hin, in der ich mich befinde. Wenn ich mich zum Beispiel in einer Situation der Langeweile befinde, so artikuliert diese Langeweile nicht nur meine Innerlichkeit (sie ist nicht nur von mir), sondern auch die Weltlichkeit der Welt (sie ist auch über der Welt). Die Langweile ist meine Befindlichkeit. Sie schildert also meine Weise in der Welt zu sein und somit die Weltlichkeit als solche. Die Welt, in der ich mich befinde, offenbart sozusagen meine Erlebnisse dieser Welt, meinen Zugang zu mir selbst. Wenn die Stimmung diese Langeweile des Selbst artikuliert, welche gleichzeitig die Langweile der Welt ist, dann gibt es keinen starken Grund, Heideggers Stimmungslehre als solipsistisch zu erklären. Der Grund ist einfach: Die Affektivität, welche Heidegger durch seinen Begriff der Stimmung (Befindlichkeit) artikuliert, ist nicht nur eine Eröffnung des Daseins, sondern sie sagt sehr viel über die Welt aus, in der sich das Dasein befindet.

Wir können hier nur hinzufügen, dass die Welt, die Heidegger thematisiert hat, eine andere Welt nicht vor Augen hatte, die Richr in Bezug auf das Jenseits des Sprachlichen (oder auf das Nichtsprachliche: le hors langage) artikuliert. Diese Welt – die Welt der absoluten Transzendenz – ist die Referenz des Sprachlichen und schematisiert mit der Affektivität in Richirs Phänomenologie. Aber der Unterschied besteht darin, dass Richir dieser Welt eine Passivität abspricht und ihr stattdessen eine Virtualität zuschreibt. Insofern ist die Welt für Richir keine Welt des Seienden, sondern der Weltphänomene – wir haben diesen Begriff im Kapitel über das Erhabene definiert.

Auch wenn sich Heidegger über den Leib ganz wenig geäußert hat, so sind wir der Meinung, dass es nicht gerecht ist, ihm einen existenzialen Solipsismus vorzuwerfen oder dies aus dem Grund zu rechtfertigen, dass sein Begriff des Mitseins eine Abstraktion wäre. Wenn dies wahr wäre, hätte Heidegger keinen starken Beitrag zu den Theorien des embodiement geleistet, wie sie heute im Enaktivismus usw. bekannt sind. Einer seiner größten Beiträge besteht darin, eine Nuance über das Selbst zu thematisieren, die nur in Bezug auf einen gemeinsamen Horizont des Seins erstanden werden kann. Wir haben diese Idee schon in Kapitel drei ausführlich gezeigt.

8.6.1.1 Die zeitliche Abgeschlossenheit der Stimmung: Passivität

Eine zweite kritische Anmerkung schließt sich dem an. Der existenziale Solipsismus schließt nicht nur die ontischen Erlebnisse des Daseins aus – er schränkt sogar seine Affektivität zeitlich ein und verschließt sie deshalb. Es geht hier um die ZeitlichkeitFootnote 93 der Stimmung, die ewig auf ein „je schon“Footnote 94 rekurriert, das ontologisch der Befindlichkeit zu verdanken ist,Footnote 95 welche zugleich „primär in der Gewesenheit“ „gründet.“Footnote 96 So gesehen kommt der anhand der Stimmung erschlossenen Faktizität laut Richir auch die Eigenschaft „immer schon geworfen“ (toujours déjà jeté) zu sein zu. Damit ist die Abgeschlossenheit der Affektivität der Stimmung gemeint, die in der affektiven Gestimmtheit zum Ausdruck kommt, und der Richir eine Dimension der fundamentalen Passivität zuschreibt, die aber deshalb mit dem Unbewussten nicht gleichgestellt werden darf.Footnote 97 Warum besteht Richir darauf, dass Heideggers Begriff von Stimmung nichts mit dem Unbewussten der Psychoanalyse zu tun hat? Die Antwort, die Richir liefert ist klar: Wir sind uns unserer Stimmungen nicht komplett unbewusst. Wenn ich traurig bin, dann entgeht mir diese Traurigkeit nicht. Oder wenn ich eine fröhliche Heiterkeit erlebe, dann ist mir diese auch einigermaßen bewusst. Trotzdem liegt in dieser Freude oder Heiterkeit etwas, das mein Bewusstsein von weiter Ferne antastet, als ob es mein Bewusstsein magnetisieren würde, was ich aber nicht vollständig erfassen kann. Das sind die Echos des Nichtsprachlichen,Footnote 98 die als absolute Transzendenz dazu führen, dass diese Heiterkeit irgendwie im SprachlichenFootnote 99 schematisieren, also mir Sinn eröffnen kann. Doch dazu werden wir noch kommen.

In Bezug auf § 68 von Sein und Zeit erklärt Richir die zentrale These Heideggers als die einer primären Temporalisierung (Gegenwärtigung) von Affektivität in „Gewesenseinheit“. Es sei aber dieses Gewesensein, das die Ekstase von Stimmung modifiziert,Footnote 100 obgleich diese Ekstase (für die Stimmung) der Zukunft und der Gegenwart gehört.Footnote 101 Dies ist nicht ohne Konsequenz für das Dasein. Richir schließt daraus, dass Dasein sich bei dem ontischen existenziellen Charakter von Stimmung als das zeigt, was immer schon erledigt ist und das, was sich nun in eine Grundstimmung hineinschleicht, da die Affektivität (also Stimmung) immer schon in der Vergangenheit temporalisiert ist. Damit ist auch das Versinken des Daseins in die Lücke der Vergessenheit verbunden.

Richir greift auf die Grundstimmung der Angst zurück, um Heideggers These zu verdeutlichen. Diese Grundstimmung zeichnet für Richir ein Geworfensein als ein mögliches, jedes Mal wiederholbares, Geworfensein aus, sodass es die ontologische Möglichkeit, ein „pouvoir-être authentique“ verhüllt. Wir zitieren Richir ausführlich:

Mit anderen Worten, die Angst beruht auf dem geworfenen Sein als einem möglichen wiederholbaren geworfenen Sein und enthüllt somit die ontologische Möglichkeit eines authentischen Seinsvermögens, das die Prüfung des Todes oder eine Entscheidung, bei der sich der Augenblick in einer vorübergehenden Zeitlichkeit seines Endlichen zeitigen würde, bestanden hat. Das ursprüngliche Gewesensein ist hier das einer Wiederholbarkeit, die nur in der Spannung der Wiederholung und damit aller gegenwärtigen und zukünftigen faktischen Ontiken aufrechterhalten wird.Footnote 102

In der Angst sind also die Gegenwart und die Zukunft schon erschöpft, denn sie beruhen auf dem Nährboden des immer so Gewesenseins. Die ursprüngliche Mächtigkeit dieses Geworfenseins drückt sich zunächst in der Eröffnung eines Seinkönnens aus, das dem Dasein Zugang zum authentischen Leben verleiht und das jedes Mal abrufbar ist. Diese Abrufbarkeit nennt Richir „eine Wiederholbarkeit“. Sie stellt die Mächtigkeit der Vergangenheit über die Gegenwart und die Zukunft dar, sodass ihnen zugehörige ontische Erlebnissen zeitlich eingeschränkt werden. Das ist der Grund warum Richir Heideggers Auffassung der Temporalität der Stimmung eine Zirkularität zuschreibt. Genau diese Wiederholbarkeit des Gleichen oder deren Zirkularität führt zum Lähmen des Sinns, der sich machen will, in der Affektivität.

Richir bezieht sich auf eine andere Grundstimmung bei Heidegger, die „tiefe Langeweile“ (l’ennui profond). Wie Richir kommentiert, ist sie eine Langweile und ewige Wiederholbarkeit, bei der nichts anderes als eine Leere geschieht. Offenbar greift Richir auf eine Passage in Grundbegriffe der Metaphysik zurück, wo Heidegger vom Bruch des Augenblicks spricht:

Der Augenblick bricht den Bann der Zeit, kann ihn brechen, sofern er eine eigene Möglichkeit der Zeit selbst ist. Er ist nicht etwa ein Jetztpunkt, den wir gar nur feststellen, sondern der Blick des Daseins in den drei Richtungen der Sicht, die wir bereits kennenlernten, in der Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Der Augenblick ist ein Blick eigener Art […].Footnote 103

Diese drei Richtungen der Sicht sind nämlich: Hinsicht, Rücksicht und Absicht. Sie verteilen sich in die Gegenwart, Gewesenheit und Zukunft und sind ursprünglich eins. Wenn nun der Bann der Zeit gebrochen wird, dann versagt sich alles Seiende in seinem Was und Wie im Ganzen. Es handelt sich daher hier um ein radikales Versagen des Ganzen und dem, was damit einhergeht. Für Dasein gibt es also keinen Ausweg, da der ganze Augenblick mit einem Schlag gebrochen wird, sich aber in drei Richtungen der Sicht und deshalb der Zeit wieder vereinigt. Nur somit wird dann selbstverständlich, dass die tiefe Langweile „das Dasein schon so gewandelt“ hat.Footnote 104 In ihr ist das Dasein also „schon gestimmt.Footnote 105 Danach wird alles nur leer, was sich dann nur unendlich wiederholt.Footnote 106 Allein auf der Grundlage des Immer-schon-erledigt-und-erschöpft-seins der Befindlichkeit des Daseins (was Richir als Affektivität bezeichnet), welche sich in der Vergangenheit ansiedelt, sei die Heidegger’sche Analyse in Form der Melancholie erfolgt. Dass seine Analyse den Anschein von Melancholie hat, hängt auch damit zusammen, dass sich nach Heidegger das Dasein gar nicht von seiner Stimmung distanzieren kann. Es ist also ein Problem der Spatialisierung, welches Richir durch die Einführung der Proto-SpatialisierungFootnote 107 beheben will. Der gleiche Grund erkläre auch die Passivität der Affektivität bei Heidegger: dass das Dasein immer schon erledigt ist.Footnote 108 Das ist die harte Konsequenz solch einer zeitlichen Abgeschlossenheit der Stimmung. Die Stimmung wirkt nicht nur als ein gewalttätiges Einbrechen, eine unverzeihbare Passivität, die jede Entscheidung paralysiert, sondern auch ihre Gefangenschaft in der abgeschlossenen Zeit macht das Dasein zum Endprodukt, das sich als „immer schon erledigte und verschwendete“ (toujours déjà accomplie et toujours déjà gaspillée) „faktische Möglichkeit“ (possibilité factice) versteht.

8.6.1.2 Mangel am Vermögen zur Empfänglichkeit

Richir übt eine andere Kritik und meint, der existenziale Solipsismus hänge mit der Immanentisierung (immanentisation) des Daseins unter dem Horizont des Seins zum Tode zusammen. Der besagte existenziale Solipsismus und dessen Immanentisierung haben zur Folge, dass es dem Dasein deshalb an Empfänglichkeit für die Faktizität mangelt. Richirs Analyse ist angelehnt an Maldineys über die Psychotiker, denen ein begegnendes und erfahrendes Vermögen fehlt – sie schaffen es nicht, die Faktizität des Daseins zu empfangen, da der Faktizität von Dasein für sie der Sinn entzogen ist. Diese Idee haben wir schon im vierten Kapitel erklärt. Dort wurde gezeigt, dass ein Ereignis nicht vorhersehbar (imprevisible) ist, auch wenn es Sinn erzeugen kann. Daher setzt es das Vermögen (capacité d’acceuil) zur Empfänglichkeit voraus, das über die Ordnung der Möglichkeit hinausgeht. Richir zitiert Maldiney und hebt eine andere Ordnung hervor: „Wenn die Öffnung der Möglichkeit als solche das Sein selbst des Projekts ist, […] liegt die Öffnung zum Ereignis (und zur Begegnung) in der Ordnung der Passibilität.Footnote 109 Worauf Maldiney hinaus wollte, entnehmen wir der affektiven Seite eines Ereignisses, durch die uns die Welt eröffnet wird, das aber in der Psychose fehlt. Und da die Möglichkeit des Ereignisses mächtiger als irgendein A priori ist, muss die Begegnung mit einem Ereignis über die PassibilitätFootnote 110 hinausgehen. Über die Ordnung der Passibilität in Bezug auf Ereignisse hinaus folgt die Begegnung von Ereignissen der Ordnung der Transpassibilität.Footnote 111 Für Richir muss also die Bewegung von Möglichkeit zur Passibilität eine Transpassibilität werden, jenseits der Possibilität (Möglichkeit) und Passibilität (also ein bloßes Vermögen der Menschen zu erleben oder eine bloße Öffnung zum Ereignis). Gefangen in einem existenzialen Solipsismus der Stimmung (Befindlichkeit), wie in Richirs Augen bei Heidegger, in der die Möglichkeit des Daseins immer schon erledigt ist, mangelt es dabei am Unvorhersehbaren, Überraschenden, das unbedingt empfangen werden soll und das über das Fertige und immer schon Erledigte, also die Passivität hinausgeht. Dazu ist ein Vermögen, eine Fähigkeit zur Aufnahme oder zur Empfänglichkeit ontischer Ereignisse notwendig, welche nochmal die ontologische existenziale Möglichkeit überschreitet.Footnote 112 Wie soll das geschehen? Wie kann Dasein die Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz verwirklichen, die mit der zweiten Wesenbestimmung der Befindlichkeit zusammenhängt? Wie ist eine Begegnung mit der Welt für Dasein dann möglich? Auf welche Weise schafft es das Dasein, Zugang zur Existenz zu bekommen?

8.6.2 Die Ansteckung und Empfänglichkeit der Stimmung durch die Leiblichkeit

Richir greift hierzu auf ein Model der Empfänglichkeit, des Zugangs zu und der Begegnung mit der Welt zurück, das man bei Husserl findet. Es handelt sich hier um eine radikale Originalität der phänomenologischen Begegnung des Anderen, einer Begegnung, die von der Interiorität geprägt ist, die von der Intimität des Selbst ausgehen soll. Vorhin haben wir uns gefragt, ob Heideggers Auffassung des Daseins über solch eine Innerlichkeit verfügt. Wir haben festgestellt, dass Heidegger jegliche Voraussetzung der Leiblichkeit für die Räumlichkeit ablehnt, was jedoch nicht unabhängig von seiner Thematisierung des Leibbegriffs geschieht. Wenn Richir Heideggers Darstellung der Stimmung als unzureichend ansieht, dann gerade, weil das Dasein über keine Innerlichkeit verfügt. Aus diesem Grund greift Richir stattdessen auf Maine de Birans klassisches Werk „Memoire sur la décomposition de la penséeFootnote 113 zurück und nimm dies als seinen Ausgangspunkt. Bei einigen Besonderheiten der Stimmung geht es Maine de Biran um die intime Weise unseres sinnlichen Seins, ihre Vertrautheit, ihr Vermögen auf Sachen oder Bilder abzufärben, ihre Hervorrufung von affektiven Schatten in uns, aber auch um die Berührung, die Interiorität und die Exteriorität, empfindliche Affektivität, usw.Footnote 114 Laut Richir ist diese Innerlichkeit für die Stimmung entscheidend. Sie ist das, was eine phänomenologische Begegnung des Anderen möglich macht, denn darunter ist nicht der physische Körper in Hinblick auf dessen Physiognomie, sondern der Leib hinsichtlich seiner Innerlichkeit zu verstehen.Footnote 115 Somit sollte klar geworden sein, dass das Modell der Empfänglichkeit durch eine Begegnung einer Alterität anhand dieser Interiorität als archaische intime Tiefe geschieht, die bei Husserl den Namen „Innenleiblichkeit“ trägt, und die deshalb auch ihr Korrelat „Außenleiblichkeit“ impliziert. Man merkt schon, dass Richir und Heidegger unterschiedliche Ausgangspunkte haben. Während Heideggers Interesse darin liegt, die Ontologie der Stimmung zu betonen, besteht Richir auf dem Phänomenologischen als nichts anderem als das Phänomenologische, womit das Phänomenologische und das Symbolische auseinandergehalten werden sollen, auch wenn das Symbolische immer das Phänomenologische begleitet.

Stützt man sich auf Husserls Entdeckung der Innen- und Außenleiblichkeit, so ist Stimmung in erster Linie mit ersterer verknüpft, während sie in letzterer ausgedrücktFootnote 116 wird, d. h. ohne Worte, sondern schlicht durch die Anziehungskraft des lebendigen Leibes, durch Gestik und Stimmlage, gefühlt durch eine Art affektive und kommunikative Ansteckung (une contagion émotionale qui communique), durch die – als Färbung oder Tonalität der intersubjektiven BeziehungFootnote 117 – der Eine oder die Andere in der intersubjektiven Begegnung durchdrungen wird. An dieser Stelle ist es notwendig, die Rolle des Leibes als eines Ganzen, also des Leib-Körpers für die Begegnung anderer Leiber zu erwähnen. Laut Richir verleiht der Leib-Körper dem lebendigen Leib zwar eine unmittelbare und perzeptive Anschauung (l’intuitivité perceptive immédiate), aber er sichert auch die Faktizität des Leibes in seiner JemeinigkeitFootnote 118 als Hier und somit auch in seiner JeseinigkeitFootnote 119 als Da. Es ist gerade dieser Abstand zwischen den Leibern, und daher auch zwischen der Stimmung und dem sie tragenden leiblichen Dasein – dem Überschuss der Affektivität, der im Überschuss der Leiblichkeit wurzelt –, der vorausgesetzt werden soll, damit überhaupt eine affektive Tonalität der Stimmung möglich wird. Dies ist laut Richir die Schwäche der Analyse Heideggers: „Dasein findet sich, während es die Welt findet, im Ton ohne Distanz.Footnote 120 Damit ist gleichzeitig die SchwächeFootnote 121 Heideggers, nämlich der Mangel an Abstand des Daseins in Bezug auf die Stimmung, ausgeräumt. Später werden wir sehen, wie Richir diesen Abstand in der Urschicht der Phantasia-Affektion gründen wird. Wir sehen hier also die mediale Leistung des Leib-Körpers, der die erscheinende Anschauung des Leibes vermittelt und dabei den Letzteren tendenziell in Innenleib und Außenleib teilt („divise tendanciellement en Innenleib et Aussenleib“).

Doch für Richir bedeutet dies nicht, dass die Ansteckung der Stimmung eine Verschmelzung zweier Innerlichkeiten („fusion de deux intériorités“) bedeuten würde. Vielmehr ist für ihn das, was sich auf der archaischsten Ebene von Leiblichkeit abspielt, durch die die Ansteckung der Stimmung geschieht, von größter Bedeutung.Footnote 122 „Es sieht so aus, als ob“ (comme si) sich „die Stimmung ununterbrochen von der Innenleiblichkeit zur Außenleiblichkeit“ bewegt (la Stimmung passait sans rupture de l’Innenleiblichkeit à l’Aussenleiblichkeit), von wo die „Außenleiblichkeit des Anderen“ sie direkt und ungebrochen „erlebt“ (ressentie); damit ist die Ansteckung oder Kontaminierung des Anderen gemeint. Von dort läuft die Stimmung ununterbrochen durch dessen Innenleiblichkeit hindurch, und schließt unmittelbar dadurch das Sprachphänomen und die Kommunikation kurz („en court-circuit du langage et la communicationFootnote 123). Hinter diesem letzten Satz steckt ein impliziter Hinweis auf die Leiblichkeit als phänomenologische, sinnverleihende Instanz.

8.6.2.1 Die Leiblichkeit als sinnverleihende Instanz für eine affektive Ansteckung

So gesehen, ist der existenziale Solipsismus auf der einen Seite überwunden und Heideggers Anspruch der Erschlossenheit der Welt, des Mitdaseins und der Existenz durch die Stimmung auf der anderen Seite ontisch verwirklicht. Denn nun soll der Zugang, den das Dasein zu seiner Welt, seinem Mitdasein und zur Existenz hat, nur anhand der Leiblichkeit als sinnverleihender Instanz phänomenologisch verstanden werden. Es gibt in Meditations Phénoménologiques zahlreiche Hinweise, die unsere Behauptung bestätigen, was einleuchtend ist, da sich Richir in diesem Meisterstück mit der Ausarbeitung der Sinnbildung beschäftigt. Wir zitieren daraus einige relevante Stellen:

Das, was eigentlich erlebt wird, ist dieser Sinn selbst, wie er in der inneren Leiblichkeit verkörpert ist und auf diese Weise so etwas wie die innere „Imagination“ der korrelativen Kinästhesien in derselben Leiblichkeit mobilisiert. Nicht mehr als der Sinn, das „Erlebte“ wird daher nicht „gegeben“ – es fließt in die Gegenwart als der zu machende Sinn – und wenn wir Zeichen sprechen können (und müssen), ist es eher im Sinne von „Sedimentationen“ des sich machenden Sinns.Footnote 124

Kurz gesagt: Das uns Zugängliche im Erlebnis der Welt ist nichts anderes als der Sinn, der in den Tiefen der Leiblichkeit lebendig verankert ist und Sinn auf eine dynamische Weise bildet. An anderer Stelle fährt er fort – und nun mit Hinweis auf Heideggers Begriff von Faktizität (Geworfensein): „Die Faktizität, deren notwendige Verkörperung Husserl uns zu denken hilft, hat ihre Stelle in der Matrix in anderen und kann von dort in alles auswandern, was in den Sprachphänomenen als Sinn der Sprache erscheint, das heißt in ihrer spezifischen Temporalisierung/ Spatialisierung“Footnote 125.

Hier sieht man, wie Richir der ontologischen Struktur der Faktizität eine sehr dichte ontische Dimension verleiht. Diese Faktizität darf nicht mehr zeitlich und räumlich abgeschlossen sein; sie soll sich in Bewegung setzen und Sinn erzeugen, was mit „emigrer de là“ (von das auswandern) gemeint ist. Die Verwurzelung dieser Faktizität in der leiblichen Bewegung eröffnet den Horizont der Begegnung und verwandelt somit die Faktizität in die Interfaktizität, durch die Seinssetzung und Ontologie verschoben werden kann. Mit anderen Worten: die Schwingung der Leiblichkeit relativiert das Sein und setzt die Ontologie in Klammern. Sein wird verschoben. Die Verschiebung des Seins zeichnet dieses Vermögen der Empfänglichkeit des Sinns in der Leiblichkeit aus, die als „‚eine phänomenologische Masse‘ und das phänomenologische Feld im Allgemeinen, viel größer ist als das, was unmittelbar durch die Bewusstseinsakte bestätigt wird, und sogar außerordentlich groß und unergründlich in Bezug auf alles, was damit zu tun hat“,Footnote 126 interpretiert wird. Der Sinn, der uns durch die Leiblichkeit zugänglich ist, überschreitet unser Vermögen des Seins, wie der Andere, dem wir begegnen, unsere „Vorstellungskraft“ („pouvoir de conception, d’idéation“) überschreitet.Footnote 127 Dieser letzte Satz soll uns helfen, endlich auf die Frage einzugehen, die wir uns zu Anfang dieses Kapitels als Aufgabe vorgenommen haben, nämlich wie bei Heidegger die Dimension der Pluralität mit der Dimension der Singularität von Stimmung zusammenhängt.

Bevor wir dieses Ziel weiter verfolgen, wollen wir kurz darauf aufmerksam machen, wie sich ein degenerierter Leib in die pathologische VerstimmungFootnote 128 verwandelt. Die Verstimmung ist eine ungesunde, „inauthentische“, pathologische Stimmung. Im Falle der Psychose zeigt Richir in Anlehnung an Maldiney und Binswanger, wie Stimmung in Bezug auf irgendein Ereignis passivFootnote 129 als Eindringen empfangen wird. Während der Leib in den Außenleib zu wandern scheint, befindet sich der Innenleib an der Grenze des Verschwindens und der Auflösung. In einem Schizophrenen ist der Leib „in einer unwiederbringlichen Vergangenheit erstarrt“ („figè dans le passé irrémédiable“). Der Innenleib wandert zum Außenleib aus, von wo aus er seinen Einfluss auf den Außenleib ausüben kann; er „manipuliert“ „quasi mechanisch“ „ohne Interiorität“, ohne einen Abstand, „ohne eine Reflexivität von innen“. In unserer Arbeit verkörpert der Begriff „Abstand“ ein Vermögen zur Reflexivität. Dadurch bleibt der Überschuss des Leibes artikulierbar. Wenn es also einem leiblich kranken Menschen (z. B. im Falle einer Schizophrenie) an Abstand und an Reflexivität mangelt, dann verweist das auf die Unmöglichkeit, Zugang zur Welt zu haben. Aufgrund dieses Mangels borgt sich das psychotische Subjekt Distanz und Reflexivität von der Leiblichkeit des Anderen.Footnote 130 Daraus ergibt sich, dass ein degenerierter Leib keinen Sinn erzeugen kann. Die Situation „lässt nicht mehr den geringsten Rückgang zum Bewusstsein zu, das heißt zumindest zur Möglichkeit, den Sinn zu machen oder zu erläutern“.Footnote 131 All das zeigt, wenngleich a contrario, wie die LeiblichkeitFootnote 132 als sinnverleihende Instanz für eine affektive Ansteckung, also für die Stimmung, notwendig ist.

In einem normalen Fall von Stimmung hat Richir jeglichen Zusammenhang zum Unbewussten bestritten, d. h. er vertritt die Meinung, dass das Unbewusste mit der Stimmung nicht zusammenhängt, ist jedoch entschlossen, diesen Zusammenhang zwischen der Stimmung und dem Unbewussten weiter zu verfolgen. Dies gelingt ihm über den Begriff der Verstimmung. Mit der Idee der Abgeschiedenheit des degenerierten Leibes vom Bewusstsein kann Richir den Zusammenhang zwischen dem Unbewussten und der Stimmung im Falle der Verstimmung untersuchen.

Die Verstimmung kann man auch wie eine Grundstimmung (etwa wie die der Angst) verstehen. Der Grund ist, dass bei der Verstimmung die Patienten in der Mächtigkeit der Vergangenheit erstarrt sind. Diese Vergangenheit deutet vielleicht auf ein unbewusstes Symbolisches, auf das die Patienten fixiert sind. Die Fixierung im Zeithorizont der Vergangenheit mit der Möglichkeit zur ewigen Wiederholbarkeit ist zum Beispiel ein Merkmal der Grundstimmung der Angst. Die in der Grundstimmung implizite Wiederholbarkeit oder sogar Zirkularität verdeutlicht die Mächtigkeit der Vergangenheit über die Gegenwart und die Zukunft, sodass ihnen zugehörige ontische Erlebnisse zeitlich eingeschränkt werden. In diesem Sinne wäre da auch alle Möglichkeit zum Machen und zur Bildung des Sinns (Sprachphänomen) schon gelähmt. Da die Verstimmung auch diese Fixierung in einer unbewussten Vergangenheit – sie kann ja symbolisch sein – markiert, könnte man sagen, dass Heideggers Stimmungslehre Richir geholfen hat, die Affektivität auszuarbeiten aber darüber hinaus auch Zugang zu pathologischen Fällen der Verstimmung haben zu können. Diese Idee haben wir schon in Kapitel Drei und Kapitel Fünf erwähnt.

8.7 Affektivität als Affektion und Affekte

Bevor wir uns mit der positiven Entwicklung der Affektivität bei Richir beschäftigen, ist es erforderlich die wichtige Anmerkung zu machen, dass Richir aus seiner Heidegger-Lektüre bezüglich der Stimmung komplett aussteigen konnte, nachdem er Hua XXIII entdeckt hat. Dies hat ihm ermöglicht, seine originelle Analyse der Affektivität zu entwickeln, durch die Entdeckung der Husserl’schen Phantasia. Während Husserl dabei wie bereits oft erwähnt unentschlossen war ob der Phantasia ein intentionales Objekt (Bildobjekt) zukomme oder nicht, hat Richir der Phantasia kein intentionales Objekt zugeschrieben. Damit konnte er mit einer tieferen Schicht als Grundlage die Phänomenologie neu gründen. Wir haben diese Idee in vorigen Kapiteln schon ausführlicher behandelt. Hier gilt es nur zu erwähnen, dass diese Entdeckung auch für die Analyse der Affektivität gilt. Jedoch wird nur den Affektionen und nicht den Affekten diese Nichtintentionalität eines Bildobjekts zugeschrieben.

Wenden wir uns nun also der positiven Entwicklungslinie der Affektivität bei Richir zu, so haben wir es mit zwei Welten zu tun. Die erste ist die der „Affektion“ (l’affection). Dabei ist weder ein Gefühl der Zuneigung gegenüber einer geliebten Person, noch eine Qualität im Sinne einer mentalen Disposition gemeint. Vielmehr stellt „Affektion“ eine Obskurität, eine Flüchtigkeit und eine „Bewegung“ dar. Diese Eigenschaften erschweren ihre Identifikation, jedoch ist sie mit einer Reflexivität versehen. Das heißt, die Affektion kann zu einem Erkennen führen, obgleich sie nicht zu einer Identifikation eines Etwas führt, das hätte sein können: Das ist der Grund, warum sie nicht mit einem Zustand (état) verwechselt werden sollte.Footnote 133 Bei dieser Reflexivität sind zwei grundlegenden Richtungen wichtig: Die Affektion stimmt mit sich selbst nicht überein; jedoch fühlt sie sich selbst, wenngleich „durch einen Abstand, der in sich öffnet“ („à travers l’écart qui se creuse en elle-même“Footnote 134). Dieser unendliche Abstand und die NichtübereinstimmungFootnote 135 sind radikal, denn sie verleihen der Affektion den Charakter der Unbestimmtheit (une irréductible part d’indéterminationFootnote 136), die sie tief in der Urschicht der Phantasia verwurzelt. Es ist dieser Abstand, der bei Heideggers Analyse fehlt – mit der Konsequenz, dass die Affektivität in der Vergangenheit oder in einen abgeschlossen Zeitraum als Ganzes versinkt, wie bei der tiefen Langweile. Bei „Affektion“ haben wir es nicht mehr mit einer Abstandslosigkeit und auch nicht mehr mit einem bestimmten Zeithorizont zu tun, sondern mit einer gleichursprünglichen ÜberschneidungFootnote 137 einer transzendentalen Vergangenheit („un passé transcendantal depuis toujours immémorial“) und einer transzendentalen Zukunft („un futur transcendantal à jamais immature, et ‚éternelle‘“). Hier ist die Rede von einer Proto-Temporalisierung oder einer Temporalitätslosigkeit, denn der Abstand der Affektion ist ohne arché und ohne télos. Er ist proto-ontologisch („proto-ontologique“) in dem Sinne, dass dadurch alle Seinsetzungen überhaupt erst möglich werden.

Wir sehen also, dass Richir Heideggers Sein und Zeit unter einem bestimmten Gesichtspunkt gelesen hat. Für ihn markiert Sein und Zeit die ursprüngliche Temporalität im Denken Heideggers, die Dasein erleuchten kann, und wodurch Sinn und Geschichte für dieses möglich sind. In dieser Temporalität wird Dasein als Existenz, also als temporäres Wesen innerhalb des Seins zum Tode verstanden. Auch der erste Teil von Sein und Zeit wurde im Hinblick auf diese Temporalität, also die Zeitlichkeit, noch einmal ausgelegt. Die Existenziale – also die Befindlichkeit (Vergangenheit), das Verstehen (Zukunft) und das Verfallen (Gegenwart) – haben nun ihre eigenen (zeitlichen) Ekstasen oder Horizonte. Im Grunde genommen ist diese Temporalität für das Verständnis von Dasein von großer Bedeutung, da es nur unter diesem Gesichtpunkt verstanden werden kann. Außerhalb der Zeitlichkeit würde Dasein für Heidegger keinen Sinn mehr ergeben. Für die Analyse der Befindlichkeit wird diese Temporalität also als Grundmerkmal vorausgesetzt. Richirs Radikalisierung der Affektivitätslehre aber bestand darin, dass er sich von solch einer Temporalität komplett distanziert. Bei der „Affektion“ handelt es sich nicht mehr um die Temporalität sondern um eine tiefere Schicht der Proto-Temporalität oder Proto-Temporalsierung (proto-temporalisation), die für ihn gleichursprünglich mit der Proto-Spatialisierung ist (proto-spatialisation) – wir haben diese Strukturen im vorigen Kapitel schon behandelt. Bei der Proto-Temporalisierung und Proto-Spatialisierung sind wir schon in der Urschicht der Phantasia-Affektion, in der die phänomenologische Schwingung stattfindet. Die Konsequenz – da keine Schwingung bei der Temporalität stattfindet – ist, dass die Temporalität bei Heidegger die Denkbarkeit der Sinnbildung durch die Stimmung unmöglich macht. Richirs Projekt besteht auch darin zu zeigen, dass der Sinn (Phänomen des Sprachlichen oder Sprachphänomen im Sinne von phénomène de langage) bei der Proto-Temporalisierung der Affektion schematisieren kann, da dabei eine Schwingung möglich ist.

Die Sache wird verkompliziert, wenn Richir die Nichtübereinstimmung der Phantasia-Affektion mit sich selbst (Abstand) mit der Nichtübereinstimmung des phänomenologischen Schematismus (Abstand) verbindet; wegen seiner Wichtigkeit für das Verständnis der Phantasia-Affektion müssen wir ein allgemeines Bild des phänomenologischen Schematismus skizzieren. Wir haben dies schon im ersten Kapitel getan, wo wir den Schematismus als eine Denkbewegung oder Bewegung im Leibe bezeichnet haben. Darunter ist ein phänomenologisches Feld der Sinnbildung zu verstehen, also das Feld, in dem sich die „Wesen Sauvage“ – Richir wurde bei diesem Begriff von Merleau-Ponty inspiriert – verwirklichen. Wenn wir von Sinnbildung sprechen, dann beziehen wir uns auf ein Milieu, dem es an jeglicher Fixierung in Raum oder Zeit (wie bei der Grundstimmung der Angst) mangelt und, das eines von kontinuierlicher Bewegung oder Mobilität ist. Wie ist dies zu verstehen? Der phänomenologische Schematismus ist im Besitz einer gewissen innerlichen Mobilität; ausgehend von der Phantasia-Affektion verdichtet und zerstreut er sich; all dies wird von ihm von keinem bestimmten Punkt in der Chora oder einem Bereich des Leibes oder des Leibkörpers aus vollführt. Man kann sagen, dass der Schematismus auf gewisse Weise „kein Milieu konstituiert und selbst kein Milieu ist“. Er bezieht sich auf die Unendlichkeit des Übergangsbereiches und kann daher nicht von einem beständigen Blick erfasst werden. Vielmehr „blitzt“ er zu der Phantaisia, die zwischen Blick und Sehen schwebt. Er hat also keinen Ort, zum Beispiel den Ort der Körperlichkeit und keinen RaumFootnote 138, also auch keine Zeit. Obwohl er in keinem Millieu von Raum und Zeit oder einem der Körperlichkeit stattfindet, so ist der phänomenologische Schematismus in Richirs Sinne doch ein phänomenologisches Milieu: „es konstituiert (…) die phänomenologische Basis der Grundlage von Raum (und der gegenwärtigen Zeit).“Footnote 139 Von diesem Millieu der Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit kann der Nullpunkt ohne Vergangenheit oder Zukunft in Zeit und Raum transponiert werden. Entgegen der statischen Unendlichkeit von Zenons Vorstellung der Teilbarkeit (eines Körpers oder eines Raumes) – statisch, weil die gleichen Teilungsvorgägnge jedes Mal sukzessive auf ähnliche Weise wiederholt werden – ist die Unendlichkeit dieses Schematismus (dies ist jedoch keine Wiederholbarkeit der gleichen festgelegten Zeitpunkte) hier dynamisch. Weil sie dynamisch ist, kann die Unendlichkeit des Schematismus nicht von irgendetwas, das von innen kommt aufgehalten werden, es sei denn es kommt von außen; und ihre Bewegung ist wie eine Spiralbewegung ohne Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit.

Somit haben wir die Mobilität des Schematismus veranschaulicht. An diesem Punkt müssen wir nun aber die Temporalität der Befindlichkeit und damit der Stimmung deutlicher von der Proto-Temporalität und der Proto-Spatialisierung der Affektion abgrenzen. Richir ersetzt die Vergangenheit der Stimmung – diese ist in der Vergangenheit fixiert – mit der transzendentalen Vergangenheit der Affektion. Diese transzendentale Vergangenheit – wir haben dies bereits im zweitenn Kapitel gezeigt – hat aber keine Erinnerung und kein Gedächtnis, da sie nicht in der Gegenwart der Vergangenheit geschehen ist. Da die Affektion Richirs – anders als bei Heideggers Begriff der Stimmung bei dem das Dasein in einem Verhältnis der Abstandlosigkeit mit seiner Stimmung steht –nicht mit sich übereinstimmt, impliziert sie auch eine transzendentale Zukunft, die immer als unreif (immature) bestehen bleibt. Richir verbindet die Affektion (das Proto-Ontologische) mit dem Schematismus – also Affektivität mit Beweglichkeit. Das heißt, dass die transzendentalen „zeitlichen“ Eigenschaften der Affektionen dem Schematismus zugeschrieben werden: Da eine „Idealität“ in diesem Feld (im Schematismus) nicht vorweggenommen werden kann, denn der Schematismus „erinnert sich an nichts und nimmt nichts vorweg, während er die Horizonte einer transzendentalen Vergangenheit einbezieht, in der noch nie etwas passiert ist, und einer transzendentalen Zukunft, in der niemals etwas im Vordergrund stehen wird“,Footnote 140 ist er nicht mit irgendeiner Identität des Seins gleichzusetzen. In dieser Phase der Präsenz (phase de présence en langage), wo Verdichtung und Dissipation flackern, wird die Beweglichkeit der Affektivität als Phantasia-Affektion mobilisiert. Um diesen notwendigen Zusammenhang zwischen Affektion und Schematismus zu verdeutlichen, zitieren wir ausführlich:

So daß, die Affektion sich immer im Chiasmus berührt, aber in der Lücke zwischen transzendentaler Vergangenheit und Zukunft, und dass sie, in diesem Kontakt im Abstand, kommt sie, in der schematischen Zelle, aus der Vergangenheit bereits in eine Zukunft, und geht in der gleichen Zelle in die Zukunft, in der sie bereits eine Vergangenheit hat – mit anderen Worten, sie ist unmittelbar in Proto-Protentionen/ Proto-Retentionen mit der Phantasia, die sie bewohnt.Footnote 141

Wir halten zunächst die wichtigsten Punkte fest, bevor wir fortfahren., wobei zwei wichtige Anmerkungen gemacht werden müssen. Erstens: Die Affektivität stimmt mit sich nicht überein. Ein Abstand besteht zwischen dem, was wir als die Interiorität oder die Immanenz der Affektion bezeichnen und dem, was über diese Immanenz der Affektivität hinausgeht. Dazu – und das ist der zweite Punkt – kommt noch der Mangel an einer Gegenwart in der Affektivität. Die Zeitlichkeit der Affektivität wird von Richir als transzendental bezeichnet. Diese beiden Eigenschaften deuten auf eine Abwesenheit in der Affektivität hin, die Richir als die absolute Transzendenz versteht. Also nicht nur meine Welt als die Welt meiner Innerlichkeit wird dadurch erschlossen – die Affektivität eröffnet für mich auch eine Pluralität von Welten,Footnote 142 die wir gleich präziser deuten werden.

Aber davor stellt sich die Frage, warum Richir die Affektion mit dem phänomenologischen Feld des Schematismus in Verbindung bringt? Die Antwort bekommen wir von ihm selbst: Wegen des schematischen Abstands – gemeint ist der Abstand zur Affektion, damit diese nicht mit sich selbst übereinstimmt –, der den Beginn vom affektiven Sinn (amorce de sens) hervorruft.Footnote 143 Die Beweglichkeit der Affektion hängt mit dem Beginn des Abstands zusammen. So ist ohne diese Beweglichkeit der Abstand nicht denkbar. Es ist also die Affektion, die die Lebendigkeit dieses Anfangs der affektiven und unbestimmten Sinnbildung, bzw. der Phantasia überhaupt ermöglicht und aufrechterhält. Bevor wir fortsetzen ist die Idee festzuhalten, dass es keinen Sinn gibt, ohne die Affektion. Gerade in der Beweglichkeit der Phantasia-Affektion werden die unbestimmte affektive Sinnbildung (Sinn als Phänomene) in ihrer ganzen Obskurität und Flüchtigkeit ausgelöst, die die Hintergrundgefühle ausmachen. So zeichnet diese erste Dimension die Pluralität von Phänomenen affektiv aus, denn sie drückt eine Pluralität von unbestimmten aber bestimmbaren Welten aus: Phänomene. Hiermit sind aber die Sprachphänomene (Sinn) gemeint. Damit kann durch die Verschiebung jedoch keine Vernichtung des Seins (Ontologie) vollzogen werden. Somit wird uns die Stimmung ihre ontische erfahrungsmäßige Seite eröffnen, die als Phänomene erscheinen. Wie diese Verschiebung des Seins – hier wird eine radikale Epoché benötigt, jenseits Husserls phänomenologischer Epoché – stattfindet, werden wir ganz am Ende der gesamten Arbeit aufzeigen.

Auch damit haben wir die Pluralität der Welt präzisiert. Sie bezeichnet die Welten der Phänomene (der Sprachphänomene) in ihrer Flüchtigkeit und Obskurität. Im Kapitel über das Erhabene haben wir festgestellt, dass diese Sprachphänomene einen Fuß im Protoraum des Leibes – dies erinnert an Husserls „Erde“ als Interiorität, die als Protoraum der Erfahrung gilt – und einen anderen Fuß im transzendenten Ort des symbolischen Stifters haben (dies erinnert an Kants „bestirnten Himmel über mir“ als absolute Transzendenz). Letztere artikuliert die Dimension des Nichtsprachlichen oder des Jenseits der Sprachphänomene. Ohne dieses Jenseits der Sprachphänomene (hors langages), gibt es keine Sprachphänomene (langages). Während das Jenseits der Sprachphänomene die Sprachphänomene (langages) sicherstellt, bedeutet es für dasselbe auch eine Ohnmacht im Bewusstsein. Das heißt, dass einige Hintergrundgefühle – diese sind ja die affektiven Sprachphänomene in der Pluralität – in der Affektion dem Leib zugänglich sind. Aber einige bleiben demselben Leib auch unzugänglich (Ohnmacht). Diese Ohnmacht des leiblichen Selbst, in der ihm das Phänomen entgeht, haben wir im dritten Kapitel als die Unmöglichkeit des leiblichen Selbst herausgearbeitet. Diesem leiblichen Selbst, das in der Reflexivität und Anonymität seine Ohnmacht (Heidegger) erfährt, entgehen auch einige Affektionen, die darin schematisieren. Es gibt also Affektionen, die einen in eine Welt bringen können, die über das hinausgeht, was vielleicht unter dem Gesichtspunkt des Seins nachvollziehbar ist. Dies geschieht zum Beispiel, wenn man stark aufgeregt ist und in eine Situation freudig-rasender Heiterkeit gerät, die dessen Zugangsfähigkeit übertrifft. Sicher erlebt der Leib etwas Affektives. Aber was er erlebt, geht über seinen Griff hinaus. Wir haben es in diesem Beispiel mit den Spuren der Transzendenz zu tun. So gesehen haben Husserl und Kant (seine dritte Kritik) – siehe das fünfte Kapitel über das Erhabene – dazu beigetragen, dass bei Richirs Affektivitätslehre sowohl eine Immanenz als auch eine Transzendenz der Affektion gedacht werden konnten. In der Affektion liegen die Immanenz und die Transzendenz.

Wie entstehen aber aus Affektionen die Affekte? Genau wie die Phantasia durch eine architektonische TranspositionFootnote 144 in die Imagination umgesetzt wird, so geschieht es auch hier im Falle des Übergangs der Affektionen in die Affekte. Dass der Affektion die Dimension der unbestimmten Emotionen („é–motion“ wie Richir es schreibt, um die ewige Beweglichkeit zu betonen) oder besser gesagt der Gefühle zukommt, bedeutet also noch lange nicht, dass die Affektion nicht bestimmbar ist. Denn durch eine Transposition werden Sie zu Affekten, d. h. Emotionen als solche. Diese Transposition kann durch eine Imagination stattfinden. Erst dann kann sich eine Affektion erkennen und in eine Bedeutung hineinfallen, unter der man eine bestimmte Begrifflichkeit einer bestimmten vorkommenden Emotion verstehen kann. Das alles geschieht im Bewusstwerden des sich in der Affektion bildenden Gefühls, die damit eine Identität trägt. Zeitlich geschieht dies zugleich in einer „Temporalisierung der Präsenz“, im Gegensatz zur Affektion, die zeitlich in einer Temporalisierung ohne Gegenwart (une présence sans présent assignable) geschieht. So bezeichnet diese zweite Dimension die Singularität des Seins und der Welt. Diese Singularität markiert für uns die Möglichkeit des Selbst, die in der symbolischen Institution wurzelt.

Diesen Vorgang haben wir im dritten Kapitel als die Möglichkeit des Selbst definiert. Von der Unmöglichkeit tritt das affektive Selbst nun in der Möglichkeit auf und von der Anonymität geht es in die Autonomie über. In der Autonomie vertritt es sich selbst und erliegt keiner Macht des Daimons.Footnote 145 Nun kann das Selbst sich selbst mit der Sprache ausdrücken. Es ist das „Zeichensystem der Sprache“, das es dem Selbst ermöglicht, sein Leben als sinnvoll zu sehen. Als faktisches Selbst ist die Möglichkeit des leiblichen Selbst eine Stellungnahme, die nicht zulässt, dass das Selbst in der Anonymität verloren geht. Nun können mit dem Zeichensystem (der Sprache) die affektiven Erlebnisse dieses Selbst als dies oder jenes zur Sprache kommen. So kann man von der Emotion der Liebe, der Eifersucht, der Freude und Hoffnung sprechen denn die affektiven Erlebnisse sind nicht mehr inchoativ und in der Obskurität geraten.

8.8 Schlussüberlegung: Das Dasein in der Welt und die Welt im Dasein

Anhand dieser zwei oder sogar drei – wenn wir die absolute Transzendenz im Sinne Richirs und Kants hinzufügen würden – uns eröffneten Welten, der ontischen und der ontologischen, könnten wir zusammenfassend sagen, dass Richir die erste stark macht, Heidegger die zweite vertritt. Diese Unterscheidung soll dazu beitragen, dass die beiden Welten nicht irreführend unter der Überschrift „Stimmung“ zusammengeworfen werden, wie es bei Heidegger der Fall ist. Nachdem Richir die ontischen und Heidegger die ontologischen Dimensionen zugeschrieben werden, lässt sich fragen, ob Richir nicht in den gleichen Fehler verfällt, den er Heidegger unter dem Namen eines existenzialen Solipsismus vorwirft.

Nicht nur ist das Dasein in der Welt (Ontologie), sondern die Welt ist auch im Dasein (Ontisches). Fangen wir nun mit dem Letzteren an, so ist das Bestehen der Welt im Dasein als quantitativ (wie ein Bruchteil) und als statisch (wie ein unbewegter Beweger) abzulehnen. Wäre ihr Bestehen nur ein Bruchteil, so wäre die Welt ein ewiger Stillstand, der nichts anderes anzubieten hätte, außer einem „so immer sein“. Vielmehr besteht die Welt im Dasein in ihrer absoluten Ganzheit. Zugleich bleibt jene Welt dem Dasein ständig verhüllt. Im Dasein als Mikrokosmos (der Welt) wird diese Welt abgespiegelt, da die Seinsart der Welt im Dasein eine Umdrehung oder eine mobile Schwingung ist. Diese Welt dreht sich im Dasein ständig um und färbt auf es ab. Aber die Umdrehung setzt die Totalität der Welt voraus. Denn wie kann sich etwas umdrehen, das nur ein unteilbares punctum mathematicum ist? Die Ganzheit gibt der Umdrehung einen Abschattungseffekt. Die jedes Mal erscheinenden und ineinander hineinfließenden Schatten der Weltlichkeit, durch die eine energetische Beweglichkeit erzeugt wird, konstituieren ein unendlichesFootnote 146 Feld der sinnhaften Rührung (Affektivität), die verborgen im Hintergrund bleiben, aber durch eine Reflexion als eine Konkretisierung ins Bewusstsein treten können. So gesehen, ist offenbar, dass diese in der Innenleiblichkeit geschehende Rührung keine Quantität und kein Immer so sein, sondern eine Qualität darstellt, sprich affektiv ist und eine Unbestimmtheit aufweist: Die Rede ist von der Bildung unbestimmter,Footnote 147 diffuser, unklarer Gefühle. Insofern ist Dasein weder in der Welt verloren noch auf sie fixiert. So überwindet Heideggers Vorstellung vom Dasein die ihm vorgeworfenen Immanentisierung, denn es kann gerührt werden.

Nun, da wir uns mit der Überwindung der Immanentisierung durch ein unendliches Feld sinnlicher Gefühle beschäftigt haben, welches das Dasein jedes Mal bewegt, wenn die Welt in ihrem Sein in ihm rotiert, könnte es wichtig sein zu bemerken, dass dieses Eintreten der Welt in Dasein gleichzeitig den Empfang des Seins im Dasein und die Beilegung ihrer individuellen Verschiedenheit belegt. Dasein fühlt dieses Sein in ihm nicht wie jemand, der die Niagarafälle beobachtet, sondern wie jemand, der an der kreativen Genialität von Boticellis klassischer Arbeit beteiligt ist. Beim ersten Beispiel ist Dasein ein Beobachter von Entitäten, beim zweiten ist er Beteiligter des Seins, welches das Kunstwerk, ein Gedicht, Musik oder einen Roman etc. durchdringt. Als Beobachter würde das Dasein dieses Sein in der Natur, das vor ihm steht, verdinglichen, da es sich selbst als Subjekt versteht und über dieses Objekt der Natur unabhängig von sich selbst nachdenken kann. Dies wäre anders, wenn es am Sein beteiligt wäre, das durch diese atemberaubenden Phänomene der Natur oder durch spektakuläre Kunstwerke zu ihm sprechen will. Als Teilnehmer kann Dasein sich nicht als unabhängig von dem betrachten, was vor ihm ist, wie z. B. Botticellis „Madonna mit dem Kind und singenden Engeln“, Da Vincis „Abendmahl“ oder Chopins „Polonaise As-Dur“, denn Sein, das – durch die vermittelnde Kooperation des Künstlers, der es dem Sein erlaubt hat, von ihm Besitz zu ergreifen, während er sich dessen Bestimmungen unterwarf – diesen Werken ausdrücklich eingeprägt wurde, spricht leidenschaftlich in ihm, erstrahlt hell in seinen Augen, klingt in seinen Ohren und beruhigt sie. Bernard BerensonFootnote 148 erfasst genau dies, wenn er über die ästhetische Erfahrung eines Beteiligten schreibt: „He ceases to be his ordinary self, and the picture or building, stature, landscape, or aesthetic actuality is no longer outside of him“. Der Beteiligte hört nicht nur auf, sein gewöhnliches Selbst zu sein, sondern auch, Beobachter zu sein, denn er kann sich nun nicht mehr als außerhalb dieser ästhetischen Erfahrung stehend verstehen, da er und dieser Moment zu einer einzigen Realität verschmolzen sind – viel weiter vereint, als jeglicher dualistische Blick die Noten einfangen könnte, die einen Akkord ausmachen. Auf diese Weise kann ein Beobachter dann zum Teilnehmer (leibliche affektive Subjektivität) werden, wann immer die Kraft des Seins unsere Aufmerksamkeit erregt und hält, uns der Sache auf solch eine Weise aussetzt, dass wir eins damit werden. Dann denken wir viel mehr vom DingFootnote 149 aus als an das Ding, denn ich bin ohne Vermittler direkt affektiv am Sein beteiligt. Außerdem habe ich keine Wahl darin, beteiligt oder unbeteiligt zu sein. Das Sein, welches relevant ist und, das die Welt überhaupt erst möglich macht, dominiert und überwältigt mich einfach. Ich kann nichts weiter tun, als mich dessen Macht zu unterwerfen und mir selbst zu erlauben, nicht nur von seiner unausweichlichen Präsenz benutzt zu werden, sondern auch bis zum Punkt der Auslöschung des „Ich“ von dieser Präsenz durchdrungen zu werden. Auf diese Weise kann die Welt im Dasein sein – es ist eine qualitative Präsenz ohne eine „Gegenwart“, ein „Jetzt“ was bedeutet, dass die Zeit abgeschafft ist und diese Präsenz kann durch eine sorgfältige ästhetische Betrachtung lebendig gemacht werden; durch sie kann Dasein nicht mehr existenzial in einem Solipsismus verloren sein. Abschließend ist es wichtig festzuhalten, dass Richirs Ansatz auch dieses Element, nämlich die Tatsache, dass die Welt uns manchmal als – mal leichte, mal schwere – Bürde aufgezwungen wird, mit Heideggers teilt. Manchmal geschieht es, dass Dasein sich diese ihm von der Welt auferlegteFootnote 150 Bürde nicht ausgesucht hat. Während diese Bürde für Richir die virtuelle Kraft der absoluten Transzendenz der Welt artikuliert, wird es bei Heidegger in der Formel des je schon (der Ontologie) ausgedrückt.

Wenn das Sein jedoch unsere Aufmerksamkeit ergreift, sodass ich affektiv direkt und ohne Zugriff eines Vermittlers an ihm (Sein) teilhaben kann, dann ist dies so, weil die Affekte einige symbolisch gestifteten Strukturen mit sich bringen, die ihren Ursprung an einem archaischen Punkt in meiner transzendentalen Geschichte haben. Das Sein der Welt durchdringt mich, weil dieses Sein von meinen Affekten getragen wird, die sich frei und auf solch eine Weise aufeinander beziehen oder miteinander verbinden, die mich für gewöhnlich nicht mit einbezieht. Dies hatte Richir als die passive Synthese ersten Grades verstanden.Footnote 151 Diese Dimension ist passiv. Sie wird durch eine andere Dimension der freien Assoziation der Affektionen in der Phantasia als die passive Synthese zweiten Grades ergänzt, welche aber die Virtualität artikuliert. Auch diese ist eine Assoziation, die meine Möglichkeiten übersteigt.

All das zeigt, die Art und Weise, wie die Welt in Richirs Augen im Dasein sein könnte. Die Art und Weise wie das Dasein in der Welt sein kann, zeigt uns aber Heidegger. Da Richir diese Dimension nicht so stark betont hat wie Heidegger, könnte man ihm auch einen existenziellen Solipsismus vorwerfen. Richir hat die ontologische Situiertheit der Menschen in der Welt nicht stark thematisiert. Er hat die Welt lediglich als eine wichtige virtuelle Dimension der Erfahrung konzipiert. So stellt sich die Frage, ob es bei Richir Spuren gibt, die dieses Defizit überwinden können. Dies führt uns dazu, zu konstruieren, wie das Dasein in Richirs Augen in der Welt sein könnte.

Nachdem wir uns mit dem Bestehen der Welt im Dasein beschäftigt haben, ist es auch notwendig zu zeigen, auf welche Weise das Dasein in der Welt ist. Das Dasein konstituiert seine Welt auf aktive Weise mit. Dasein ist weder als eine Abstraktion in der Welt, noch ist es als irgendein uninteressierter Beobachter da. Es hat diese Welt anhand seiner Leiblichkeit inne, durch die seine Welt affektiv gefärbt wird. Färbung benutzen wir bewusst, da Richir von affektiver Ansteckung in der Begegnung spricht. Diese leiblich affektive Färbung wird durch Mimik, Gestik usw. vollführt, die in einer symbolischen Stiftung etwas Bestimmtes, eine konkrete affektive Begebenheit identifiziert: Trauer, Verlegenheit, Freude, Neid, Liebe usw. Im Kontext einer Beerdigungszeremonie sollen die Teilnehmer Kummer, Betrübtheit und Traurigkeit mitbringen; Verkäufer und Empfangskräfte etc. färben ihren Arbeitsplatz mit Heiterkeit, Zuvorkommenheit und Freundlichkeit ein, damit sich ihre Kunden zuhause fühlen. Die Beispiele können auf andere Zusammenhänge, wie Parties, Sport, Preisverleihungen etc. ausgeweitet werden. In jedem Fall werden die entsprechenden Emotionen dazu genutzt, die Welt einzufärben. Insofern kann diese Mitkonstitution des Daseins als die Welt selbst in ihrer Radikalität verstanden werden, also als diese Welt, die auch in allem Dasein besteht. Anders gesagt, ist Dasein diese Welt. Das heißt, indem das Dasein als Ganzes leiblich seine Welt affiziert, kann es nicht mehr unter den Verdacht und Vorwurf des phänomenalen oder existenziellen Solipsismus geraten. Insofern hätte Richir mit der oben geschilderten leiblichen Wirkung des leiblichen Selbst in der Welt den existenziellen Solipsismus vermieden, den man ihm vorwerfen könnte.

Haben wir es also mit einer Zirkularität zu tun, bei der die Welt im Dasein ist, das wiederum diese Welt ist? Haben wir es mit der Koexistenz von Dasein und Welt, oder von ontischer und ontologischer Pluralität und Singularität, von Gefühlen und vorkommenden Emotionen zu tun? Wäre das nicht ein Widerspruch?

Es handelt sich hier tatsächlich lediglich darum, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, dieses Zickzack-Verhältnis zwischen ihren Kehrseiten nicht vermeiden kann. Die Philosophie sollte nicht danach streben, Gegensätze und Widersprüche zu vermeiden, sondern sie lebendig und sichtbar zu machen. So gesehen wirkt das Ontologische oder die Singularität nicht gegen das Ontische und die Pluralität oder das A priori gegen das A posteriori. Denn die Wirklichkeit mag vielleicht eins sein, doch ist sie auch ein Mehrfaches. Das eine ist in das andere verwoben. Auch wenn es uns verborgen bleibt, so kann der sich von der Lage unserer Welt als mannigfaltig in der Phantasia-Affektion bildende Sinn der Hintergrundsgefühle durch eine Aufmerksamkeit verändert werden. Zunächst mögen diese noch nicht ins Bewusstsein treten. Trotzdem sind sie da, wenngleich unbeachtet. Und wenn sie ins Bewusstsein treten, dann können sie durch einen Reflexionsakt umgesetzt, sprich verändert, werden. Erst dann verleihen wir ihnen durch die Intervention der Sprache eine symbolisch geprägte Bedeutung und können von symbolisch gestifteten Emotionen wie Liebe, Freude, Heiterkeit sprechen. Es ist Richirs Verdienst, die Komplexität des affektiven Lebens artikuliert zu haben, das nicht nur eine phänomenologische, sondern auch eine symbolische Dimension hat.

Jetzt, da wir fast am Ende unserer Untersuchung angelangt sind, ist die Zeit reif, uns noch einmal der Frage zuzuwenden, die wir zu untersuchen uns zu Beginn dieser Arbeit vorgenommen haben. Diese Frage soll das Hauptziel unserer Analyse im letzten Kapitel dieser Arbeit sein. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir die Frage in den vorhergehenden Kapiteln nicht beachtet haben – wir haben dies auf eine Weise getan, die auf die Bestimmungen jedes einzelnen Themas in jedem Kapitel beschränkt ist. Es bedeutet nur, dass wir all unsere Argumente zusammenfassen möchten. Deshalb müssen wir, um wirklich auf die Frage einzugehen, die Ansicht der jeweiligen Ergebnisse oder Bestimmungen jedes einzelnen Kapitels aus einer Linse verstehen. Diese Idee bestimmt die Struktur des nächsten Kapitels.