6.1 Zusammenfassung

Dieses Kapitel, das sich mit Richirs Transformation des kantischen Erhabenen beschäftigt – Richir verleiht dem kantischen Erhabenen einen neuen phänomenologischen Sinn –, befasst sich mit der Frage, ob Kants Vernunftidee (der Ort des symbolischen Stifters) in der Einbildungskraft (Richirs „phänomenologisches Feld“) schematisieren kann. Damit das Symbolische sich im phänomenologischen Feld artikulieren kann, muss eine Akzentverschiebung durch eine hyperbolische phänomenologische Epoché geschehen, die die Natur – als rohe Gewalt – als eine Gegebenheit („la donation“) neutralisiert. In diesem Kapitel argumentieren wir, dass das phänomenologische Erhabene – im Gegensatz zu Husserls „transzendentaler Intersubjektivität“ – bei Richir zum Modell menschlicher Erfahrung und Begegnung wird. Dies tun wir mit den folgenden Thesen: Unsere erste These zielt darauf ab, zu zeigen, dass bei Richir die Zusammenwirkung des phänomenologischen mit dem symbolischen Feld für die Möglichkeit der Erfahrung notwendig ist, wobei dabei die Rolle des symbolischen Stifters (absolute Transzendenz, welche die Tradition Gott nennt) von großer Bedeutung ist. Aus dieser ersten These folgt eine zweite These: die Transzendenz ist eine wichtige Bedingung für Selbstkonstitution und Sinneröffnung. Dank der Transzendenz kann sich das leibliche Selbst zum leiblichen Selbst bewegen (z. B. beim Blickaustausch zwischen Mutter und Säugling) – diese Bewegung nennt Richir „phänomenologische Schwingung“ – und somit einen Horizont des Phänomens (Sinnhorizont) eröffnen. Anhand ihrer Virtualität ruft die Transzendenz das Phänomen auf, sich selbst zu übertreffen. Von nun an artikuliert das Phänomen zwei Dimensionen: Es hat einen Fuß im Protoraum des Leibes – dies erinnert an Husserls „Erde“ als Interiorität, die als Protoraum der Erfahrung fungiert – und den anderen im transzendenten Ort des symbolischen Stifters – dies erinnert an Kants „bestirnten Himmel über mir“ als Transzendenz. Deshalb argumentieren wir, dass Richirs Phänomenologie der Erfahrung als ein dualistisches Denken verstanden werden kann.

6.1.1 Einleitung

Ein großer Gewinn für die Phänomenologie ist Richirs Erarbeitung des Erhabenen, besonders wenn man die ganze Geschichte Footnote 1 dieses Begriffs in der Rhetorik, der Philosophie und der Literaturwissenschaft von der Antike bis zur Moderne in Betracht zieht. Jedoch schließt sich Richirs Denken darüber ausschließlich an Kants Kritik der Urteilskraft an. Dies löscht die sehr wichtige Tatsache aber nicht aus, dass Kants Überlegungen dort in die philosophische Tradition eingebettet sind, obgleich er sich von dieser Tradition radikal ablöst.Footnote 2 Die Tradition philosophischer Rede über das Erhabene beginnt mit Pseudo-Longinus’ Über das Erhabene (Περι ὕψους) bis hin zur Zeit von Pseudo-Dionysius Areopagitas Über mystische Theologie und erstreckte sich bis ins 17./ 18. Jahrhundert.

Aber Richirs Anschluss an Kant ermöglichte es ihm, explizit die drei architektonischen Register der Philosophie (die Seele, die Welt und Gott) zu thematisieren. Infolgedessen wird jede Erfahrung von diesen drei Registern durchdrungen, als ob man sagen würde, dass eine genuine Erfahrung – phänomenologisch verstanden – erhaben ist. Damit ist gemeint, dass der Moment des Erhabenen die Erfahrung möglich macht, da das leibliche Selbst sich erst dann auf sich beziehen kann, auch wenn dieser Bezug nur durch einen Abstand geschieht. Gerade deshalb wird die Konstitution des leiblichen Selbst erst im Moment des Erhabenen denkbar. Wenn wir nun von Erfahrung sprechen, dann muss dies nicht auf die Erfahrung von den inneren Bewegungen der Seele beschränkt sein. Vielmehr wird die Erfahrung der Welt verkörpert. Dies beinhaltet laut Richir sowohl eine Erfahrung anderer Leiber in einer transzendentalen Interfaktizität als auch Erfahrung wie in der Betrachtung von KunstFootnote 3, insbesondere Musik und Poesie, anhand der Phantasia. Sie ist die leibliche, affektive Eröffnung der Welt, wobei diese Welt laut Richir im Hinblick auf die an die Tradition angelehnte absolute Transzendenz verstanden werden soll.

Mit dieser kurzen Schilderung sind wir bereits bei der Problematik unserer schon bekannten, seit dem ersten Kapitel angekündigten Frage, wie die Leiblichkeit in Hinblick auf die Erschließung der Welt zu verstehen ist. Wir haben im vorigen Kapitel auf die Intimität des leiblichen Selbst oder die Immanenz des Bewusstseins und die Exteriorität der Welt hingewiesen. Diese These wirft zunächst die Frage auf, nicht nur wie die Innerlichkeit sich zu sich selbst, sondern auch wie sie sich zur Exteriotität verhält.Footnote 4 Welche Rolle spielen diese Register der Philosophie in der Erfahrung? Wann ist Erfahrung also möglich?

Unsere erste These zielt darauf ab, zu zeigen, dass die Zusammenwirkung des phänomenologischen und symbolischen Felds für die Möglichkeit der Erfahrung notwendig ist, wobei dabei die Rolle des symbolischen Stifters (absolute Transzendenz, welche die Tradition Gott nennt) von großer Bedeutung ist. Denn nur so konnte Richirs Erarbeitung des kantischen Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft über das kantische Schema hinausgehen, um dem Erhabenen einen phänomenologischen Sinn zu verleihen. Die Aktzentverschiebung erfordert seitens Richir eine hyperbolische phänomenologische Epoché,Footnote 5 damit das Symbolische ins phänomenologische Feld eintritt, und um somit die Annahme der Gegebenheit der Welt (Natur) zu beseitigen. Aus dieser ersten These folgt eine zweite These – und zwar, dass die Selbstkonstitution und Sinneröffnung überhaupt nur so möglich ist. Diese zweite These impliziert, dass man von Erfahrung sprechen kann, sobald die Bewegung des Selbst zum Selbst einen Horizont des Phänomens (Sinnhorizont) eröffnet.

Es ist in dieser Arbeit unser Ziel, zu zeigen, dass die Erschließung der Welt nichts anderes als die Erschließung des Sinnes und damit als eines Sprachphänomens ist. In Bezug darauf kann man sich in diesem Kapitel fragen, wie sich dieses gerade angekündigte Phänomen also in Bezug auf die Intimität des leiblichen Selbst und der Exteriorität verhält. Ist das Phänomen auf eine pure Exteriorität oder eine pure Intimität zurückzuführen? Oder sitzt es rittlings auf den beiden Dimensionen? In seiner Dissertationsschrift hat Sacha Carlson davor gewarnt, die eine Dimension aus der anderen abzuleiten.Footnote 6 Wenn man die Innerlichkeit aus der Äußerlichkeit deduziert, würde dies zu einem philosophoischen Realismus führen und umgekehrt, wenn man die Äußerlichkeit aus der Innerlichkeit herleitet, dann würde dies zu einem philosophischen Idealismus führen. Beides sind für uns im Blick auf die Rekonstruktion des Ansatzes von Richirs Phänomenologie nicht annehmbare Deutungen. In diesem Kapitel werden wir eine gemilderte oder mittlere PositionFootnote 7 verteidigen, die schwer zu formulieren ist, die jedoch am besten als Dualismus verstanden werden kann. Wir beenden das Kapitel mit der These, dass die Transzendenz ein wichtiger Horizont für die Konstitution des Sinns ist. Dies erlaubt es uns, nicht nur die Rolle der Transzendenz in der Sinnbildung, sondern auch die Möglichkeit des leiblichen Selbst innerhalb des Sinns zu erarbeiten.

Damit wir all die Ziele dieses Kapitel erreichen, wird es in zwei Haupteile geteilt. Diese zwei Teile entsprechen unseren zwei Hauptthesen. Ausgehend von Kant als Ausgangspunkt, werden wir uns im ersten Teil mit dem Widerstreit zwischen der Einbildungskraft und der Vernunftidee beschäftigen. Richir hatte diese beiden Konzepte jeweils als das phänomenologische und das symbolische Feld interpretiert. Aufgrund dieses Widerstreits stellte sich die Frage, ob die Vernunftidee im phänomenologischen Feld schematisieren kann. Denn das Eintreten des einen in das andere wird als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung vorausgesetzt. Die Erfüllung dieser Bedingung führt zu einer gelungenen Begegnung – somit ist Erfahrung der Welt bei gesunden Leibern möglich –, während das Gegenteil zum Trauma oder Unglück bei geistig kranken Menschen – diese vermögen es nicht, die Welt zu erschließen, sodass die Erfahrung unmöglich ist – führt. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Rolle der absoluten Transzendenz bei der Konstitution des Selbst. Dies wird anhand des erotischen mütterlichen Blicks behandelt werden, der den Blick des Säuglings anhand einer Reziprozität der AffektivitätFootnote 8 (Diastole und Systole: wir werden Anlass haben, diese zu explizieren) in einer Blickkreuzung zum Selbst erweckt (Selbstwerdung) und ihn in die Kultur (Richirs Idee der symbolischen Institution) einführt. Dabei werden wir der absoluten Transzendenz (diese unterscheidet sich von der physisch-kosmischen Transzendenz) eine wichtige Rolle zuschreiben, welche es ermöglicht, dass das Selbst zum Selbst werden kann. Diese Selbstwerdung des Selbst werden wir als eine phänomenologische Schwingung („clignotement“) verstehen. Sie ruft die Sinneröffnung hervor. Auch hier spielt die absolute Transzendenz eine wichtige Rolle durch ihre Virtualität, die das Selbst darin fördert seine Immanenz und Selbstbezogenheit zu übertreffen. Mit der Idee der Virtualität der absoluten Transzendenz haben wir eine Antwort aufeine frühere Frage beantwortet, die sich schon seit dem letzten Kapitel gestellt hat: ob unser Verhältnis zur Welt als ein passives verstanden werden kann.

6.2 Widerstreit zwischen der Einbildungskraft (dem Phänomenologischen) und der Vernunftidee (dem Symbolischen)

Zunächst wollen wir in einem ersten Schritt Kants Vergleich des Erhabenen mit dem Schönen rekonstruieren. Was ihre Gemeinsamkeit angeht, gefällt beides laut Kant (in der Kritik der Urteilskraft) um ihrer selbst willen; darüber hinaus setzt beides ein ästhetisches Reflexionsurteil voraus. Das Wohlgefallen hängt also nicht von einer Empfindung (z. B. der des Angenehmen) noch von einem bestimmten Begriff ab. In Bezug auf ihre Unterschiede betrifft das Schöne die Form des Gegenstands, was aber auch eine Begrenzung impliziert, während das Erhabene eine Formlosigkeit des Gegenstandes, also eine Unbegrenztheit darstelltFootnote 9. Die Form des Schönen wird als zweckmäßigFootnote 10 für unsere Urteilskraft angesehen und die des Erhabenen als zweckwidrig, als unangemessen für unser Darstellungsvermögen, als „gewalttätig für die Einbildungskraft“Footnote 11. Ferner müssen wir beim Schönen einen Grund außerhalb unserer Innerlichkeit und beim Erhabenen einen solchen innerhalb derselben suchen.Footnote 12 Schließlich stellt das Schöne einen unbestimmten Begriff des Verstandes dar, wobei das Erhabene einen unbestimmten Begriff der Vernunft darstellt. Das Wohlgefallen beim ersten betrifft die Qualität, während es beim zweiten mit der Quantität zu tun hat. Beim ersten ist wiederum das Gefühl der Beförderung des Lebens, die Einbildungskraft am Werk, wobei es sich beim zweiten um die „Hemmung der Lebenskräfte“ und dann wiederum um eine stärkere „Ergießung derselben“Footnote 13 handelt.

Genau in diesem Zusammenhang werden zwei Bewegungen klar, mit denen wir uns nun beschäftigen wollen. Es handelt sich dabei einerseits um die in der Erschütterung des Gemüts wirksame Abstoßung als auch andererseits um die Anziehung. Im Kontext des mathematischen Erhabenen schreibt Kant:

Das Gemüt fühlt sich in der Vorstellung des Erhabenen in der Natur bewegt: da es in dem äesthetischen Urteile über das Schöne derselben in ruhiger Kontemplation ist. Diese Bewegung kann (vornehmlich in ihrem Anfange) mit einer Erschütterung verglichen werden, d.i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objekts. Das Überschwengliche für die Einbildungskraft (bis zu welchem sie in der Auffassung der Anschauung getrieben wird) ist gleichsam ein Abgrund, worin sie sich selbst zu verlieren fürchtet; aber doch auch für die Idee der Vernunft vom Übersinnlichen nicht überschwenglich, sondern gesetzmäßig, eine solche Bestrebung der Einbildungskraft hervorzubringen; mithin in eben dem Maße wiederum anziehend, als es für die bloße Sinnlichkeit abstoßend war.Footnote 14

Richir bezieht sich direkt auf diese Stelle und kommentiert sie ausführlich. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Erschütterung des Gemüts zwei einander durchdringende Bewegungen betrifft. Oder sollte man eher von einer einzigen Bewegung sprechen, die gleichzeitig abstoßend und anziehend ist? Wenn diese Bewegung laut Richir zur Folge hat, dass das Gemüt suspendiert wird, dann impliziert diese Suspendierung eine Abschaltung der Einbildungskraft. Dabei ist Kants Auffassung der ästhetischen Urteilskraft so zu verstehen, dass sich bei der „Beurteilung des Schönen die Einbildungskraft in freiem Spiele auf den Verstand bezieht.“Footnote 15 Mit anderen Worten, die Einbildungskraft scheitert dabei nicht. Wenn sie nun beim Erhabenen ausgeschaltet wird, dann bedeutet dies für Richir die Ausschaltung des SchematismusFootnote 16 der Phänomenalisierung. Somit entsteht die „Unlust“ aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft. Das Scheitern der Einbildungskraft die Formlosigkeit des einbrechenden Phänomens (also des Überschusses, der die Einbildungskraft überschreitet) zu umfassen, deutet Richir als die Bedrohung ihrer phänomenologischen Freiheit, was dann ebenfalls die Bedrohung und die Suspendierung der Phänomenalisierung mit sich bringt. Bedeutet dies aber, dass auch die Ideen der Vernunft ausgeschaltet werden? Bei Kant lesen wir, dass die Ideen der Vernunft, oder für Richir das Transphänomenale, über alles in der Sinnlichkeit Erfassbare hinausgeht. Die Einbildungskraft wird von ihnen (also durch das, was sie transzendiert) wiederum zum Schematisieren herausgefordert. In Bezug auf die Einbildungskraft fügt Richir hinzu: „Aber es wird von etwas anderem als sich selbst angetrieben und entgeht dem phänomenologischen Feld nicht, indem es verborgen oder geraubt wird, sondern insofern, als es dort rigoros nicht gefunden wird, da es ein radikaler Überschuss in Bezug auf sich ist“.Footnote 17 Dieses „etwas anderes“ – also eine Idee der Vernunft – ist das, was die Einbildungskraft antreibt. Da es dem phänomenologischen Feld entgeht, vermag es eine Idee der Vernunft die Einbildungskraft anzuregen. So eine Vernunftidee ist gesetzmäßig. Deshalb verfügt sie laut Richir über einen „symbolischen Ursprung“.

Eine weitere Analyse des Verhältnisses zwischen Einbildungskraft und Vernunft veranlasst Richir dazu, seine Idee der zwei Bewegungen in der Erfahrung zu bekräftigen. Während Kant einerseits die Einbildungskraft auf den Verstand bezog, so

bringen Einbildungskraft und Vernunft hier durch ihren Widerstreit subjektive Zweckmäßigkeit der Gemütskräfte hervor: nämlich ein Gefühl, daß wir reine selbständige Vernunft haben, oder ein Vermögen der Größenschätzung, dessen Vorzüglichkeit durch nichts anschaulich gemacht werden kann als durch die Unzulänglichkeit desjenigen Vermögens, welches in Darstellung der Größen (sinnlicher Gegenstände) selbst unbegrenzt ist.Footnote 18

Der Widerstreit zwischen der Einbildungskraft und der Vernunft spiegelt den Widerstreit des Phänomenologischen und des Nichtphänomenologischen (des Symbolischen) wider, denn das Scheitern der Einbildungskraft zu Schematisieren geschieht nicht ohne Konsequenzen: Dieses Scheitern geht Hand in Hand (im gleichen Moment des Geschehens des Erhabenen) mit dem Erfolg des Symbolischen (das Erkenntnisvermögen der Vernunft wird von Richir als ein Vermögen des Symbolischen neu interpretiert). Der Auffassung gelingt es nicht, den Raum durch die Bewegung der Einbildungskraft sukzessiv (Progressus) zu messen, da die Zusammenfassung das sukzessive Fortschreiten in die Räumlichkeit und in die Zeitlichkeit mit einem Schlag (also in einer Anschauung) aufhebt. Das unterstreicht noch einmal den Widerstreit zwischen der Einbildungskraft oder dem Phänomenologischen und der Idee der Vernunft oder dem Symbolischen. Es kristallisiert sich die Frage heraus, ob eine Möglichkeit zur harmonischen Begegnung zwischen den beiden Bewegungen besteht. Wie kann das Phänomenologische dem Symbolischen harmonisch begegnen? Wie wir sehen werden, gilt diese Frage auch für die Möglichkeit der Schematisierung der Vernunftidee im phänomenologischen Feld: Sie lautet also, ob die Begegnung zwischen dem Phänomen und der symbolischen Institution gelingen kann.

6.2.1 Können Vernunftideen im phänomenologischen Feld schematisieren?

Zunächst kann das oben rekonstruierte Konzept von Schematisierung bei Richir – die Spatialisierung oder die Verräumlichung und die Temporalisierung oder die Zeitlichkeit – ohne den Verweis auf die entgegengestellten Bewegungen zwischen Auffassung (apprehensio) und Zusammenfassung (comprehensio) nicht verstanden werden. Die apprehensio geht ins Unendliche – und erinnert an Burkes Begriff der Unendlichkeit, auch wenn dabei das UnendlicheFootnote 19 nicht im Objekt sondern in der Unfähigkeit des Gemüts liegt –, während die comprehensio irgendwann während der Ausdehnung zum Maximum gelangt. Diese Bewegungen müssen aufgeklärt werden, bevor wir uns mit der Möglichkeit der Schematisierung der Vernunftidee im phänomenologischen Feld beschäftigen. Kant schreibt bezüglich des mathematischen Erhabenen:

Denn wenn die Auffassung so weit gelangt ist, daß die zuerst aufgefassten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indes daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt, so verliert sie auf einer Seite ebensoviel, als sie auf der anderen gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kannFootnote 20.

Laut Richir entspricht das Streben der Auffassung (apprehensio) ins Unendliche dem Himmel und die Zusammenfassung (comprehensio) der Erde. Diese zwei Begriffe erschienen seines Erachtens nun am Ende von Kants Kritik der praktischen Vernunft: der „bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“Footnote 21 Das Zusammenspiel dieser Unendlichkeit oder Formlosigkeit und Endlichkeit oder Form beschreibt laut Richir die zwei Dimensionen, wie ein Phänomen zu verstehen ist: Jedes Phänomen ist zwischen einer immensen unbestimmten Unendlichkeit und einer Bestimmtheit gefangen. Eine Bewegung der comprehensio, der Auffassung, die das Phänomen ins Unendliche zu strecken scheint, wenn sie die Schematisierung der Einbildungskraft anwendet, wird nun durch die „Idee einer absolut übersinnlichen Größe“ gestoppt. Diese „Idee“ spielt für Richir auf ein reines Konzept an, das unmöglich zu schematisieren ist. Diesbezüglich wirft Richir die Frage auf, ob dieses reine Konzept der Vernunftidee bei Kant nicht dem Symbolischen entspricht. Richir nennt dies Teleologie ohne spezifische Sprachbegriff (Téléologie sans concept déterminé du langageFootnote 22). Kant schreibt – wieder bezüglich des mathematischen Erhabenen:

Messung eines Raums (als Auffassung) ist zugleich Beschreibung desselben, mithin objektive Bewegung in der Einbildung und ein Progressus; die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Sukzessiv-Aufgefaßten in einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht. Sie ist also (da die Zeitfolge eine Bedingung des inneren Sinnes und einer Anschauung ist) eine subjektive Bewegung der Einbildungskraft, wodurch sie dem inneren Sinne Gewalt antut, die desto merklicher sein muß, je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfasst. Die Bestrebung also, ein Maß für Größen in eine einzelne Anschauung aufzunehmen, welches aufzufassen merkliche Zeit erfordert, ist eine Vorstellungsart, welche, subjektiv betrachtet, zweckwidrig, objektiv aber zur Größenschätzung erforderlich, mithin zweckmäßig ist; wobei aber doch eben dieselbe Gewalt, die dem Subjekte durch die Einbildungskraft widerfährt, für die ganze Bestimmung des Gemüts als zweckmäßig beurteilt wird.Footnote 23

Dieser Abschnitt ist vor allem von großer Bedeutung, weil er die Temporalisierung und die Spatialisierung des Sprachlichen (la temporalisation et de la spatialisation en langage) thematisiert, welche laut Richir die verborgene Kraft oder Besonderheit des mathematischen Erhabenen erfasse. So finden wir darin etwas Unendliches oder Unbestimmtes (das Phänomen, in diesem Zusammenhang das Phänomen des Sprachlichen,Footnote 24 wie Richir es deutet), das sich durch Fortschreiten in der Weite des Raumes verteilt. Diese räumliche Streuung (als Auffassung) ins Unendliche ist gleichzeitig mit der Temporalisierung (Zusammenfassung) verbunden. Was sich im verstreuten und sukzessiven Vorgang der Verräumlichung (der Spatialisierung) ansammelt, wird aufgehoben und in der Einheit der Zeit zusammengefasst, d. h. in einer Anschauung. Hat also diese Einheit durch die Zusammenfassung eine bestimmte Funktion? Während das Phänomen (des Sprachlichen) über einen räumlichen und einen zeitlichen Zusammenhang verfügt, tritt es durch die Beseitigung oder SuspendierungFootnote 25 der zeitlichen Bedingung beim Fortschreiten in der Räumlichkeit auf. Dies erlaubt ihm, sowohl räumlich als auch zeitlich Zugang zu sich selbst zu haben.Footnote 26 Was bei der Suspendierung geschieht, ist gleichzeitig ohne Zweck (widerspricht also einer klaren, eindeutigen Zielsetzung) und zweckmäßig (entspricht also der Schematisierung). Was bedeutet das, wenn nicht die Idee, dass die Schematisierung des Phänomens des Sprachlichen zwei Grunddimensionen berührt: das Sprachliche und das Nichtsprachliche. Es reflektiert von sich aus, dies aber auch in Beziehung zu dem, was außerhalb von seinem Horizont (hors langage) liegt. Dieses zweite (hors langage) geschieht in dem Moment, wo das Sprachliche in seiner Phänomenalität eine Lücke (Suspendierung) aufweist.

Dieses Nichtsprachliche wäre ohne die Suspendierung unmöglich gewesen. Meint Richir damit, dass das Nichtsprachlichen bei der Schematisierung des Phänomens beteiligt ist? Und was ist dieses Nichtsprachlichen, das außerhalb des Sprachlichen liegt? Was ist seine Rolle in Beziehung zum Sprachlichen und zum Phänomen? Vor der Behandlung dieser Frage, wollen wir zunächst zwei wichtige Punkte festhalten: Das Phänomen hat sowohl eine unbestimmbare, unendliche (zweckwidrige) als auch eine bestimmbare, endliche Dimension (zweckmäßig). Man kann nicht von einem Phänomen sprechen, ohne das, was über das Phänomen hinaus geht; im Falle des Phänomens des Sprachlichen ist dies das Nichtsprachliche. Mit anderen Worten das Phänomen schematisiert, zeitlich und räumlich, nicht ohne ein Innen und ein Außen.

Durch die Suspendierung des sukzessiven Fortschreitens in der Räumlichkeit kann die komprehensive Zusammenfassung eine Einheit in der Anschauung schaffen. Dieser Suspendierung und der dazugehörigen Einheit schreibt Richir keine phänomenologische sondern eine symbolische Funktion zu, in der ein symbolischer Stifter am Werk ist. Mit dem Eintritt der Suspendierung der Schematisierung (Richir nennt dies lacune) tritt eine symbolische Finalität (finalité) mit ihrer Bestimmtheit auf. Das heißt, dass die symbolische Zweckgerichtetheit oder Teleologie ein bestimmtes Ziel vorschlägt. Bei der Endgültigkeit oder der Teleologie des Phänomens handelt es sich hier deshalb nicht nur um eine schematische Teleologie ohne ein bestimmtes Konzept, sondern um eine symbolische Teleologie, die sich „der Bestimmung von Begriffen öffnet, die das Sprachphänomen an sich nicht besitzt.“ Richir fügt hinzu, „es sei richtig zu sagen, dass die Begriffe die ‚Ideen der Vernunft‘ sind.“Footnote 27

Es lässt sich die Frage stellen, woher die reinen Begriffe der Vernunftideen kommen. Die Begriffe (die Vernunftideen) liegen jenseits der Schematisierung des Phänomens. Sie haben ihren Ursprung woanders, in einer radikalen Äußerlichkeit – d. h. äußerlich zu (oder in Bezug zu) Phänomenen der Sprache (oder zu Sprachphänomenen) und sie schematisieren jenseits des Sprachlichen (schematismus hors de langage). Gleichzeitig ist diese radikale Äußerlichkeit der Ort des symbolischen Stifters, und es ist für das Phänomen der Sprache unmöglich, diese radikale Äußerlichkeit in der Sprache (langage) zu schematisieren (temporalisieren und spatialisieren). Die Vernunftideen können im Phänomenologischen nicht schematisiert oder verkörpert werden. Diese Unmöglichkeit bringt uns wieder zum Konflikt zwischen der Einbildungskraft und den Vernunftideen zurück. Dies hat zur Folge, dass die Idee der Vernunft nicht in das phänomenologische Feld eintreten kann, wo ihr sonst der Charakter des UnsinnsFootnote 28 verliehen würde. So sehen wir, dass die Suspendierung und die Einheit der komprehensiven Zusammenfassung eine symbolische Rolle spielen.

Es bleibt jedoch noch die Frage offen, ob eine Vernunftidee Sinnfelder eröffnen kann oder nicht. Vermag sie es, ein Sinnfeld zu eröffnen, dann bleibt noch offen, ob das Phänomen des Sprachlichen unter solch einem Horizont des Sinns schematisieren kann. Mit anderen Worten, es ist noch zu klären, ob die radikale Exteriorität – die, wie wir gesehen haben, einen symbolischen Ursprung hat – in der Genese des Sinns eine Rolle spielt oder nicht. Und wie ist solch eine Rolle zu verstehen? Diese Frage könnte man auch anders formulieren: Was ist die Rolle der Transzendenz im phänomenologischen Feld? Oder was ist die Rolle der Transzendenz in der Erfahrung? Wie soll solch eine Transzendenz verstanden werden?

Bevor wir auf diese Frage eingehen, wenden wir uns zunächst der Möglichkeit der (gescheiterten und erfolgreichen oder harmonischen) Begegnung zwischen dem phänomenologischen und dem symbolischen Feld zu. Somit gehen wir aber auf eine frühere Frage ein, die sich aus dem Widerstreit zwischen der Einbildungskraft (also dem Phänomenologischen) und der Vernunft (also dem Symbolischen) herauskristallisiert hat. Es geht darum zu wissen, ob dieser Widerstreit überwindbar ist, ob er trotzdem zur Begegnung führen könnte. Die Antwort kann laut Richir nur anhand des dynamischen Erhabenen untersucht werden.

6.2.2 Überwindung des Widerstreits zwischen Phänomenologischem und Symbolischem in der Begegnung

Der Schlüssel zu dieser Untersuchung der Begegnung liegt im eröffnenden Satz von Absatz 28 der Kritik der Urteilskraft, wo für Richir die Wandlung des Begriffes der Macht von einem Vermögen zur Gewalt die Begegnung ermöglicht:

Macht ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. Eben dieselbe heißt eine Gewalt, wenn sie auch dem Widerstande dessen, was selbst Macht besitzt, überlegen ist. Die Natur im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat, betrachtet, ist dynamisch-erhaben.Footnote 29

Für Richir ist hier die Macht nur in Hinblick auf eine Begegnung mit einem Hindernis möglich. Sie kann entweder ein Vermögen oder Gewalt sein. Wenn sie einem Hindernis überlegen ist, das selber über eine gewisse Macht (Vermögen) verfügt, dann wird sie zur Gewalt.Footnote 30 Dies impliziert jedoch die Überwindung der Macht (Vermögen), die nunmehr unter dem Griff der Gewalt steht. Diese Interpretation wird anhand des Gefühls der Furcht ersichtlich, denn die Natur würde als erhaben gelten, insofern sie als „Furcht erregend vorgestellt“ wird, (obgleich nicht umgekehrt jeder Furcht erregende Gegenstand in unserem ästhetischen Urteile erhaben gefunden wird).“Footnote 31 Wenn wir also dem Gegenstand der Natur Widerstand leisten, so ist er der Gegenstand der Furcht, wenn unser Widerstand dessen Gewalt unterlegen ist. Auch wenn dieser Widerstand dem Gegenstand der Natur (Furcht) gegenüber eine Begegnung ermöglicht, so besteht die Möglichkeit eines Unglücks (malencontre) oder einer Begegnung (rencontre). Hier scheint Furcht eine physische Funktion zuzukommen, denn dadurch kann das leibliche Selbst durch den furchterregenden Gegenstand zerstört werden. Richir beschäftigt sich sehr klar mit dieser Überlegung, welche Funktion Furcht, Angst, Terror usw. bei Kant spielt. Diese Funktion kann seines Erachtens nur eins von beiden sein: Entweder physisch oder symbolisch.

Richir vertritt jedoch aus unterschiedlichen Gründen die These, dass die Furcht eine rein symbolische und keine physische Funktion einnimmt. Erstens ist es ihm zufolge kein Zufall, dass Kant zusätzlich zur Natur auch Gott als einen furchterregenden Gegenstand ansieht. Er sei das, was dem Gesetz Kraft gibt, auch wenn dieses Gesetz als moralisch im Hinblick auf seine Gebote verstanden werden soll. Das Gesetz verweist auf eine symbolische Institution. Diese Institution wird von einer moralischen Instanz symbolisch gestiftet, die nichts mit Zeit oder Raum zu tun hat. Wenn der Mensch sich vor Gott fürchtet, dann leistet er dieser moralischen Instanz einen Widerstand, die (die moralische Instanz) dann von ihm (dem Menschen) als eine symbolisch gestiftete Gewalt erlebt wird, vor welcher (Gott) die menschliche Macht als unzureichend (als überwältigtes Vermögen) erscheint. Insofern würde der furchterregendeFootnote 32 Gegenstand real als Gewalt erlebt – Angst würde den Menschen nur der Tod vermitteln. Außerdem würde dies – und das ist vielleicht der zweite Grund, warum Richir der Furcht eine symbolische und keine physische Funktion zuschreibt –Kants Idee des Erhabenen widersprechen. Für ihn liegt das Erhabenen sozusagen nicht in der Natur. Darüber hinaus würden wir laut Richir nach außen neigen, wäre die Furcht uns nur in ihrer reinen physischen Gestalt als Gewalt gegeben. Aber so wäre keine Begegnung möglich, denn wir wären dort einer realen zerstörischen Macht ausgesetzt. Denn so würde die Gewalt der Furcht unser eigenes Vermögen in uns nicht erwecken, das über das Natürliche, das Physische, das Empirische hinausgeht. Das Gemüt (in unserem Zusammenhang der Leib) würde sich „die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur“Footnote 33 nicht fühlbar machen können. Was muss also geschehen, damit der Gegenstand zum Erhabenen führt? Was muss geschehen, damit die Erfahrung möglich ist? Wir verteidigen hierzu die These, dass 1) das reine Natürliche (das Physische) zum Symbolischen werden muss und 2) dieses Symbolische in das Phänomenologische eintreten muss und mit ihm versöhnt (Begegnung) wird. Aber wenn das so ist, was muss dann passieren, damit die erste Bedingung überhaupt erfüllt wird?

Um diese Frage zu beantworten, stützen wir uns auf Richirs Idee der phänomenologischen Epoché, welche die rohe Macht der Natur (der Furcht) beseitigt, wie sie Kant beschrieben hat:

Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen können.Footnote 34

Richir bezieht sich auf diese Stelle und kommentiert sie ausführlich. Zunächst betont er, dass die Aufhebung des brutalen Charakters der Natur nur durch die phänomenologische Epoché gelingt. Deshalb kann eine Anziehung der Phänomene schematisieren, die weder der Ordnung der „Perversität“ noch der der „nihilistischen Faszination für Macht“ (fascination nihiliste pour un pouvoirFootnote 35) angehört. Die Epoché hat nicht nur zur Folge, dass die realen, also die gewalttätigen Auswirkungen der Macht überwunden werden, sondern auch, dass das Aufkommen der Einbildungskraft ermöglicht wird. Erst dadurch können sich statt der abschreckenden Furchtbarkeit der Gewalt anziehendeFootnote 36 Phänomene schematisieren. Anhand dieser Schematisierung wird uns die „Idee“ einer anderen Art von Vermögen ermöglicht, wodurch anstelle von Furcht die Macht als Sicherheit in uns erlebt werden kann; dies markiert für Richir den Eintritt des Symbolischen ins phänomenologische Feld. All dies geschieht ohne, dass vorher ein vermittelnder Begriff gebildet wird, sodass wir unmittelbar eins mit den PhänomenenFootnote 37 sind, die wir nun unmittelbar verleiblichen (das Phänomenologische) können.

Während das Symbolische in uns erlebt wird, wird uns unmittelbar und gleichzeitig das gegeben, was nicht nur über den Tod, sondern auch über den Himmel hinausgeht (absolute Transzendenz: auch diese ist symbolisch). Es entsteht so nicht nur einfach die Möglichkeit der Begegnung mit einem Anderen, sondern darüber hinaus die Möglichkeit der Begegnung mit einer Andersheit, deren Unbestimmbarkeit größer ist als all das, was in der Vorstellung auftreten kann. Damit sind nun die zwei oben genannten Bedingungen für das Erhabene erfüllt.

In einem anderen Beispiel, das ebenfalls von Kant inspiriert ist, erläutert Richir diesen Gedanken, von dem her er – wie wir sehen werden – der Phänomenologie eine neue Bedeutung verleiht und die laut ihm die menschliche Erfahrung in ihrem Wesen ausmacht. Kant schreibt:

Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tief beschatteter, zum schwermütigen Nachdenken einladender Einöden usw. ergreift, ist bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemüts mit dem Ruhestande desselben zu verbinden und so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluß haben kann, überlegen zu sein.Footnote 38

Es gibt hier, wie auch bei dem vorigen Zitat Kants, mindestens zwei Dimensionen: Die erste betrifft die VernichtungFootnote 39 der rohen Gewalt (Schreck, der Schauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen) in der Natur. Dies kann man mit Burkes Begriff der Mischung von Schrecken und Freude vergleichen, wodurch keine Vernichtung des Selbst, sondern eine BegegnungFootnote 40 ermöglicht wird. Damit sie nicht als ein Wirkliches oder Reales (Gefühl der Furcht) erlebt werden, wird die phänomenologische Epoché durchgeführt. Dadurch wird die physische Furcht, die eigentlich eine bedrohende Todesmöglichkeit anzeigt, beseitigt und Sicherheit erworben. Die zweite Dimension betrifft das Phänomenologische, welches in diesem Zitat durch die Einbildungskraft dargestelltFootnote 41 wird. Nicht mehr die gewalttätige Macht, sondern das Vermögen der Phänomenalisierung wird anhand der Einbildungskraft ins Unendliche getragen,Footnote 42 die mit der „Phänomenalität der Macht“Footnote 43 (die Natur außerhalb von uns) verleiblicht und versöhnt wird.

In seinem späteren Werk Variations sur le sublime et le soi werden in der Verhältnisbestimmung zwischen der Einbildungskraft und der Vernunftidee (in diesem Zusammenhang Macht in der Natur) diese Begriffe durch die Affektivität und Transzendenz ersetzt, was von großer Bedeutung ist. Der erhabene Moment kann sich, so kann man bei Richir in der genannten Arbeit aufweisen, in drei Phasen abspielen, die ineinander übergehen:

  1. 1)

    Zunächst wird die Affektivität ihren Überschuss erreichen und wegen der inhärenten Gewalt zum hochdichten Kern (noyau hyperdense) kondensiert (Systole). Dabei ist der Schematismus gebrochen. Dies bedeutet, dass alle Bewegungen, die eine Sinnbildung des Sprachlichen hervorrufen (Schematisme de langage), oder alle Bewegungen, bei denen eine Sinnbildung des Sprachlichen nicht möglich ist (Schematisme hors langage), unterbrochen oder suspendiert sind.

  2. 2)

    Dies führt zur Reflexivität der Affektivität, d. h. zu sich selbst. Diese Reflexivität geschieht nicht durch Begriffe, sondern in Anlehnung an die radikale Exteriorität, also der Transzendenz. Letztere führt einen Abstand in die Affektivität ein, sodass diese nicht mit sich selbst übereinstimmt.

  3. 3)

    Würde dieser Vorgang fortbestehen, so würde dies die Vernichtung für die Affektivität bedeuten. Deshalb folgt sofort auf die Systole die Diastole,Footnote 44 wobei die Letztere wiederum die Schematisierung des Sprachlichen, also die Sinnbildung erweckt.Footnote 45

Somit werden die Affektivität und die radikale Transzendenz versöhnt. Dies symbolisiert für Richir die VersöhnungFootnote 46 oder die Begegnung des Symbolischen mit dem Phänomenologischen. In einem Zitat, durch das auf diese Frage eingegangen werden kann, was das Symbolische und das Phänomenologische ausmacht und wodurch die Art von Versöhnung zwischen den beiden Registern abgeklärt wird, begegnet auch die neue Definition der Phänomenologie in Richirs Deutung:

Wenn es also eine Begegnung zwischen Phänomenologie und symbolischer Institution gibt, dann ist dies eine zwischen radikaler Unbestimmtheit und Bestimmtheit (zumindest relativ oder offensichtlich), zwischen dem Logologischen und dem Tautologischen, zwischen dem Unbestimmten und dem Bestimmten. Dies ist der Grund, warum diese Begegnung, wie der Moment des Erhabenen zeigt, in einem Abgrund ist, rätselhaft und kein Durchgang, der „logisch“ denkbar oder von der einen oder anderen Seite her deduzierbar wäre – dies würde bedeuten, ein Kaninchen aus einem Hut zu zaubern –, vom phänomenologischen „Pol“ zum symbolischen „Pol“ der Erfahrung ist. Es ist, als wäre der Abgrund das mysteriöse Bindeglied der beiden, da wir immer in beiden leben und niemals ausschließlich in Unbestimmtheit oder ausschließlich in Bestimmtheit, so mysteriös wie auch die Bewohnung radikaler Abwesenheit der Welt durch den Anderen oder die Inkarnation als Bewohnung des Leibes durch radikale singuläre Ipseität ist. Unsere Neudefinition der Phänomenologie ist daher untrennbar mit einer Neudefinition des Erhabenen verbunden.Footnote 47

Aus diesem Zitat können einige Schlüsse gezogen werden:

  1. 1)

    Jede Erfahrung trägt in sich das Unbestimmte (Phänomenologische) und das Bestimmte (Symbolische) als unbewusste Struktur. Diese Idee kennzeichnet das Prinzip jeder Definition von Erhabenem. Infolgedessen bleibt das Prinzip des Erhabenen für jede Erfahrung unvermeidlich, wobei das Erhabene in der Erfahrung laut Richir nur „funktional“ ist. „Funktion“ drückt hier lediglich eine Haltung des Leibes aus. Somit macht der Leib als Ort des Überschusses die Unbestimmtheit der Erfahrung aus.

  2. 2)

    Das eine (z. B. das Bestimmte oder Unbestimmte, das Symbolische oder das Phänomenologische) ist nicht auf das andere zurückzuführen, noch ist es von ihm abzuleiten. Dies enthält eine bedeutungsvolle Implikation: Weder die Innerlichkeit noch die Exteriorität können auf die eine oder die andere reduziert oder zurückgeführt werden, sodass das eine sich von dem anderen ableiten würde. Wir haben schon in der Einleitung dieses Kapitels auf die Warnung von Sacha Carlson hingewiesen, wonach man bei Richir die Exteriorität nicht vom Gesichtspunkt der Innerlichkeit (Idealismus) oder umgekehrt die Innerlichkeit vom Gesichtspunkt der Exteriorität (Realismus) her betrachten sollte. Diese wird nun von Richir selbst explizit verteidigt. Wenn der Übergang vom Einen zum Anderen ausgeschlossen ist, dann bleibt uns nichts übrig, als die Einbettung beider in beiden Welten anzuerkennen. In einem vorigen Kapitel haben wir die lückenhafte Einheit (dies geschah in Ansehung des Leib-Körpers) der beiden Dimensionen verteidigt, insofern sie als unbestimmt und bestimmt verstanden werden. Den Abstand zwischen den beiden Dimensionen entnehmen wir dem Begriff „mysteriös“ aus dem Zitat oben, der aber bei der gleichzeitigen Ko-Existenz der „Bewohnung radikaler Abwesenheit der Welt“ mit der „Bewohnung des Leibes“ für uns angekündigt wird: einmal die Abwesenheit der Welt als nicht-Immanenz (also Transzendenz) und die Anwesenheit des Selbst als nicht-Transzendenz. Genau das verdeutlicht unsere These der Funktion des Abstands in Richirs Phänomenologie, durch den die unterschiedlichen Register undenkbar wären. Ohne den Abstand zwischen ihnen, wäre es unmöglich diese beiden Dimensionen zu konzipieren. Ist jegliche Art von Realismus und reinem Idealismus ausgeschlossen, dann besteht für uns nur noch ein lückenhafter Dualismus;Footnote 48 also ein Dualismus, der trotz seiner Einheit lückenhaft ist. Dies öffnet für uns eine neue Frage: Kontaminiert das symbolische Feld deshalb nicht das Phänomenologische? Wie kann das Phänomenologische dieser Kontamination entgehen? Auf diese Fragen werden wir erst am Ende dieses Kapitels als auch im letzten Kapitel eingehen.

  3. 3)

    Die transzendentale Phänomenologie hat nun einen neuen Ausgangspunkt. Sie muss in der Lage sein, bei jeglicher Thematisierung der Erfahrung und Erschließung oder Eröffnung der Welt die Grundidee jeglicher Erfahrung vor Augen zu haben, wie dieselbe im Erhabenen neu ausgelegt wird.

Dieser Anspruch Richirs an die Phänomenologie wird nun eine Bedingung für die Möglichkeit der Welterschließung. Letztere gelingt nicht immer. Wie Kant in der Vorrede der Kritik der reinen Vernunft schreibt, ist es die Pflicht der Philosophie, „das Blendwerk, das aus Mißdeutung entsprang, aufzuheben.“Footnote 49 Dementsprechend gilt auch die Frage, ob es Kant bzw. Richir gelungen ist, eine gelingende bzw. eine scheiternde Begegnung des Phänomenologischen mit dem Symbolischen aufzuweisen.

Da eine gescheiterte „Begegnung“Footnote 50 (Unglück) auf ein Blendwerk und die Begegnung selbst auf das „Reale“ oder die gesunde Begegnung verweist, widmen wir uns nun der oben gestellten Frage, ob die Weltphänomene im Sprachlichen schematisiert (temporalisiert oder spatialisiert) werden könnten oder nicht. Da das Reale nur widerlegt oder bestätigt werden kann, beginnen wir mit der Begegnung, um später mit einer Situation fortzufahren, in der es nicht bestätigt werden kann (dem Unglück).

6.2.3 Gemütsstimmung der wahren Religion: Modell der Begegnung

Um auf diese Idee der gelungenen Begegnung einzugehen, beziehen wir uns, angelehnt an Richir, auf eine sehr wichtige Stelle in Kants dritter Kritik. Sie kommt nach der Stelle, in der er von der menschlichen Neigung Gott in gewalttätigen Dingen der Natur zu sehen und den Freveln der Menschen in Bezug auf diese spricht:

Hier scheint kein Gefühl der Erhabenheit unserer eigenen Natur, sondern vielmehr Unterwerfung, Niedergeschlagenheit und Gefühl der gänzlichen Ohnmacht die Gemütsstimmung zu sein, die sich für die Erscheinung eines solchen Gegenstandes schickt, und auch gewöhnlichermaßen mit der Idee desselben bei dergleichen Naturbegebenheit verbunden zu sein pflegt [….] Nur alsdann, wenn er sich seiner aufrichtigen gottgefälligen Gesinnung bewußt ist, dienen jene Wirkungen der Macht, in ihm die Idee der Erhabenheit dieses Wesens zu erwecken, sofern er eine dessen Willen gemäße Erhabenheit der Gesinnung bei sich selbst erkennt, und dadurch über die Furcht vor solchen Wirkungen der Natur, die er nicht als Ausbrüche seines Zornes ansieht, erhoben wird. Selbst die Demut, als unnachsichtliche Beurteilung seiner Mängel, die sonst beim Bewußtsein guter Gesinnungen leicht mit der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur bemäntelt werden könnten, ist eine erhabene Gemütsstimmung, sich willkürlich dem Schmerze der Selbstverweise zu unterwerfen, um die Ursache dazu nach und nach zu vertilgen.Footnote 51

Folgen wir Richirs These, dann wird an dieser Stelle ersichtlich, was mit Begegnung gemeint ist: sie ist die Überwindung der natürlichen Furcht, um somit die symbolische Macht, also die Idee in sich hineinfließen zu lassen, sodass im Menschen die Erhabenheit dieses Wesens – gemeint ist der symbolische Stifter – leibhaft und leiblich wird. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde, also die Versöhnung der Vernunftidee mit der Einbildungskraft, hinterlässt seine Spuren im Menschen: Sie erzeugt ruhige Kontemplation. Es handelt sich hier um eine Harmonie, um eine „Furcht der Untreue“ (Ehrfurcht) dem Anderen (Gott) gegenüber. Die Erfurcht bezeichnet eine Affektivität, die trotz ihrer Kondensation wiederum mit sich selbst in Gelassenheit verbunden sein kann, also eine Affektivität, bei der das Subjekt mit dem Gegenstand der Furcht, der Transzendenz, versöhnt wird. Dem steht eine frevelhafte Furcht vor Gottes BestrafungFootnote 52 gegenüber. Die frevelhafte Furcht Gottes erfasst also eine Hyperbel der hochdichten Affektivität, die gar nicht zur Reflexivität führt. Laut Richir entspricht die Ehrfurcht Kants erhabener Gemütsstimmung in der wahren Religion. Die Gemütsstimmung der wahren Religion wird in Richirs Augen nun zum Modell einer Begegnung aus einem phänomenologischen Gesichtspunkt, sprich Welterschließung. Wie ist diese Begegnung zu verstehen?

Die Begegnung von der hier die Rede ist, ist – wie bereits erwähnt – die zwischen dem Phänomenologischen und dem Symbolischen. Sie kann laut Richir nur innerhalb der Schematisierung (Temporalisierung und Spatialisierung) eines Sprachlichen verstanden werden oder wie er an anderer Stelle ausführt unter dem Gesichtspunkt eines Projekts des Sprachlichen.Footnote 53 Was bedeutet aber diese Schematisierung des Sprachlichen? Der junge Richir verstand darunter die Natur des symbolischen Sinnhorizonts, wo das Subjekt einen symbolischen Sinn in der räumlich-zeitlichen Dimension seiner Geschichtlichkeit entdeckt, der jedoch nicht im Streit mit dem Sinn des symbolischen Stifters liegt.Footnote 54 Hier stimmt der Lebenswandel – dieser hängt oft mit einer komplizierten, langen Strecke mit unzähligen Umwegen zusammen – mit der „inneren Lebensgeschichte“ (Binswanger) überein, denn das Subjekt ist der Idee gegenüber transpassibel, welche es – auch wenn sie transpossibel ist und jenseits jeglicher Möglichkeit liegt – mit Gleichmut und in ruhiger Kontemplation empfängt. Nur so kann das Leben des Subjekts überhaupt Sinn erhalten. Denn die Vernunft – die in kantischer Architektonik laut Richir als symbolischer Stifter gilt, wenn sie auf die Sinnlichkeit, auf die Einbildungskraft eine Gewalt „ausübt, nur um sie ihrem eigentlichen Gebiete (dem praktischen) angemessen zu erweitern und sie auf das Unendliche hinaussehen zu lassen“Footnote 55 – gehört zum Gebiet des Praktischen. Der symbolische Stifter, die Vernunft, welche die Tradition als Gott versteht, ist das Nichtsprachliche, das jenseits des Sprachlichen liegt. So liefert er den Sinn, der das Gebiet des Sprachlichen, im eigenen Leben, übersteigt: Richir beschreibt diese Lücke im Sprachlichen (Phénoméne de langage) mit dem Ausdruck „LückeFootnote 56 in der Sprachphänomenalität“ (lacune en phénoménalite de langage). Diese Lücke wird durch die Begegnung mit dem Stifter gefüllt. Insofern konstituiert er als das Gebiet der symbolischen Bestimmtheit für die „Lücke im Phänomen des Sprachlichen“ den symbolischen Horizont, der dem subjektiven Leben Sinn verleiht, was letztendlich eine praktische Funktion hat. So gesehen herrscht zwischen dem Sprachlichen und dem Nichtsprachlichen eine Harmonie und mithin eine Erschließung der Welt, die in der Erfahrung gegeben ist.

Für den späteren Richir bedeutet dieser gelungene Vorgang auch die gelungene Reflexivität der Affektivität: Ihre Offenheit zu sich trotz der Beendigung der Schematisierung des Sprachlichen durch den Überschuss der Affektivität in ihrer Kondensation (Systole) und die Schwerelosigkeit („apesanteur“, ein Begriff, den Richir von Michel DeguyFootnote 57 übernommen hat), die danach folgt. Die Konsequenz für das leibliche Selbst ist das Vermögen, die Welt zu empfangen, zu erfahren, und daraus Sinn zu erschließen.

6.2.4 Frevel und Fanatismus: Modell fürs Unglück (Trauma)

Nachdem wir das Modell der gelungenen Begegnung skizziert haben, gehen wir nun in diesem Abschnitt zum Unglück über, dass Richir in einer späteren Entwicklung als Trauma auffasst. Während bei Richir die Gemütsstimmung der wahren Religion das Modell der gelungenen Begegnung gewesen ist, dienen Frevel und Fanatismus als Modell für das Unglück. Diese Idee ist wiederum an Kant angelehnt:

In der Religion überhaupt scheint Niederwerfen, Anbetung mit niederhängendem Haupte, mit zerknirschten angstvollen Gebärden und Stimmen das einzig schickliche Benehmen in Gegenwart der Gottheit zu sein, welches daher auch die meisten Völker angenommen haben und noch beobachten. Allein diese Gemütsstimmung ist auch bei weitem nicht mit der Idee der Erhabenheit einer Religion und ihres Gegenstands an sich und notwendig verbunden. Der Mensch, der sich wirklich fürchtet, weil er dazu in sich Ursache findet, indem er sich bewußt ist, mit seiner verwerflichen Gesinnung wider eine Macht zu verstoßen, deren Wille unwiderstehlich und zugleich gerecht ist, befindet sich gar nicht in der Gemütsfassung, um die göttliche Größe zu bewundern, wozu eine Stimmung zur ruhigen Kontemplation und ganz freies Urteil erforderlich ist [...]. Selbst die Demut, als unnachsichtliche Beurteilung seiner Mängel, die sonst beim Bewußtsein guter Gesinnungen leicht mit der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur bemäntelt werden könnten, ist eine erhabene Gemütsstimmung, sich willkürlich dem Schmerze der Selbstverweise zu unterwerfen, um die Ursache dazu nach und nach zu vertilgen. Auf solche Weise allein unterscheidet sich innerlich Religion von Superstition; welche letztere nicht Ehrfurcht für das Erhabene, sondern Furcht und Angst vor dem übermächtigen Wesen, dessen Willen der erschreckte Mensch sich unterworfen sieht, ohne ihn doch hochzuschätzen, im Gemüte gründet; woraus denn freilich nichts als Gunstbewegung und Einschmeichelung, statt einer Religion des guten Lebenswandels, entspringen kann.Footnote 58

Geschieht also ein Unglück im Sinne Richirs, so bedeutet dies, dass keine Begegnung stattgefunden hat, wie sie das Phänomenologische und das Symbolische – ganz konkret der symbolische Stifter – in gelingender Weise eröffnet hätten. Hier scheint ein Register zurückzutreten (das Phänomenologische) und das andere Register (das Symbolische) allein wirken zu lassen. Das Register wird bei innerer Austrocknung nun davon bedroht, zum Gestell zu werden.

Die Ursache dieses Unglücks nennt Kant Furcht, die nicht zur Ehrfurcht transformiert werden kann, sprich eine exzessive Affektivität, die nicht anhand der „perzeptiven“ Phantasia kompensiert wird, d. h. sich nicht im Austausch mit dem Anderen wandeln konnte. Angst führt dementsprechend zur Gunstwerbung, zur Einschmeichelung und zu allen Sorten von Frevel, womit Menschen versuchen, dem lebensbedrohlichen Blick aus dem HimmelFootnote 59 zu entgehen. In einem politischen Zusammenhang führt diese Angst zur Stiftung der Tyrannei und Knechtschaft.

Die Konsequenzen dieses Vorgangs lassen sich nicht nur auf diesen gerade genannten Gebieten beobachten. Auch Ergebnisse aus dem Forschungsgebiet der Psychoanalyse zeigen, dass der Frevel ein Exzess der Affektivität ist, der sich bei leiblich-geistig kranken Menschen symbolisch als unbewusste, besessene Mechanismen enthüllt. Das Subjekt wird einem „Wiederholungszwang“ (automatisme de répétitionFootnote 60) unterworfen, wie Lacan Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“ übersetzt hat. Für Richir verweist der Wiederholungszwang auf eine überbestimmte symbolische Kodierung, auch wenn dieser Ablauf schlechthin unbewusst bleibt, was zur Folge hat, dass die in sich hochdichte Affektivität der Furcht außerhalb des bewussten Erlebnisses und mithin außerhalb der FreiheitFootnote 61 geschieht. Die unendlichen Rituale der Wiederholungen dienen der Wiederherstellung des symbolisch Gesuchten. Auch bei seinen neurotischen Patienten hat Freud die Macht des Unbewussten entdeckt, welches das Verhalten dieser Menschen (besonders bei neurotischen und hysterischen Patienten) auch dann stark beeinflusst, wenn ihre körperlichen Symptome auf keine erkennbare physiologische Quelle verweisen. Seine TherapieFootnote 62 bestand darin, das Unbewusste bewusst lassen zu werden.

Auch bei der Schlussfolgerung der zweiten Kritik verbindet Kant Aberglauben (als Frevel) mit SchwärmereiFootnote 63 (sprich Fanatismus). Richir versteht dies als ein Modell der ungelungenen Begegnung, wo das Feld der Unbestimmtheit und der Offenheit geschlossen wird: Der Andere wird dadurch absolut ausgeschlossen. Dies bedeutet die Vernichtung des Feldes der Unbestimmtheit und allem, was damit zu hat, sodass die symbolische Institution sich zur Selbsterhaltung in sich zurückzieht. Der Tod des anderen, also des Feldes der Unbestimmtheit und der Unendlichkeit, bedeutet auch die Verkrampfung (crispation) und den Tod des Selbst, das nun im symbolischen Feld gefangen ist.

Sowohl der Wiederholungszwang als auch das Verhalten neurotischer und hysterischer Patienten – all dies verweist auf Exzesse der Affektivität, die nie wieder zur Diastole führen – weisen zwar auf eine symbolische Macht hin, die aber die Ohnmacht des Phänomens des Sprachlichen mit sich bringt. So verstanden gelingt es dem Phänomen nicht, sich im Sprachlichen zu schematisieren. Alles bleibt beim ersten Vorgang der Systole stehen, wo alle Schematisierungen des Sprachlichen suspendiert sind. Diese Verhaltensweisen liegen außerhalb dessen, was Sinn erzeugen kann und weisen darauf hin, dass es in ihnen keine Begegnung, keine Erschließung der Welt gibt und mithin damit die Ausschließung des Sinneshorizonts verbunden ist.

Die oben geschilderten geistigen Krankheiten sind ein klassisches Beispiel für das Trauma, bei dem das Übermaß der Affektivität die dynamische Spaltung (sprich Dualismus zwischen dem Phänomenologischen und Symbolischen) zwischen Selbst und Transzendenz (symbolisch) zur statischen Spaltung umgewandelt. Im Falle des Widerholungszwang zum Beispiel wird das Subjekt auf die gesuchte Symbolik fixiert, die nie zum Vorschein kommen wird, aber die den leiblich Kranken zum gleichen gestörten Verhaltensmuster führt.Footnote 64 Anhand eines Begriffs, der an Biswanger angelehnt ist, schreibt Richir, dass das Selbst seiner Leiblichkeit beraubt wird, denn das Selbst zieht sich in die Absonderung der Leibhaftigkeit zurück (Leibhaftigkeit en sécession). Es fehlt diesem kranken Leib der Zugang zur Welt und zum Reellen, also ist die Erfahrung der Welt unmöglich.

Wir fassen das Wesentliche unserer bisherigen Untersuchung, das unserer These entspricht, zusammen: Damit die Erfahrung (bzw. die Begegnung) überhaupt geschehen kann, werden mindestens drei Faktoren benötigt: das Phänomenologische und das Symbolische, wobei das Letztere eine Transzendenz impliziert. Der symbolische Stifter, den die Tradition Gott nennt, sichert, dass „alles“ zusammenhält, wobei Alles nur in Hinblick auf die symbolische Institution verstanden wird. Das Verhältnis zwischen beiden Dimensionen (Dualismus) lässt sich auch konkreter anhand des Blickes als erotischer, affektiver Moment in der Begegnung erfassen. Nur in Bezug auf diese Voraussetzung kann die Welt erschlossen werden und somit ist auch die Erfahrung möglich.

6.3 Ein vermenschlichender erotischer leiblicher Blick im Schatten der Transzendenz

Der erhabene Moment trägt in sich zwei Grundphasen (Systole und Diastole), die ineinander übergehen. Auch beim verflechtenden Blick zwischen Mutter und Säugling spielt sich ein solcher Vorgang laut Richir ab.

Der Blick der Mutter ist mit Affektivität aufgeladen, die laut Richir auch als erotisch verstanden werden kann. Damit ist weder die entfremdende Gewalt des BlickesFootnote 65 des Anderen bei Sartre – also der objektivierende Blick – noch Hegels Herr-Knecht-BeziehungFootnote 66 beim Blickaustausch, sondern der leidenschaftliche liebende (eros) Blick gemeint, auch wenn dieser für den Säugling einen Überschuss an Liebe bedeuten könnte. In jedem Fall impliziert die Hyperkondensation der Affektivität eine Systole. Diese Affektivität, die bei Levinas mit den Begriffen Verwundbarkeit, Maternität, Sensibilität usw. in Verbindung gebracht werden kann, ist im Hinblick auf den Anderen als Verantwortung aufzufassen. Aber diese affektive Sensibilität, Maternität usw. artikuliert die Inkarnation der Erfahrung des Leibes. Die affektive Maternität bindet den Leib an andere, noch bevor er an sich selbst gebunden ist: „Das Sensible – die Mutterschaft, Verwundbarkeit, Besorgnis – verbindet den Knoten der Verleiblichung in einem größeren Entwurf als die Selbstwahrnehmung; ein Entwurf, in dem ich an andere gebunden bin, bevor ich an meinen Leib gebunden bin“.Footnote 67 Wenn wir in diesem Rahmen von der Affektivität der Maternität sprechen, dann markiert diese Affektivität zunächst eine Transzendenz, ohne die das leibliche Selbst nicht denkbar ist. Die Mutter oder deren Blick zeichnet diese Transzendenz a priori für den Säugling aus. In diesem anblickenden Blick der Mutter liegt ein anderer Blick, dessen Überschuss zur 1) Kondensation der Affektivität des anblickenden Blicks und 2) zur Unterbrechung der Schematisierung jenseits des Sprachlichen (schematisme hors langage) führt. Es gibt hier demnach also überhaupt keinen Schematismus des Nichtsprachlichen mehr. Was nun hinter jenen Augenäpfeln flackert, verweist auf eine absolute Transzendenz, d. h. das Nichtdarstellbare, das in der Anschauung nicht gegeben werden kann. In einem früheren Kapitel haben wir dies als die Unmöglichkeit des leiblichen Selbst verstanden, die in ihrer Phänomenalität dem leiblichen Selbst entgeht. Es ist das UnvordenklicheFootnote 68 (Schelling), das dort als ein verstehbares Element (noeta) wirkt. Dies meint Richir, wenn er schreibt, dass das Andere in einem Sehen liegt, das nichts sieht.Footnote 69 Wegen der Absolutheit dieser absoluten Transzendenz, die selber nicht blickt und nichts fühlt, bezieht sich die Affektivität auf sich, spürt sich selbst (Reflexivität).

Die Affektivität des erotischen Blickes verdichtet sich nicht bis zu einem Punkt, an dem er den Säugling sonst mit einer Liebe verzehren würde, die sich in Hass verwandelt hat. Dies hätte zur Folge, dass keine dynamische Spaltung vorläge – also ein gesunder Leib, der so in der Reflexivität gedeiht – sondern eine statischen Spaltung (Trauma). Anstelle einer Objektivierung des Säuglings, die sein Unglück bedeutet hätte und anstelle einer Verdichtung (Systole) des Erotischen, schwankt die dichte Hyperaffektivität zwischen einem hohen und einem niedrigen Punkt, wodurch nun eine Diastole entsteht. Die Systole wird überwunden. Dieser Punkt ist wichtig. Wie Levinas zeigt, entsteht das leibliche Selbst nicht aus der Materialität,Footnote 70 sondern aus der Sensibilität, Affektivität und Maternität. Deshalb tritt eine andere Alterität im Blick der Mutter auf als ein anderes absolutes Hier (Leib). Im Leib der Mutter ist die Innerlichkeit, also die Leiblichkeit (und damit die Phantasia und Affektion) gekennzeichnet, durch die sich die Einfühlung ereignen kann. Erst an diesem Punkt wird die Schematisierung des Nichtsprachlichen in die transzendentale Interfaktizität verwandelt. Das heißt, die Begegnung siegt, sobald die Transzendenz in das phänomenologische Feld des Säuglings eintritt. Genau wie die Maternität, die Sensibilität (also die Leiblichkeit) für Levinas zum leiblichen Sinn der Welt führen soll, soll die Transzendenz (Nichtsprachliches) Sinn im leiblichen Selbst schematisieren, solange die Begegnung gelingt. Dieser Sinn soll nicht als Begriffssystem in einem Sprachsystem sondern als der eine für den Anderen der SensibilitätFootnote 71 verstanden werden; auch dies ist ein Grund, warum Richirs Vorwurf an Levinas Selbstbegriff als eines Ideals und einer metaphysischen Hyperbel nicht gerechtfertigt werden kann. Damit dies gelingt, soll die Unterbrechung der Schematisierung des Nichtsprachlichen unterbrochen werden – sie muss außer Kraft gesetzt werden –, sodass die Schematisierung des Sprachlichen wieder in Kraft gesetzt wird.Footnote 72 Der ganze Vorgang ist für den Austausch der Blicke notwending. Für den Blickaustausch ist die Zirkulation der „perzeptiven Phantasia“ zwischen den Leibern (Mutter-Säugling) notwendig. Damit die „perzeptive“ Phantasia zirkulieren kann, wird vorausgesetzt, dass die Phantasia-Affektion (reine Phantasia) in die „perzeptive“ Phantasia verwandelt werden. Die „perzeptive“ Phantasia verbirgt in sich ein virtuelles Selbst; sie ist transzendent.

Im Austausch durch die „perzeptive“ Phantasia wird etwas „perzipiert“. Was ist dieses „Etwas“? Ist es in irgendeiner Weise das Nichtdarstellbare, das Unmögliche, das vermittels der absoluten Transzendenz durchscheint, aber dem Selbst doch entgeht? Nein, dieses „Etwas“ gehört zu einer anderen Gattung. Es stammt zwar von der absoluten Transzendenz, die jedoch auf kein göttliches (absolute Transzendenz der ersten Art, die die Tradition als GottFootnote 73 übersetzt), sondern auf ein menschliches Wesen hinweist, das mit der Transzendenz eines zweiten Grades (Richir nennt diese „physisch-kosmische Transzendenz“) zusammenhängt. Diese Transzendenz liegt im Blick (die „perzeptive“ Phantasia) der Mutter und sie zirkuliert zwischen den beiden Leibern. So „perzipiert“ die „perzeptive“ Phantasia etwas (wir nennen es den ÜbergangsraumFootnote 74) zwischen dem „Figurierbaren“ und dem „Unfigurierbaren“ (also keinem Ding, sondern einer SacheFootnote 75). Diese Sache ist weder eine Entität noch ein Bild. Dadurch vermag das Bewusstsein es, diese Sache zu spüren, die ihm gleichzeitig entgeht. Diesbezüglich könnte man sagen, dass die „Perzeption“ auf eine unmögliche Möglichkeit hindeutet, da es dabei sowohl einen figurierbaren (das Mögliche) als auch einen nicht figurierbaren Teil (das Unmögliche) gibt.

Der Blickaustausch durch die „perzeptive“ Phantasia ist auf keinen Fall eine narzisstische Projektion des Selbst. Denn weder der liebende Blick der Mutter noch der angeblickte Blick des Säuglings sieht sich (Körper) im Blick des anderen, auch wenn der Säugling sich im Blick der Mutter anschaut (Leibwerden): für uns impliziert dies die Rolle des Abstands. Gäbe es keinen Abstand zwischen den Leibern – oder besser ausgedrückt, hätte der Blick der Mutter sich selbst im Blick des Säuglings gesehen –, so würde ihr Blick für den Säugling ThanatosFootnote 76 bedeuten, den Tod. Das heißt: Hätte es keinen Abstand gegeben, würde das Selbst sich im Blick wieder selbst aufnehmen und in diesem narzisstischen Blick der Andere als Anderer vernichtet werden. So ein Vorgang würde also zu einem Unglück des Traumas führen. Deshalb muss betont werden, dass wir es hier mit einer Kreuzung von Blicken in der LeiblichkeitFootnote 77 (χώρα) zu tun haben. So schreibt Richir:

Die Affektivität eines Selbst kann sich die Affektivität des anderen (eines anderen absoluten Hier) erfühlen, in der wahren Einfühlung, d.h. plötzlich […] erwacht es zu sich selbst mit und beim Erwachen durch den Blick des anderen, der den Blick öffnet, indem er ihn in seinem absoluten Hier „fixiert.“Footnote 78

Das ist der Anstoß oder der Schock im Sinne Fichtes, durch den der andere erweckt und zu sich selbst geführt wird. Wir haben es hier wiederum mit einem Sich-in-den anderen-hineinversetzen (Einfühlung) und mit einer Rückbindung zu sich selbst (also einer Introjektion und einem Selbstbezug – für mich eine Reflexivität – bei Husserls Intersubjektivität) zu tun. Trägt denn der Moment des Erhabenen anhand der Rückbindung zum Selbst zur Selbstwerdung bei? Die Antwort lautet ja. Der Blick der Mutter als ein transzendentaler Moment stellt einen Blick dar, der schon sowohl menschlich, als auch affektiv ist. Durch die Blickkreuzung werden diese Eigenschaften von der Mutter auf den Säugling übertragen. In dem Moment wird ein Proto-Selbst konstituiert, sobald der Blick des Säuglings sich auf sich selbst beziehen kann und wieder zu dem affizierenden Blick der Mutter zurückkehrt; der Säugling ist von der Mutter vermenschlicht worden: Es gelingt ihm, den Blick anzuschauen, der ihn anschaut. Durch diese Reflexivität in der Reziprozität der Affektivität wird das konstituierte Selbst in die Kultur (symbolische StiftungFootnote 79) eingeführt. Man merkt, dass dieses reflexive Selbst (und nicht das symbolische) hier dem Status des Selbst bei Hegel ähnelt. Es ist ein Selbst, das sich in der Bewegung befindet, von einem Selbst zu einem anderen Selbst und wiederum zu einem anderen Selbst, wobei dieses „andere“ nur eine reine Bewegung bedeutet, die bei Hegel AufhebungFootnote 80 heißt. Genau diese reflexive BewegungFootnote 81 verhindert jegliche Fixierung in einer Position. Das reflexive Selbst weicht jeglicher Positionalität aus.

6.4 Die absolute Transzendenz und die Sinnkonstitution

Im obigen Abschnitt wird die Antwort auf die Frage geliefert, was die Rolle der Transzendenz bei der Selbstkonstitution im phänomenologischen Feld ist. Jedoch ist noch lange keine Antwort auf der Frage gefunden, ob man beim Austausch von Blicken noch von einer Erfahrung sprechen kann. Denn Erfahrung ist hier keine Selbsterfahrung, sondern Erfahrung von etwas, das jenseits des Selbst liegt. Eine Analyse des Blickaustausches zwischen den beiden Leibern stellt sicher, dass die Erfahrung nicht in den Solipsismus verfällt. Durch die Bewegung und Zirkulation der „perzeptiven“ Phantasia von einem Leib zum anderen Leib, also durch Reflexivität des leiblichen Selbst, ist die Öffnung des Sinnbereiches verwirklicht. Gerade durch die Bewegung und die Zirkulation der „perzeptiven“ Phantasia von einem Leib zum anderen Leib, also durch Reflexivität des leiblichen Selbst, wird die Öffnung des Sinnbereiches verwirklicht. Somit ist der Sinn (ein Phänomen z. B. das Sprachphänomen) nichts anderes als die Bewegung des Selbst zum Selbst. Von Erfahrung kann man also sprechen, sobald die Bewegung des Selbst zum Selbst einen Horizont des Phänomens (Sinnhorizont) eröffnet, welcher wiederum auf die Transzendenz bezogen ist. Sobald die JenseitigkeitFootnote 82 des Phänomens in die JemeinigkeitFootnote 83 der Subjektivität hineingeschrieben wird – und dies auf eine Weise, dass sich die Jenseinigkeit des Phänomens auf ihren Überschuss bezieht – kann man von einer Erfahrung sprechen. Wie ist diese letztere zu verstehen? Oder um die Frage noch klarer zu stellen: Was macht den Bezug des Phänomens aus? Wird es nur in Bezug auf sich selbst betrachtet oder muss es vor sich oder hinter sich laufen?

Diese Fragen deuten auf eine Wirkung der absoluten Transzendenz auf das Phänomen hin, die bei der Verdichtung und Kondensation der Affektion zur Sprache kommt. Es ist die radikale Exteriorität, die das Sprachphänomen für den Sinnhorizont eröffnet. Im Sprachphänomenen wird deshalb ein Sinn(horizont) eröffnet, der auf der Suche nach sich selbst ist. Der Sinn stimmt nicht mit sich überein, sonst würde er in eine Metaphysik verfallen. Zugleich ist der Sinn nicht nur Sinn von sich selbst. Der Sinn läuft vor sich selbst her, vorwärts und im Voraus. Der Sinn läuft so vor sich zu „dem“, aufgrund dessen es Sinn gibt, wobei dieses „dem“Footnote 84 selbst jenseits eines Sprachlichen liegt. Während der Sinn auf der abenteuerlichen Suche nach sich unterwegs durch das Sprachphänomen (phénomène de langage) ist, wird für den Sinn – der vor sich herläuft, im Horizont jenseits des Sprachphänomens (phénomène hors langage) – der Bezug oder die Referenz (référent) konstituiert, welche für den Sinnhorizont im Bewusstsein Ohnmacht bedeutet. Die Referenz nennt Richir das Nichtfigurierbare (Nichterfassbare), denn sie entgeht dem Bewusstsein (Ohnmacht des Bewusstseins) und schematisiert jenseits des Sprachlichen. Das Sprachphänomen kann daher nicht ohne das Jenseits des Sprachphänomens gedacht werden, denn das Erstere ist nichts anderes als die Phänomenalisierung oder die Schwingung (oder die Reflexivität) des Letzteren im Ersteren. Das Sprachliche (langage) verweist auf das Nichtsprachliche (hors de langage), das in sich schematisiert. Nur so kann die Intuition des Phänomens sowohl erfasst als auch überschritten werden – beides gleichzeitig. Um es anders und klarer zu sagen: Zwar ist unser Leib (als Subjektivität) bei den Schwingungen des Phänomens beteiligt, aber diese werden nicht von unserem Leib bestimmt. Sonst würden wir in einen narzisstischen Abgrund hineinfallen, der suggerieren würde, dass das Phänomen unsere Leibbestimmung wäre.

In solch einem erhabenen Moment werden die reinen archaischen Phantasiai-Affektionen in der „perzeptiven“ PhantasiaFootnote 85 verwandelt oder „perzipiert“. Es handelt sich oben um die Rolle des Nichtsprachlichen, des intelligiblen Elements, der „Perzeption“ der reinen Phantasiai-Affektionen in der „perzeptiven“ Phantasia bei der Konstitution des Phänomens. Wenn wir auf diese Referenz des Phänomens verweisen, dann nicht, weil diese Referenz auf eine Idee im Sinne Platons verweist, sondern weil sie das Phänomen durch ihre Virtualität – die Referenz ist keine mögliche Möglichkeit oder einfach eine Potenz (Heideggers Tod als die „Möglichkeit von Daseinsunmöglichkeit) – ermöglicht, obgleich sie dem Sinn unzugänglich bleibt. Die Idee einer Ermöglichung impliziert eine Unmöglichkeit, sodass man fragen kann: Was ist unmöglich, dass nun möglich sein muss? Mit dieser Frage betreten wir das Feld der Korrelation zwischen der Transzendenz und dem leiblichen Selbst (dem Phänomenologischen).

6.5 Schlussüberlegung

Wir haben gesehen, dass das symbolische Feld im Moment des Erhabenen anhand der absoluten Transzendenz (verstanden als der symbolische Stifter) ins Feld des Phänomenologischen eindringt und mit ihm (im Fall einer gelungenen Begegnung) versöhnt wird. Vor dem Eintritt dieses erhabenen Moments scheint das Selbst in seiner Immanenz sehr weit weg von sich selbst (seinem innersten Selbst) zu sein – es ist bezuglos und gedankenlos. Im erhabenen Moment wird das Selbst nicht nur übertroffen, sondern seine radikale Immanenz wird auch entblößt. Entblößt deshalb, weil das Selbst gesucht und erforscht wird, aus der Ferne. Von dort wird in das Selbst eingedrungen, als ob man sagen würde, dass es die ganze Zeit verfolgt wäre, als ob seine Wege der absoluten Transzendenz vertraut wären, die es in seiner Bedürftigkeit zu sich selbst ruft. Aber diese absolute Transzendenz ist alles andere als das, was das Selbst ist. Ist das Selbst gedankenlos und von seinem innersten Selbst entfernt, so ist sie hingegen mit dessen innerstem Selbst vetraut. Was kann man von einem Selbst sagen, das sich selbst und dem anderen verschlossen ist, wenn nicht, dass es sich in einer radikalen Bedürftigkeit befindet? Bedürftig, weil jetzt eine Lücke zwischen dem Anderssein der Welt und meinem konkreten Grund besteht – weil das Selbst so dann nichts an sich selbst ist. Der zweite Moment ist der Ruf der absoluten Transzendenz an das Selbst, sich selbst zu übertreffen. Es ist ein Anruf danach zu streben und das zu werden, was das Selbst sein könnte (seine radikale Möglichkeit) und von seiner Bedürftigkeit befreit zu werden. Und wie kann das Selbst möglich werden? Antwort: Indem es unmöglich wird. Das heißt, indem es zum Sinn wird, der sich selbst macht.Footnote 86 Nur dadurch wird seine Bedürftigkeit überwunden. Auch hier trifft der Himmel die Erde; das Selbst berührt die virtuelle Kraft der absoluten Transzendenz, die für das Machen des Sinns von großer Bedeutung ist, also für das Werden des Selbst. In diesem Sinne ist das leibliche Selbst auch der Träger des Sinns, wie wir in einem früheren Kapitel gezeigt haben.

In Bezug auf die Virtualität dieser Referenz (die absolute Transzendenz) schreibt nun Richir: „Ohne die ‚Aktion‘ ihrer Virtualität wird das Sprachliche (langage), das trivial in der Sprache (langue) ausgedrückt wird, zu Geschwätz oder ideologischer Haarspalterei.“Footnote 87 Vergessen wir nicht zu bemerken, dass diese absolute Transzendenz nicht dem Bereich der Passivität sondern dem Bereich der Virtualität (der Transpossibilität) angehört. Mit anderen Worten, wenn keine Virtualität der Transzendenz als die Sicherstellung des Sinns gegeben wäre, dann würde jedes Sprachliche einfach ein Herumreden sein, das keinen Sinn ergibt. Ferner wäre der Sinn in seiner Immanenz (Selbst) verkapselt, da er sich nicht verlassen kann, um sich auf sich zu beziehen. Er wäre also blind, was bedeuten würde, dass das „nichts“Footnote 88, das in der Formel vom Phänomen als nichts anderes als Phänomen angezeigt wird, sich nicht realisieren kann. Die absolute Transzendenz stellt die Virtualität für das Sprachliche (für den Sinn) sicher. Dies hat zur Folge, dass die Virtualität der absoluten Transzendenz der Bedingung der Möglichkeit der ErfahrungFootnote 89 vorausgeht, sodass wir sagen können, dass die Virtualität die lebendige Kraft des Realen (Sinns) ist. Wenn wir nun von Bedingung sprechen, so soll das aber nicht im Kantischen Sinne als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung verstanden werden. Vielmehr erfüllt die „Bedingung“ eine genetische Funktion. Genau an dieser Stelle spielt Richirs Begriff des Virtuellen für die Erfahrung die gleiche Rolle wie bei Deleuze. Für Letzteren ist das Virtuelle keine Bedingung für mögliche Erfahrung. Vielmehr ist es das genetische Element der realen Erfahrung.

Es scheint nun sehr angebracht, – bevor wir fortfahren – die Bedeutung des Virtuellen in der Deleuze-Philosophie zu unterstreichen, die als transzendental verstanden werden könnte; indem er sich mit diesem Begriff „Transzendentalphilosophie“ identifiziert, setzt er das philosophische Projekt Kants fort. Dies geschieht aber nicht ohne eine Modifikation des Kantischen Verständnisses des Transzendentalen. Zentral für Deleuzes Kritik an Kants Konzept des TranszendentalenFootnote 90 als universalisierendes Feld des Möglichen ist die Ersetzung dieses Feldes durch das Feld des Virtuellen: Dieses virtuelle Feld vereinheitlicht nicht wie bei Kant; vielmehr bleibt es ein vielfach variierendes Feld. Kant entdeckt nach Deleuze in der dritten Kritik die freie und unbestimmte Übereinstimmung zwischen den Vermögen. Kant verrät diese Einsicht jedoch, indem er diese Unbestimmtheiten in den Ideen der Vernunft als totalisierendem und vereinheitlichendem Agenten auflöst. Deleuze entwickelt eine gegen Kant gerichtete IdeentheorieFootnote 91: Statt zu vereinheitlichen und zu totalisieren, ist die Idee bei Deleuze als ein genetischer, aber differentieller Boden, der die Unbestimmtheit der Vermögen (bei Kant) und ihre disjunktiven Beziehungen erklärt. Dieser differentielle Boden ist nicht wie Hegels „Nichtsein“ (Negation), sondern wie ein mathematisches Differential, ein „differentielles dx“. Die Vermögen konvergieren in diesem Differenzierungspunkt nicht wie im kantischen Verstand; aber jedes Vermögen kommt mit eigenen differenziellen Grenzen zurecht und divergiert „in their transcendental and disjoint exercise“Footnote 92. In dieser differentiellen Ideentheorie erreichen wir für Deleuze das virtuelle Feld. Von nun an erfasst eine Idee die Vielfalt heterogener und divergierender Elemente, die selbst nicht in der Erfahrung gegeben sind, aber die ein unvermeidlicher Boden ist, durch den das Gegebene in der Erfahrung gegeben ist. Diese Elemente bleiben unbestimmt; jedoch relativ zueinander – im differentiellen Feld – sind sie reziprok bestimmbar. Smith schreibt dazu:

These relations imply the complete determination of singular points or singularities, which form an intensive space that correspond to these elements (in the way that a triangle is defined by three singularities); these singularities are prolonged in multiple series. These series enter into synthetic relations of conjunction, convergence and divergence, and divergence or disjunction becomes a synthetic operation by means of a perpetually displaced aleatory point that relates differences to each other while affirming their positive distance. These criteria, along with the relations of time through which the virtual is progressively actualized, constitute Deleuze’s description of the transcendental field. They are not categories that express universals, but concepts – in Deleuzian sense of this term – that characterize multiplicities whose singular elements are in a state of constant variationsFootnote 93.

Dies impliziert, dass jede Beziehung der mehreren heterogenen Elemente bestimmte Singularitäten erzeugt. Eine Bestimmung oder Singularität könnte z. B. ein Dreieck sein; aber das Dreieck kann in der Vielheit variieren, entsprechend der Vielheit der Verhältnisse der verschiedenen Elemente zueinander. Wir könnten also gleichseitige, gleichschenklige, rechtwinklige, unregelmäßige Dreiecke haben; auch die Vielfachen-Reihen (gleichseitige, gleichschenklige, rechtwinklige Dreiecke usw.) können jetzt auf vielfältige Weise miteinander in Bezug gesetzt werden, wie sie divergieren, konvergieren, konjunkturieren usw. Die Operation ist eine, in der sowohl die Unterschiede als auch die gegenseitige positive Beeinflussung artikuliert werden.

Zusammenfassend können wir Deleuzes Virtualität im Gegensatz zu den Kantischen Ideen als totalisierende und universalisierende Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis definieren: Bei Deleuze ist die Idee differentiell und das genetische Element für die Aktualisierung der Virtualität in der realen Erfahrung. Wenn wir von der Virtualität als einer genetischen Grundlage für die reale Erfahrung sprechen, dann soll das nicht so verstanden werden, als würden wir uns von der einen Aktualität zu einer anderen Aktualität bewegen. Vielmehr gilt die Bewegung der Genesis von Virtualität zur Aktualität. Anders als das Mögliche, das durch Ähnlichkeit geschieht, geschieht das Virtuelle durch mehrfache Differenzierung in unterschiedlichen Formen, räumlich-zeitlichen Beziehungen etc. Diese Formen, Beziehungen und Elemente erschöpfen die Verwirklichung nicht; vielmehr besitzen sie vielfältige Möglichkeiten jenseits ihrer Verwirklichung in einem gegebenen Zustand der Dinge und dienen als solche als Grundlage für die Erschaffung des NeuenFootnote 94.

Virtuell ist aber laut Richir das, was uns von dort drüben zu sich aufruft, auch wenn es hier nicht ist. Es grenzt sich von dem ab, was noch nicht hier ist, aber hier sein kann. Das Virtuelle ist deshalb keine Potenzialität, die in manchen Welten existiert aber nicht in jeder möglichen Welten existieren könnte; jedoch bleibt es nicht weniger erlebt. Es ist das, wonach das Phänomen strebt; das, was das Phänomen zur Freiheit ruft. Auch hier scheint das Richir’sche Virtuelle ein Absolutes zu sein, aber zugleich auch nur denkbar im Verhältnis zum Phänomen. Während die Deleuz’sche Virtualität die Vielfalt heterogener und divergierender Elemente erfasst, gilt die absolute Transzendenz Richirs als diese virtuelle Kraft, die aber nich in divergierende Elemente mündet. Außerdem gibt es ein einseitiges – und nicht wie bei Deleuze ein wechselseitiges – Verhältnis zwischen der absoluten Transzendenz und dem Phänomen, da die absolute Transzendenz für die Freiheit des Phänomens zuständig ist, und nicht umgekehrt. Diese Freiheit des Phänomens besteht aus der ständigen Reflexivität (die Ständigkeit dieser Bewegung markiert die Unendlichkeit) des Phänomens. Dadurch vermag das Phänomen es, der Erfassung durch die Anschauung im Bewusstsein zu entgehen und kann infolgedessen sein eigenes Leben führen. Der Sinn, der sich im Herzen des Phänomens selber macht, beweist nicht nur den Aufruf der Transzendenz, sondern artikuliert auch das Streben in die Unendlichkeit.

Wir sehen also, dass das Sprachphänomen nicht in sich verschlossen ist. Es ist sowohl in sich bewegt als auch vor sich her laufend. Das sind die zwei wichtigen Dimensionen des Phänomens. Es hat ein Bein als Leib oder Protoraum der Erfahrung (dem Phänomenologischen) auf der Erde (Husserl)Footnote 95 und ein anderes im Himmel als unbestimmtem Ort des symbolischen Stifters (absolute Transzendenz), wo das menschliche Vermögen nicht mehr ausreicht, aber wodurch das Symbolische (z. B. der Sprache) gesichert wird. So bewegt sich (Schwingung, „clignotement“) das Phänomen in alle Richtungen.

Das ist auch der Grund, warum man Richir einen Dualismus zuschreiben könnte. Ein Idealismus kann Richir in diesem Zusammenhang nicht unterstellt werden, sofern man darunter versteht, dass bei ihm alles, inklusive der äußeren Welt, nicht auf der Grundlage der Innerlichkeit gesehen wird. Würde man ihm solch eine Sichtweise zuschreiben, so würde es bedeuten, dass Richir die Transzendenz der Welt auf die Innenleiblichkeit oder die Immanenz des Bewusstseins reduziert hätte. Da in Richirs Phänomenologie die Transzendenz jedoch nicht von der Willkür oder Laune der Innerlichkeit abhängig ist, sondern mit ihr in Begegnung kommt, scheint es schwierig, Richir leichtfertig Idealismus vorzuwerfen.

Richir ist auch nicht als Realist einzuordnen, der irgendwie alle anderen Register ausschalten und nur das Register der Exteriorität legitimieren würde. Damit würde man ihm die Naivität unterstellen, die „Welt“ an sich als Maßtab des Phänomens zu billigen. Aber auch diese Exteriorität wird nicht abgelehnt, insofern sie das Gebiet des symbolischen Stifters und das der physisch-kosmischen Transzendenz ist. Die Epoché, die in der hyperbolischen phänomenologischen Epoché radikalisiert ist, suspendiert jeglichen Realismus. Dies erklärt auch, warum der Ausgangspunkt seiner Phänomenologie stattdessen gegen jegliche Objektivierung kämpft. Im nächsten Kapitel werden wir die These der Naivität (Realismus) solch einer Sichtweise der Wirklichkeit in Bezug auf die „Perzeption“ von Kunstwerken in der „perzeptiven“ Phantasia vertreten, wodurch die rohe Dinglichkeit neutralisiert und zur Sache verwandelt wird.

Damit die Erfahrung stattfinden kann, muss das Phänomen zwischen allen Richtungen (sowohl immanent als auch transzendent) schwingen können. Der Leib ist diese Verbindungstelle („jointure“) zwischen der Immanenz und der Transzendenz, zwischen dem Phänomenologischen und dem Symbolischen, die das Auftreten des Phänomens dabei ermöglicht, ohne aber das Phänomen zu verderben oder zu überformen. Die Überformung besteht darin, dass das phänomenologische Feld ausgeschaltet wird, sodass das Unbestimmte verloren geht. Um dieses Verderben und die Überformung des Phänomens zu vermeiden, muss das Phänomen zwischen einer Exteriorität und einer Intimität schwingen. Es schwingt in einem unvermeidlichen Abstand zwischen einem Auftreten und einem Verschwinden. Es läuft immer vor sich her und es ist zugleich hinter sich und läuft auf sich selbst zu.

Insofern werden die architektonischen RegisterFootnote 96 der Philosophie zum Grundstein in der Konstitution der Erfahrung gemacht. Die Erfahrung, von der hier die Rede ist, schließt jegliche Art von Erfahrung ein – sei es in der Fremderfahrung, der Begegnung, der Affektivität oder in der Erfahrung bei der Betrachtung von Kunstwerken. Diesem letzten Fall werden wir uns im nächsten Kapitel widmen.

Wir haben in diesem Kapitel die Voraussetzung der Transzendentalität für die Möglichkeit der Erfahrung bei Richir festgestellt. Ihmzufolge gehört die Transzendenz dem Bereich der Virtualität an. Die absolute Transzendenz ist die Sicherung der Virtualität des Sprachlichen (des Sinns). Das heißt für uns, dass diese Virtualität eine Notwendigkeit ist, damit etwas in der Erfahrung überhaupt Sinn machen kann. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Virtualität die lebendige Kraft des Realen (Sinns) ist. Wenn es so ist, dann könnte die Frage gestellt werden: Ist die Virtualität der absoluten Transzendenz bei Richir eine universelle Struktur für die Erfahrung? Wenn ich nun auch Kunstwerke betrachte, auf welche Weise wird mir die Welt der Kunstwerke vermittelt? Was wird in einem Kunstwerk eröffnet? Ist es nicht eine Welt, die in der Wahrnehmung gegeben ist, also eine Welt der realen Dinge? Oder wird mir in Kunstwerken die Welt der Künstler in Bildern gegeben, sodass mir nur „Kopien“ dieser Welt vermittelt werden? Es scheint uns das Kunstwerk somit die Welt zu öffnen, wie sie ist, die reale Welt der Dinge als Körper (durch die Wahrnehmung) oder als Phantomleib (durch die Imagination). Oder öffnet es Dinge, die niemals sind und nicht sein würden, also eine rein virtuelle Welt? Noch einmal: Unser Interesse besteht darin, zu untersuchen, ob diese Virtualität der absoluten Transzendenz als eine allgemeine notwendige Struktur für die Erfahrung gelten kann. Wir untersuchen dies im Folgenden am Beispiel der Kunst.