5.1 Zusammenfassung

Wenn die Leiblichkeit in der Phänomenologie eine theoretische Intuition der Subjektivität und des Weltbezugs artikuliert und wenn der Leib die Erfahrung des einzelnen Leibes bezeugt, auf welcher Art von Kohärenz können wir dann ein Verständnis des leiblichen Weltbezugs gründen? Husserl, der Begründer der Phänomenologie, und nach ihm Merleau-Ponty, gaben eine Antwort auf diese Frage, indem sie einen Modus der Orientierung zur Welt vorschlugen, der nicht nur intentional, sondern auch passiv und bildlich ist, jeder auf seine Weise. Richirs Auseinandersetzung mit einem solchen Denksystem wird darin offensichtlich, das er in Abgrenzung dazu eher nicht intentionale, nicht passive, und nicht bildliche Zugänge des Leibes zur Welt vertreten hat. Wir werden diese Auseinandersetzung im Hinblick auf die intentionale Modifikation des anderen in der Intersubjektivität (Husserl), den präreflexiven, motorischen intentionalen Bezug des Leibes zur Welt (Merleau-Ponty) und das Verstehen sprachlicher Ausdrücke (Husserl) untersuchen. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung möchten wir eine Antwort auf diese Frage verteidigen, da wir der Ansicht sind, dass jede durch die Leiblichkeit ermöglichte Öffnung zur Welt die Dimension der Sinnhaftigkeit artikulieren muss.

5.1.1 Einstieg in die Frage der Leiblichkeit und die Struktur des Kapitels

Man stelle sich vor vor 20 Jahren Französisch in der Schule gelernt und seitdem diese Sprache weder gehört noch angewendet zu haben. Nun ist ein Freund verreist und erwartet einen dringenden Brief – und man sollen diesen Brief lesen und dem Freund sagen, worum es darin geht. Der Brief ist auf Französisch – und obwohl man der Meinung war, man würde kläglich versagen, versteht man überraschenderweise fast den gesamten Inhalt problemlos, ohne jedoch unbedingt die einzelnen Wörter zu kennen bzw. übersetzen zu können.

Dieses Beispiel, das wir in unserer Einleitung ausführlich entwickelt haben, soll der Veranschaulichung dienen, aber man kann die damit aufgeworfenen Fragen im Prinzip erweitern: Wie z. B. schaffen wir es, die Emotion anderer Menschen, bzw. ihr psychisches Leben zu verstehen und nachzufühlen, obwohl wir keinen direkten Zugang dazu haben – haben können? Das sind die Ausgangspunkte rund um das Thema Leiblichkeit als „Welterschließung“, dem wir uns im folgenden Kapitel widmen werden.

Im vorigen Kapitel haben wir schon das Vermögen des Leib-Subjekts behandelt, sich auf sich selbst zurück zu beziehen. Wir hatten gesehen, dass dieses Vermögen aber zunächst a priori das Vermögen voraussetzt, sich über sich hinaus auf die Welt zu beziehen. Sonst wäre solch ein Selbst nicht gesund, denn erst durch den Leib erschließt sich uns die Welt. Diese Idee hatten wir schon in unserer Einleitung erwähnt. Deutlich hat Merleau-Pontys Körperschema diese DoppelfunktionFootnote 1 artikuliert: „Es ist also nicht allein eine Erfahrung meines Leibes, sondern eine Erfahrung meines Leibes in der Welt und auf Grund dessen allein vermag es sprachlichen Anweisungen einen Bewegungssinn zu geben.“Footnote 2 Dadurch wird klar, dass wir uns nicht mehr allein auf der Ebene der Subjektivität, sondern auch auf der des Leibbezugs zur Welt befinden, wo eine Art des Gerichtetseins im Spiel ist. Dieses eröffnetFootnote 3 eine intersensorische (intersensoriel) Welt. Wir können auch dort von einer Intersubjektivität sprechen, wo das Körperschema u. a. das Dasein des Anderen, bzw. seinen Leib in meine leiblichen Tätigkeiten einschließt, was zu einer Zirkularität zwischen den beiden Leibern führt. Diese Idee haben wir im vorigen Kapitel behandelt. Das ist keine Überraschung, denn für Husserl, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Diskussion um die „Leiblichkeit“ bedeutend vorangetrieben hat, wäre dieser Begriff des Leibes gar nicht zustande gekommen, hätte er damit (mit dem Leibbegriff) keinen Schüssel für die Intersubjektivität entdeckt. Insofern ist der Leib nicht nur das, was ich erlebe; wodurch ich wirke, sondern auch das, wodurch ich mich in Verbindung mit der WeltFootnote 4 setze.

Genau in dieser Tradition bewegt sich Richirs Phänomenologie der Leiblichkeit, wobei er an anderen Theorien des Weltbezugs, wie z. B. Heideggers Theorie der Befindlichkeit, auch Kritik übt. In solchen Fällen erhebt er den Anspruch, dass alle Arten von Daseinsbezug zur Welt zum Scheitern verurteilt sind, solange der Leibbegriff Vernachlässigung erfährt. In La Vision et Son Imaginaire z. B. erfahren wir, dass der wilde Mensch (l’homee sauvauge) a priori anhand seiner Sinnesorgane, also seines Leibes, konstituiert ist, und dass diese leiblich-affektiven Organe „Welterschließung a priori sind.“Footnote 5

Das folgende Kapitel bezieht sich jedoch lediglich auf jene Arten von Gerichtetsein zur Welt, die nicht nur intentional, sondern auch passiv und bildlich sind. Das ist auch der Grund, warum sich auf die Analyse der Fremderfahrung bei Husserl und später die der präreflexiven motorischen Intentionalität bei Merleau-Ponty beschränkt wird. Solch eine Herangehensweise erlaubt es uns, die Auseinandersetzung Richirs mit der vorliegenden Thematik zu bearbeiten, seine Weise sie umzudenken. Somit bleibt die theoretische Intuition des Leibes (und der Leiblichkeit) dadurch lebendig, dass ihr eine neue Dimension verschafft wird.

Damit die Bearbeitung uns gelingt, wird das Kapitel in drei Teile gegliedert. Der erste Teil befasst sich lediglich mit jener Art von Orientierungen zur Welt, die nicht nur intentional, sondern auch passiv und bildlich sind. Die Diskussion beschränkt sich deshalb auf Husserl und Merleau-Ponty als Beispiel. Während es sich bei Husserl um die intentionale Modifikation des Anderen in der Intersubjektivität dreht, geht es bei Merleau-Ponty um einen präreflexiven, motorischen, intentionalen Bezug zur Welt.

Im zweiten Teil wird Richirs Auseinandersetzung mit Husserls Konzept des leiblichen Weltbezuges in Intentionalität, Bildlichkeit und Passivität dargestellt. Diese setzt deshalb voraus, dass Richirs Revision der Husserl’schen Phantasie eingeführt wird. In diesem Teil werden wir zwei Beispiele von Richir darlegen, die seine Kritik an Husserl zusammenfassen:

1) Die Darstellung des Anderen in einer intersubjektiven Erfahrung bzw. Begegnung und 2) das Verstehen von sprachlichen Ausdrücken. Dabei sollte die Frage vor Augen stehen, die wir am Anfang dieses Kapitels gestellt haben, auf welche Art von Kohärenz wir ein Verständnis des leiblichen Weltbezugs gründen können, denn wir werden an dieser Stelle Richirs Sicht zur Frage des Modus des Weltbezugs präziseren und die Konsequenzen dieser für die Phänomenologie erläutern.

Im dritten und letzten Teil werden wir auf die Frage eingehen, welche für uns als die Problemstellung des Kapitels gilt: Wenn die Leiblichkeit einen Zugang und gegebenenfalls eine Beziehung zur Welt ermöglicht und wenn der Leib die subjektive Erfahrung von Leibern bezeugt, auf welcher Art von Kohärenz könnten wir dann ein Verständnis dieses Weltbezugs gründen? Wir werden versuchen, eine Antwort darauf zu geben, was die Leiblichkeit als Weltbezug und was der Leib als subjektive Erfahrung der einzelnen Subjekte für Richir bedeuten soll. Mit dieser Frage und mit der vorläufigen Antwort haben wir einen Vorgeschmack auf unsere Gesamtthese, die wir im letzten Kapitel am Ende unserer Arbeit vollständig verteidigen werden.

5.2 Die intentionale Modifikation des Anderen in der Husserl’schen Intersubjektivität

Eine Frage, die an diesem Punkt von Husserls phänomenologischem Intersubjektivitätsbegriff her Bedenken aufwirft ist, wie „der Fremde dort“ in „den Anderen“ umgewandelt wird. Wie wird in dieser Konstellation Sinn von einem Ende des Pols zum anderen transportiert? Was für ein Mechanismus ist hier am Werk, wenn es nicht der ist, den man in dem Begriff von „Paarung“ als die ursprüngliche und primitive Form der passiven AssoziationssyntheseFootnote 6 findet? Unter Paarung wird das, was für gewöhnlich „eines“, „sich selbst“ und im Besitz eines „klar definierten Ich-Empfindens“ ist, in gewisser Weise und in einem bestimmten Zusammenhang als „Ähnlichkeit“ und „Verbundenheit“ im Sinne von „zusammen mit einem anderen Selbst“ verstanden, wobei hier alles passiv abläuft. Identitäten werden also – anders ausgedrückt – miteinander verbunden und geben so ihre monadische Existenz auf. Genau auf diese Weise können sie im Sinne von in analogisierender Apperzeption miteinander stehenden Erscheinungsbildern verstanden werden. Bleibt man der Bedeutung von „Paarung“ bei Husserl treu, so beinhaltet diese eine „Sinnübertragung“ – einen TransferFootnote 7 von Sinn, durch welchen das Verständnis eines Bestandteils des Paares sich nur auf die Struktur des anderen Teils des Paares bezieht. Einfach ausgedrückt: Hier ist nichts anderes miteinander gepaart, als das körperliche Erscheinungsbild „desjenigen dort“ mit meinem eigenen; Es sieht so aus, als wenn der eine an den Anderen angepasst ist und sich ihm fügt, sodass der Sinn des Einen auf den Anderen übertragen wird. Was ist also dieser Sinn, der von einem Pol auf den anderen übertragen wird, wenn nicht der der Leiblichkeit, der mein ursprüngliches körperliches Erscheinungsbild stiftet? An dieser Stelle wird die grundlegende Struktur eines „ursprünglichen Primordials“ erschüttert – denn ich begegne dem Fremden hinsichtlich meines Leibes – und zwar nicht, weil sie zerstört wird, sondern weil sie erfüllt ist mit dem „irrealen intentionalen Hineinreichen des Anderen in meiner Primordialität”,Footnote 8 wodurch ihm (dem Fremden) „Leib“ übertragen wird.

Wir haben also gesehen, dass „dieser Körper dort“ zum Leib in seinem „absoluten Hier“ geworden ist. Die Art der Gegebenheit des Egos ist das Hier, wohingegen die Ausrichtung des Anderen das „Dort“ ist. Die Ausrichtung des „Hier“ kann allerdings mithilfe der Kinästhesie dahingehend verändert werden, dass es zum „Dort“ wird.Footnote 9 Wenn wir also mit Husserl übereinstimmen, dass ich den Fremdleib nicht „einfach als Duplikat meiner selbst, also mit meiner oder gleichen Originalsphäre“Footnote 10 – oder als einen, der genau so ist, wie ich – apperzipiere (denn er verfügt nicht über meine räumliche „Erscheinungsweisen, die mir von meinem Hier aus eigen sind“Footnote 11), wie apperzipiere ich den Anderen überhaupt? Husserl sagt hierzu: „näher besehen“ apperzipiere ich ihn „mit solchen [räumlichen Erscheinungsweisen], wie ich sie selbst in Gleichheit haben würde, wenn ich dorthin ginge und dort wäre“Footnote 12, wo er ist. Anders ausgedrückt erweckt der Fremdleib auf reproduktive Art und Weise einen anderenFootnote 13, was eine gewisse Art von Wiedererinnerung auf Grundlage von affektiven Ähnlichkeiten einschließt, denn so kann ich wissen, wie mein Körper aussehen würde, wenn ich dort wäre. Ich stelle mir vor, anstelle des Anderen dort zu sein oder, dass ich dort hin wechseln könnte.Footnote 14 Es geht also um eine Assoziation, die eine Paarung herbeiführt und so eine Sinnübertragung von mir zum Anderen und die Vorstellung, ein Leib zu sein initiiert. Aus diesem Grund scheint die Analogie in Husserls Zuschreibung von Sinnübertragung in Bezug auf den Anderen unerlässlich zu sein. Die Analogie impliziert aber das „irreale intentionale Hineinreichen des Anderen in meiner Primordialität“ – wie wir von Husserl schon gelesen haben – welches durch die Imagination stattfindet. Die Notwendigkeit der Einführung eines Schrittes von Imagination in dieser Beschreibung des Prozesses durch Husserl wird einer der Hauptkritikpunkte Richirs sein.

All dies zeigt das Paradox, wie der andere in meiner Subjektivität repräsentiert werden kann. Wie könnte ein alter Ego, das sich in absoluter Weise subjektiv gegeben ist, von einem Ego repräsentiert werden? Husserl hält daran fest, dass das Subjekt im Stande sein müsse, dies auf seinem Gebiet der subjektiven Erfahrung zu tun, welche den Leib in bewusstes Erleben übersetzt: es ist ihm möglich, in seinem subjektiven Erfahrungsfeld Erscheinungen und Vorstellungen von anderen Subjekten zu finden.Footnote 15 Husserl selbst wirft die Frage auf, welche Art von Vorstellung eine andere Subjektivität in meinem Bewusstseinsbereich wohl sein könnte: „Was ist das für eine Vorstellungsweise? Ist es eine Bildvorstellung, eine analogische Vorstellung?“Footnote 16 Hierauf gibt Husserl eine vorläufige Antwort, auf die wir im Moment aber zunächst nicht eingehen wollen. Wir wissen, dass die (psychischen) Erlebnisse des Ego bei Husserl niemals gleich sind mit den (psychischen) Erlebnissen (vécus) des Anderen, da diese niemals ursprünglich repräsentierbar sein können.Footnote 17 Wird diese vorstellungsmäßige Aufgabe durch die Imagination vollzogen? Husserl fragt: „Also genügt die Phantasie, um schon eine Mehrheit von Ich, gegenüber dem wirklichen Ich vielerlei ‚andere‘ ich vorstellig zu machen“?Footnote 18 Zunächst ist festzuhalten, dass das, was Husserl hier unter „Phantasie“ versteht, für Richir allgemein eher als Imagination zu verstehen ist. Dieses o. g., erstaunliche Zitat von Husserl hinterfragt die Möglichkeit, den Anderen mithilfe der Imagination zu durchdringen, als ob die Subjektivität sich dabei von sich entfernen würde. Wie oder was wäre dann der Status des anderen? Die Antwort, die Husserl darauf gibt lautet:

Das hier zur Vorstellung kommende Ich ist ein Spiegelbild meines aktuellen, also selbstwahrgenommenen Ich, also Leiblichkeit und Geistigkeit von „innen“ gesehen, nicht „von aussen“ gesehen. Was heisst das?Footnote 19

Wir haben es hier also mit einem gespiegelten und keinem realen, leiblichen Ich zu tun. Ferner wird die Zuschreibung des Bildes zu dieser Vorstellungsweise des Anderen in der subjektiven Erfahrung bestätigt. Wie schafft es der Andere demnach, eine Alterität zu sein, wenn er zwangsweise zu meinem Bild gemacht wird? Denn die Lektüre Husserls zeigt, dass solch ein körperliches Erscheinungsbild des fremden Leibes lediglich spiegelnd ist: „Der Andere verweist seinem konstituierten Sinn nach auf mich selbst, der Andere ist Spiegelung meiner Selbst.“Footnote 20 Diese Spiegelung scheint auch durch die Intentionalität vermittelt zu werden. Diesbezüglich zitieren wir Husserl ausführlich:

[…] [W]ir sehen von allen konstitutiven Leistungen der auf fremde Subjektivität unmittelbar oder mittelbar bezogenen Intentionalität ab und umgrenzen zunächst den Gesamtzusammenhang derjenigen Intentionalität, der aktuellen und potentiellen, in der sich das Ego in seiner Eigenheit konstituiert und in der es von ihr unabtrennbare, also selbst ihrer Eigenheit zuzurechnende synthetische Einheiten konstituiert.Footnote 21

Mit anderen Worten sowohl das Ego als auch das Fremde werden in der Intentionalität gegeben. So wird die fremde Subjektivität als durch die Intentionalität konstitutiert verstanden. In seiner Eigenheit wird auch das Ego selbst nur innerhalb der Intentionalität möglich denkbar, da es dadurch konstituiert wird. Abgesehen von dieser Anmerkung, die wir hier hinzufügen wollen, lässt sich fragen, ob das Andere wirklich ein Spiegel, also ein Bild von mir sein kann. Kann dem Bezug der Leiblichkeit zu dem anderen wirklich eine Bildlichkeit und eine Intentionalität zugeordnet sein? Wir dürfen auch hinzufügen: Kann dem Leib eine Passivität (im Sinne Merleau-Pontys) zugeschrieben werden?

5.3 Ein präreflexiver motorischer intentionaler Bezug zur Welt (Merleau-Ponty)

Bevor wir diese Problematik der Passivität und der Bildlichkeit anhand von Richirs Kritik weiter bearbeiten, wollen wir Merleau-Ponty ins Spiel bringen, dessen Begriff der Leiblichkeit einen passiven Zugang zur Welt verspricht und bei dem von der „anonymen präpersonalen Existenz des Leibes“ die Rede ist. Dabei hat der Leib einen Anteil daran, Sinn zu erzeugen – wobei Sinn hier nicht als reflektierte Gedanken konzipiert ist –, da die Funktion des Leibes an dieser Stelle einem festen und gewohnten Pfad folgt, genau wie es bei den geübten Händen eines Pianisten der Fall ist, die meisterhaft über die Tastatur gleiten:

Sich an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock gewöhnen heißt, sich in ihnen einrichten, oder umgekehrt, sie an der Voluminosität des eigenen Leibes teilhaben lassen. Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln. Man kann Schreibmaschine schreiben können, ohne anzugeben zu wissen, wo sich auf der Klaviatur die Buchstaben befinden, aus denen man die Worte zusammensetzt. Maschinenschreiben können heißt nicht, die Stelle jedes Buchstabens auf der Klaviatur kennen, noch auch für einen jeden einen bedingten Reflex sich angeeignet haben, der sich beim Hinblicken auf ihn auslöste.Footnote 22

Durch Gewohnheit verkörpert der Maschinenschreiber die Tastatur und integriert sie in leiblichen Raum.Footnote 23 Bei dieser Dimension sinntragenden Wissens des Leibes handelt es sich nicht um vorher gedachte, sondern um präreflexive „motorische Intentionalität.“Footnote 24 Das heißt, es geht hier um eine Art von unbewusstem Gerichtetsein des Leibes zu seiner Welt, wobei die prä-reflexive Dimension des unbewussten Leibes bei der Strukturierung des Bewusstseins beteiligt ist, ohne dass diese Leistung selbst explizit im Sinne eines Bewusstseinsinhalts erscheint.Footnote 25 Dies entspricht der Idee des Körperschemas bei Gallagher, auf die wir schon hingewiesen haben.

Folglich kennt der Leib die Welt hier unmittelbar und direkt in Form von Primordialität. Der Begriff des Körperschemas drückt diese unmittelbare und intuitive Kenntnis des Leibes über sich selbst und seine Positionalität in der Welt aus. Gallagher verbindet das „Körperschema“ mit einer Art von Unbewusstem, das er von dem bewussten und intentionalen Körperbild unterscheidet. Die Beschreibung des gemeinten Zusammenhanges durch das Wort „Körperbild“ geht auf SchildersFootnote 26 englische Übersetzung („body image“) des „Körperschema“ zurück. In seinem Beitrag Body Schema and Intentionality bietet Gallagher drei explizite Möglichkeiten zur Unterscheidung der beiden Termini: Beim ersten Unterschied hat das Körperbild einen intentionalen Status – Gallagher schreibt: „it is either a conscious representation of the body or a set of beliefs about the body“Footnote 27 – wohingegen es es beim Körperschema um einen nichtintentionalen Vorgang außerhalb von unserem intentionalen Bewusstsein geht: „extraintentional operation carried out prior to or outside of intentional awareness.“Footnote 28 Dieser nichtintentionale Vorgang trägt aber zur bewussten Erfahrung bei: „Although it has an effect on conscious experience, it may be best to characterize it […] as a subconscious system, produced by various neurological processes.“Footnote 29 Der zweite Unterschied zwischen den beiden Begriffen besteht darin, dass der Leib im Körperbild als eigener Leib erlebt wird, während der Leib dagegen als Körperschema anders funktioniert. Er wird als unpersönlich, als anonym und als „unowned“Footnote 30 erlebt. Ein dritter und letzter Unterschied zwischen den beiden entsteht aus der Frage, ob der Leib als unvollständig (einseitig) oder als Gesamtheit erlebt wird:

The body image often involves an abstract, partial, or articulated representation of the body insofar as conscious awareness typically attends to only one part or area of the body at a time. The body schema, on the other hand, functions in a holistic way. A slight change in posture, for example, involves a global adjustment across a large number of muscle systems.Footnote 31

Merleau-Ponty macht keine so starke Unterscheidung zwischen Körperbild und Körperschema wie Gallagher das tut. Doch macht Gallaghers Unterscheidung die Idee des Körperschemas verständlich, sodass wir verstehen können, dass es dabei nicht um eine bewusste Aktivität des Leibes bei Merleau-Ponty geht. Es lassen sich drei wichtige Aspekte des Körperschemas bei ihm feststellen. Wir haben diese schon in unserer allgemeinen Einleitung aufgezeigt: 1) dass das Körperschema erstens zeigt, wie der Leib in Beziehung zur Welt steht, 2) dass das Körperschema nicht das betrifft, was sich in der Aktualität sondern das, was sich in der Potentialität befindet und 3) dass das Körperschema eine Invarianz ist, also das, was unveränderlich ist und unveränderlich bleibt, inmitten der Unendlichkeit möglicher Veränderungen des Leibes. Die letzten zwei Dimensionen heben dabei das Moment der Prä-Reflexivität des Leibes hervor.

Merleau-Pontys Vorstellung der Präflexivität leitet er von Gewohnheiten ab, die den Leib im Voraus mit Kenntnissen und Fähigkeiten ausstatten, sodass er das Vorgehen und den Ablauf des Handelns nicht mehr abwägen oder darüber nachdenken muss “Die Gewohnheit ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln“,Footnote 32 so Merleau Ponty. Er fährt fort:

Doch diese gewohnheitsmäßige Verfügung unterscheidet sich nicht von derjenigen, die wir überhaupt über unseren Leib haben; fordert man mich auf, mein Ohr oder mein Knie zu berühren, so führe ich auf dem kürzesten Wege meine Hand ans Ohr oder ans Knie, ohne mir erst die Ausgangstellung meiner Hand, die Lage meines Ohres und den Weg von jener zu dieser vorstellen zu müssen. Der Leib ist es, so sagten wir, der im Erwerb einer Gewohnheit „versteht“. Diese Formulierung wäre absurd, wenn Verstehen nichts anderes hieße, als ein sinnlich Gegebenes unter eine Idee subsumieren, und der Leib nichts anderes wäre als ein Gegenstand.Footnote 33

Dies ist das Muster, in dem der Leib passive Intentionalität vollzieht. In der Gewohnheit versteht der Leib und kennt sich mit seiner Welt gut aus. Wenn wir nun von Intentionalität sprechen, meinen wir das nicht im Sinne Husserls. Wir beziehen uns auf jene Stelle, wo Merleau-Ponty die „Intentionalität des Leibes“ behandelt hat. Dies führt er anhand einiger pathologischer Fälle durch, z. B. die Apraxie: sie beschreibt eine motorische Störung, welche den Verlust des Vermögens zur motorischen Bewegung, Handlung usw. impliziert. Dadurch erweist sich die Motorik als eine ursprüngliche Intentionalität, die er als ein Bewusstsein des „Ich kann“ versteht. Wenn wir Bewegungen machen, wie z. B. die oben angeführte Bewegung der Hand zum Ohr usw., dann geschehen diese „nicht in einem ‚leeren‘, zu ihnen beziehungslosen Raum, sondern in einem, der zu ihnen in ganz bestimmter Beziehung steht.“Footnote 34 Das bedeutet, dass die Geste oder die Bewegung der Hand zum Ohr bezeugt, dass es hier nicht um die Vorstellung des „Ich denke“ an einen Gegenstand, sondern um die des „Ich kann“ geht. Sie beweist daher, dass es hier um etwas geht, „auf das hin wir uns entwerfen“.Footnote 35 Diese gewohnheitsmäßige Intentionalität der Bewegung setzt daher voraus, dass der Gegenstand für den Leib existiert.

Das Konzept der Gewohnheiten taucht bei Merleau-Ponty zusammen mit dem der Strukturen und Strukturumwandlungen auf. Unter Strukturen versteht er weder ausschließlich die reale Welt, noch die des Bewusstseins, sondern das Verschmelzen beider. Sie beziehen sich auf leibliche, soziale, psychologische, kulturelle und psychomotorische Bildungen (formations), durch welche in der Erfahrung (und unserer Orientierung an) der Welt Sinn entschlüsselt wird. Sie helfen uns also dabei, mit der Welt zu kommunizieren und sie zu verstehen, was beinhaltet, dass wir uns die reale Welt auf eine bestimmte vorgegebene Weise zu Eigen machen. Es zeigen sich hier zwei Arten der Erfahrung: Bei der ersten Variante wird dem Bekannten durch sedimentierte Strukturen begegnet; bei der zweiten Variante führt die Begegnung mit dem Neuen zu einer Disharmonie, in der die Umwandlung der sedimentierten Strukturen nötig ist. Hier sieht man, dass Strukturen beides sind: „Sedimented into habitual patterns“ und gleichzeitig „also ‚spontaneous‘, that is to say capable of transformation“.Footnote 36 Bei der ersten Variante, von der hier die Rede ist, ist die Umwelt uns bereits leiblich bekannt und zugänglich. Der Besitz sedimentierter, habitueller Strukturen ermöglicht es uns, vorgefertigte Muster heranzuziehen, um auf die verschiedensten sozialen und kulturellen Situationen zu reagieren. Die Muttersprache eines Menschen und früh erlernte leibliche Fähigkeiten (motorische Fähigkeiten), die uns zur zweiten Natur geworden sind, sind gute Beispiele dafür, wie wir uns zur Welt und bestimmten Situationen in Beziehung setzen und uns an ihr orientieren und sie zeigen die Mühelosigkeit auf, mit der wir dies tun. Im starken Kontrast dazu steht die herausfordernde Erfahrung, eine neue Sprache oder Fähigkeit zu erlernen und dafür aktiv werden zu müssen, anstatt wie zuvor passiv zu bleiben.

Die zweite Variante ähnelt dem, was Richir als die Möglichkeit einer Erarbeitung der symbolischen Institution versteht, während die erste Variante auf die bereits erworbene symbolische Institution verweist. Weder hat Merleau-Ponty beschrieben, wie sich diese sedimentierten leiblichen Gewohnheiten bilden und woher sie kommen, noch ob ein passiver Zugang zur Welt phänomenologisch ist und deshalb von Grund auf Sinn ermöglichen kann: Ist die motorische Intentionalität der ursprüngliche phänomenologische Bezug zur Welt? Anders ausgedrückt: hat er damit, so wie Husserl, das Potential der spezifischen theoretischen Intuition der Leiblichkeit ausgeschöpft? Wie schaffen wir es zum Beispiel den Anderen zu verstehen, wenn er in einer Sprache spricht, die er und ich gemeinsam beherrschen oder wenn er eine Emotion leiblich ausdrückt?

Die Möglichkeit zur Erarbeitung oder Weiterentwicklung einer symbolischen Institution (Strukturen im Sinne Merleau-Pontys) erfordert aber laut Richir etwas Wichtiges in der genetischen Phänomenlogie: dieses „etwas“ ist die Phantasia als Quelle aller Bildungen. Wir werden noch dazu kommen. Da Richir diesen Gedanken durch eine neue Lesart der Husserl’schen Phantasie entwickelt, soll zunächst diese Auseinandersetzung Richirs mit Husserl dargestellt werden.

5.4 Die Überarbeitung der Husserl’schen Phantasie

Richirs Auseinandersetzung mit dem Husserl’schen Begriff der Phantasie stützt sich auf Husserls „Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung“, eine Schrift, die auf einem Vorlesungstext von 1904/05 beruht. Dabei wird die Phantasie mit dem Bildbewusstsein verglichen, das zwei Gattungen von Intentionalität (Bildobjekt und BildsujetFootnote 37) und einen physischen Träger der Bilderscheinung besitzt. Gilt diese Struktur des Bildbewussteins auch für die Phantasie? Im Falle der Phantasie ist ein physicher Träger der Bilderscheinung ausgeschlossen. Ein anderes Merkmal des Bildbewusstseins besteht darin, dass es dadurch einen Widerstreit mit der Wahrnehmung der WirklichkeitFootnote 38 gibt, dass das erscheinende Bild „siegt“, „sofern es zur Erscheinung kommt“,Footnote 39 aber „mit der wirklichen Gegenwart streitet.“Footnote 40 Fortführend erklärt Husserl: „das Bild erscheint, aber es streitet mit der wirklichen Gegenwart, es ist also bloss ‚Bild‘, es ist, wie sehr es erscheint, ein Nichts.“Footnote 41 Diese dem Bildbewusstsein zugeschriebene Eigenschaft gilt auch für die Phantasie.Footnote 42 Der einzige Unterschied besteht darin, dass es bei der Phantasie kein physisches Bild gibt. Auf diese Weise wird die Phantasie als „Erscheinung eines Nicht-Jetzt im Jetzt“Footnote 43 verstanden. Husserl verdeutlicht diese beiden Dimension der Jetztigkeit und der Nicht-Jetztigkeit wie folgt:

Im Jetzt, sofern das Bildobjekt inmitten der Wahrnehmungswirklichkeit erscheint und den Anspruch gleichsam erhebt, mitten dazwischen objektive Wirklichkeit zu haben. Im Jetzt auch insofern, als das Bildauffassen ein Zeitlich-Jetzt ist. Andererseits aber ein ‚Nicht-Jetzt‘, sofern der Widerstreit das Bildobjekt zu einem Nichtigen macht, das zwar erscheint, aber nichts ist, und das nur dazu dienen mag, ein Seiendes darzustellen.Footnote 44

Dieses Zitat bestätigt, dass der Widerstreit des erscheinenden Bildes mit der Wirklichkeit im Bildbewusstein auch bei der Phantasie am Werk ist. Aber erst im weiteren Verlauf der Husserl’schen Untersuchung der Phantasie stellt sich heraus, dass die Phantasie eine ganz andere Gattung ist, als die des Bildbewusstseins und somit auch der Wahrnehmung. Diesbezüglich schreiben Gondek und Tengelyi: „Der Unterschied beginnt damit, dass die Phantasie ‚nicht im Blickfeld der Wahrnehmung erscheint, sondern sozusagen in einer ganz anderen Welt […][I.O.]‘“.Footnote 45 Das bedeutet, dass die Phantasie anders als die Wahrnehmung erscheint. In der Wahrnehmung gibt es eine Einheit der Synthesis. Sie sorgt für die Festigkeit derselben:

Die Einheit der Synthesis des Wahrnehmungszusammenhangs bzw. des Zusammenhangs in der Auffassungsgrundlage ist eine fest geordnete. In dieser Ordnung gehört ein jedes Glied in seinen bestimmten Zusammenhang.Footnote 46

Diese hier gemeinte Einheit in der Wahrnehmung besteht auch im repräsentativen Bilde „in der physischen Bildvorstellung.“Footnote 47 Dies hat zur Folge, dass die Erscheinung eine „Stetigkeit und eine Konstanz“ hat. Das heißt ungeachtet davon, wie die Erscheinung wechselt, erscheint im Wechsel derselbe Bildgegenstand, dieselbe repräsentative Beziehung.Footnote 48 Anders als die Wahrnehmung vermittelt die Phantasie nichts Klares oder Festes, Stabiles, sondern nur etwas Flüchtiges, Ausweichendes usw. Die unklaren, unfassbar flüchtigen Phantasien, von denen Husserl gesprochen hat, unterscheiden sich vom Bildbewusstsein dadurch, dass sie proteusartig, diskontinuierlich und intermittierend sind. So fasst Richir diese in Du rôle de la Phantasia au théatre et dans le roman wie folgt auf: „Die Phantasie entsteht und verschwindet in Blitzen (blitzhaft), intermittierend und diskontinuierlich, sie ist protean (proteusartig) und vor allem nicht vorhanden (nicht gegenwärtig).“Footnote 49

Dem Zitat entnehmen wir drei Grundeigenschaften der Phantasievorstellung, – Proteusartigkeit, Diskontinuität und Intermittierend – die bloß auf einen Mangel der repräsentativen Einheit des Bildes hindeuten. Während also die Einheit des repräsentativen Zusammenhangs in der Wahrnehmung und der repräsentativen Bildvorstellung zu sehen ist, ist bei der Phantasievorstellung eine Proteusartigkeit vorhanden: “Es liegt darin, dass in der Einheit der Phantasievorstellung die Einheit des repräsentativen Bildes nicht gewahrt bleibt.“Footnote 50 Der Gegenstand, welcher als Bild in der Einheit der bildlichen Vorstellung erscheint, „bleibt nicht umgeändert, sondern wechselt ständig.“Footnote 51 Die repräsentativen Momente sind mal arm mal reich, mal treue Repräsentanten des Gegenstands, mal wieder nicht, also weniger treu. Es gibt dabei eine Änderung der repräsentativen Bilder und eine Erscheinung von völlig neuen repräsentativen Gegenständen.Footnote 52 Um diese Diskontinuität zu veranschaulichen, auf die Husserl hier hindeutet, zitieren wir ausführlich:

So z. B.: Ich stelle mir Bismarck vor, und zwar durch eines der bekannten Bilder in Kürassier Uniform. Dann taucht plötzlich ein anderes Bild auf in Zivil etc. Gleichwohl kann die Einheit des vorstehenden Bewusstseins bestehen bleiben, so dass wir von einer Phantasievorstellung mit diskontinuierlicher Repräsentation sprechen können.Footnote 53

Während die Diskontinuität der Bilder in der Phantasievorstellung plötzlich Veränderungen mit sich bringt, bezeichnet die Eigenschaft des Intermittierens des Bildes seine Flüchtigkeit, sein Verschwinden und Wiederkehren.Footnote 54

All das zeigt, dass sich die Phantasie vom Bildbewusstsein stark unterscheidet. Der sinnliche Inhalt der Phantasie, der als Phantasma bezeichnet wird, ist nicht gegenwärtig gegeben. Also ist zu verstehen, dass es bei den meisten Phantasien keine Bilderscheinungen gibt.Footnote 55 Die Wahrnehmung und die Phantasie vergleichend schreibt Husserl der Wahrnehmung „ein perzeptives Bildobjekt“ und der Phantasie „ein imaginatives Bildobjekt“ zu. Er schreibt: „Genau so, wie bei der Wahrnehmung eines Bildes ein perzeptives Bildobjekt fungiert, so hier bei der Phantasie ein imaginatives Bildobjekt.“Footnote 56 Aber Husserl ist es nicht gelungen, die Phantasie von der Zuschreibung eines imaginativen Bildobjektes abzuheben, da er später der schlicht vermittelnden Vorstellung der Phantasie ein phantasiemäßiges Bildobjekt zugeschrieben hat, welches er von der sich bildlich vermittelnden Phantasievorstellung unterscheidet.

Im Zusammenhang der Husserl’schen Beschreibung der Phantasie mithilfe eines Bildobjekts wird Richirs phänomenologische Weiterentwicklung spürbar, da er Rechenschaft in Bezug auf die Frage ablegt, warum Husserl der schlichten Phantasie ein Bildobjekt zuschreibt. Somit ist die Phantasie der Intentionalität untergeordnet. Der von Husserl gekennzeichneten schlichten Phantasie spricht Richir die Intentionalität ab. Bevor wir diesen Gedankengang weiter verfolgen, ist es notwendig zu erwähnen, dass Husserl auch zwischen der Imagination und der Phantasie unterschieden hat.Footnote 57 Während die Imagination im Sinne einer Darstellung von äußerlichen Bildern verbildlicht, werden bei der Phantasie innere Bilder dargestellt. Die Imagination weist auf eine Intentionalität des Bildobjekts, wodurch gleichzeitig das Bildsujet gegeben und anvisiert wird. Wir haben oben gezeigt, dass Husserl der schlichten Phantasie ein Bildobjekt (das heißt die Intentionalität) zuschreibt. Genau hierauf greift Richir zurück. Für Richir wird diese schlichte Phantasie zur PhantasiaFootnote 58 als solcher. Diese Phantasia bezeichnet die archaische, anfängliche und wilde Dimension der Phänomenologie, die jeder DarstellungFootnote 59 (représentation) entgeht. Daraus kann die Intentionalität aber durch eine architektonische Umsetzung entstehen, die die vorintentionale Phantasia in Imagination verwandelt. Bei der Phantasia als solcher geht es nicht um eine Temporalisierung (temporalisation) in Gegenwärtigkeit, sondern um eine andere Art von Temporalisierung, welche zwar in einer Gegenwart (présence) geschieht, aber nichtgegenwärtig (sans présentFootnote 60) ist. Richir erläutert weiter, dass die Phantasia wegen ihres proteusartigen Charakters (caractère protéique“) gar kein Objekt darstellen kann. Deshalb sei sie auch nicht positionell (nicht intentional) und könne somit keine Position irgendeines Objektes vermitteln.

Gerade hier ist der Punkt, an dem sich die Phantasia von der Imagination scheidet, denn im Anschluss an Husserl schreibt Richir in Du rôle de la Phantasia au Théâtre et dans le roman der Imagination den Charakter der Intentionalität in Bezug auf ein anvisiertes Objekt zu, wobei dieses Objekt aber als irreal verstanden werden muss:

[…] die Imagination ist jedes Mal ein intentionaler Akt, der auf ein Objekt abzielt, das mit einem intentionalen Sinn ausgestattet, aber nicht wie ein gegenwärtiges Objekt der Wahrnehmung „im Fleisch“ vorhanden ist. Dieses Objekt, das Husserl Bildsujet nennt, ist jedoch schon beim angezielten Akt vorhanden, aber wie unwirklich.Footnote 61

Ganz gleich, ob das vermittelnde Bild eine physische Stütze hat oder nicht, ist dieser Vermittler – durch das Bild wird das Objekt anschaulich vermittelt und dargestellt – einfach eine Irrealität, welche durch diese Formel ausgedrückt wird: „Kurz gesagt – sie existiert (sie „funktioniert“ nicht) nur wenn sie nicht existiert und existiert nicht (als Wesen oder Objekt) wenn sie existiert.“Footnote 62 Diese Irrealität des Bildes wird also dadurch hervorgerufen, dass es nur ein Simulacrum zwischen dem Subjekt des imaginativen Akts und dem anvisierten Objekt gibt, da es in dem gemalten Bild weder irgendeine „reale“ Persönlichkeit, noch eine „echte“ Landschaft gibt.

Was bedeutet dies für die Apperzeption des fremden Leibes (des anderen) in der Leiblichkeit der Phantasia (PhantasieleiblichkeitFootnote 63), in einer Temporalisierung der nichtgegenwärtigen Gegenwart oder Präsenz (temporalisation dans une présence sans présent assignable)? Das heißt, dass der andere mir nicht gegenwärtig gegeben ist. Was Richir damit sagen will ist, dass der Andere unmittelbar vom Phantasieleib apperzipiert wird – ohne irgendeine bildliche Intentionalität und auch, wenn mir seine Erlebnisse nicht zugänglich sind.

Es ist angemessen, das Wortpaar „Gegenwärtigung“ und „Vergegenwärtigung“ in Bezug auf die Phantasia besonders in den Blick zu nehmen, denn hieran sehen wir einige der Richir’schen Interpretationen von Husserl. Er zeigt nicht nur, dass sich die Phantasia vom Bildbewusstsein und der Imagination unterscheidet, sondern auch von der Wahrnehmung. Wir haben diesen Punkt in einem früheren Kapitel ausführlich behandelt. In Phénoménologie en Esquisse versuchte Richir, die Konsequenzen aus seiner Interpretation der Phantasia zu ziehen, die er durch eine genaue Lektüre von Husserl entwickelt hat. Eine davon ist, dass die Phantasia nicht vom Gesichtspunkt der Wahrnehmung aus verstanden werden kann. Sie lässt sich also nicht auf das Visuelle reduzieren, wie es laut Richir bei Husserl oft der Fall ist. Wenn Husserl zum Beispiel von der Phantasie spricht, so verwendet er visuelle Analoga: Farbe (rot, grau), die „in der Phantasie auftaucht“, oder „Erscheinungen, die wir in der Dämmerung, besonders bei Nebel, oder im Halbdunkel haben“, die Beleuchtung usw.Footnote 64 In vielen Fällen betont er, dass die Phantasia einen nicht visuellen Charakter hat, obwohl wir nicht umhin können, vom Visuellen zu sprechen, wenn wir von der Phantasia sprechen.Footnote 65 Dies impliziert auch, dass wir nicht von der Phantasia sprechen sollten, als wäre sie die Leistung der Wahrnehmung. Dies führt Richir dazu, die Vergegenwärtigung von Gegenwärtigung zu unterscheiden. Wir haben oben schon auf dieses Begriffspaar hingedeutet. Der Phantasia schreibt Richir die Vergegenwärtigung zu, da sie nichts in einem Jetzt oder in der Gegenwart darstellt. Die Temporalisation der Phantasia gehört einer anderen Gattung an, die man nicht auf etwas Gegenwärtiges reduzieren kann. Sie ist Präsenz aber ohne eine zuweisbare Gegenwart. Die Idee ist, dass das, was in der Apperzeption der Phantasia gegeben ist, direkt und intuitiv erfasst wird. Da sie nicht über ein intentionales Objekt verfügt, ist die Phantasia archaischer als die Wahrnehmung, deren Objekt aber in der Gegenwärtigung intentional gegeben ist. Das intentionale Objekt ist in der Gegenwart. Wir haben diese Idee schon im zweiten Kapitel erklärt.

5.4.1 Richirs Kritik an der passiven, spiegelnden Mimesis als Modus der Darstellung des Anderen

In den oberen Abschnitten haben wir gesehen, wie für Husserl die Repräsentation des Anderen eine Spiegelung und somit eine passive Mimesis (und wir haben auch auch gesehen, wie für Merleau-Ponty der Leib passiv fungiert) impliziert. Nun formuliert Husserl diese Mimesis zwischen zwei Leibern, die sich gegenseitig repräsentieren wie folgt:

Alles Vorstellen folgt den Ähnlichkeiten der Elemente und den Ähnlichkeiten der Verbindungsformen, die auf Gattungen beiderseits zurückführen. Aber darum ist nicht ein beliebiges Vorstellen ein Analogisieren; sich ein Analogon Machen, sich etwas Verbildlichen, das ist ein eigenes Bewusstsein. Da ich immerfort Sinnesfelder habe, ausgefüllte, so kommt es, dass ich nicht Sinnesfelder vorstellen kann, ohne dabei meine aktuellen Sinnesfelder in Erregung zu versetzen. Eine gewisse Deckung, Überschiebung tritt ein. Sehe ich eine fremde Hand, so fühle ich meine Hand, bewegt sich eine fremde Hand, so juckt es mich, meine Hand zu bewegen usw. Aber ich verlege nicht das in mir Erfahrene in den anderen Leib, weder in Form der Verbildlichung noch in einer anderen Form.Footnote 66

Wenn es also Mimesis zwischen zwei Leibern gibt, welcher Art ist sie dann? Für Richir kann es sich niemals um ein spiegelndes Bild handeln (denn die Mimesis als Spiegelung ist Husserls Markenzeichen), sondern vielmehr um eine aktiveFootnote 67 Mimesis eines Leibes, der einen anderen Leib apperzipiert (apperçoit). Diese Art von Mimesis findet statt durch die Leistung der Phantasia, aufgrund derer die Leiblichkeit immer eine PhantasieleiblichkeitFootnote 68 ist. Ferner erklärt dies, warum für Richir die phantastische Mimesis (Mimesis phantastique) aktiv sein und von innen (du dedans) kommen muss. Das bedeutet, dass mein Leib den anderen Leib nur aktiv von innen heraus und ohne das Dazwischentreten eines Bildes verstehen und Zugang zu ihm haben kann. Auf diese Weise gibt es keine Art von Analogie zu den Empfindungen eines fremden Leibes. Alle analogisierenden Vorstellungen werden somit ausgeschlossen, wodurch wiederum auch keine bildlichen Vorstellungen als Vermittlungsform in Frage kommen, da ich die Bewegung des anderen Leibes aktiv von innen her – und nicht durch eine spiegelhafte Mimesis – verstehe, ohne dass ein Bild dazwischentritt.Footnote 69 Wir sind nun in der Lage, die Ablösung des Leibes (Phantasieleibes) vom Körper zu verstehen, welche dann die Kinästhesie im Phantasieraum ermöglicht, ohne dass es zur Bewegung eines Körpers kommt. Von diesem Ausgangspunkt aus kann sich eine neue Phänomenologie der Intersubjektivität aufbauen.Footnote 70

Für Richir ist das „Ich“, der „Leib“ in der imaginären Transposition des Raumes vom „Hier“ zum „Dort“, bildlichFootnote 71 und kann sich daher nur fiktive, spiegelnde Bilder eines Leibkörpers vorstellen – ein Vorgang, der bei der Begegnung mit dem Anderen zum Scheitern verurteilt ist. Er beruft sich dabei auf Husserls „analogisierende Apperzeption“. Anhand der analogisierenden Apperzeption verstehen sich bei Husserl die Subjekte der Fremderfahrung. Richir versteht diese analogisierende Apperzeption so, dass spiegelnde Bilder in den Ähnlichkeitsverhältnissen bzw. -vorstellungen zum Einsatz kommen. Anstatt vom Bild auszugehen, muss der andere von einem Nullpunkt aus begriffen werden: So muss ich nicht dorthin gehen, um die Gesten der Hand des anderen zu wiederholen; ich muss nicht durch die Imagination dort drüben hin versetzt werden; ich muss ihn nicht wahrnehmend bildlich imitieren, um Zugang zu ihm zu bekommen, da ich mithilfe des Phantasieleibes in der Lage bin, mir von innen heraus und unmittelbar, mit einer nicht-spiegelnden aktiven Mimesis, die Erscheinung des Leibes des Anderen zu vergegenwärtigenFootnote 72 (présentifier).

5.4.1.1 Die Konsequenzen einer aktiven, nicht-spiegelnden Mimesis für die Intersubjektivität

Was könnten also die Konsequenzen dieser Art von aktiver, nicht-spiegelnder Mimesis aus dem Inneren heraus für die Phänomenologie sein? Richir hat dem Feld der Phänomenologie einen wesentlichen Gewinn verschafft, denn ohne diese aktive, nicht spiegelnde Mimesis aus dem Inneren des Phantasieleibes heraus,

können wir leicht erkennen, dass keine Übertragung von Sinn möglich ist, keine Bildung möglich ist, daher keine symbolische Institution möglich ist, daher keine Menschlichkeit möglich ist, ohne diese aktive, nichtspiegelnde Mimesis von innen des menschlichen Leibes. Ohne sie könnte kein Habitus gebildet werden.Footnote 73

Dieses Zitat oben enthält viele wichtige Punkte, die man einen nach dem anderen hervorheben sollte. Wir hatten oben gezeigt, dass Merleau-Ponty die Dimension der symbolischen Institution (also der Strukturen) in der Motorik des Leibes entwickelt hat. Gleichzeitig wissen wir aber, dass er weder beschrieben hat, wie sich die sedimentierten leiblichen Gewohnheiten überhaupt gebildet haben und woher sie kommen, noch ob ein passiver Zugang zur Welt phänomenologisch und deshalb von Grund auf Sinn ermöglichen kann. Wenn nun Richir von der aktiven, nicht spiegelnden Mimesis aus dem Inneren des Phantasieleibes schreibt, so geht es ihm grundsätzlich darum, die Quelle der symbolischen Strukturen zu zeigen. Diese Art von Mimesis ist auch deshalb die Quelle des Habitus (entsprechend den „Strukturen“ bei Merleau-Ponty), der Sinnhaftigkeit des Leibes – wir haben die Idee des direkten sinnhaften Verständnis des Leibes bei Merleau-Ponty gelesen – und der Bildung überhaupt. Hier haben wir also die Möglichkeit zur Erarbeitung oder Weiterentwicklung einer symbolischen Institution (Strukturen im Sinne Merleau-Pontys). Somit haben wir gezeigt, dass der Phantasialeib als die Quelle der Lebendigkeit der symbolischen Institution verstanden werden soll. Unter dem Phantasieleib versteht Richir das grundlegendste Register für die Sinnbildung. Ohne die Sinnbildung kann der fremde Leib keinen Sinn verleihen. Man könnte darunter ein A priori der Leiblichkeit verstehen, das die emotionale Offenheit gegenüber anderen möglich macht, weil der Leib jedes Selbst diesen Typus hat, also in seiner Struktur gleich ist. Von diesem Gesichtspunkt her ist auch erst die Bildung einer emotionalen Gemeinschaft denkbar. Weil die Leiber sich affektiv verstehen können, sind sie in der Lage, in hohem Maße zu kooperieren (so gesehen, verstehen wir nun, warum die Phantasieleiblichkeit der von Edward Osborne Wilson  in der Soziobiologie vertretenen Idee der Vorteile der Kooperation zwischen diversen Gruppen phänomenologisch vorausgeht) und einen gemeinsamen, affektiven Sinn zu bilden. Was ist gemeinsamer, affektiver Sinn wenn nicht Kultur? Was ist die Strategie, um ihn zu vermitteln, wenn nicht Bildung?

Die nichtspiegelnde, aktive Mimesis von innen (des Leibes) unterscheidet sich von dem, was sonst ein Fiktum wäre. Im Gegenzug wäre der Leib des anderen wie ein Fiktum (eines Bildobjekts), das dann später durch die Wahrnehmung nur noch „Körper“ (oder eine „Äußerlichkeit“), eine leblose Statue wäre, wenn ich in der Lage wäre, dem Anderen mittels eines spiegelnden, passiven Bildes zu begegnen, also wenn mir sein Leib in Bildern repräsentiert wäre. Faktisch wäre der Leib des Anderen nicht von einer Statue zu unterscheiden – oder im besten Fall würde mein Ego lediglich sich selbst begreifen und nicht den Anderen. In diesem Sinne würden wir nicht mehr von Leiblichkeit, sondern von PhantomleiblichkeitFootnote 74 sprechen können.

Im Hinblick auf das philosophische Problem der „analogisierenden Apperzeption“ und des Solipsismus, legt Richir viel Wert darauf, dass dem Anderen nicht als eine bildliche Darstellung – entweder als eine Variante von mir selbst, oder als die irgendeines Phantoms – begegnet wird. Denn der Andere soll unerwartet, unvorhersehbar, ganz anders, „transpossibel und transpassibel“ sein. Dieses Begriffspaar ist an Henri Maldineys Penser l’homme et la folieFootnote 75 angelehnt.

Möglichkeiten, die mit meinem Dasein zu tun haben, vermögen es nicht, das Unmögliche am Auftauchen zu hindern. Dementsprechend bedeutet es, dass das „Mögliche“ (welches aber in meinem subjektiven Feld den Namen „Unmöglich“ trägt) die Möglichkeiten, die meinem Dasein zugeordnet sind, überschreitet. Diese „Möglichkeit“ liegt außerhalb des Subjektes, ist aber im Feld des Objekts. Das Andere als „transpossibel“ zu bezeichnen bedeutet, dass der Andere alle Möglichkeiten in meinem subjektiven Feld überschreitet. Kein Wunder, dass Richir denkt, dass ihre Verwirklichung zu etwas Unerwartetem, zu etwas ganz Anderem führt. Der Begriff der „Transpassibilität“, in der die Phantasia verankert ist, bezeichnet dagegen das Vermögen, diese „Möglichkeiten“ außerhalb meines subjektiven Feldes der Möglichkeiten zu empfangen. Dementsprechend gilt: „diese Bezeugung durch die Erfahrung anderer [….] steht mir nicht zur freien Verfügung.“Footnote 76 Trotz der Unmöglichkeit des Phantasieleibs anderer Leute, ihn zu erleben, ist mein Phantasieleib transpassibel in Bezug auf den Leib eines anderen. Richir fährt fort:

Bewohne ich den Leib des anderen von innen, dann ist es nicht so, dass ich selbst dort bin, noch dass es mir buchstäblich gelungen ist, „mich in seine Haut zu stecken“, sondern es ist so, dass ich dort durch die Transpassibilität einwohne, da ich seiner Innerlichkeit gegenüber transpassibel bin, obwohl diese Letztere für mich unbestimmt und nicht figuriert werden kann.Footnote 77

Richir bezieht sich hier sowohl auf Husserl als auch auf Henri Maldiney. In Bezug auf den Ersteren bezieht sich Richir auf Ideen zu einer reinen phänomenologischen Philosophie, wo Husserl die Möglichkeit analysiert, das Psychische, die eigenen Akte, im Falle der Selbsterfahrung in den eigenen „Leib hinzustecken.“Footnote 78 Während dies laut Husserl einem solipsistischen Selbst nicht möglich ist, gelingt es dem Subjekt durch die Einfühlung in den Anderen. Aber es geht hier darum, „mich in seine Haut zu stecken“. Auch dies sei laut Richir nicht möglich. Das bedeutet, dass die (psychischen) Erlebnisse der Leiber sich gegenseitig ausschließen. Sie bleiben füreinander unmöglich. Aber diese Unmöglichkeit wird erst durch die Transpassibilität ermöglicht, auch wenn dadurch der andere Leib mir nicht in der anschaulichen Darstellung eines Bildobjekts (Husserl) gegeben wird.

Man sieht, dass das, was Richir hier artikuliert, sich nicht an irgendeiner Erkenntnistheorie orientiert. Er versucht vielmehr das zum Ausdruck zu bringen, was vor jeder Erkenntnistheorie liegt und das, was darüber hinausgeht. Wenn es um Fremderfahrung geht, so haben wir es also nicht mit der Kognition zu tun. Um es mit Guy van Kerckhoven zum Ausdruck zu bringen: „Das spezifische Phänomen der Begegnung wurde daher noch nicht als ‚Erfahrungsfeld‘ oder Kognitionsfeld ‚organisiert‘.“Footnote 79

Es ist das phänomenologische Verdienst Richirs, in gewisser Hinsicht gezeigt zu haben, wie Missverständnisse, indem bildliche Darstellungen in den Anderen projiziert werden, zu verhindern sind. Die Missverständnisse treten im Kontext der Erkenntnistheorien auf. Jede Theorie reduziert die Person gemäß dem Modell, das sie mit sich bringt. Der andere wird aus der Sicht eines Modells gesehen. Genau dies ist das, was Richir unterbricht. Der andere als Leib ist ein Ort des Überschusses und kann nicht auf irgendein Modell reduziert werden, das die Imagination vorschlägt. Damit will er auch zeigen, dass Bildlichkeit, die ein Modell in der Welt suggeriert, hier keine Rolle spielt;Van Kerckhoven spricht vom Anstarren (dévisager) des anderen, das die Festigkeit unseres Blicks durchbricht.Footnote 80 Damit wird die Haltung zu einem Ding der Welt umgestellt. Ein Mensch öffnet sich uns und bringt mit sich die Radikalität der Erschütterung (boulversement).

Bevor wir diesen Abschnitt beenden, wollen wir noch erwähnen, dass die Begegnung bei Richir nicht unbedingt eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht voraussetzt. Die Fremderfahrung muss nicht unbedingt eine Husserl’sche Intersubjektivität sein. Deshalb spricht Richir von der transzendentalen Interfaktizität.Footnote 81 Das leibliche Selbst ist nicht reduzierbar zu einer Tatsache, da es eine einzigartige „Singularität“ (damit ist aber kein Ego als Individuum oder symbolisch gestiftetes Selbst gemeint) besitzt, die nicht reduzierbar ist. So spricht Richir, anstelle von Tatsache, von Faktizität. Die „Faktizität“ impliziert etwas, das nicht wiederholbar ist und das jedoch – obwohl nicht als Objekt zu objektivieren – in der transzendentalen Interfaktizität durch Blickaustausch kommunikabel ist. Auf den Blick kann virtuell zugegriffen werden, falls er da ist. Dies bedeutet, dass in einer Begegnung mit dem anderen die Begegnung von Angesicht zu Angesicht keine conditio sine qua non ist, was aber für die Intersubjektivität im Sinne Husserls erforderlich ist. Dies liegt daran, dass es auch eine Begegnung von Leibern geben könnte, die, obwohl sie sich nicht ansehen oder anschauen, in der Lage wären, sich auszutauschen und miteinander zu kommunizieren. Ihre Blicke müssen nicht unbedingt physisch da sein; sie könnten auch virtuell da sein. Dies ist ein entscheidender Punkt. Denn in dieser archaischsten und primitivsten Grundlage der Phänomenologie, die auf der Phantasia und der Leiblichkeit (Χώρα) aufgebaut ist, ist die Intentionalität, die Setzung der Objekte der Welt, als Bedingung nicht erforderlich, wie es in der Husserl’schen Intersubjektivität der Fall ist.

Wir haben diese Idee noch hinzugefügt, damit nicht fälschlicherweise angenommen wird, dass Richir die Husserl’sche Intersubjektivität verteidigt oder begrüßt, weil er sich mit dem Thema auseinandersetzt. Das Modell der Begegnung liegt laut Richir nicht in der Husserl’ schen transzendentalen Intersubjektivität, sondern im Kantischen Erhabenen. Dies werden wir deshalb im nächsten Kapitel behandeln.

Wir wenden uns nun einem anderen Fall zu, in dem die Bildlichkeit für das Verstehen und die Kommunikation einzelner Leiber vorausgesetzt wird: im Verstehen sprachlicher Ausdrücke.

5.4.2 Das Verstehen sprachlicher Ausdrücke

Richir setzt sich auch in Bezug auf dieses Thema wiederum mit Husserl auseinander, in diesem Fall mit dessen Idee des Verstehens sprachlicher Ausdrücke und bezieht sich am stärksten auf Husserls Vorlesungen über Bedeutungslehre vom Sommersemester 1908. Zunächst lässt sich fragen, was Husserl unter Ausdruck versteht. Der Begriff deckt bei ihm unterschiedliche Dimensionen ab, vom gesprochen Laut bis hin zu geschriebenen oder gedruckten Worten:

Unter Ausdruck muss hier das bloße sinnliche Zeichen verstanden werden, normalerweise sinnlich erscheinend, sagen wir also: der Wortlaut, eine Rede, die uns alles Sinnliche, das hier in Betracht kommt, repräsentieren mag, also den gesprochenen Laut, das Akustisch-motorische dabei usw.; ebenso das Schriftzeichen des geschriebenen oder gedruckten Wortes und dergleichen. Dieses erscheint.Footnote 82

Wie wir sehen, bezieht Husserl den Leib in die Artikulation des Ausdrucks ein. Ein Ausdruck kann ausgesprochen, verstanden, mit der Hand geschrieben, durch die Motorik artikuliert werden. Es lässt sich jedoch fragen, wie es uns gelingt, diese gesprochenen, geschriebenen Wörter des Anderen zu verstehen. Diese Frage ist insbesondere in Bezug auf die Tatsache wichtig, dass sprachliche Zeichen schon zu Beginn des Spracherwerbs mit intentionalen Bedeutungen sedimentiert und gesättigt sind. Bevor wir überhaupt anfangen, sprechen und schreiben zu lernen, sind wir schon eingetaucht in eine „symbolische Institution“, wo sprachlicher Habitus und Gewohnheiten gelernt werden. Wird der Sinn eines sprachlichen Ausdrucks nicht schon am Anfang eingeführt, sodass wir nichts anders zu tun brauchen, als die Sinnhaftigkeit zu erwerben? Husserl spricht zum Beispiel von einem „Wortlautbewusstsein, wodurch der bloße Wortlaut gegenständlich ist“ und auf das später neue Akte des „mit dem Wort dies und jenes Meines [Sic! D.E.]“Footnote 83 bezogen werden könnten. Dadurch wird zum Beispiel ein Genanntes bewusst, sobald der Name ausgesprochen wird. Wie passiert es nun, dass einem ausgesprochenen Wort eine Bedeutung verliehen wird? Wie schafft es ein Subjekt, den Anderen zu verstehen? Kann ein ausgesprochener Laut ohne objektive Referenzialität auch sinnvoll sein? Auf welche Seite stellt sich die Intuition: An die Seite des gesprochenen Wortes, oder an die des intentional bezeichneten Objekts? Intuition (intuitivité) des Sinns steht weder auf der einen, noch auf der anderen Seite. Vielmehr setzt sie „Absicht der Bedeutung mit leeren Vorstellungen“ voraus.Footnote 84

Husserls Verwendung des Begriffs „Wortbild“ begründet Richirs Verständnis des sprachlichen Ausdrucks als „sinnliches Bild.“ Husserl schreibt:

Ähnlich wie das Wortbild, das visuelle und akustische in seiner Verknüpfung, dasteht und das Bedeutungsbewusstsein ihm Bedeutung für etwas anderes gibt, das gegenwärtig sein kann (oder vergegenwärtigt) oder nicht. (Ja, weil hier das Bild als Abbild für ein anderes Bild fungiert).Footnote 85

Mit anderen Worten, haben wir es hier wieder – wie wir schon bei der Revision der Husserl’ schen Phantasie gemerkt haben – mit einem Bild (sagen wir einem Bildobjekt) zu tun, das wiederum im Verhältnis zu einem anderen Bild (sagen wir mit einem Bildsujet) steht. Husserl fährt fort und fragt sich: „Wie ist es in der Phantasie? Haben wir da auch ein Über-sich-Hinausweisen, ein Dastehen in der sei es auch schwankenden und schwebenden Erscheinung, das aber nicht für sich gilt, sondern für etwas anderes gilt?“Footnote 86 Mit diesem Zitat besteht kein Zweifel mehr daran, ob es bei der Problematik nun um die Bildlichkeit oder die Intentionalität geht, oder nicht. Wir haben gesehen, dass Husserl bei der Phantasia oft zögert, schwankt und unentschlossen bleibt, ob er derselben eine Intentionalität eines Bildobjekts zuschreiben soll oder nicht. Angelehnt an Husserls Analyse des Bildbewusstseins analysiert Richir den sprachlichen Ausdruck. In Huserls Anlayse des Bildbewusstseins zeigt ein Bild (Gemälde) einen doppelten Charakter: erstens als ein Objekt der Wahrnehmung in der Gegenwart (das Bild ist etwas inmitten anderer Dinge) und zweitens als Vorstellung, als das es etwas anderes zeigt als sich selbst, etwas Nicht-Gegenwärtiges, das aber in der intentionalen Gegenwart vergegenwärtigt (présentifié) ist. Das real wahrgenommene Gemälde, das das Bildobjekt trägt, ist ein Fictum, d. h. eine Nichtigkeit (nihilité).Footnote 87 Und genauso ist es beim gesprochenen Wort: Es ist als „Wortbild“ ein Fictum (Bildobjekt), welches ein „Bildsujet eines gesprochenen oder geschriebenen Wortes als nicht gegenwärtig in der sensiblen Welt vergegenwärtigt.“Footnote 88

5.4.2.1 Kritik am Modus des Verstehens eines sprachlichen Ausdrucks durch die Bildlichkeit

In dem Fall, wo der kinästhetische Habitus (zum Beispiel, wenn sich meine Hand oder mein Mund in einer bestimmten Weise bewegen) eines sprachliches Zeichen den Leib impliziert, wenn man ein Wort ausspricht oder es schreibt, wird die Phantasie, die in der Phantasieerscheinung im Spiel ist, impliziert – jedoch auf andere Weise ohne Einbeziehung des Habitus. Was hier abläuft, ist eine Mimesis, zum Beispiel, wenn ich einen Vortrag höre. Die ausgesprochenen Worte fangen an, mir im Phantasieleib meiner Phantasia vorzuschweben und ich verstehe den sprachlichen Ausdruck unmittelbar durch eine Mimesis. Diese Mimesis ist anders als die, die Husserl entwickelt hat und die die Passivität des Körpers voraussetzt:

Sehe ich eine fremde Hand, so fühle ich meine Hand, bewegt sich eine fremde Hand, so juckt es mich, meine Hand zu bewegen usw. Aber ich verlege nicht das in mir Erfahrene in den anderen Leib, weder in Form der Verbildlichung noch in einer anderen Form.Footnote 89

Es ist wieder von der spiegelnden, passiven Mimesis die Rede, die den Körper involviert. Denn das Subjekt begegnet dem Anderen im Modus eines Bildes – einer Art, sich selbst in ein erscheinendes Phänomen zu projizieren. Bei Richir jedoch werden sowohl Passivität, als auch spiegelnde Mimesis erschüttert. Deswegen schreibt er: „Eine Art Mimesis – die in keiner Weise spiegelnd ist, da mein Körper ausgeschaltet ist – des gesprochenen Lautes (gesprochen oder geschrieben) durch meinen Phantasieleib, der, wie wir gesehen haben, selbst grundsätzlich unbestimmt ist.“Footnote 90 Im Folgenden bezeichnet Richir diese Mimesis als: aktiv und von innen. Doch warum und wie ist sie von innen möglich? Weil mein Leib sich mithilfe der Phantasia vom Körper abgelöst hat und dadurch allen sprachlichen Ausdrücken zugänglich ist.

5.4.2.2 Die Konsequenz des Verstehens eines sprachlichen Ausdrucks in der Phantasia

Anstatt in der Bildlichkeit, wird das gesprochene Wort viel mehr in der Phantasia verstanden. Dies bedeutet, dass kein Medium zwischen dem Verstehen und dem Sinn steht. Mit anderen Worten, es gibt keinen Vermittler für die Sinnhaftigkeit, die die gesprochenen Worte dem Leib eröffnen. Der Grund ist, dass wir uns an dieser archaischsten Basis des phänomenologischen Zugangs zur Welt befinden, wo weder die Intentionalität eines Objekts noch die Bildlichkeit als Modell nötig ist. So stellt sich die Frage, was die Konsequenz für die Phänomenologie sein kann.

Dieses Verstehen „in der Phantasia“ schließt alle Temporalisierung im Modus des Jetzt oder der Gegenwart aus. So kann man die Unzugänglichkeit, die Schwankung und Undurchsichtigkeit des Gedankens im stillen Inneren verstehen – dort wo Wörter scheitern, überflüssig und unzureichend sind. Dass das ausgesprochene Wort lediglich in der Phantasia begriffen werden kann, impliziert, dass es nicht als Bild eines Objekts verstanden werden sollte. Eine notwendige Verbindung zwischen dem ausgesprochenen oder geschrieben Wort und seiner Referenzialität herzustellen, als wäre es ein Bild oder eine Darstellung des referenziellen Objekts, würde bedeuten, im Register der symbolischen Institution der „Sprache“ (Sprache verweist hier auf ein Sprachsystem wie Igbo, Französisch oder Deutsch) gefangen zu sein, wo ein Bezeichnendes unbedingt ein Bezeichnetes impliziert (wie im Strukturalismus von Saussure); wo die Intentionalität des Sinns mit einem Subjekt beginnt, das ein gegenwärtiges Objekt („un objet présent“) anzielt. Richir signalisiert damit das Ende jeder „Diskursivität des gesprochenen Wortes“ („Discursivité de verbe enoncé“) jedes Mal, wenn eine notwendige Verbindung zwischen dem ausgesprochenen Wort, das seine objektive ReferenzialitätFootnote 91 vorstellt, und dieser Referenz hergestellt wird. Diese Haltung findet man etwa bei Sprachwissenschaftlern, die einen sprachlichen Ausdruck als seine korrekte Anwendung und Ausführung in einem bestimmten Sprachsystem verstehen. Die gesprochenen Worte aber sind offen für das Ausgießen des Sinns, den sie enthalten.

5.5 Schlussüberlegung: Die Welteröffnung anhand der Leiblichkeit als Sinneröffnung

Nun wollen wir auf die Frage zurückkommen, die wir am Anfang gestellt haben, und zwar: Wenn die Leiblichkeit einen Zugang bzw. Bezug zur Welt ermöglicht und der Leib das phänomenale Erlebnis einzelner Leiber bezeugt, in welchem Zusammenhang können wir diesen Zugang bzw. Bezug zur Welt dann verstehen? Sowohl der Zugang zur Welt, als auch die Erlebnisse einzelner Leiber sind nichts anderes, als „Sinneröffnung“; das ist unsere These, die wir im letzten Kapitel ausführlich verteidigen werden.

Aber wie können wir eine solche These begründen? Sie stützt sich auf zwei Haltungen: Zunächst gestaltete Richir selbst in Le Corps (auch, wenn dieses Büchlein keine große phänomenologische Bedeutung hat) die Phänomenologie der Sprache im engsten Zusammenhang mit der Phänomenologie des Leibes und der der Leiblichkeit. So wird der Leib als ein „sprachliches Phänomen“ („phénomène langagier“) dargestellt. Wie jedes phänomenologisch Erlebte,

ist der erlebte Leib sowohl in seiner Gesamtheit als auch in der Artikulierung seiner Teile einer und die Wesen des Sinns und des Phänomens (sprachliches Phänomen) sind in werdender Einheit mit dem Erleben sowohl des Bewusstseins als auch des Unbewusstseins.Footnote 92

Hier muss Rücksicht auf den Unterschied zwischen „Langage“ und „Langue“ genommen werden. Während „Langage“ auf eine Art von Phänomenalität des Sprachlichen verweist, beschränkt sich „Langue“ auf ein Sprachsystem, wie die Stiftung in einer Sprache ( z. B. Deutsch, Französisch, Igbo usw.).

Den zweiten Hinweis oder die zweite der oben genannten Haltungen verdeutlicht Schnell. Er schreibt:

Dieser „sich machende Sinn“ […] vollzieht sich nicht in einer abgründigen Leere, sondern in einer absoluten Urform jeglicher Räumlichkeit […] die Richir mit der platonischen „Chora“ gleichsetzt.Footnote 93

Während das erste Zitat von Richir vom Sinn des Leibes spricht, geht dieses zweite von Schnell vom Sinn – also „le sens se faisant“ – der Chora aus, also der Leiblichkeit, sodass man hier ab sofort von Leib und Leiblichkeit in Bezug auf Sinn ausgehen kann. Diese zwei Haltungen einerseits in Bezug auf ein „sprachliches Phänomen“, andererseits in Bezug auf „einen sich machenden Sinn“ erlauben es uns, zwei breite Dimensionen des Sinns zu untersuchen, welche die Husserl’sche genetische Phänomenologie über den Bereich der Stiftungen hinaustreibt: Einerseits die Dimension einer „Sinnbildung eines sich machenden Sinns“ und andererseits die einer „Sinnstiftung“ im Sinne von Stiftung eines Sinnes in einer symbolischen Institution, also in jeglicher Art von Kultur.

Abschließend werfen wir die Frage auf: „Welchen Sinn eröffnet uns die Leiblichkeit?“ Wie wir gesehen haben, bewegt sich die Sinnhaftigkeit zwischen der gesättigten und bestimmten Dimension der Kultur und der unbestimmten Dimension der Leiblichkeit, zwischen der Dimension der Passivität und der Dimension der Aktivität, zwischen der des Imaginären und der der Lebendigkeit. Wir sehen also einerseits die Grundlage der Sinnhaftigkeit, im Sinne von Sinnstiftung in einer symbolischen Institution und damit in jeder Form von Kultur, und andererseits die Sinnbildung des sich machenden Sinns: der sich machende Sinn ist dabei aber beständig im Fluß, auch in der symbolischen Institution wird er nicht vollständig fixiert.

Basierend auf diesen beiden Dimensionen ist es offensichtlich, dass diese Offenheit für die Welt durch die Leiblichkeit, wie wir sie bei Richir verstehen, einerseits die Prekarität des Sinns zum Ausdruck bringt, jedes Mal, wenn wir versuchen, eine erlebte leibliche Erfahrung in Worte zu fassen, wie zum Beispiel eine Emotion. Diese Prekarität des Sinns entspricht der Nichtbestimmbarkeit des Phänomens, das sich im Leib ereignet, und verleiht damit der vom Leib erlebten Affektivität einen Charakter der Nichtpositionalität.Footnote 94 Dies ist die Idee eines phänomenologischen Sinnes. Wenn die Idee der phänomenologischen Sinnbildung erhalten bleiben soll –die Idee des Überschusses an phänomenologischer Erfahrung, die der Begründer der Phänomenologie (zum Beispiel in Analysis zur passiven Synthesis bei der Abschattungslehre der zeitlichen Wahrnehmungsobjekte) vielfach artikuliert hat –, dann kann diese Art von Sinnbildung nicht durch die Dimension der PassivitätFootnote 95 erfasst werden. Denn Passivität, wie sie in der Prä-reflexivität des Leibes bei Merleau-Ponty zentral ist, hätte den Sinn im Voraus erschöpft und das Spontane und Unerwartete der Sinnbildung ausgeschaltet und unmöglich gemacht. Und deshalb spricht Richir von Transpassibilität statt von Passivität, was dann auch die Dimension der Virtualität – wir werden zu diesem Begriff im nächsten Kapitel kommen – impliziert. Auch für dieses Motiv kann die Idee der Bildlichkeit allein die Idee der phänomenologischen Sinnbildung nicht bewahren, denn eine solche Bildlichkeit hätte durch ein Eingreifen der Intentionalität auch den Sinn erschöpft. Die Sinnbildung wäre tot. Der einzige Weg, die phänomenologische Sinnbildung zu bewahren und damit auch die letztgültige Idee des Überschusses bewahrt, besteht nur in einem ständigen Fluss von Aktivität, der sie unvorhersehbar macht, sie immer offen lässt und jedes Mal zu übertreffen ist. Denn die ursprüngliche und archetypische Motilität, die grundlegende Kinästhesie, wurzelt in keinem anderen Architekturregister als dem der Phantasia (Leiblichkeit) – dies geschieht weder im Jenseits irgendeiner Form von Bildlichkeit, noch in der Intentionalität noch in irgendeiner Passivität. Aus diesem Grund wäre die Behauptung, dass der „lebendige Charakter“ eines Romans von einem Schauspieler – so talentiert er auch sein mag – anschaulich dargestellt werden könnte, nicht zu halten und laut Richir zudem irreführend,

denn niemals wird es diesem oder jenem Schauspieler, unabhängig von seinem Talent, gelingen, die Komplexität des Charakters wiederzugeben, wie sie dem Autor eines Romans im Verlauf seines Schreibens auferlegt wurde, und wie sie erneuert dem aufmerksamen Leser auferlegt wird, der sich nicht in die phantasmatische Fallen der imaginären Identifikation verwickeln lässt.Footnote 96

Wenn der Schauspieler die Komplexität der lebendigen Figur (Hauptfigur oder Nebenfiguren oder die Protagonisten) im Roman nicht wiedergeben kann, dann deshalb, weil das Leben – dieses Leben ist nichts anderes als die Leiblichkeit des Leibes – in der Phantasia (Leiblichkeit) nicht erschöpft werden kann.

Auf der anderen Seite sehen wir, wie „Affektivität“ leiblich gestiftet wird, wenn wir Richirs phänomenologischen Ansatz zur symbolischen Stiftung des Sinnes akzeptieren. Dieser Ansatz scheint auch Konvergenzen zu Überlegungen zur „sozialen Konstruktion der Gefühle (Emotion)“ in der analytischen Philosophie aufzuweisen. Von hier aus können wir auf die vorher gestellte Frage eingehen. Der Sinn, welchen uns die Leiblichkeit eröffnet, lässt sich einerseits in einem leiblichen Erlebnis einer affektiven Gemütsregung (dies könnte während einer Fremderfahrung durch die Einfühlung geschehen oder das Verstehen eines sprachlichen Ausdrucks, das Verstehen der emotionalen Lage des anderen usw.), das man zur Sprache bringen will, als „eine Pluralität von Welten“ und andererseits in einer „leiblich gestifteten Affektivität“ als „eine Singularität von Welt“ begreifen, wobei es eine Pluralität von leiblich gestifteter Affektivität gibt – so viele, wie es Kulturen gibt. Die Pluralität von Welten ist jeglicher Art von empirischer Forschung nicht zugänglich, wohl aber der transzendentale Boden der Phänomenologie; eine singuläre Welt könnte indes von den objektiven Wissenschaften untersucht werden. Wir sind der Meinung, dass die Phänomenologie dieser Art von Spannung und Zick-Zack-Bewegung zwischen den beiden Dimensionen nicht entkommen kann, wenn sie lebendig bleiben will.

Da die Dimension des Symbolischen als die der Passivität erscheint, hat sie etwas mit der Dimension der Transzendenz der Welt gemeinsam, besonders dann, wenn man diesen Begriff von „Welt“ mit Kants Idee des „Ding an sich“ verbindet. Die Welt wie die Kultur ist immer schon da, seit wir Menschen sind. Auf eine gewisse Weise erscheint uns diese Welt als uns passiv vorgegeben, wir können nicht aktiv über ihre Gegebenheit verfügen. Aber ist unser Verhältnis zur Welt wirklich in diesem Sinne als ein passives zu verstehen? Richir hat eine andere Antwort, die in diesem Kapitel nicht wiedergegeben werden kann. Allerdings sind wir mit dieser Frage im Bereich der Transzendenz, die laut Richir auf die absolute Transzendenz verweist. Wir haben laut Richir zwei Sorten dieser Transzendenz: die eine ist die absolute Transzendenz und die zweite deutet auf die physisch-kosmische Transzendenz, also auf die Welt als Transzendenz hin. Die absolute Transzendenz hat etwas gemeinsam mit dem Symbolischen, wenn man daran denkt, dass Gott – dieser trägt den Namen der Transzendenz in der Tradition, auch wenn diese Tradition keine philosophische Tradition mehr ist – der „symbolischer Stifter“ ist. Diese Idee der Transzendenz haben wir noch nicht thematisiert, besonders was die Sinnkonstitution (und somit Selbstkonstitution) anbelangt. Die Idee, welche wir gerade zu artikulieren versuchen, bezieht sich auf diese Frage: Was ist die Rolle der Transzendenz bei der Erfahrung? Was ist die Rolle derselben bei der Sinnbildung und beim Verhältnis des Leibes zur Welt? Wir haben also mit diesen Fragen neue Problemfelder in Richirs Phänomenologie geöffnet, die nur innerhalb der Thematik über das Erhabene Antwort finden können. Deshalb werden wir uns im nächsten Kapitel mit Richirs Entdeckung und Überbearbeitung des Kantischen Erhabenen befassen.