3.1 Zusammenfassung

Die Analyse von Heideggers Konzepten des Zuhandensein und Vorhandensein vermittelt den Eindruck, dass Objekte – selbst innerhalb der Wechselhaftigkeit und Schwankung der Zeit – stabil sind. Dies würde implizieren, dass Dinge, mit denen man in der Welt wahrnehmend zu tun hat, absolut festgelegt sind und somit eine feststehende Sinnhaftigkeit haben. Wenn diese Art, mit Dingen in der Welt in Beziehung zu stehen wahr wäre – dass die Dinge also einen festgelegten Sinn haben – würde das dann nicht heißen, dass diese Beziehung gewohnheitsmäßig durch eine Art von kodierter Institutionalisierung vollzogen wird, die dem Sinn zu einer Art Sättigung verhelfen könnte? Husserls Begriff der äußerlichen Wahrnehmung besagt jedoch etwas Gegenteiliges – nämlich die Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten, die auf der Vorstellung von Abschattungen beruht. Richir wiederum scheint das Thema sogar noch zu vertiefen, indem er diese Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten durch die Vorstellung von anderweitiger Abschattung begründet: Die Möglichkeit von Wahrnehmung durch Abschattung selbst liegt in der unendlich potentiellen Pluralität anderer Blicke (Phantasia, Leiblichkeit) in einem sehenden Blick. Diesen Gedanken ergänze ich durch die Vorstellung, dass die Lebendigkeit der symbolischen Institution selbst durch die leibliche und phantastiemäßige Zirkulation aufrechterhalten wird. Die symbolische Institution bleibt also unbestimmt, insofern sie offen für die Phantasia und die Leiblichkeit bleibt. Am Ende dieses Kapitels werde ich darlegen, dass die obige Vorstellung Richirs mit der Transpassibilität von Leiblichkeit zusammenhängt, ohne welche es niemals irgendeine sinnvolle Kommunikation mit der Welt geben würde, und die die Unbestimmtheit von Wahrnehmungsobjekten noch radikaler begründet.

3.1.1 Einleitung

Wir wissen bereits, wie sehr sich Marc Richir von den „Dingen“ distanziert, was auch bei seinem Schreibstil auffällt, denn er hält sich mit konkreten Beispielen sehr zurück. Wenn er doch Beispiele benutzt, dann sehr kurz und knapp. Eine seltene Ausnahme findet sich in Le rien enroulé, wo „Sein“ (l’être), „Seiendes“, „Objekt“, „das Objekt“, „das nicht geklärte Objekt“ (l’objet non-clarifié), „das Äußere“ (l’extérieur), „die Dinge“ und „das Gleiche“ als Objekt (le Même) im Anschluss an Heideggers Sein und Zeit reichlich zur Sprache kommen. In Krisis der europäischen Wissenschaft würden die genannten Begriffe für Husserl auf die Objekte der Logik und der Wissenschaft verweisen, deren Krisis darin bestünde, dass sie ihre Innerlichkeit verloren haben, da sie ihren Sinn vollständig ent-äußert, ganz nach Außen gekehrt haben und deswegen innerlich leer sind: Es gäbe demnach für das transzendentale Subjekt keine größere Entfremdung. Dieser Idee folgend versteht Richir unter dem Bereich des Objektes den Bereich der PräsenzFootnote 1: „Das Seiende selbst ist nur Dasselbe, sofern es seinen Ort im Bereich des Randes findet, der das umgibt, wovon es umgeben ist. Dieser Bereich ist der Bereich der Präsenz.Footnote 2 Fragt man sich nun, wie man diese Präsenz verstehen soll, so erweist sich die Präsenz als die Kehrseite des Husserl’schen Strebens nach einer Intimität, die oft durch die Wahrnehmung evident wird. Sie ist das, was den Anspruch auf ein „Immer schon da“ erhebt. So stellt sich auch uns die Frage, ob die Objekte der Wahrnehmungen eine „Stabilität“ haben, eine Bezeichnung, die wir mit „Bestimmtheit“ gleichsetzen. Genau hier bewegt sich Richirs Eingreifen in die ganze Diskussion, in der vor allem Heidegger ein wesentlicher Bezugspunkt ist.

Wenn Richir sich also in die Diskussion über die äußeren Objekte der Wahrnehmung einschaltet, was in seinem Werk allerdings – wie bereits erwähnt – eine Ausnahme oder besser gesagt einen Einzelfall darstellt, dann – und das ist unsere These – aus zwei Gründen:

  1. 1.

    Er will das phänomenologische Feld vor der symbolische Stiftung durch eine Implosion von innen rettenFootnote 3, ohne dass er dieser Kehrseite des Zirkels der Phänomenalisierung ihren spezifischen Status abspricht. Diese Kehrseite ist der Bereich der Präsenz. Es ist der Bereich, der dem Projekt Husserls nachgehend nach innen begleitet werden soll; der Bereich, dessen Objekt geklärt werden soll, um den Schritt zur Entfremdung rückgängig zu machen.

  2. 2.

    Er will die Basis der Dinge als Unbestimmtheit in einem anderen phänomenologischen Register (der PhantasiaFootnote 4 und der Leibleichkeit) begründen. Dazu gehört das Projekt der Neugründung der Phänomenologie, die die Bestrebungen nach einer genuinen Verwirklichung der transzendentalen Phänomenologie ernst nehmen soll.

Punkt eins betreffend, kritisiert Richir Heideggers starre phänomenologische Metaphysik. Diese Metaphysik gehört laut Richir zu einem Abdriften vom Phänomen als Phänomen und erschwert so einen Zugang zur eigentlichen Phänomenologie. Heideggers Verwendung von Begriffen wie Zuhandensein und Vorhandensein lässt nicht nur auf „große Schnitte“ (grosse coupure) und die geringe Aufmerksamkeit für konkrete phänomenologische AnalysenFootnote 5 schließen, sondern erinnert auch an eine metaphysische Verdichtung, die Richir ihm immer wieder vorgeworfen hat. Bezüglich Punkt zwei vertieft er Husserls Gedanken, indem er diese Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten durch die Vorstellung von anderweitiger Abschattung begründet. Diese Begründung liefert eine Antwort auf die Frage, wo die Möglichkeit von Wahrnehmung (bzw. deren Objekte) durch die Abschattung liegt. Eine Antwort, die offenkundig danach strebt, sich von der Husserl’schen Orthodoxie (im Sinne einer Dogmatik) zu distanzieren und ihren eigenen neuen Ausgangspunkt zu schaffen. Unsere Aufgabe ist es, die Schritte zur Antwort auf diese Frage aufzuzeigen sowie die dafür relevante Argumentation hervorzuheben. Dabei wird die Spur von Richirs Neugründung der Phänomenologie erkennbar.

Auf einer zusätzlichen Stufe gehe ich jedoch noch über dieses hier zusammengefasste Ergeb-nis hinaus: Ich gehe nicht nur darauf ein, dass die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte von der Phantasia und der Leiblichkeit herrührt, sondern auch darauf, dass die Lebendigkeit einer symbolischen Institution durch die Zirkulation der Phantasia und der Leiblichkeit ermöglicht wird. Denn jede symbolische Institution ist wie ein Wahrnehmungsobjekt, das aber offen für das „Unerwartete“ und „Unangekündigte“ der Phantasia und der Leiblichkeit ist. Am Ende dieses Kapitels wird dargelegt, dass die obige Vorstellung Richirs mit dem Konzept der Transpassibilität – wir haben diesen Begriff schon als eine „Offenheit für“ definiert – bei Henri Maldiney zusammengeht. Maldiney definiert die Transpassibilität als Offenheit und Empfänglichkeit für das Ereignis: „Die Offenheit für das Ursprungliche“ „die einladende Empfänglichkeit für das Ereignis.“ Diese Empfänglichkeit ist verbunden mit der Verwandlung der ExistenzFootnote 6 und hängt mit der Leiblichkeit zusammen, aufgrund derer gilt, dass es ohne sie niemals irgendeine sinnvolle Kommunikation mit der Welt geben würde, und die die Unbestimmtheit von Wahrnehmungsobjekten noch radikaler begründet. Dieser Zusammenhang wird ausführlicher nach der Rekonstruktion von Richirs zweischrittiger Entwicklung des Begriffs der Unbestimmtheit von Objekten diskutiert werden.

3.2 Die permanente Verfügbarkeit des vorhandenen und zuhandenen Dinges

Die erkenntnistheoretischeFootnote 7 Frage, welche Husserl sehr beschäftigt hat – nämlich wie das Bewusstsein, das Immaterielle, über sich hinaus zum Materiellen, also zu den DingenFootnote 8 in der Welt gelangen kann – hat ein Erkenntnisproblem in der Phänomenologie ausgelöst, das aber bei Heidegger durch den Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-Sein umgangenFootnote 9 wird. Die Bewegung ist nun von einer erkenntnistheoretischen Frage zu einer Seinsfrage hin verschoben, zu der Dasein unter anderen WasFootnote 10-zukommenden Seienden einen ausgezeichneten Bezug hat. Denn Dasein ist die ontische Möglichkeit für Seinsverständnis, welches Heidegger des Daseins „Bestimmtheit“ nennt. Dasein ist immer schon bei anderem Seiendem und für ihn ist dieses Seinsverständnis immer „schon in gewisser Weise verfügbar“Footnote 11 also dem Dasein immer schon vertraut. Diese permanente bereitwillige Verfügbarkeit anderer Seienden bezeichnete Heidegger mit dem Begriff „Vorhandensein“, wobei das „Was“, das dem Seienden ohne Seinsverstädnis zugeschrieben wird, sie zugleich zu „‚innerhalb‘ der Welt vorkommende[n] Dinge[n]“Footnote 12, „wie Tisch, Haus, Baum“ macht.Footnote 13

Vorhandensein schließt also sowohl „Naturdinge“, wie „Baum“, als auch für uns hergestellte, also „wertbehaftete“ Dinge, wie „Tisch“ oder „Haus“ ein, wofür Heidegger einen besonderen Begriff („Zuhandenheit“) einführt, um diese Eigenschaft auszudrücken. Das Kennzeichnende des Zuhandenen liegt darin, dass es als ein bloßes Werkzeug hergestellt wird, sondern darin, dass Heidegger es mit einer von der Praxis abgeleiteten Zweckmäßigkeit verbindet, was auch seine griechische Wurzel „Pragmata“ begründet, also „das, womit man es im besorgenden Umgang (πράξις) zu tun hat“. Zweckmäßigkeit besagt die Sättigung/ Bestimmung des Zeuges durch seine Verwendbarkeit, denn ein Hammer wurde nicht zum Schreiben, sondern zum Hämmern gemacht. Das alles kommt in Heideggers Definition von Zuhandenheit zum Ausdruck: Sie „ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist“. Diese Bestimmung des zuhandenen Zeuges, macht es für mich handlich, immer da, immer verfügbar. Auch die vorhandenen Dinge, die in meiner alltäglichen Umwelt auftauchen, bleiben für mich als selbstverständliche Größen immer die gleichen, als „Bäume“, „Blume“, „Wasser“ usw., ohne dass sie irgendwann in der Zukunft aufhören, das zu sein, was sie in der Vergangenheit waren.

Womit wird dann diese Kluft zwischen dem Dasein und seiner Umwelt überbrückt? Wie gelingt ihm das Seinsverständnis? In einer Passage schreibt Heidegger:

Mit der Zugänglichkeit von innerweltlichem Zuhandenen für das umsichtige Besorgen ist je schon Welt vorerschlossen. Sie ist demnach etwas, 'worin' das Dasein als Seiendes je schon war, worauf es in jedem irgendwie ausdrücklichen Hinkommen immer nur zurückkommen kann.“Footnote 14

Während Heidegger antworten würde, dies sei so, weil Dasein immer schon in der Welt sei und ihm die Welt schon eröffnet ist oder, wie er es an anderer Stelle gesagt hat, weil „Welt“ als Seiende für Dasein „in allem Zuhandenen immer schon da ist“Footnote 15, ihm immer schon vorhanden ist, würde Richir darin die Macht der symbolischen Stiftung (l’institution symbolique) – besonders durch die Sprache – sehen. Denn sobald wir geboren sind, sind wir schon in die Welt geworfen und mit der Bedeutung der Dinge konfrontiert, wobei eine bereits existierende Korrelation zwischen den Objekten, die wir wahrnehmen müssen, und ihrer semantischen Verweisung unser Schicksal ist. So lässt sich die Frage stellen, ob wir mit solch einer symbolischen Stiftung nicht dann zur unendlichen Rückkehr der gleichen Dinge, also zur ewigen Bestimmtheit der Dinge verurteilt sind. Diese Frage werden wir im Lauf des Kapitels beantworten.

3.3 Die Unbestimmtheit der Wahrnehmungserscheinungen

Die Idee, dass Dinge in der Welt über ein festes Schema verfügen, erscheint in Husserls Beschäftigung mit den Abläufen der äußeren Wahrnehmung dann in Frage gestellt, wenn man bedenkt, dass die Zeitanalyse dem Gegenstand einen leeren Horizont verleiht. Bevor wir aber diese Gedanken erörtern, ist noch die Frage thematisch abzuklären, wie die „objektiven Gegenstände“ mit den „immanenten Gegenständen“ zusammenhängen.Footnote 16 Das Phänomen des BewusstseinsFootnote 17 schlägt diese Brücke, weil sowohl die Gegenstände als auch ihre zeitlichen Bestimmungen in ihm als immanente Zeitobjekte erscheinen. Anderswo spricht Husserl von einem Bewusstseinsstrom, in dem sich die zeitlichen Bestimmungen eines objektiven Gegenstandes konstituieren, obwohl dieser Gegenstand selber nicht zeitlich ist, weil er keine Abfolge ist. Es ist nichts zeitlich „Objektives“, sondern die absolute Subjektivität, welche die Konstitutionsleistungen durchführt. So schreibt Becker:

In diesem Sinne sieht Husserl die lebendige Gegenwart in ein ‚absolutes Bewusstsein‘ eingebettet. Sämtliche Konstitutionsleistungen haben hier ihren Untergrund. Nicht nur jedwede gegenständliche Einheit ist eine Objektivation durch dieses objektivierende Bewusstsein, auch die Zeit, insofern in ihr eine Orientierung nach Zeitstellen möglich ist, zeitigt sich erst in ihm. Die lebendig-strömende Gegenwart erweist sich gegenüber der immanenten gezeitigten Zeit als absolute zeitigende Zeit.Footnote 18

Später entwickelt Husserl seinen Begriff von einem absoluten Bewusstsein als Urprozess. Dieser Urprozess befindet sich vor jeder Auffassung und setzt das Erfassen selbst voraus – ohne es selbst zu leisten – im Sinne einer potentiellen Intentionalität. Erst durch die Zuwendung einer Aufmerksamkeit des „Ichs“ werden die Gegenstände und ebenso die Zeit konstituiert, sodass man das schlafende Bewusstsein von der Aufmerksamkeit trennen kann. Vor der Konstitution der Zeitlichkeit eines Ereignisses gibt es allein die Leistungsbereitschaft eines Ichs, sich dem Gegenstand zuzuwenden. In diesem Sinne trägt das absolute Bewusstsein die Verantwortung, einen gegenständlichen Gehalt zeitlich zu ermöglichen, indem es zulässt, dass dieser in ihm erfasst und konstituiert wird. Somit sieht Husserl ein Bewusstsein für die Konstitution des Gegenstands als notwenidg an, was aber bei Heidegger nicht der Fall ist. Was bedeutet dieser Annahme der Notwendigkeit eines konstituierenden Bewusstseins für die Wahrnehmungsobjekte? Husserls Analyse nimmt die Leistung des Bewusstseins in den Abläufen der Konstitution der äußeren Wahrnehmungsobjekte in den Blick: Die Abschattungen und deren Unbestimmtheit ist eine unvermeidliche Konsequenz der Annahme eines die Objekte konstituierenden Bewusstseins.

Husserls Analyse der Abläufe der äußeren Wahrnehmungsobjekte erscheint im allerersten Teil seiner „Analyse zur passiven Synthesis“ und beginnt mit der Erörterung des widersprüchlichen Wesens der äußeren Wahrnehmung: Dieses liege darin, dass „gegenüber den faktischen, begrenzten Erscheinungsabläufen doch beständig ein Bewußtsein von darüber hinausreichenden, von immer neuen Erscheinungsmöglichkeiten besteht“.Footnote 19Die erste Dimension der gerade erwähnten Gegenseite lässt eine Erschöpfung und Begrenzung des Raumgegenstands erblicken, dessen Wahrnehmung nie in „der Allseitigkeit“, sondern im Blick auf einzelne „Seiten“ erfolgt. Husserl nennt dies „die perspektivische Abschattung“,Footnote 20 die aber ein Wahrgenommenes gar nicht erschöpfen kann. Deshalb ergeben sich in der zweiten Dimension „unendliche Mannigfaltigkeiten möglicher Erscheinungen“,Footnote 21 die sich „in der Scheidung zwischen Wahrgenommenem und Nichtwahrgenommenem als Titel für vielerlei Seiten, vielerlei Komplexe möglicher Sichtigkeit“Footnote 22 verstehen.

Damit ist die Frage „Was ist das Ding da?“ komplexer geworden. Ist es das, was ich jetzt von diesseits wahrnehme, oder das, was ich von einer anderen Seite wahrnehme, wenn ich dieser näher rücke? Oder ist es die ganze Komplexität des wahrgenommenen Dings, die alle möglichen Seiten einschließt, aber als Ganzes nicht auf einen Schlag wahrnehmbar ist? Denn nach Husserl verfügt dieses Ding bzw. sein Sinn über ein „Mehr“, das über das Gesehene hinausgeht und im Bewusstseinsstrom „mitgegenwärtig“ ist, wenn es anschaulich inszeniert wird. Es ist dieses Spannungsverhältnis zwischen einem „original[en] Bewußthaben (…) von Seiten und eine[m] Mitbewußthaben (…) von anderen Seiten, die eben nicht original da sind“,Footnote 23 welches das Wahrnehmen des Dings überhaupt möglich macht. Die letzteren sind die Leerstellen, die zusammen mit der effektiven Darstellung in einer Art Kontinuität das Wahrnehmen ausmacht. Diese Leerstelle verkündet die Offenheit des originalen Bewussthabens.

So entsteht eine mannigfaltige Kontinuität möglicher Wahrnehmungserscheinungen, auf die die „Sichtigkeit“ von diesseits verweist. Wenn die Rede von möglichen Wahrnehmungserscheinungen ist, dann ist mit den oben genannten Leerstellen keine Nichtigkeit, sondern eine Leerstelle der Intentionalität, also eine „bestimmbare Unbestimmtheit“ gemeint. Die Dimension des „Bestimmbaren“ ist das, was künftig gefüllt werden kann und die einer Vorzeichnung der jetzigen Wahrnehmung ist „Unbestimmtheit.“ Diese Abläufe wiederholen sich in jeder Wahrnehmungsphase, sodass neuere Leerhorizonte möglicher Erscheinungen auftreten und wiederum in Erscheinungen übergehen. Wenn Husserl aber von der mannigfaltigen Kontinuität möglicher Erscheinungen spricht, so lässt sich fragen, ob hier die Kontinuität mit einer linearen oder eher mit einer zirkulären (kreisförmigen) Unendlichkeit zu tun hat? In anderen Worten: Lässt sich die mannigfaltige Kontinuität möglicher Erscheinungen als unendlich wie in einem linearen Kontinuum oder als unendlich endlich wie bei einem Kreis erklären? Oder bildet sich das Kontinuum als eine zirkuläre Einheit, die gleichzeitig frühere Erscheinungen in sich aufnimmt und kumulativ zusammenschließt?

Husserl selbst beschreibt die äußere Wahrnehmung in Bezug auf eine Einheit:

In der letzten Vorlesung lernten wir die Einheit jeder äußeren Wahrnehmung nach verschiedenen Richtungen verstehen. Die äußere Wahrnehmung ist ein zeitlicher Erlebnisabfluß, in dem Erscheinungen in Erscheinungen einstimmig ineinander übergehen, in die Deckungseinheit, der Einheit eines Sinnes entspricht.Footnote 24

Als ein zeitlicher Erlebnisabfluss besteht die äußere Wahrnehmung aus einem ineinander übergehenden Fluss von Fülle und Leere, wo jede fortschreitende Erfüllung von Intentionen gleichzeitig einer Entleerung entspricht, sodass jede Fülle von Leere umflochten ist, oder in anderen Worten eine wechselseitige Bewohnung der Protention und der Retention, die gerade in der zeitlichen Struktur der Wahrnehmung eine Einheit bilden. Und so sind die Begriffspaare von „partiell vollen und partiell leeren Intentionen“Footnote 25 zu begreifen, die jedes Erscheinungserlebnis durchdringen.

Nur eine Vorerwartung kann bestimmt werden, die protentionell nach Erfüllung strebt, welche mit anderen Worten eine Art von Besonderung der UnbestimmtheitFootnote 26 ist. In diesem Sinne bewegt sich die ganze Dynamik auf weitere Besonderung zu, der Husserl einen Charakter der näheren Kenntnisnahme zuschreibt. Dabei ist im Prozess der Kenntnisnahme eine Habitualität mitgedacht. Diese Leistung verdankt sich der Retention. Diese Bemerkungen und besonders die Verweisung auf die Retention schließen jede Art von linearer Kontinuität aus, denn die kontinuierlichen Erfüllungen und die nähere Kenntnisnahme bedeuten zugleich kontinuierliche Entleerungen, deren Inhalt aber für sie nicht verloren geht. Husserl schreibt:

Aber was unsichtig geworden ist, ist für unsere Kenntnis nicht verloren. Worauf das thematisch sich vollziehende Wahrnehmen hinauswill, ist ja nicht bloß, von Moment zu Moment immer Neues vom Gegenstand anschaulich zu haben, als ob das Alte dem Griff des Interesses entgleiten dürfte, sondern im Durchlaufen eine Einheit originärer Kenntnisnahme zu schaffen, durch die der Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalt zur ursprünglichen Erwerbung und durch sie zur bleibenden Kenntniserwerbung würde.Footnote 27

Das Augenmerk liegt darauf, dass die Retention für jede Kenntniserwerbung des gegenüberstehenden Gegenstands immer mitspielt und nicht abwesend ist, solange Kenntnis schon erworben wurde. Sonst hätte man nur ein kontinuierliches Auftreten neuer Impressionen, in welchem Falle alles in der Wahrnehmung als völlig neu und jedes Mal zum ersten Mal erlebt würde. Dies wäre der Fall einer linearen Kontinuität, in der der Kenntnisbesitz nie permanent wäre. Damit dieser Kenntnisbesitz erhalten bleiben kann, muss eine einheitliche Kontinuität der originären Kenntnisnahme erreicht werden. Sonst würde der Gegenstand aufhören, er selbst zu sein. Er wäre ja dann unfassbar, nicht mehr er selbst. Dieses zumindest einmal schon Bekannte, das aber nun als leere Retention in die Leerintention zurückgetreten ist, kann aber jederzeit durch eine Wiederwahrnehmung, durch eine Wiedererinnerung in der Vergegenwärtigung zu einem Wiedererkennen gelangen. Noch einmal entfaltet sich der Zeitablauf deswegen kumulativ, da nichts verloren geht – weder die leere Retention noch die leere Protention. Das einmal schon Bekannte macht sich wieder sichtbar. Husserl fasst dies mit dem Begriff „freie Verfügbarkeit“ zusammen. Sie bezeichnet den Grundcharakter der transzendentalen Wahrnehmung, durch die allein eine immer für uns zur Verfügung seiende Welt jedes Mal vorgegeben ist. In diesem Zusammenhang bedeutet das Wahrnehmen von Dingen, Dinge für wahr zu nehmen, weil man sie bestimmt wiedererkennt: „All das kenne ich schon.“Footnote 28 Deswegen steckt in jedem Wiedererkennen eine Bestimmung. Kann „immer wieder zu dem gleichen Gegenstand zurückzukehren“ etwas anderes heißen, als sie tautologisch zu verstehen, ein Verständnis, wie es in der Metaphysik verankert ist? Ist dieses System der Wahrnehmung von Gegenständen nicht deswegen geschlossen?

Wie wir sehen, liegt in dieser Dynamik die Zirkularität Husserls, von der Richirs Verständnis abgerückt ist. Dadurch lässt sich in der Wahrnehmung also eine Zirkularität zumindest implizit beobachten – und dies nicht nur, weil sie ein Wiedererkennen einschließt, sondern auch, weil sie ständig eine einheitliche Bewegung von Leerhorizonten zu partiell erfüllten Horizonten und wieder in den ewigen Erscheinungsweisen einen Übergang von dem partiell Erfüllten zu einer Entleerung und Erfüllung impliziert, und all das in einem Jetzt. Die Zirkularität, die Husserls Wahrnehmungssystem ausmacht, hat die Intentionalität als Grundcharakter. Laut Husserl ist dieses System der Wahrnehmung „von intentionalen Innen- und Außenhorizonten“Footnote 29 durchdrungen. So enthält eine Intentionalität für den Erwerb weiterer Kenntnisse eine Gefahr: Sobald ich ein neues Ding für wahr nehme, so wird es „mit gleichen unsichtigen Eigenschaften wie das alte“Footnote 30 apperzipiert. Ist Husserls Wahrnehmungssystem nicht deswegen geschlossen? Und kann die Phänomenologie kompatibel mit solch einer Zirkularbewegung sein?

Wegen der kontinuierlich ineinander übergehenden Abschattungserscheinungen, die von Verarmung und Bereicherung gekennzeichnet sind, kann man davon ausgehen, dass das Wahrnehmungssystem dem Gegenstand gleichzeitig einen Charakter „der Selbigkeit“ und der „Andersheit“ zuschreibt. Der Gegenstand ist zugleich das Alte, das ich schon kannte, aber trotzdem erscheint er jedes Mal in der Wahrnehmung anders, also neu. Deshalb kann man dem Gegenstand den Charakter der Geschlossenheit zuschreiben. Er ist zwar endlich, aber zugleich unendlich in seinen Wahrnehmungserscheinungen (Abschattungen): ein Paradox. Schnells Auslegung betont diesen WiderspruchFootnote 31 in der perzeptiven Apperzeption. Diesbezüglich schreibt Husserl: „In diesen überaus komplizierten und wundersamen Systemen der Intention und Erfüllung, die die Erscheinungen machen, konstituiert sich der immer neu, immer anders erscheinende Gegenstand als derselbe. Aber er ist nie fertig, nie fest abgeschlossen.“Footnote 32 So gesehen ist es das phänomenologische Verdienst Husserls, dass der Actus der Stiftung der Urimpression immer über „ein Licht der Unbestimmtheit“ („un halo d’indétermination“Footnote 33) verfügt, wobei Richir selbst diese Unbestimmtheit anderswo verortet, wie wir bald sehen werden.

3.4 Die Infragestellung der Gegenwart und die kumulative kontinuierliche Funktion der Temporalität

Die Urimpression bei einem Wahrnehmungsablauf geschieht in einem Jetzt, wo die leere Retention und die leere Protention (also die Leerintentionen) in der Struktur der Temporalisierung der Wahrnehmung wohnen. Damit ist die Einheit des intentionalen Sinns bei Husserl begründet worden. Genau diese Konstellation der Privilegierung des Jetzt als Gegenwart stellt Richir in Frage. Aufgrund der architektonischen Transposition zieht Alexander Schnell in seinem Buch Le sens se faisant: Marc Richir et la réfondation de la phénoménologie transcendental das sehr konsequente Fazit, "[…] dass die einheitliche Struktur der Temporalisierung im Fluss der lebendigen Gegenwart mit ihren Retentionen und Protentionen keine universelle Struktur ist.“Footnote 34 Dieser Satz – also die Relativierung der Husserl’schen Zeitstruktur – ist von großer Bedeutung, denn er erlaubt uns, aus der Relativierung der Husserl’schen Temporalisierung für die Wahrnehmung weitere Konsequenzen in Richirs Phänomenologie zu ziehen.

Für Richir geschieht eine Verformung des PhänomensFootnote 35 mittels einer architektonischen Transposition in dieser Struktur der Temporalisierung in einer Gegenwart (Jetzt). Zu diesem Begriff der architektonischen Transposition werden wir später genauer kommen. Im Moment genügt die Bemerkung, dass aus einer anderen Struktur der Temporalisierung, welcher Richir eine vorhandene Gegenwart („Temporalisation en présence sans présent assignable“)Footnote 36 abspricht, die in der Phantasia wurzelt und die Richir von der leeren Intention ableitet, die verformte Struktur der Stiftung der perzeptiven Apperzeption entstehen kann. Denn: Sobald die „Idee“ (wie bei einem Einfall) von sich selbst gesättigt wird, sobald alles über sie gesagt ist, was aber eine Illusion ist, verschwindet die von Richir eingeführte Art von Temporalisierung ohne Gegenwart.Footnote 37 Sonst lebt sie von dem Abstand (écart), in dem sich sowohl Anforderung als auch Versprechung verflechten, sodass die anonyme „Idee“ (keine Identität und keine Intentionalität), deren Entstehung darin angefangen hat, nie zur Erfüllung kommt.

Nun müssen wir uns dem Begriff der Leerintention nähern. Wie schon erwähnt, erkennt Richir in der ständigen Passage der retentionell gegenwärtigen Leere in anderen leeren Retentionen die Spuren der Phantasia. Zur Frage, was eine Leerintention sei, gibt Richir eine Antwort: „[…]wir wissen, dass diese Intention dennoch etwas anvisiert, nämlich den intentionalen Sinn, und dass sie lediglich von Intuition leer ist.“Footnote 38 Anders gesagt: Die Leerintention ist immer auf der Suche nach Sinn, der aber gar nicht zustande kommt, denn sie kann nichts intuitiv erahnen. Die Flucht der Intention in eine leere Retention und die leere Offenheit für das Hinzukommende, was es auch sein mag, sind Leerintentionen, die aber nie zur Reife kommen, weil sie „schlafen“. Darum eignen sich die Bezeichnungen „Enthauptete Intention“ (l’intention décapitée) oder „Inhaltlose Intention“ zur Beschreibung der Leerintention.

Die Infragestellung und damit einhergehende Ablehnung der Gegenwart, deren Stiftung allein bei Husserl den Zeitablauf des intentionalen Bewusstseins denkbar macht, geht Hand in Hand mit einem anderen Einwand: Die Husserl’sche Analyse der äußeren Wahrnehmung sei von einer symbolischen ZirkularitätFootnote 39 belastet, denn das selbe „Jetzt“ sei „auf der Flucht bei kontinuierlichem Wiederauftauchen“Footnote 40 („en fuite dans un ressurgissement permanent“) als wäre da eine Übereinstimmung. Richirs entscheidender Ansatz besteht darin, in der kumulativen Husserl’schen Kontinuität stattdessen eine Destabilisierung zu sehen, die er nun mit dem Begriff der „Leere“ (lacuna, vide) erfasst:

Dies führt uns wieder zu der Interpretation unserer eigenen Situation: Es ist so, dass sich die entsprechende Übereinstimmung der zwei Ströme nicht dauerhaft […] erhalten kann, zumindest nicht beim perzeptiven Ablauf (wir werden später sehen, dass sie sich generell nicht erhalten kann), sondern sie wird dazu geführt, sich sehr schnell zu verstimmen und damit eine Lücke, d. h. eine Leere in der Kontinuität zu bilden.Footnote 41

Solch eine ewige Kontinuität war für die Aufrechterhaltung der Metaphysik relevant, weil sie sicherstellt, dass das Wahrnehmungsobjekt als Zeitobjekt an jedem Punkt eines Zeitablaufs (egal, ob in der Retention, Gegenwart oder Protention) immer das Gleiche bleibt. Dagegen relativiert Richir diesen Zeitpunkt, der als eine Gegenwart zu verstehen ist, welche erst existiert, wenn sie nicht existiert (unecht). Wegen der herrschenden Destabilisierung ist aber kein Zeitpunkt greifbar und im Zeitablauf verortbar.

Und noch ein letzter Punkt wäre an dieser Stelle wichtig, nicht nur weil er Richirs Ansatz gegen Husserl zusammenfasst und mit den oben erwähnten Ansätzen zusammenhängt, sondern auch, weil er klärt, ob die Kontinuität des Zeitablaufs kumulativ zu denken ist, wie es sich aus der Husserl’schen Analyse ergibt. Richir schreibt:

[…][W]ir sind nicht gezwungen, von einer allgemein kumulativen Funktion der Zeit und der an die

Unsterblichkeit aller ‚Monaden‘ grenzenden ‚metaphysischen Auffassung‘ auszugehen, auf deren Boden sich die lebendige Gegenwart verzeitlicht [….] Es ist fortan nicht mehr nötig, von einer transzendentalen Kontinuität der ursprünglichen Temporalität auszugehen, wo diese sich bewahren würde.Footnote 42

Wenn Richir der Temporalität eine kumulative und kontinuierliche Funktion abspricht, dann um ein vorheriges Gegebensein des Phänomens (la donation préalable du phénomène) zu vermeiden, welches es für immer verformend überbestimmen könnte.Footnote 43 Ein im Voraus gegebenes Phänomen wäre also kein Phänomen, sondern ein Seiendes, das uns aber nicht zugänglich wäre. Also sei auch ein Seiendes nicht möglich, das im Voraus gegeben ist.

3.4.1 Die Sättigung der Intention und die Tötung des Phänomens in der symbolischen Stiftung des Gleichen

Um besser zu verstehen, wie die verformende Überbestimmung erfolgen könnte, wenden wir uns nun der Frage zu, wie sich diese inhaltlose Intention von der gesättigten Intention der Wahrnehmungserscheinung unterscheidet. Ist die Stiftung ohne eine gesättigte Intention möglich? Denn wo in der Wahrnehmung Sinn symbolisch durch die Stiftung gesättigt zu sein scheint, kann in der von Richir entwickeltenFootnote 44 Phantasia nicht der sich suchende Sinn (dies gilt auch für Sprachphänomen) sein, weil dieser, wie gesagt, ohne Inhalt ist, (erst recht kann er nicht von selbst gestiftet werden). Die Stiftung der Wahrnehmung suspendiert und überwältigt den sich suchenden Sinn. Die Bewegung von einem inhaltlosen, nichtintentionalen zu einem gestifteten, intentionalen Sinn – gestiftet, weil Sinn oder Inhalt nicht von innen sondern von außenFootnote 45 auferlegt werden – entspricht gerade Richirs architektonischer Transposition, zu der wir kommen wollten. Es ist noch zu fragen, was dieses außen bedeuten könnte. Wir verlassen dabei den Bereich der Temporalisierung ohne Gegenwart, wo sich Retention und Protention ineinander verflechten und deren Intentionen nichts anderes als ein „Projekt“ des zu erzeugenden Sinns, Wesen de langage, sind und auf keinen Fall Objekte anvisieren. Während der Sinnerforschung bei einem sprachlichen Ausdruck könnte eine sprachliche Kodierung und Wiederkodierung (recodage) des Projekts stattfinden, sodass eine Wiedererkennung durch „Apperzeption der Sprache“ (apperception de langue) ermöglicht wird. Indem eine perzeptive Apperzeption (Bild) von dieser Apperzeption der Sprache abhängt, impliziert die Erstere das Ende der Diskursivität:

Die perzeptive Apperzeption in ihrer (symbolischen) Stiftung setzt in der Tat einen Stillstand aller Diskursivität, eine Isolierung mindestens durch die Bezeichnung und noch tiefer aus phänomenologischer Sicht einen Stillstand oder eine Unterbrechung (épochè) der temporalisierenden Fluidität des sich bildenden Sinns voraus. Das heißt, kann man sagen, einen phänomenologischen Schwebezustand.Footnote 46

So scheinen die zwei Stiftungen, einmal die der perzeptiven Apperzeption und noch einmal die der Apperzeption der Sprache, Sinn einzuschränken oder, noch besser ausgedrückt, den lebendig-dynamischen Sinn zu töten. Mit dem Tod des sich suchenden Sinns würde sich das Objekt bei Richirs Auslegung von Husserl durch die Stiftung der Wahrnehmung nicht als unbestimmt wie bisher, sondern im scharfen Gegensatz zu Husserl als bestimmt erweisen, denn die Wahrnehmungsobjekte wären mit Sinn gesättigt, was aber für die Wahrnehmungserscheinungen (Abschattungen) nicht gelten würde. Das ist alles äußerst paradox, denn für Husserl ist die Gegenwart inhaltlich nicht zu sättigen. Der einzige Weg wäre die Sättigung in der „ersten“ Stiftung durch die Sprache zu lokalisieren, welche die „zweite“ Stiftung durch die perzeptive Apperzeption bestätigt. Es sind diese Stiftungen, die das Phänomen vorab überbestimmen.

Wir sind damit an dem Punkt, wo die doppelten Stiftungen und ihr Eins-zu-eins-Verhältnis zueinander ihre Macht über die beherrschten Objekte zeigen: Sie stellen sicher, dass die Wahrnehmungsobjekte in Stabilität und Dauerhaftigkeit verharren:

Wenn wir all dies zusammenfassen, so ergibt sich, dass die symbolische Stiftung der perzeptiven Apperzeption nichts anderes als die Stiftung der Beständigkeit des Vorhandenseins der Weltobjekte (‘interne’ und ‘externe’) über den Zeitablauf oder – allgemeiner – die Wechselfälle der Zeit hinweg ist…. Es ergibt sich (wie wir gesehen haben) auch, dass diese Beständigkeit, wo innerhalb der Einheit des intentional gestifteten Sinns in der zeitlichen Zelle der lebendigen Gegenwart ständig Erscheinung in Erscheinung übergeht, uns stumm macht und stumm ist, weil dabei die Temporalisierung des sich bildenden Sinns auf eine architektonische Weise in eine Temporalisierung des Gleichen umgesetzt wird (die entsprechende Gegenwart des intentionalen Sinns, die nur auf ihre Stabilisierung abzielt).Footnote 47

Kurz gesagt, ihr intentionaler Inhalt ist immer eine MêmetéFootnote 48 (Selbigkeit) im Gegensatz zu der Ipséité(Selbstheit), die Richir z. B. dem sich bildenden Sinn zuschreibt. Die Selbstheit bewegt sich jedes Mal nicht als das Gleiche und verliert sich auch in seinen vielseitigen und sich immer wandelnden Entfaltungen nicht selbst. Das Wesen des Selbst ist zwar da, dieses Selbst ist aber nicht immer auf sich fixiert, indem es alle Andersheiten seiner sich immer wandelnden Seiten verweigert. Die Selbigkeit handelt von der Täuschung des Wahrnehmungsobjekts, wobei die Stiftungen durch die Auferlegung des Selbst, also von außen, den „irreführenden Eindruck“ machen, „dass in jedem Phänomen ein und dasselbeFootnote 49 Kernphänomen das eigentliche Phänomen bilde.“Footnote 50 Diese soeben erwähnte Täuschung nennt Richir „ontologisches SimulacrumFootnote 51 – Trugbild.

Mit dem hartnäckigen Beharren darauf, dass das Phänomen, welches sich in dem sich bildenden Sinn zeigt, keine Mêmeté,Footnote 52 sondern eine Ipséité sei, stellt sich Richir entgegen. Mit diesen Ausführungen sollte aufgrund der „kohärenten Verformung“ des Sinns durch die Stiftungen, also von außen, klar sein, worum es bei Richir geht. Zugleich kann die oben gestellte Frage, was dieses außen bedeuten könnte, jetzt endlich zufriedenstellend beantwortet werden: Es ist eine willkürliche Auferlegung Desselben wie Gott, der mit sich selbst übereinstimmt, also Metaphysik (symbolische Stiftung). Damit verstehen wir, warum Sein stumm ist. Es spricht nicht mit uns, weil es nichts bezeichnen kann, genauso wie man es nicht erklären kann. Denn es stimmt mit sich selbst überein und ist deswegen geschlossen. Deshalb schreibt Richir – und damit wollen wir diesen Absatz beenden:

Sein kann niemals bezeichnet werden. Doch Heidegger ‚nutzt‘ das Wort ‚sein‘: Hier liegt der Ursprung der Täuschung. Man versteht keine Zeile von Heidegger, wenn man glaubt, dass sich dieser Begriff auf etwas bezieht.Footnote 53

Der Grund, auf den dieser Vorwurf fußt, zeigt sich in dem Unterschied zwischen Objektivität und Sinnbildung. Richir verteidigt die Letztere. Seine ganze Karriere widmete sich dem Kampf gegen jegliche Positivität und Objektivität, die nichts anderes, als eine Täuschung mit sich bringt.

3.4.2 Begründung der Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte in der Leiblichkeit des Blicks

In den vorangegangen Absätzen lassen sich grob zwei Dimensionen unterscheiden: Die Dimension der Sinnbildung, die sich jeder Fixierung des Phänomens entzieht, und die Dimension der symbolischen Stiftung, die das Wahrnehmungsobjekt als immer das Gleiche vorab überbestimmt. Während Husserl, wie auch Heidegger, einem symbolisch gestifteten Objektbegriff anhängen – nicht weil etwa Husserl jede Unbestimmtheit des Objekts ablehnt,Footnote 54 sondern weil sogar sein Bestreben, die sogenannte Unbestimmtheit des Wahrnehmungsobjekts in der Abschattung anzusiedeln, für Richir nicht radikal genug und deswegen unbefriedigend ist – gehört zu Richirs Neugründung der Phänomenologie deshalb die Entdeckung einer anderen Schicht für das Objekt. Sie stellt „das Vorab-Nichtgegebensein des Phänomens“Footnote 55 (la non-donation préalable du Phénomène) sicher und begründet die Abschattung selbst. Diese Schicht ist in der Phantasia verwurzelt. Dazu zitieren wir Richir in diesem Zusammenhang ausführlich:

Im Gegenzug weist das darauf hin, dass jeder erweckte und von dem Sehen bewohnte Blick, wenn er auf die Invarianz der Sachen fällt – die damit die perzeptive Invarianz der Welt im geläufigen Sinne ist – von einer a priori unendlichen potentiellen Pluralität anderer Blicke der gleichen Art bewohnt ist. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so wäre die sinnliche Perzeption mithilfe der Abschattungen nicht erfolgt, sie wäre solipsistisch und würde nur das wahrnehmen, was Husserl als Phantom bezeichnete. d. h. sie wäre – auch doxisch – nicht von der Imagination zu unterscheiden, von der wir wissen, dass sie etwas auch nicht durch die Abschattung, sondern durch das Bildobjekt darstellt.Footnote 56

Es ist bekannt, dass Richirs Fragments Phénoménologiques sur le Temps et l’Espace auf die phänomenologische Konstitution der Zeit und des Raumes abzielen. Das heißt, dass das Buch eine Antwort auf die Frage zu liefern versucht, wie die Zeit und der Raum phänomenologisch konstituiert sind. Letzterer entsteht durch die Transposition vom Raum der Phantasieleiblichkeit zum Leibkörper der Welt als Raum. Den Phantasieraum – für den die Leiblichkeit (χώρα) zugleich die Phantasieleiblichkeit impliziert, da die platonische χώρα der Raum der Phantasia ist – setzt Richir mit dem erweckten Blick (regard) gleich, also mit dem Raum, wo der Blick der Mutter sich mit dem Blick des Säuglings kreuzt und ihm einen Leib schenkt. Für die Intersubjektivität bedeutet dies ein Verstehen oder einen Zugang zum anderen durch die erweckte Phantasia (den Blick) von innen, was deswegen voraussetzt, dass jeder Blick von einer Pluralität anderer Blicke bewohnt wird. Aber für die Wahrnehmung muss diese Phantasia durch die Bewohnung des Sehens (voir) nach außen umgesetzt werden. Auch hier muss der erweckte Blick von einer unendlichen potentiellen Pluralität anderer Blicke bewohnt werden. Dieser Satz ist sehr zentral. Bevor wir ihn kommentieren, wollen wir noch einmal betonen, dass die Wahrnehmung ohne die Phantasia nicht möglich ist, denn es gibt keine reine Wahrnehmung, wie Richir zum Ausdruck bringt:

Die „rohe“ Wahrnehmung ist in Wirklichkeit eine phänomenologische Abstraktion, und man könnte sagen, die leibhafte (sic) Anwesenheit da, „in Fleisch“ des wahrgenommenen Dings ist selbst eine Spur der architektonischen Umsetzung, die die „perzeptive“ Phantasia durchläuft, indem man zuerst zum Status „Urempfindungen“ und dann zum Status sensibler Wahrnehmungsdaten der absichtlichen Objekterfassung übergehtFootnote 57.

So verstanden ist die Wahrnehmung eine Umsetzung der „perzeptiven“ Phantasii, sodass man sagen kann, ich erkenne diese sinnlichen Daten als dies und jenes an, weil mein Sehen (voir) mit Blicken (Phantasia) bewohnt wird. Zwar entsteht ein Blick aus einem Teil des Leibkörpers, den Augen. Aber der Blick ist nicht mit dem Auge zu verwechseln, denn der Blick selbst beseelt die Augen, damit die Letzteren sehen können. Von da aus kann auch im Bezug der transzendentalen Interfaktizität der Blick des anderen (der Mutter) durch seine Leiblichkeit die Blicke des Säuglings bewohnen. Das Ergebnis ist ein Positives: erst dann kann der Säugling zur Wahrnehmung des mütterlichen Leibkörpers kommen. So sehen wir, dass die Leiblichkeit des Blickes nicht nur über alles Physisches hinausgeht,Footnote 58 sondern es voraussetzt. In Richirs Augen gibt dies Rechenschaft für die Tatsache, warum das Sehen oder die Wahrnehmung für fast alle Philosophen aus der Antike gar keine Aufnahme eines Reizes ist. Vielmehr ist die Wahrnehmung „als Ergebnis der Bildung eines ‚Bildes‘ (zum Beispiel einer Phantasia) zwischen dem Objekt und dem Auge – etwas, das uns heute seltsam erscheint.“Footnote 59

Von der gerade eben durchgeführten Analyse ausgehend sieht es so aus, als würden alle Wahrnehmungen die Phantasia benötigen, damit das Sehen überhaupt möglich ist. Diese Idee wirft die Frage auf, wie dann die Wahrnehmung von der Phantasia zu unterscheiden ist? Diesbezüglich stützen wir uns auf Schnells scharfsichtige Analyse dieser Problematik in Richirs Phänomenologie, wo er versucht, ihre unterschiedliche Temporalisierung zu schildern. Für Schnell geht diese Unterscheidung auf den in Hua XXIII befindlichen Vergleich ihrer unterschiedlichen Inhalte zurück. Während der Inhalt der Wahrnehmung sich als Empfindung (sensation) versteht, steht das Phantasma als ein Erlebnis für die Phantasia. Was nun die Zeitlichkeit (also die „Gegenwart“ oder „présent“) des Phantasmas angeht, so ist sie laut Schnell ursprünglich ohne Gegenwart, also außerhalb eines Jetztpunktes. Für ihn bedeutet dies weiterhin, dass die Phantasia „keinen sensiblen zuweisbaren ‚Vertreter‘“Footnote 60 hat („elle est depourvoue de ‚représentant‘ sensible assignable“). Wie steht es dann mit dem Feld der Wahrnehmung? Schnell schreibt diesbezüglich, dass dieses im Streit mit dem Feld der Phantasia ist. Daraus können wir deshalb die folgende Konsequenz ziehen: während die Wahrnehmung die Erscheinung der aktuellen Gegenwart darstellt, so stellt die Phantasia eine Nichtgegenwart dar. Deshalb ist das Erscheinende in der Phantasia also nicht in der Gegenwart. Wenn wir all das auf den Inhalt der Wahrnehmung und der Phantasia beziehen, so zeigt sich, dass die Wahrnehmung einen Augenblick der gegenwärtigen vorhandenen Empfindung beinhaltet, während bei der Phantasia dieser Augenblick nicht stattfinden kann. Er ist ausgeschaltet.Footnote 61 Deshalb schreibt Richir: „Die Erscheinung der Phantasia ist nicht gegenwärtig in sich selbst, hat keine Realität der Gegenwart.“Footnote 62 Die Gegenwart ist selbst nicht gegenwärtig. Sie hat jetzt keine Realität. Schnells Lesart von Richir schließt daraus:

Gerade die Zeitlichkeit der Phantasie bezeugt […], dass es in der „Fluidität“ der ursprünglichen Zeitlichkeit keine Fixierung einer Gegenwart gibt, sondern eine „Temporalisierung in Präsenz ohne zuweisbare Gegenwart“ (die alles andere, als eine reine und einfache Abwesenheit ist).Footnote 63

Gibt es also in der Fluidität der Zeitlichkeit für die Phantasia keine Fixierung einer Gegenwart, sondern nur eine Abwesenheit, so verstehen wir, warum sie auf das archaische Feld der Phänomenologie hinweist, wo die Objektivierung und die Intentionalität keinen Platz haben, aber ohne diese auch nicht denkbar wären. Nur durch eine architektonische Transposition gelingt es der Gegenwart, sich anhand des Modells der Apperzeption der Wahrnehmung in den imaginativen „Aktus“ umzusetzen, wo ein fiktives und imaginäres Bild (Bildobjekt) das Objekt (Bildsujet)Footnote 64 anvisiert.

Kommen wir nun auf die Bewohnung des erweckten Blickes von einer unendlichen potentiellen Pluralität anderer Blicke zurück, dann lässt sich das Folgende zeigen: Es ist die Ansiedlung a priori einer Mannigfaltigkeit anderer Phantasiai in der Phantasia, die zum Ausdruck bringt, dass schon in ihr eine Unendlichkeit von „Ich kann“Footnote 65 impliziert ist, „weil die Kinästhesien ebenso in der Phantasia sein könnten.“Footnote 66 Während bei Husserl die Pluralität von Objekterscheinungen mit der Pluralität von Leibbewegungen zusammenhängt, setzt die Abschattung selbst bei Richir eine Pluralität von phantasieleiblicher Kinästhesie voraus, die dem Wahrnehmungsobjekt eine Unbestimmtheit verleiht. So ist die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte schon in der Leiblichkeit der Phantasia vorausgesetzt.

Somit kann man sagen, dass das eigentlich Unbestimmte die Phantasieleiblichkeit ist. Jetzt sehen wir, dass wir hier einen neuen, von Husserl abweichenden, Ausgangspunkt für die Phänomenologie haben. Dieser neue Ausgangspunkt ist vorgängig und somit in gewisser Weise die Grundlage für andere Register, mit denen er koexistiert. Auch an dieser Stelle können wir Schnell zitieren:

Im Gegensatz zu Husserl sollte dieser Ausgangspunkt nicht mehr in den intentionalen Erlebnissen des Bewusstseins gesucht werden, d. h. in den objektivierenden Akten, für die die Wahrnehmung den Maßstab liefern würde, an die jeder Bezug zum Objekt gemessen werden würde, sondern in der „Phantasia“, d. h. in den Arten der Repräsentation, die für die „Phantasia (Phantasie)“ spezifisch sind, die präintentional sind und unter aller objektivierenden Wahrnehmungen liegen.Footnote 67

Was wir hier haben, ist ein neuer Ausgangspunkt für die Phänomenologie, der sich von der Tradition verabschiedet. Gemäß diesem Ausgangspunkt werden all die Traditionen außer Kraft gesetzt, die den Bezug zur Welt durch eine Metaphysik sichern. Heidegger hat ihn durch die permanente Beständigkeit des Dinges geschaffen. Descartes dagegen hat ihn durch Gott als Garant gesichertFootnote 68 (dritte Meditation). Die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte liegt nicht in der Analyse der Abschattungslehre, sondern in dem präintentionalen Register der Phantasia. Erlauben wir uns, hier ein Beispiel aus der Ästhetik zu geben. Es erklärt sich alles in der Betrachtung und der Herstellung eines Kunstwerks:

Im Anschluss an Hua XIII, wo Husserl im Blick auf die Betrachtung eines Kunstwerks meint, dass das Ich „nicht mit zum Bild gehörig“ konstituiert oder vorgefunden ist, auch wenn das „Ich“ da vor dem Gemälde stehend ist, sagt Husserl, dass dieses „Ich“, das zum Bildaspekt gehört, nicht anschaulich konstituiert ist. So fragt er: „Aber ist es nicht gefordert?“ Und sofort antwortet er mit der Folgerung, dass bei der Betrachtung des Kunstwerkes ein Phantasie-Ich also das „Ich“ und Leiblichkeit impliziert werden, was Richir leicht abwandeln wird:

Es ist eben ein pures Phantasie-Ich, mit einer unbestimmten Leiblichkeit, einer unbestimmten Persönlichkeit, bestimmt nur durch die Akte der Betrachtung, der Aufmerksamkeit, das Haben der Aspekte, das Erleben der vom Künstler mittels des Bildes erregten Stimmungen. Das Ich ist unbestimmt, wie ja auch Phantasieobjekte unbestimmt und nur nach gewissen Seiten bestimmt sind – so unbestimmt, dass man nach ihrem näheren Wie gar nicht fragen kann. So kann ich auch nicht fragen, was für einen Leib der Bild-Zuschauer hat etc.Footnote 69

Als Erstes sehen wir die von Husserl selbst bestätigte Schwierigkeit, nämlich zu begreifen, „was für einen Leib der Zuschauer eines Kunstwerkes hat.“ Ein zweites Problem betrifft seine Schwierigkeit, zu begreifen, was dabei mitwirkt und was nicht, denn er schwankt zwischen einer Mitbeteiligung des Ichs oder der Persönlichkeit, des Phantasieobjekts und des Leibes. Drittens dürfen wir nicht vergessen, dass Husserl laut Richir oft die Phantasie mit der Imagination verwechselt, sodass man nicht weiß, wann es für ihn das eine, wann das andere bedeutet und wann die Phantasie über ein ObjektFootnote 70 verfügt und wann nicht. Über diese Problematik hinaus greift Richir auf diese Passage zu und kommentiert sie reichlich. Seine These besteht darin, zu zeigen, dass es der unbestimmte Leib der Phantasia des Künstlers ist, welcher in dem Kunstwerk betrachtet wird. Richir macht zunächst den Hintergrund dieser Passage von Husserl klar: dass es ihm um die Unterscheidung zwischen dem „Ich“ der wirklich gegebenen Welt und dem Phantasie-Ich geht. In Bezug auf diese oben zitierte Passage macht Richir aus der Husserl’schen Phantasie eine Unbestimmtheit der Phantasia. Doch für ihn ist es die Unbestimmtheit des Leibes in der Phantasia, die hier im Vordergrund steht. Diese finden wir in erweckter Träumerei (rêverie éveillée) oder in der symbolisch gestifteten Phantasia eines Malers. Denn obwohl dieses Gemälde vor mir tatsächlich von dem Maler gemalt wurde, indem er sein Körperding (corp-chose, wie Richir sagt) benutzt hat, und obwohl dieses Gemälde auch von einem Beschauer durch die tatsächlichen Organe (die Augen z. B.) seines Körperdings (corps-chose) wahrgenommen wird, wurde das Gemälde trotzdem tatsächlich von dem unbestimmten Leib des Künstlers hergestellt, mit seinen Stimmungen, die den unbestimmten Leib durchdringen. Und das Gemälde wird in der Tat auch von dem unbestimmten Leib des Zuschauers apperzipiert.Footnote 71

In Bezug auf den ganzen Absatz aus Hua XIII, N. 10 denkt Richir also, dass es die unbestimmte Leiblichkeit des Künstlers ist, die in dem Gemälde für die Apperzeption des Zuschauers anschaulich dargestellt wird, und nicht wie bei Husserl das „Ich“ in Frage komme, wobei Husserl sich hierbei unschlüssig blieb, als ob er nicht verstehen könnte, was eigentlich gerade geschieht – ob da das „Ich“ oder die Person oder die Leiblichkeit tätig sind. Wenn es um Mitwirkung während der Betrachtung und des Erlebens eines Kunstwerks geht, so ist nach Richir all das also eher möglich anhand der Unbestimmtheit der Leiblichkeit. Es wird nicht durch eine anschauliche Darstellung des Gemäldes gegeben und vom Betrachter apperzipiert. Vielmehr wird die unbestimmte Leiblichkeit des Zuschauers bei der Apperzeption der anschaulichen Darstellung des Kunstwerkes mobilisiert.Footnote 72

Wäre das nicht der Fall, wie würden wir uns dann die unendliche Mannigfaltigkeit von Zugängen zu Kunstwerken erklären? Wäre das nicht der Fall, wie kommt es dann, dass Kunstwerke unendlich viele verschiedene Gemütsregungen und Handlungen in seinen Betrachtern hervorrufen? Einfach weil die Leiblichkeit der Phantasia grenzenlos unbestimmt ist, und die vielen Abschattungen eines Objekts erst dadurch möglich sind.

Wir werden uns nun Richirs Bearbeitung von Husserls Zur Phänomenologie der Intersubjektivität widmen. Unser Ziel besteht darin, über die hier bereits verfolgte These hinaus zu gehen: Nicht nur, dass die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte von der Phantasia und der Leiblichkeit herrührt, sondern auch, dass die Lebendigkeit einer symbolischen Institution durch die Zirkulation der Phantasia und der Leiblichkeit in Ihnen ermöglicht wird. Diese Bearbeitung dient als eine Antwort auf die Frage, die wir uns anhand der widersprüchlichen Kohabitation der Lücke und der Apperzeption in persona bei dem Wahrnehmungsobjekt gestellt haben: Wenn die Stiftung der Wahrnehmung das Objekt nicht nur in Persona (coram) sondern auch in einem apperzeptiven Abstand (Leere) darstellt, dann kann sich die Frage stellen, ob die symbolische Stiftung nicht von einer Lücke durchdrungen ist. Ist die symbolische Institution also auch nicht unbestimmt? Was garantiert dann ihre Unbestimmtheit? Wir bemühen uns im nächsten Abschnitt, Antwort auf diese Frage zu liefern. Aber davor wollen wir uns noch einmal klarmachen, was Richir unter symbolischer Institution oder Stiftung versteht.

3.5 Symbolische Institution

Worum handelt es sich also bei der symbolischen Institution in Richirs Phänomenologie? Bevor wir auf diese Frage eingehen, ist es notwendig einen wichtigen Unterschied aufzuzeigen. Dieser Unterschied zeigt sich bei Richirs Bevorzugung des Begriffs „symbolische Institution“ im Gegensatz zu „Kultur“. Anders ausgedrückt besteht eine Überschneidung zwischen beiden Registern: sie drücken das Gleiche aus, jedoch mit unterschiedliche Betonungen. Eine populäre Vorstellung der Kultur besteht darin, sie der Natur entgegenzusetzen. Aber diese Entgegensetzung stellt Richir in Frage, da es auch Kulturen gibt, – auch wenn wir diese als „primitiv“ bezeichnen würden – denen diese Opposition nicht geläufig ist. Pierre Clastres Chronique des Indiens Guayaki schildert eine Kultur, wo das Leben mit dem Tod zusammenwohnt und das Sichtbare mit dem Unsichtbaren koexistiert. Das heißt, dass die Natur in die Kultur integriert wird. In L’écart et le rien macht Richir auf die Idee aufmerksam, dass die Idee der Natur (also Physis) aus der Philosophie stammt. Die Physik sei das Fachgebiet, das sich einzig und allein der Aufgabe widmet, diese Natur zu studieren, was seinen Ursprung bei Aristoteles habe.

Um die oben gestellte Frage zu bearbeiten, müssen wir zunächst kurz die Idee der symbolischen Institution schildern. Um aber den Status der symbolischen Institution zu erläutern, fangen wir mit einem Zitat aus Hua XV an, da Husserl in diesem Zusammenhang Richirs Ausgangspunkt war:

[Die] Gliederung der Umwelt betrifft sowohl die blossen Dinge derselben als auch die animalische und die sonstige immer schon habituellen Bedeutsamkeitscharakter habende Umwelt. Die Umwelt hat immer schon ihre bleibende typische Gestalt, apperzeptiv aufgefasst.Footnote 73

Für Richir ist diese Gestalt das Ergebnis einer Stiftung, die wiederum durch mehrfache Stiftungen zur gegenwärtigen Form geworden ist. Das heißt, dass die Gestalt eine Genese oder Geschichte (l’histoire) hat, die eigentlich von Habitualitäten durchdrungen ist. Dies macht die symbolische Institution aus. Wenn die Umwelt also eine immer schon bleibende Gestalt hat, dann impliziert dies eine Geschichte, die man nur in der symbolischen Institution erforschen kann. Für das Individuum als eines erfahrungsmäßigen Subjekts setzt diese symbolische Geschichte eine durch das Lernen oder durch die Bildung erworbene symbolische GeschichteFootnote 74 voraus. Nicht nur eine symbolische Institution käme dabei in Frage, sondern viele. Deshalb spricht Richir von Stiftung im Plural. Husserl schreibt:

Die Gliederung hat nicht immer die gleiche genetische Ursprünglichkeit. Die Situationen wiederholen sich in Ähnlichkeit, der Habitualität der Interessen entspricht die nachher passiv apperzipierte Umwelt als eine Umwelt in Bedeutsamkeiten gegliedert.Footnote 75

Diese Stelle verweist auf die Korrelation zwischen der Habitualität der Apperzeption und der Habitualität der Bedeutsamkeiten. Die Apperzeption in der Umwelt trägt daher auf passive Weise eine Habitualität der Bedeutung in sich, die sich aber als praktisch erweist: „All dies ist im Wesentlichen praktisch und Teil des praktischen Alltags von Umwelt.“Footnote 76 Bei der Habitualität der Apperzeption verbirgt sich ein leerer Horizont, der auch zur symbolischen Institution gehört. Nicht nur der erweckte erfüllte (die Aktualisierung der Apperzeption z. B. durch das Verstehen), sondern auch ein leerer Horizont ist bei der symbolischen Institution gestiftet. Husserl schreibt:

„Apperzeption überhaupt“ ist eine Habitualität, die ihre erste Aktualisierung hat in einem erfahrenden Verstehen in einem Blick, also zwar Erfahren, aber mit einem leeren und doch besonderen Horizont. Das betrifft also nicht nur das „Bekannte“, das das Ding als Ding, das Ding als Ding des Typus Pferd etc. ausmacht, sondern auch das, wofür es in Betracht kommt, mir (und auch Anderen, die selbst nur leer mit intentional sind).Footnote 77

Die Aktualisierung der Apperzeption betrifft nicht nur eine erfüllte Dimension. Alles was bei der symbolischen Apperzeption durch das Subjekt mit hineinspielt, geschieht, auch wenn die Anderen, wie die Umwelt und das Bekannte, abwesend sind. Zwar sind sie nicht da, aber sie sind doch immer da, und werden durch eine leere Intention vertreten. Das zeigt für Richir, wie die Apperzeption intentional „einen leeren Horizont“ der Bedeutsamkeit impliziert, wobei diese Bedeutsamkeit als der Horizont „der sedimentierten, nicht erweckten Sinne“Footnote 78 zu verstehen ist. Diese Horizonte entsprechen einer schlummernden Sphäre der Habitualitäten, die noch nicht zum Akt (actus) gerufen sind. Deshalb sind sie als leere Horizonte da, aber doch nicht da. Das heißt auch nicht, dass diese nicht zur Aktualisierung der Apperzeption beitragen. Die Bedeutsamkeiten und Darstellung eines Symbolischen sind daher ohne sie undenkbar. Der Verweis auf den Akt bei der Aktualisierung der Apperzeption impliziert dabei auch für Richir das Mitwirken der Potenz. Das heißt, dass die Apperzeption sowohl auf eine explizite als auch auf eine implizite Sprache hinweistFootnote 79. Die erste wird umgesetzt, um das weiße Bücherregal vor mir zutreffend zu artikulieren, während die zweite durch ihre Potenz zur Artikulierung des Bücherregales beiträgt. Als Potenz sind die Habitualitäten „Vermöglichkeiten“ in Bezug auf ihre schon sedimentierten Bedeutsamkeiten.Footnote 80 Sie wirken mit dem actus bei der Aktualisierung der Apperzeptionen, auch wenn sie selbst noch in der Potenz sind.

Welche Schlussfolgerungen können wir nun aus dem Obigen ziehen? Für Richir ist die symbolische Institution keine geschlossene, sondern eine jedes Mal offene Welt. Man kann ihr nicht komplett „völlig uninteressante Hintergründe“ (Was für Richir eine endgültige Geschlossenheit bedeutet) unterstellen. Auch wenn sie eine kohärente Sicht der Welt zeigt, ist die symbolische Institution kein Ganzes („un tout“), das geschlossen wäre,Footnote 81 noch ist darin eine Schicht des Seins (un niveau d’être) anvisiert. Vielmehr ist von einem architektonischen Register zu sprechen, das begrifflich an Hua XV, Nr.4. angelehnt ist, wo von „verschiedenen Dimensionen“ und „Schichtung“ die Rede ist. Wenn Husserl von „Bedeutsamkeit in Bezug auf [ein] gewisses Interesse“Footnote 82 spricht, dann impliziert das zunächst, dass jedes Interesse sich an einer bestimmten Bedeutsamkeit orientiert. Aber für Richir schließt das nicht aus, dass die Bedeutsamkeit, die für ein Interesse von großer Bedeutung ist, sich dem vielfältigen Feld anderer Bedeutsamkeiten verschließt. Vielmehr ist jede Bedeutsamkeit offen für andere Bedeutsamkeiten in Potenz (im „Schlafen“), woran sie sich „ernähren“ und bereichern kann.

Bereits in L’expérience du penser hat Richir die Idee der partiellen Geöffnetheit der symbolischen Institution entwickelt. Auch wenn die symbolische Institution den Zusammenhalt der Menschheit (sei es im Sinne einer Gesellschaft, einer ethnischen Gruppe usw.) ermöglicht, ist sie deshalb nicht komplett geschlossen. Es sei der Irrtum und die Illusion des StrukturalismusFootnote 83 gewesen, zu behaupten, dass eine Kultur als ein identifizierbares Objekt zu verstehen sei. Das hatte zur Folge, dass der Eindruck erweckt wurde, die symbolische Institution würde mit sich selbst komplett übereinstimmen. Tatsächlich ist sie „offen für die unergründlichen Frage ihrer Kontingenz.“Footnote 84 So zieht Richir dieses Fazit:

Mit anderen Worten, dies läuft darauf hinaus zu denken, dass der ultimative Boden der symbolischen Institution – durch den sie sich dem phänomenologischen Feld anschließt oder es widerspiegelt, trotz der Anhäufung von Bestimmung (von Codes und Verwendung von Codes), die sie bedeutet – immer unbestimmt ist: Zum Beispiel denken wir immer, wir „wissen“, wovon wir sprechen, aber die Erfahrung des Lebens zeigt im Laufe der Zeit, dass je mehr wir vorankommen, desto weniger „wissen“ wir worum es tatsächlich und letztendlich in diesem oder jenem Wort geht, ob es nicht trivial ist.Footnote 85

Also bestätigt dies die These, die wir in diesem Kapitel verteidigen wollen, nämlich dass das Wahrnehmungsobjekt – auch wenn es durch die symbolische Institution überbestimmt ist – trotzdem einen Nimbus von Unbestimmtheit in sich birgt. Auch wenn der Mensch nicht der Stifter der symbolischen Institution ist, lässt ihm dieser Bereich der Unbestimmtheit die Möglichkeit das Wahrnehmungsobjekt zu erforschen. Dort kann er Initiative ergreifen, mit der gegebenen Materie die symbolische Institution zu bearbeiten.

Dies bringt uns zu Husserls Idee der Stiftung der Bedeutsamkeit und Richirs Idee des gemeinsamen Sinnes. Über die gemeinsame Stiftung der Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Subjekte, die es gibt, schreibt Husserl:

Wir haben bisher so gesprochen, als ob die Umwelt einer Person wirklich nur von ihr, einer einzelnen, her ihre Bedeutsamkeitsstruktur hätte. Aber das ist die merkwürdige Doppelstellung der Personen, dass sie einerseits Objekte der vorgegebenen Umwelt sind und als das Bedeutsamkeit an sich tragen, und andererseits, dass sie Personen sind, als solche sich vergemeinschaften und nun nicht bloss einzeln, sondern in Gemeinschaft Bedeutsamkeiten stiften. Bedeutungsprädikate von Gegenständen der Umwelt, der für die Subjekte einer kommunizierenden Menschheit allgemeinsamen, verweisen in ihrem Sinne selbst auf die bekannten oder unbekannten Subjekte, aus deren personalen Akten diese Bedeutsamkeiten stammen.Footnote 86

Diese Stelle erlaubt es Richir, von einer gemeinschaftlichen Beteiligung aller Personen bei der Stiftung der Bedeutsamkeit zu sprechen, ungeachtet der Tatsache ob die Subjekte einander bekannt oder unbekannt sind. Sie ist von großer Bedeutung für Richir, denn sie inspiriert seine These der symbolischen Stiftung: „Dies bedeutet für uns, dass es immer bereits einen gemeinsamen Boden der Bedeutsamkeit gibt, der unter die symbolische Institution fällt.“Footnote 87 Alle Bedeutsamkeiten sowohl von individuellen Personen als auch von Gemeinschaften werden aus dem gemeinsamen Boden gestiftet. Es sind also nur kollektive Stiftungen möglich, was laut Richir die individuellen Stiftungen oder die Stiftung durch Personenverband nicht ausschließt. Die Letzteren sollen aber auf der Basis der gemeinsamen Stiftungen geschehen. Aufgrund der Tatsache, dass sich für Husserl einzelne Akte der individuellen Personen „in einheitlicher kommunikativer Funktion der beteiligten Personen“ vergemeinschaften, und die Akte zu „einheitlichen Ergebnissen“Footnote 88 tendieren, geht Richir jedoch von einem „gemeinsamen Sinn“ einer korrelativ entsprechenden Umwelt aus. Der gemeinsame Sinn ist „eins in mehreren oder mehrere in einem“.Footnote 89 Das fasst für ihn die Eigenschaften der symbolischen Institution zusammen, wo das „Mehrere“ sich in Eines verflechtet und „Eines“ sich in Mehrere beugt. Während „Eines“ für die symbolische Institution mit ihrer umweltlichen Sinngestalt steht, steht „Mehrere“ für die Verflechtung der unterschiedlichen Quellen der Gemeinsamkeiten. Diese beiden Eigenschaften drücken sich bei der symbolischen Institution aus: Sie verfügt über eine „gemeinsame umweltliche Existenz“, „gemeinsame Bedeutsamkeiten und apperzeptive […] Habitualitäten“,Footnote 90 die sich auch bei der Phantasia auszeichnen können. Diese Gemeinsamkeiten deuten auf die offene Verflechtung der Pluralität der zur bestimmten Umwelt gehörenden Subjekte.

Aufgrund dieser Gemeinsamkeiten kann man von der Anonymität der Institution sprechen, wenn wir unter „Anonymität“ die Idee verstehen, dass „keine einzige Initiative“ der Menschen zur Institution beiträgt, es sei denn durch einen despotischen und tyrannischen Prozess, wie das in der Mythologie der Fall ist. Vielmehr ist sie die „Gesamtheit“ der „symbolischen Systeme“ wie z. B. der Sprachen, Darstellungen, Praxen usw., die das „Sein“, den Glauben, das menschliche Denken usw. kodieren, „ohne dass diese [Menschen] jemals (absichtlich) ‚entschieden‘ haben, weshalb wir den anonymen Begriff ‚Institution‘ verwenden, der notwendig ist, um zu verstehen, was bei der Institution übrigens erscheint, als immer schon gegeben ‚ist‘.“Footnote 91

In L’écart et le rien heißt das, dass der Mensch weder der Schöpfer noch der Herr der symbolischen Institution ist. Wenn sich die Menschheit also nicht absichtlich für irgendeine Gesamtheit der symbolischen Institution entschieden hat, wie es nun der Fall ist, woher kommt sie dann? Wer also ist der Stifter? In Phänomenologie et institution symbolique (1988) heißt es, dass Gott (der symbolische Stifter) die transzendentale Quelle der symbolischen Institution in ihrer Gesamtheit und Einmaligkeit ist. Mit anderen Worten ist die Symbolik transzendental. In L’expérience du penser heißt es aber auch, dass diese Transzendentalität der Symbolik in manchen Traditionen den Namen „Gott“ trägt. Ein Vorbehalt drückt sich allerdings in der Anforderung aus, dass dieser Gott keine Antinomie oder keinen Widerspruch in Bezug auf Praxis, Handlungen und Sitten in sich trägt. Aber ist es nachhaltig und vertretbar zu argumentieren, dass dieser Gott die Funktion der transzendentalen Quelle aller symbolischen Institution in ihrer Gesamtheit erfüllen kann, und dass durch ihn der Zusammenhalt der Welt denkbar, sinnvoll ist? In einer späteren Entwicklung scheint Richir diese Idee abgelehnt zu haben. Die Ausarbeitung exotischer Beispiele der symbolischen Institution in der mythischen Welt zeigt, dass es nicht unbedingt nur einen einzigen symbolischen Stifter (l’instituant symbolique) sondern auch mehrere (wie z. B. die Helden) geben könnte. Man kann den Namen „Gott“ durch einen anderen Namen ersetzen – die Hauptsache ist, dass er ein unergründliches Rätsel bleiben muss. Jedoch gilt in einem monotheistischen System die Idee eines einzigen symbolischen Stifters. Die Frage also, ob dieser Stifter eine Singularität oder eine Pluralität ist, bleibt offen. Für jedes System gibt es jedoch ein passendes Modell. Wie man es auch betrachtet – der Mensch bleibt der symbolischen Institution nicht mächtig. Sie ist das, was in uns sein Echo hat, uns aber übersteigt. In L’experience du penser heißt es, dass diese symbolische Institution dem Menschen Halt (prises) gibt. Genau das bezeichnet Richir als das Paradox der symbolischen Institution: sie sei schon da, immer schon konstituiert. Nun ist es die Aufgabe der Menschen, diesen Halt zu erarbeiten, ohne den seine Erfahrungen keinen Sinn haben können.

Die umweltliche Existenz der symbolischen Institution bei Husserl grenzt sich von einer objektiven Existenz oder einer ontologischen Struktur ab. Der Abstand zu Objektivitäten macht sie „transpassibel“ ihrem eigenen Werden gegenüber. Dieses Werden geschieht durch die Umsetzung der architektonischen Register (z. B. der der Sprachphänomene), was dann die symbolische Institution möglich macht, weil Letztere in sich Leere trägt, was ihr erlaubt, sich auf das, was bei einer Begegnung des Anderen als unmöglich, undenkbar, unerwartet verstanden werden kann, zu öffnen.Footnote 92 Die Geschichte der Stiftungen (l’histoire de Stiftungen), die in der symbolischen Institution sedimentiert sind, geht über eine reine Positivität hinaus. Es handelt sich dabei nicht um Ereignisse, die in der Gegenwart (présent) geschehen sind. Die erste Stiftung ist nach Richir die der Sprache (langue), in der sich die genetische Dimension der symbolischen Institution als kollektiv erweist. Diese Kollektivität ist aber nicht in actu sondern wie schlafend.

An einer Stelle scheint Husserl von einer politischen Gruppierung (Vergemeinschaftung von Personen) zu sprechen. Sie kann aus natürlichen Quellen kommen und einer „Leistung“ (Familie oder Volk) entsprechen. Gleichzeitig ist sie „in höherer Stufe aus willkürlicher Stiftung entsprungen, einer Willkür, die selbst den Sinn einer vergemeinschafteten Willkür der stiftenden Personen hat (Verein, Staatsstiftung).“Footnote 93 Richir sieht darin die Willkür der politischen Stiftung, welche wiederum der symbolischen Stiftung gehört. Für ihn besteht Husserls Naivität darin, dass solch eine aus Willkür entsprungene politische Stiftung (symbolische Stiftung) einen phänomenologischen Grund (motif) hätte, als würde die politische Stiftung der symbolischen Stiftung nicht gehören. Auf der Grundlage, auf die sich die symbolische Institution stützt, besteht kein phänomenologischer Grund.Footnote 94 Was aber das Verhältnis zwischen der symbolischen Institution und dem phänomenologischen Feld anbelangt, besteht Richir darauf, dass das Letztere durch seine Transpassibilität für die Vorige offen ist. Dies impliziert, dass die Sprache in ihrem inchoativen und unbestimmten Kontext (im Sinne von langage) jedes Mal auch in die symbolische Institution eindringen kann. Kurzum das phänomenologische Feld kann zum Symbolischen werden.

Der Bereich der Sprache ist in diesem Kontext der Bereich, den der Mensch ausnutzen kann. Dieser Bereich erlaubt uns, die symbolische Institution – da wir sie offenkundig nicht erschaffen können – aus schon vorhandenen Materialien herauszuarbeiten, die uns die Institution zur Verfügung gestellt hat. Hier kann der Mensch sich der Arbeit des Denkens hingeben, wo der Sinn seines Tuns zum Vorschein kommt. Damit trägt er aktiv zu seiner Zivilisation bei. Wie diese Erarbeitung stattfindet, erfahren wir mittels der Rollen, die die Phantasia und die Leiblichkeit bei der Stiftung der Bedeutsamkeit spielen. Dank dieses lebendigen Prozesses kann die symbolische Institution vor einer Implosion von innen und deshalb auch davor bewahrt werden, zu einem symbolischen GestellFootnote 95 zu werden.

3.5.1 Kollektive „Apperzeption der Phantasia“ und der Leiblichkeit

Vor diesem Hintergrund widmet sich Richir der Frage, wie die „Apperzeptionen der Phantasia“ – dies grenzt sich nun von der Husserl’schen Beschäftigung mit der „Apperzeption“ überhaupt ab – intersubjektiv zirkuliert. Für ihn kann diese Zirkulation nur dadurch gelingen, dass sie in einer „relativen Stabilität“ geschieht. Jedoch kann die Stiftung der Sprache durch die Faktizität der Wörter allein, diese erwünschte Stabilität nicht erbringen. Dafür wird eine zweite Stiftung umgesetzt. Es handelt sich nun nicht mehr um die Stiftung der Sprache als faktische Wörter (mots), sondern um die Stiftung des artikulierenden Wortes (Parole), insofern dieses nun als eine „mythische Erzählung“ (récit mythique, mythico-mythologique) verstanden wird. Diese zweite Stiftung nimmt die „Apperzeptionen der Phantasia“ auf und erfüllt sie mit „Bedeutsamkeiten“ im Husserl’ schen Sinn. Das heißt, dass die „mythische Erzählung“ als zweiter Zuschnitt (un second decoupage) eine symbolische Leistung erbringt, die zur Idee der „kollektiven Bedeutsamkeiten“ beiträgt. In diesem Zusammenhang „wird […] die Geschichte […] als symbolische Ausarbeitung des Fundaments dieser oder jener bereits kollektiven Bedeutsamkeit gedacht.“Footnote 96 Die verdoppelte Stiftung der „Apperzeption der Phantasia“ durch die „mythischen Erzählungen“ erreicht nun die erwünschte Stabilität, wenn sie „Bedeutsamkeiten“ stiften, die als „kollektiv“ gelten. Die Leistung, die diese Stiftung nun erbringt, ist eine „gemeinsame“. Laut Richir vermochte es Husserl nicht, die „kollektive“ Dimension der „Apperzeption der Phantasia“ zu erahnen.

Verstehen wir die „Gründung“ („fondation“) als die symbolische Erarbeitung der soziopolitischen Institution, wie z. B. den Staat, oder das Königreich, dann kann diese symbolische Erarbeitung der Institution anhand einer mythischen Erzählungen geschehen. Was Richir hier sagen will, ist einzig und allein, dass die „mythische Erzählung“, eine sehr wichtige Rolle bei der symbolischen Erarbeitung spielt. Sie wird mit der verdoppelten Institution der Phantasia gleichgestellt, die zur Zirkulation der Apperzeptionen – als kollektive Apperzeptionen in einer Gesellschaft – beiträgtFootnote 97. Diese Leistung – die Ermöglichung der kollektiven Zirkulation anhand der verdoppelten Institution der Phantasia – überträgt Richir auf die Leiblichkeit. In den vorigen Kapiteln haben wir auf der einen Seite schon gesehen, dass es keine Leiblichkeit ohne die Phantasia und Affektivität gibt. Auf der anderen Seite zeichnet der Leib in seiner Unbestimmtheit den Ort, wo ein Sprachsystem (langue), ein Sprachphänomen (langage) und die Phantasia sich artikulieren. Aus diesen beiden Gründen geht die Idee der Zirkulation der Leiblichkeit des Leibes oder der Leiber in der Gesellschaft nach.Footnote 98

Richirs Interesse liegt in der Erschließung der symbolischen Stiftung (bzw. deren Erarbeitung). In La naissance des dieux (1995) und in L’experience du penser untersucht Richir eine primitive archaische symbolische Institution. In ersterem Werk beschäftigte Richir sich mit der Frage, ob das Denken nicht in einer anderen symbolischen Institution möglich ist und ob es außerhalb einer anderen symbolischen Sprache als der Philosophie deshalb seine Kohäsion verlieren würde. Dabei steht die Untersuchung des Ursprungs des Denkens in seiner Konkretheit im Mittelpunkt, wenn es sich nur um die Sache selbst des Denkens handeln kann: also die Art und Weise, wie sich das Denken durch Entitäten modulieren kann, die die mythische Erzählung (récit) sichtbar machen. Solch eine Plastizität des Denkens in einer mythischen Gesellschaft, die sich von unserer modernen symbolischen Institutionen unterscheidet, lässt mindestens drei Typen von Denkweisen unterscheiden: 1) das mythische Denken, 2) das mythologische Denken und 3) das mythisch-mythologische Denken. Mythisches Denken beschäftigt sich nur mit einem bestimmten lokalen Problem. Das heißt, dass nur eine symbolische Institution und nicht die symbolische Institution in ihrer Gesamtheit als solche vor Augen gehabt wird. In der Mythologie von Lévi-Straus begegnen wir solchen konkreten Problemen, mit denen ein mythisches Denken sich beschäftigt und somit die symbolische Institution erarbeitet: z. B. der Ursprung des Feuers, der Technik, der Ehe oder die Erklärung für gute und schlechte Ernten. Auch daran sieht man, dass das mythische Denken über eine originäre Pluralität verfügt, auch wenn die Einzelheiten einander widersprechen und manchmal ineinander verflochten sind. Deshalb ist es von großer Bedeutung zu unterstreichen, dass das mythische Denken immer örtlich oder lokal gebunden ist. Ein weiteres Merkmal vom mythischen Denken ist die Kohabitation von Transzendenz und Immanenz, von Tod und Leben, von Unsichtbarem und Sichtbarem usw.Footnote 99

Das mythische Denken unterscheidet sich laut Richir allerdings dadurch von einem mythologischen Denken, dass es sich bei Letzterem um die Institution eines Despoten handelt. Diese Institution geht dabei Hand in Hand mit der Suche nach einer Legitimation für den Despoten. Genau das zeigt sich für Richir in seinen Studien der primitiven Gesellschaften darin, dass die Suche nach einer Legitimation der Grund ist, warum manche mythischen Figuren auf den Status von Göttern erhoben werden. Zum Beispiel erhält der König seine Legitimation von einem der Götter. Und es passiert oft, dass einer der Götter zum König der selben wird. Es gibt dafür – wie zum Beispiel bei der babylonischen Erzählung, wo Marduk zum König der Götter gekrönt wurde – viele Beispiele. Eines aus Griechenland zeigt, wie die Götter entstanden sind (etwa Hesiods Theogonie) und wie Zeus in diesem Prozess zum König der Götter geworden ist. Laut Richir zeichnet eine solche Bewegung die besondere Funktion und Eigenschaft von Mythologie aus, die er „Vereinigung“ nennt. Damit werden die lokalen mythischen Einzelheiten durch eine Mythologie miteinander verbunden, und zwar symbolisch. Die Mythologie stiftet und bewahrt also etwas von der „symbolischen Konkretheit“Footnote 100 einer bestimmten sozialen Ordnung. Aber das ist keine einfache Aufgabe, denn es kann ja in solchen primitiven sozialen Institutionen ohne einen GottFootnote 101 keine Einigung geben. Aber oft hat dieser Gott einen despotischen Hintergrund. Das zeigt sich auch als Unterschied zwischen mythologischem und mythischem Denken, wo es keinen Gott gibt, auch wenn beim Letzteren laut Richir einige Helden immer wieder auftauchen würden. Für Richir hat die mythische Institution also keine Götter. Dafür wird ein mythologisches Denken gebraucht. Somit verstehen wir mit Richir die Mythologie als die erste Instanz der Rationalität, als ein Denken, das bereits bestehende Materie in einem mythischen Denken zum Zweck der Vereinigung symbolisch bearbeitet.Footnote 102

Beim dritten, dem mythisch-mythologischen Denken, ist diese Vereinigung nicht vollständig. Aber die einzelnen Komponenten des ersten und zweiten Denktypus sind vorhanden. Es handelt sich dabei etwa um die mythisch-mythologischen Erzählungen zum Ursprung des Königreiches, wobei Richir besonders an entsprechende Erzählungen aus dem alten Griechenland denkt.

Es lässt sich die Fragen stellen, wie die Vereinigung von einzelnen mythischen Institutionen geschieht. Wie zirkuliert also die mythische Erzählung und wie zirkuliert die Leiblichkeit eines Despoten in der symbolischen Stiftung der Mythologie? Was hier wichtig ist, ist nichts anderes als die Ausarbeitung der symbolischen Institution des Königsreiches (royauté) als einer politischen Institution, auch wenn in manchen Zusammenhängen, z. B. der Genealogie von Agamemnon, kein Gott oder Zeus in den Blick kommt. Betrachtet man den griechischen Zusammenhang der Institution des Königsreichs, so taucht die Frage auf, wie aus dieser zunächst barbarischen Stiftung eines Tyrannen eine monarchische Zivilisation entsteht. Also wie lässt sich aus barbarischem Denken die Vorstellung eines Königs symbolisch stiften, erarbeiten? Dieser Frage geht einer These voran, die Richir verteidigen will, und zwar: wie die Leiblichkeit des ungeheuerlichen tyrannischen Leibes in die Leiblichkeit des menschlichen, königlichen Leibes übersetzt wird.Footnote 103 Die Leiblichkeit des menschlichen, königlichen Leibes erhält eine kollektive und lebendige und keine mechanische Bedeutsamkeit.Footnote 104 So kann man sehen, dass die Thematisierung der „umweltliche Existenz“ ohne die Leiblichkeit nicht möglich ist. Husserls Fehler im Kontext der Intersubjektivität war laut Richir, diese Leiblichkeit immer als eine menschliche Leiblichkeit verstanden zu haben: die Leiblichkeit als die eines Leibes – des Außenleibes mit dem Innenleib –, d. h. als die menschliche Leiblichkeit. Er habe nicht begriffen, dass die Menschlichkeit der Menschen nicht selbstverständlich ist, wie die Leiblichkeit des Tyrannen zeige.Footnote 105 Richirs Analyse der Leiblichkeit des Tyrannen weist auf, dass ein phänomenologisch-anthropologische Verständnis über die menschliche Subjektivität hervorheben soll, wie der „Menschlichkeit“ eine „unmenschliche“ Schicht zugrunde liegt. Die beiden Dimensionen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander.

3.5.2 Die Aufrechterhaltung der Lebendigkeit der symbolischen Stiftung (Institution) anhand der leiblichen und phantastischen Zirkulation

Sind die symbolischen Institutionen also offen für menschliche Initiative, dann würde das im Falle einer despotischen Gesellschaft auch bedeuten, dass die politische Initiative vonseiten des Königs – oft erhält er seine Legitimation von den Göttern – kommt. Er verkörpert in gewisser Weise die Gesellschaft. Die Legitimation eines Königs (oft als Tyrann) trägt in sich ein brutales Vordringen (irruption), das sich als ein Ereignis zeigt, das nur als transzendental verstanden werden kann, da es in der historischen Gegenwart nicht lokalisierbar ist, obwohl es in ihr präsent ist. Richir nennt dieses brutale, grausame Ereignis des tyrannischen Vordringens ein transzendentales Ereignis.Footnote 106 Dieses wirkt auf die vorherige symbolische Institution. So ist das transzendentale brutale Vordringen des Tyrannen ein Angriff auf die Leiblichkeit in ihrem sozialen Kontext, wo die vorige Institution des Leibes von der Vernichtung bedroht wird.Footnote 107 Insofern ist der Überschuss der Tyrannei als eines transzendentalen Ereignis eine Revolution der vorhergehenden Form von Leiblichkeit. Diese Umwälzung geht mit der Veränderung der bisherigen symbolischen Ordnung einher und bringt einen Abbruch der Transpassibilität, des Machens des Sinns mit sich. Nicht mehr der unbestimmte phänomenologische Leib ist hier wichtig, sondern der ungeheuerliche Leib des Tyrannen, dessen Leiblichkeit wie „unberechenbare und ungezügelte Spliter“ ist.Footnote 108

Die Adjektive „unberechenbar“ und „ungezügelt“ entsprechen der Vielgestaltigkeit und der Vielförmigkeit, welche die Eigenschaften der „Apperzeption der Phantasia“ sind. Die Leiblichkeit des Tyrannen ist dieser Apperzeption ähnlich und kann mit ihr verglichen werden. Wir müssen uns den Zusammenhang zwischen den mythischen Erzählungen und der Phantasia vor Augen halten, wobei nicht vergessen werden darf, dass Götter und Helden oft die „Hauptpersönlichkeiten“Footnote 109 dieser Erzählungen und der Phantasia sind. In diesem Kontext besteht also Richirs These darin zu zeigen, inwiefern die kollektive Stiftung der Phantasia sich bei diesen „Persönlichkeiten“ abspielt, sodass die Apperzeptionen der Phantasia dabei zur Stiftung kollektiver Bedeutsamkeit einer politischen Institution beitragen. Dabei ist das Verhältnis zwischen dem Leib des Tyrannen und den Leibern der anderen zu untersuchen, und zwar wie sich die unterschiedlichen Leiber in der gesamten Gruppe einander gegenüber verhalten.

Anhand seiner „instinktiven Intelligenz“ vermag es der Tyrann, in den Innenleib des anderen einzudringen. Dieses Vermögen übersetzt Richir mit dem Begriff „Manipulationskraft“ – der Fähigkeit, die anderen zu begeistern („pouvoir de fascination sur les autres“). Insofern bedeuten sein Leib und seine Leiblichkeit durch ihren Überschuss eine Gefahr für den Leib bzw. für die Leiblichkeit des anderen, die von der Leiblichkeit des Tyrannen überhöht wird. Damit ist aber die Möglichkeit des Verlustes sowohl der eigenen Leiblichkeit als auch der Transpassibilität des Leibes in Bezug auf den Außenleib verbundenFootnote 110. Dies ist der Grund, warum der Tyrann barbarisch ist. Der Übergang von seinem Innenleib zu seinem Außenleib ist einer, der den Innenleib in dem Außenleib anschaulich darstellt. Bei der anschaulichen Darstellung handelt es sich um verwirrte Bedeutsamkeiten und ihre Habitualitäten, die mit der Begierde des Tyrannen zu tun haben. Die anschaulichen Darstellungen melden sich in der Außenleiblichkeit der anderen. Eine aktive Mimesis vom Inneren der Sprachsysteme und Sprachphänomene werden vom Tyrannen bedroht und die Leiblichkeit wird ihrer Innerlichkeit entleert, da sie zur chaotischen tyrannischen Darstellung wird.Footnote 111 Der Leib des Tyrannen ist formlos, unvorhersehbar und gibt damit den anderen den Eindruck, sie von innen besser verstanden zu haben, als sie sich selbst verstehen können. Vermittels seiner formlosen Leiblichkeit erscheint er als einer, der der sozialen Ordnung Leiblichkeit verleihen kann. Zugleich vermittelt er den anderen die Illusion, dass er ihnen auch „einen Sinn“ verleihen kann. In Wirklichkeit verfügt er aber nicht einmal über ein „stabiles Selbst“ und einen „sozial erkannten Sinn“, und anstelle von Leiblichkeit kann er nur einen Körper oder eine „Maschinerie“ verleihen, der vom Sinn entfremdet ist.Footnote 112 Die anderen versuchen umsonst, diesen Sinn durch eine aktive Mimesis von innen zu begreifen, da die „Figuration“ der Leiblichkeit des Tyrannen unmöglich ist. Der Sinn verschwindet, aber er wird in die Bedeutsamkeit und unbewussten Habitualitäten überformt, die die „Apperzeptionen der Phantasia“ beim Auftauchen des Sinnanfangs „investieren“. Diese Bedeutsamkeiten und Habitualtitäten werden im Leib des Tyranns manifest. Die ungeheuerlichen Phantasiai sind nun mit Bedeutsamkeiten in den mytischen Erzählungen beladen. Genau dies ist die zweite Stiftung der Phantasia in der mythischen Mythologie.Footnote 113

Anhand der mythischen Erzählungen werden die „Apperzeptionen der Phantasia“ mit den ihnen verbundenen Bedeutsamkeiten in der Gesellschaft verbreitet (Zirkulation). Die „Figuration“ dieser Apperzeptionen bleibt noch flüchtig, bis sie durch die kollektive Stiftung der Imagination zur bildlichen Figuration werden. Die Letztere geschieht, sobald die unmenschlichen (Götter, Helden) Apperzeptionen eine klare menschliche Gestalt annehmen, und könnten damit ebenso in die Kunst, die Literatur übergehen.Footnote 114 An diesem Punkt könnte man sagen, dass die mythische Mythologie zu ihrem Ende gekommen ist. Es ist so, dass die Apperzeption der Phantasia, die sich in Mythen erfahren lässt, die „präexistierenden symbolischen Materialien“ verkörpert. Die Mythen sind wie die Geschichten, die man in einer Gesellschaft erzählt. Durch diese Erzählungen wird die Leiblichkeit ins Leben gerufen. In der mythischen mythologischen Erzählung zirkulieren durch die Apperzeption der Phantasia (verbunden mit ihrer Bedeutsamkeit) die Ungeheuer der Tyrannei. Die Tyrannei und die bedrohliche Unmenschlichkeit werden im Königreich gestiftet. Dies artikuliert die symbolische Bearbeitung der Unmenschlichkeit zur Menschlichkeit, wie man von dem einen zum anderen gleitet. Die Umsetzung (das Gleiten) nennt Richir: „Menschwerdung“ (hominisation) oder „Zivilisation“ (civilisation)Footnote 115. Er meint damit die Art, wie die Tyrannei im Königreich symbolisch gestiftet wird.

Für Richir besteht die gleiche Gefahr auch bei den anderen. Die Entleerung der Innenleiblichkeit des anderen geschieht in seiner Außenleiblichkeit, die der tyrannischen Begierde ausgeliefert ist. Der Tyrann leiht sich vom anderen dessen Leiblichkeit, die ihm fehlt, um nach dem Selbst zu suchen, das ihm auch fehlt. Die Störung der bisher etablierten symbolischen Ordnung ist eine der Konsequenzen daraus. Die einzige Möglichkeit, zur Leiblichkeit des Tyrannen Zugang zu erhalten, ist durch eine gesuchte Harmonie mit ihr, ihrer Begierde, ihrer Sensibilität usw.Footnote 116 Was nun die Konsequenzen der Tyrannei für die zwischenmenschliche Leiblichkeit angeht, so schreibt Richir, dass die Leiblichkeit der anderen durch die Leiblichkeit des Tyrannen manipuliert wird. Der Tyrann gibt den Eindruck, dass er ihnen die Leiblichkeit verleihen wird, während er sie ihnen eigentlich abnimmt oder sie von ihnen leiht. Zwischen den Menschen spielt sich so das furchtbare Verhältnis ab, bei dem ein Mensch zum Beherrscher anderer Menschen wird.

Der Leib des Tyrannen stellt eine bedrohliche soziale Leiblichkeit dar. Diese Leiblichkeit „figuriert“ das Ungeheuerliche, das Unberechenbare. Sie grenzt sich von der Leiblichkeit des phänomenologischen Leibes ab, welche in ihrer Unbestimmtheit als Matrix der Spatialisierung und Temporalisierung Sprachphänomene aufs Spiel setzt, die Sinn anhand der Apperzeptionen der Phantasia (langage im Sinne von einem inchoativen „Sinn“) und der Sprachsystem (Langue im Sinne von einer Bedeutung in einem Sprachsystem) erzeugen. Diese beiden zeichnen für Richir eine doppelte Reversibilität aus. Dadurch fließt die Leiblichkeit im Falle der Erzeugung von Sinn in die Gesellschaft.Footnote 117 Die Leiblichkeit des Tyrannen ist defizient, in Bezug auf sich selbst, und im Überschuss in Bezug auf die anderen, da er mit seinen gewalttätigen Ausdrücken versucht, die ihm fehlende Leiblichkeit den anderen und damit deren Transpassibilität zu entwenden. Mit anderen Worten: es handelt sich um einen Einbruch in die Innenleiblichkeit der anderen. Dieser Vorgang scheint eine Kompensation für den Sinn zu sein, den er nicht durch seine Ausdrücke und Wörter erzeugen kann. Die für das Erzeugen des undenkbaren und unerwarteten Sinnes wichtige aktive Mimesis von innenFootnote 118 soll von den anderen verwirklicht werden. Nur der Tyrann allein vermag es, wenn überhaupt, die leiblichen Ausdrücke seiner Außenleiblichkeit zu begreifen. Nur weil er die Transpassibilität der Leiblichkeit der anderen entnommen hat, werden die anderen hypnotisiert und dazu gebrachts in seinem Außenleib und seinen leiblichen Ausdrücken den Ort ihres Selbst und der Hervorbringung von Sinn zu suchen bzw. zu sehen.Footnote 119 Aber die erwähnte Reversibilität fehlt in diesem Fall in einem solchen Grade, dass der Transfer der Transpassibilität von dem einen zum anderen nicht reversibel ist. Mit anderen Worten, weder der Tyrann noch die anderen sind transpassibel in Bezug auf die Leiblichkeit des anderen. Das heißt, dass es keinen flüssigen Übergang von einem zum anderen und umgekehrt gibt. Die Transpassibilität ist überhaupt nicht reversibel. Von der Innenleiblichkeit zur Außenleiblichkeit des einen und wieder von der Außenleiblichkeit zur Innenleiblichkeit des anderen und umgekehrt gibt es keinen einfachen Übergang, sodass die „Figurationen“ keinen Sinn erschließen können.Footnote 120 Die Leiblichkeit, die Sinn erschließen soll, bewegt sich nicht vom Denken (Innenleiblichkeit) zum Ausdruck (Außenleiblichkeit) hin und wieder zurück. Der Tyrann und der andere verliert also jeweils seinen Innenleib, den er bei dem anderen, in dessen Außenleiblichkeit, suchen wird, da die Gefangennahme der Transpassibilität impliziert, dass der Sinn ihnen entgeht, der angefangen hat, sich hervorzubringen. Genau wie die Transpassibilität ist der Sinn gefangen. Richir nennt dies: „Der Sinn selbst des Unsinns“ oder „Der Sinn selbst dessen, was sinnlos erscheint.“Footnote 121 Genau hier liegt für Richir die „phänomenologische Matrix“ des „kollektiven symbolischen Unbewussten der Tyrannei“Footnote 122 als einer symbolischen Institution. Das symbolische Unbewusste ist „der Ort der unbewussten, symbolischen Institution der Ipseität“.Footnote 123 Hier scheint der schon erwähnte „Sinn des Unsinns“ zu liegen (liegen nicht im expliziten Wortsinne, sondern im Sinne von „im Schlaf“ (en sommeil)). So entspricht für Richir die Tyrannei dem „symbolischen Unbewussten“. Der Sinn, der dabei gemeint ist, ist eine kollektive, „unbewusste Bedeutsamkeit“, die in dem sozialen Leib (also in dem Leib des Tyrannen) zirkuliert.

Die symbolische Erarbeitung der Stiftung (fondation) beinhaltet eine transzendentale Dimension. Für Richir deutet die Stiftung des symbolischen Unbewussten auf eine Stiftung der „Transzendenz“. Die Transzendenz ist kollektiv, da sie jeden (sowohl den Tyrannen als auch den anderen) dort betrifft, wo das transzendental Kollektive auf eine „mythische bzw. mythologische Gesellschaft von Göttern und Helden“ hinweist. Die sich als transzendental erweisende mythische bzw. mythologische Erzählung ist daher „eine symbolische Erarbeitung des symbolischen Unbewussten der Tyrannei“. Erarbeitung, da die vorigen symbolischen Inhalte zum Zweck der Sinnerzeugung gemischt und mit den „Apperzeptionen der Phantasia“ überarbeitet werden. Die Inhalte sind schon in den Mythen oder in den bestehenden mythischen bzw. mythologischen Legenden vorhanden.

Was Richir hier beschreibt, ist die Frage, wie das leibliche kollektive Unbewusste mit dem leiblichen Bewussten als Kollektiv zusammenhängt und wie die beiden zur Stiftung der Leiblichkeit des Sozialen beitragen. Dabei ist die Zirkulation der „Apperzeptionen“ der Phantasia bei der Stiftung wichtig. Mit anderen Worten, die Stiftung des symbolischen Unbewussten setzt die „Theatralisierung“ (oder die Inszenierung) der Leiblichkeit und der Phantasia voraus, wobei die Theatralisierung nicht als in der Gegenwart greifbar vorhanden, sondern in einer „Präsenz“ und daher als transzendental verstanden werden soll. Um den entscheidenden Zusammenhang zwischen dem symbolischen Unbewussten, der „Apperzeption“ der Phantasia und der Fantasie (fantasme) hervorzuheben, schreibt Richir: „Was es auch sein mag, wir werden diese ursprünglich intersubjektive Struktur unbewusster Bedeutsamkeit Fantasie nennen, die die Apperzeptionen der Phantasia inszeniert, während sie sie auswählt.“Footnote 124 Das symbolisch Unbewusste (in diesem Falle die Bedeutsamkeit) ist das, was zirkuliert anhand der Phantasia und der Leiblichkeit. Es wird nun mit der psychoanalytischen Vokabel „Fantasie“Footnote 125 benannt. Die Fantasie entsteht für Richir „aus einer verdoppelten symbolischen Stiftung der Phantasia“.Footnote 126 Sein phänomenologisches Verdienst bzw. seine Leistung ist sozusagen, gezeigt zu haben, dass die Stiftung durch die Leiblichkeit und Phantasia verläuft, deren Apperzeptionen wiederum in einem intersubjektiven Zusammenhang verlaufen. Es sind sozusagen diese Fantasien, die durch ihre unbewussten Bedeutsamkeiten, die an sie gebunden sind, zirkulieren.

3.6 Schlussüberlegung

Nachdem wir gezeigt haben, wie die Möglichkeiten der Wahrnehmungsobjekte in der Phantasieleiblichkeit verankert sind, wollen wir zum Schluss darlegen, dass diese Auffassung Richirs mit der Transpassibilität der Leiblichkeit zusammenhängt, ohne welche es niemals irgendeinen sinnvollen Bezug zur Welt geben würde, und die die Unbestimmtheit von Wahrnehmungsobjekten noch radikaler begründet.

An dieser Stelle soll auch eine bestimmte Eigenschaft der Phantasia erwähnt werden, auf deren Grundlage die Leiblichkeit auch die Phantasieleiblichkeit ist, und die die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte noch tiefer begründen kann. Es handelt sich hier um die Transpassibilität, welche zusammen mit der Transpossibilität (ein Ereignis als „transpossibel“ zu bezeichnen, bedeutet, dass das Ereignis alle Möglichkeiten im eigenen subjektiven Feld überschreitet) ein, an Henri Maldiney angelehntes, Begriffspaar bildet. Möglichkeiten, die mit eigenem Dasein zu tun haben, vermögen es nicht, das Unmögliche am Auftauchen in der subjektiven Sphäre zu hindern. Dementsprechend bedeutet es, dass das „Mögliche“Footnote 127 (welches aber im eigenen, subjektiven Feld die Bezeichnung „unmöglich“ trägt) die Möglichkeiten, die dem eigenem Dasein zugeordnet sind, überschreitet. Diese mögliche „Möglichkeit“ liegt nicht beim Subjekt, sondern im Feld des Objekts. Ein Ereignis als „transpossibel“ zu bezeichnen, bedeutet, dass es alle Möglichkeiten im eigenen subjektiven Feld überschreitet. Kein Wunder, dass Richir denkt, dass ihre Verwirklichung zu etwas „Unerwartetem“ oder „Unangekündigtem“ (inopiné), zu etwas „ganz Anderem“ führt. Der Begriff der „Transpassibilität“ bezeichnet dagegen das Vermögen, diese „Möglichkeiten“ außerhalb meines subjektiven Feldes der Möglichkeiten zu empfangen. Dementsprechend spielt der Begriff der Transpassibilität eine sehr wichtige Rolle beim Bezug zur Welt. Zum Beispiel bei der transzendentalen Intersubjektivität: Die „Bestätigung durch die Erfahrung des anderen steht mir nicht zur freien Verfügung.“Footnote 128 Trotz dieser Unmöglichkeit, den Phantasieleib eines anderen zu erleben, ist mein Phantasieleib transpassibel in Bezug auf seinen Leib, also von ihm berührbar.

Im vorhergehenden Kapitel haben wir die Leiblichkeit (und dazu gehörend auch die Phantasisa, insofern sie als die Grundlage von Richirs Phänomenlogie gilt) als die Grundlage der Phänomenologie behandelt. Dabei hatten wir diese Grundlage auch mit einem Fundament verglichen. Während die Grundlage für das Fundament transpossibel bleibt, bleibt das Fundament seinerseits für die Grundlage transpassibel. Mit anderen Worten, die Leiblichkeit und die Phantasia bleiben als Grundlage der Phänomenologie Richirs für das Fundament, sagen wir einer symbolische Institution, transpossibel, während die symbolische Institution für die Leiblichkeit und die Phantasia transpassibel (offen) bleibt.

Nun können wir dies auf die Wahrnehmungsobjekte beziehen. Alles beginnt dort, wo Richir die Phantasieerscheinungen mit dem Begriff „reine Möglichkeiten“Footnote 129 (pure possibilités) bezeichnet. Als Potentialitäten diesseits des Subjekts sind sie dem symbolischen Feld der Stiftung, wo die wahrgenommenen Objekte durch Sprache gesättigt werden, nicht unzugänglich, sondern immer offen. Denn diese unendlichen Potentialitäten der Phantasieerscheinungen (von der Seite des Subjekts), die nach einer Stabilisierung streben, bleiben allen möglichen Phänomenerscheinungen aus dem Horizont der Wahrnehmungsobjekte offen. Aufgrund ihrer Transpassibilität können sie von einem Sehen bewohnt werden und somit eine Wahrnehmung von Objekten ermöglichen.

Die oben geschilderten Eigenschaften der Leiblichkeit und der Phantasia spielen auch eine Rolle bei der symbolischen Institution. Jede symbolische Institution ist transpassibel für die Transpossibilität der Phantasia. Dadurch, dass das Symbolische von der Phantasia durchdrungen ist, zielt Richir darauf ab, zu zeigen, wie die Lebendigkeit der symbolischen Institution aufrechterhalten werden kann. Dies geschieht dadurch, dass sie von den flüchtigen „Apperzeptionen“ der Phantasia (diese sind chaotisch, zerplatzt) durchdrungen ist. Das bedeutet, dass die symbolische Institution offen für die Apperzeption der Leiblichkeit und der Phantasia ist. Die Sprache ist eine symbolisch gestiftete Institution, aber sie kann nicht ins Leben gerufen werden, wird uns also nicht zugänglich, wenn sie nicht durch die Apperzeptionen der Phantasia anhand der sich hervorbringenden Sinne aktiviert wird. Erst dann kann sie geweckt werden, sich den Fetzen der Sprachphänomene öffnen, die in ihr eine Leere schaffen. So zirkulieren die „Apperzeptionen“ der Phantasia bei Menschen, „wie eine Art Traum, der kollektiv ausgearbeitet wird“. Sie sind das, was dabei hilft „den immer seltsamen, paradoxen Status […] der Symbolik“ „zu erkennen.“Footnote 130

In diesem Kapitel haben wir versucht, die Leiblichkeit in den Mittelpunkt der Wahrnehmung zu stellen. In einem zweiten Schritt haben wir versucht, die inhärente Verbindung zwischen der symbolischen Institution und der Leiblichkeit (der Phantasia) zu untersuchen, und zu klären wie diese für die Erarbeitung und Erweiterung der Möglichkeiten der Bedeutsamkeit in einer symbolischen Institution verantwortlich ist. Zuletzt haben wir gesehen, dass die Leiblichkeit, um die es hier geht, nichts mit der des Menschen zu tun hat. Es ist vielmehr die Leiblichkeit des Tyrannen. Nachdem wir bisher die Leiblichkeit eines tyrannischen Leibes unter Bezugnahme auf die Zirkulation der Bedeutsamkeit untersucht und auch die Leiblichkeit eines menschlichen Leibes als Wahrnehmungsgrundlage behandelt haben, stellt sich nun die Frage, was wir denn unter Leib verstehen. Auf welche Weise sollen wir den Leib in seiner Leiblichkeit verstehen? Mit Leib beziehen wir uns nicht mehr auf den des unmenschlichen Tyrannen, sondern auf den des rein menschlichen Subjekts. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, wie Richir sich von allen Formen des Verständnis des Menschen distanziert, die als leiblos verstanden werden können. Er folgt Husserl, um das auf dem Leib und der Gemeinschaft von Leibern basierende Verständnis des Selbst zu verteidigen. Wir werden sehen, dass die Idee eines Selbst nur in einer solchen Gemeinschaft von Leibern konsistent denkbar ist. Darüber hinaus entwickelt Richir im Kontext eines solchen Selbstbegriffs das, was er die Reflexibilität (die Schwingung) des Selbst nennt, die jenseits jeglicher Etablierung in einer symbolischen Institution liegt. Im Rahmen einer solchen Schwingung des leiblichen Selbst verteidigen wir die These, dass das Selbst nur im Kontext des Sinns (unmöglich) phänomenologisch und im Kontext der Bedeutung (möglich) symbolisch verstanden werden kann. Insofern ist das Selbst als Ganzes eine unmögliche Möglichkeit.