Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird erstens gezeigt, wie Richir der platonischen χώρα eine phänomenologische Bedeutung verleiht. Die These, der wir also hier nachgehen wollen, ist nämlich, dass die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie auf der einen Seite der theoretischen Intuition zur Welterschließung dient, und dass sie auf der anderen Seite im Dienst von Richirs Projekt einer transzendentalen Phänomenologie steht, wo jegliche bestimmenden Objektivierungen des Subjekts und des Objekts ausgeschaltet werden sollen, die das Phänomen als Positionell halten. Ist die Phänomenalisierung – das, was das Phänomen geschehen lässt – das, was Richirs transzendentale Phänomenologie ausmacht, dann soll die Leiblichkeit die Phänomenalisierung artikulieren. Sie soll der Reflexivität des Denkens – dem Bezug zu außen und innen – Rechnung tragen, ohne dabei in eine Objektivierung zu verfallen. Dazu soll erklärt werden, wie die Leiblichkeit im Hinblick auf die aristotelische Toposlehre den unvermeidlichen und spannungsvollen Abstand zwischen Leib und Leibkörper, Nichtdarstellbarkeit und Darstellbarkeit, der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit verständlich macht und somit als Übergangsbereich (Winnicott) der transzendentalen Begegnung gilt. Erst dann kann die Leiblichkeit im wahrsten Sinne des Wortes als die Grundlage von Richirs transzendentaler Phänomenologie gelten. Es ist unsere Aufgabe in diesem Kapitel, zu zeigen, wie dies in Richirs Phänomenologie geschieht.
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2.1 Zusammenfassung
In diesem Kapitel wird erstens gezeigt, wie Richir der platonischen χώρα eine phänomenologische Bedeutung verleiht. Die These, der wir also hier nachgehen wollen, ist nämlich, dass die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie auf der einen Seite der theoretischen Intuition zur Welterschließung dient, und dass sie auf der anderen Seite im Dienst von Richirs Projekt einer transzendentalen Phänomenologie steht, wo jegliche bestimmenden Objektivierungen des Subjekts und des Objekts ausgeschaltet werden sollen, die das Phänomen als Positionell halten. Ist die Phänomenalisierung – das, was das Phänomen geschehen lässt – das, was Richirs transzendentale Phänomenologie ausmacht, dann soll die Leiblichkeit die Phänomenalisierung artikulieren. Sie soll der Reflexivität des Denkens – dem Bezug zu außen und innen – Rechnung tragen, ohne dabei in eine Objektivierung zu verfallen. Dazu soll erklärt werden, wie die Leiblichkeit im Hinblick auf die aristotelische Toposlehre den unvermeidlichen und spannungsvollen Abstand zwischen Leib und Leibkörper, Nichtdarstellbarkeit und Darstellbarkeit, der Innerlichkeit und der Äußerlichkeit verständlich macht und somit als Übergangsbereich (Winnicott) der transzendentalen Begegnung gilt. Erst dann kann die Leiblichkeit im wahrsten Sinne des Wortes als die Grundlage von Richirs transzendentaler Phänomenologie gelten. Es ist unsere Aufgabe in diesem Kapitel, zu zeigen, wie dies in Richirs Phänomenologie geschieht.
2.1.1 Einleitung
Richirs gesamte phänomenologische Laufbahn strebt nach „Refonte“ der Phänomenologie, was mit Neubearbeitung oder Neugründung zu übersetzen wäre. Damit meint er einen neuen Parameter für die erneute Gründung der Phänomenologie zu entwickeln. Da „neu“ keinen Abschied von der vorangegangen phänomenologischen Entwicklung bedeutet, besteht das Ziel dieses ehrgeizigen Projekts darin, den Kern der Phänomenologie selbst, das, worum es in der Phänomenologie eigentlich geht, soll hervorgebracht und nicht durch etwas anderes ersetzt werden. Er strebt an, diesen Kern phänomenologisch hinreichend auszuweisen. Die Phänomenologie soll deshalb im wahrsten Sinne des Wortes zur transzendentalenFootnote 1 Phänomenologie werden, wenn ihr eigentliches Ziel erreicht werden soll. Solch eine Phänomenologie beschreibt er als Phänomenologie und nichts anderes als Phänomenologie.
Damit dieses Projekt gelingt, setzt Richir sich mit Parametern auseinander, die er in Auseinandersetzung mit der Geschichte der Philosophie gewinnt, namentlich von Platon, Aristoteles, Descartes, Kant bis zu Husserl, Heidegger, Binswanger, Merleau-Ponty, Levinas, Derrida, Freud, Winnicott, Lacan usw. Dies erschwert allerdings eine systematische Lektüre seines Werks. Oft verwandelt er diese Paramater oder verleiht ihnen eine neue Deutung, die sich damit von ihrer ursprünglichen Bedeutung verabschiedet. Daher lassen sich bei ihm sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität bei der Verwendung philosophischer Begriffe sehen, wobei diese ineinandergreifen.
Die Kontinuität besteht in der reflektierenden Fortsetzung des phänomenologischen Projekts. Ein Beispiel wäre dann, nach dem oben erwähnten Ziel zu streben Phänomenologie und nichts anderes als Phänomenologie zu betreiben. Die Diskontinuität besteht aus der Infragestellung einiger vorheriger Parameter dieses Projekts als unzureichend und der dazu gehörenden Innovation. Auch hier sind einige Beispiele zu nennen: die Infragestellung oder die Vertiefung des Husserl’schen Parameters der phänomenologischen Reduktion; die Infragestellung jeglicher Objektivierung und Positivität in der Phänomenologie, sei es seitens des Subjekts oder des Objekts; die Infragestellung der Intentionalität usw. Sowohl die Kontinuität als auch die Diskontinuität ermöglichen eine fruchtbare und innovative Ausarbeitung der Phänomenologie (bzw. der Philosophie) dadurch, dass das phänomenologische Projekt im wahrsten Sinne des Wortes transzendental wird. Das heißt, dass es nur um das Phänomen und nichts anderes als das Phänomen geht. Hier erscheint die Dimension der Innovation, auch wenn Husserl und Heidegger schon nach diesem Ziel gestrebt haben. Während Husserl es im „inneren Zeitbewusstsein“ (dans „la conscience intime du temps et dans le jaillissement pur du Présent“) gesucht hat, hat Heidegger es im „Phänomen der Welt“, oder in den „drei Ekstasen der originären Zeit, im transzendentalen Schematismus der Zeitlichkeit“Footnote 2 gesucht.
Was bedeutet solch ein Anspruch der transzendentalen Phänomenologie im Sinne Richirs für die Phänomenologie? Das heißt, dass das, worum es eigentlich in der Phänomenologie geht, von der Bestimmtheit und von der Positivität befreit werden soll. Die Neubearbeitung der Phänomenologie erhebt deshalb den Anspruch, die Rigorosität einer Philosophie in der Mathesis der Instabilität zu situieren.
Im Mittelpunkt der Diskussion darüber steht die platonische χώραFootnote 3 (Chora), auf die Richir in bemerkenswerter Weise sowohl in Fragments phénoménologiques sur le temps et l’espace als auch Phénoménologie en esquisses: Nouvelles fondations zurückgegriffen hat, und welche für ihn in ihrem ursprünglichen Zusammenhang eine vermittelnde Funktion spielt. Richir distanziert sich jedoch von dieser. Eine Diskontinuität, die sich darin zeigt, ist der Wandel im Parameter: Die χώρα wird nicht mehr in Bezug auf die natürliche Funktion verstanden, wie sie sich in Platons Timaios zeigt. Für Richir wird sie, was den Anspruch der Neubearbeitung der Phänomenologie anbelangt, als Leiblichkeit fortan zur Basis oder Grundlage der Phänomenologie. Die These, der wir also hier nachgehen wollen ist, dass die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie auf der einen Seite der theoretischen Intuition zur Welterschließung dient, und dass sie auf der anderen Seite im Dienst von Richirs Projekt der transzendentalen Phänomenologie steht, wo jegliche bestimmende Objektivierung des Subjekts und des Objekts ausgeschaltet werden soll, die das Phänomen als Positionell hält. Ist die Phänomenalisierung – das, was das Phänomen geschehen lässt (ce qui fait qu’advient le phenomen) – das, was Richirs transzendentale Phänomenologie ausmacht,Footnote 4 wie Schnell in Au-delà de Husserl, Heidegger et Merleau-Ponty: la phenomenologie de Marc Richir erklärt, dann soll die Leiblichkeit die Phänomenalisierung artikulieren – das also, was das Phänomen geschehen lässt. Sie soll die Reflexivität des Denkens, den Bezug zu außen und innen artikulieren, ohne dabei in eine Objektivierung zu verfallen. Erst dann kann sie im wahrsten Sinne des Wortes als die Grundlage von Richirs transzendentaler Phänomenologie gelten. Es ist unsere Aufgabe in diesem Kapitel, aufzuzeigen, wie dies in Richirs Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit geschieht.
Um dieses Ziel zu erreichen, ist dieses Kapitel in drei Hauptabschnitte unterteilt. Im ersten Teil geht es darum, Platons Lehre über die Χώρα und Richirs „diskontinuierliche“ Aneignung davon (also von der Χώρα) zu skizzieren. Im zweiten Teil versuchen wir, die Χώρα (als Leiblichkeit) als den Ort zu verstehen, an dem Phänomenalisierung außerhalb jeglicher Positivität stattfindet. Phänomenalisierung bezeichnet die Aktivitäten der Schematisierung, in der die Schwankungen, die Affektivität, und die Spontaneität der Phantasia erscheinen und verschwinden, wo die Intentionalität keinen Platz hat. In diesem Bereich wird die Leiblichkeit von einer Unendlichkeit von Unbestimmtheiten durchdrungen. Um diesen Teil zu beenden, beschäftigen wir uns mit Richirs Überarbeitung der aristotelischen Physik. Die Überarbeitung erweist sich als produktiv, denn die Konzepte der Leiblichkeit (χώρα), des Leibes (τόπος), und des Leibkörpers gewinnen dadurch eine bedeutende theoretische Grundlage. Das Verhältnis zwischen Leib und Leibkörper erweist sich als problematisch. Zwischen den beiden liegt ein nicht verminderbarer Abstand, den nur die Leiblichkeit lösen kann. Dies ist der Ausgangspunkt für den dritten Teil, dessen einziges Ziel es ist, die Rolle der Leiblichkeit in der Bezüglichkeit zur Welt (wir verwenden ein Modell der transzendentalen Interfaktivität), ihr Verhältnis zum Leib (Selbst) und ihre Rolle zur anonymen Individuation (Asubjekt), sowie ihr Verhältnis zum Realen zu skizzieren. Dabei wird gezeigt, dass sowohl der Leib (also das Selbst), der durch das Verhältnis zur Leiblichkeit zu sich kommt, als auch das Reale, das sich beim Bezug zur Welt zeigt, dem Griff der Doxa oder der Stellungnahme entgeht. Sie sind eine Konkretheit oder eine Sachlichkeit und keine Exteriorität, obwohl sie ein Verhältnis zur Welt haben. In diesem dritten Teil werden sowohl Winnicotts Übergangsraum als auch Husserls „perzeptive“ Phantasia in gewissem Maße konstruktiv von Richir her angenommen und – wo nötig – überwunden. Wir beenden das Kapitel, indem wir bestätigen, dass Richirs Leiblichkeitslehre wirklich als Grundlage der Phänomenologie nicht nur über das Potenzial verfügt, das Projekt der angestrebten transzendentalen Phänomenologie zu erreichen, sondern sie wirklich erreicht hat.
2.2 Die Platonische Χώρα des Timaios
Zunächst lässt sich fragen, wie der schon erwähnte ursprüngliche Zusammenhang einer vermittelnden Funktion in Bezug auf die Χώρα zu verstehen ist. Dazu müssen wir uns dem Timaios zuwenden. Wenn man nun die Frage aufwirft, worum es dabei eigentlich geht, so lässt sich mit Otto Apelt sagen:
Der Timaios ist so nichts anderes als die Lehre von der Selbstentfaltung der höchsten Vernunft, aus welcher Selbstentfaltung eben das Universum besteht. Ohne die sichtbare Welt ist diese höchste Vernunft im Grunde nur potentiell; aktuell wird sie erst durch die Selbstentwicklung in der sichtbaren Natur.Footnote 5
Es handelt sich seiner Meinung nach also um die Entfaltung der Vernunft, die sich nicht nur als eine formlose Idee, sondern auch als das Sichtbare im ganzen Universum versteht, das aus ihr entsteht. Genau diese zwei Ordnungen der Wirklichkeit fassen die Grundthese des Timaios zusammen. Im Wesentlich scheint es eine Sache des Verhältnisses zwischen der Welt der Ideen und der des Sinnes, der des Geistes und der des Körpers usw. zu sein. Genauer betrachtet spiegelt dies die vom Timaios unterschiedenen zwei Seinsarten:
Was ist das immer Seiende, welches kein Werden zulässt, und was ist das immer Werdende, welches niemals des Seins teilhaftig wird? Das Eine ist durch vernünftiges Denken vermittelst des Verstandes erfassbar, denn es bleibt immerdar sich selbst gleich, das andere ist nur der (schwankenden) Meinung eben in dieser unvollkommenen Form erfaßbar vermittelst der Sinneswahrnehmung ohne Beteiligung des Verstandes.Footnote 6
Wir haben es hier auf der einen Seite mit einem immer Seienden und auf der anderen Seite mit einem immer Werdenden zu tun. Timaios Frage nach den Seinsweisen führt zu einer Antwort, die sich aber mit der Erfassungsweise beschäftigt. So heißt es, dass das immer Seiende durch νόησις μετἀ λόγου (durch eine rational bedingte Vernunft) und das immer Werdende durch δόξα μετ҆᾽ αἰσϑήσεως ʹαλόγου (durch eine Meinung, die gar nicht von Verstand begleitet wird) erfasst werden. Da alles WerdendeFootnote 7 irgendeine gründliche Notwendigkeit (Ursache) hat und da der Himmel eine solche Ursache durch seinen gewordenen Anfang hat, sodass er „sichtbar, fühlbar und körperlich“ ist (der Wahrnehmung entsprechend), ist er dem Werden zugeschrieben.Footnote 8 Der Anfang und die Ursache des Himmels werden dem Demiurg zugerechnet. Die Frage, auf die der Timaios eingeht, nämlich nach welchem Seinsmuster der Demiurg den Himmel bildete, ist nicht nur klar, sondern führt auch zu einem neuen Begriff: Abbild,Footnote 9welcher aber an ein anderes „Urbild“ (παράδειγμα) erinnert, das immer Seiende. Während der eine den Darstellungscharakter „des dem Muster nur Nachgebildeten“ trägt, bezeichnet der andere „den Charakter des Bleibenden und Unumstößlichen.“Footnote 10 Die vom Timaios oben gestellte Frage, was das immer Werdende sei, welches niemals des Seins teilhaftig wird, bekommt in diesem Zusammenhang eine Antwort. Denn Werden bzw. Abbild verhält sich zum Sein, wie Wahrscheinlichkeit oder Glauben (πίστις) sich zur Wahrheit verhält. Wenn also für Wahrheit und Sein die Vernunft (λόγος) zuständig ist, dann dürfen wir mit Sonderegger fragen, „was aber für Plausibilität und Werden“ zuständig ist? Für Sonderegger ist die Frage des Timaios’ beantwortet, „in dem er sagt, von dem, was Abbild (εἰκών) sei. Also solle die Rede in der Weise eines εἰκώς λόγος sein.“Footnote 11
Wäre das alles, was der Timaios uns anzubieten hat, so müsste man davon ausgehen, dass er keine neue Einsicht in die Thematik gebracht hat, denn sowohl die Verhältnisse der Vernunft zur sichtbaren Welt als auch das Wesen der Ideenwelt als Urbilder und unwandelbare Urmuster der Sinnesanschauung wurden schon ausführlich in anderen platonischen Schriften entwickelt, wie z. B. in der Republik und im Phaidon. Was macht also das Neue des Timaios aus? Dies ist eine erste Frage.
Zugleich verfügen die beiden Ordnungen der Wirklichkeit über unterschiedliche Gesetze. Es ist noch nicht klar, wie die Selbstentfaltung der höchsten Vernunft zur sichtbaren Welt konkret geschieht, das heißt: in einer natürlichen Weise, denn der Timaios schildert in besonderer Weise das Werden der Natur, der Welt, allem was dazu gehört, und der Menschen. Wie kommt man also von Sein zum Werden? Wie nimmt das Werden am Sein teil und umgekehrt: Wie ist das Werden zu fassen? Also wie ist das Werden oder besser ausgedrückt: Wie ist es möglich? Da weder das Werden des Seins noch das Sein des Werdens an sich ausreichend für die Entstehung (die Entfaltung) der natürlichen Wirklichkeit sind, und da wir daher eine weitere Größe brauchen, haben wir hier eine zweite offene Frage.
Die Entstehung oder Zusammenfügung der ganzen Weltkörper sollte nach Gottes Vorstellung durchweg vollkommen und unberührt von Alter und Krankheit sein. Deshalb entschied er, die Weltkörper sollen aus lauter vollkommenen Teilen (den vier Elementen: Feuer, Erde, Wasser, Luft) bestehen. Die Elemente waren also zur ursprünglichen Entstehung der Welt gedacht, sodass man annehmen kann, sie könnten eine Antwort auf die zweite Frage liefern. Aber da diese Elemente selbst entstanden, also zum Werden gekommen sind, auch wenn bisher niemand einen Aufschluss darüber gegeben hat, können sie das Werden des Werdens nicht erklären. Man solle vielmehr betrachten, wie sie „vor Entstehung der Welt waren.“Footnote 12 Daher folgert Platons Timaios, „daß die Elemente noch nicht einmal einen zureichenden Anspruch darauf haben“,Footnote 13 als „Elemente des Alls“ verstanden zu werden. Daher vermögen sie es nicht, die entsprechende Antwort auf die zweite Frage, also für das Werden – sie unterliegen dem Werden und stellen als Abbild also ein Gewordenes dar –, zu liefern, da sie selber einer unaufhörlichen Veränderung durch das Werden zugerechnet werden, wie wir schon erwähnt haben. Deshalb soll die Antwort auf die natürliche Weise des Werdens ursprünglicher bzw. eine Grundlage für die Elemente sein. Diese Grundlage soll in der Lage sein, das Sein in sich aufzunehmen und ihm das Werden zu ermöglichen. Da die Elemente diese grundlegende Funktion nicht erfüllen können, „dürfen wir die Mutter und Empfängerin dessen, was sichtbar und in allen Beziehungen wahrnehmbar geworden ist, weder Erde noch Luft noch Feuer noch Wasser nennen“.Footnote 14
Wie wird diese mütterlicheFootnote 15 Funktion dann erfüllt? Damit allein sind wir schon bei der dritten Gattung neben den zwei schon vorgestellten Gattungen: „eine […] urbildliche Gattung […], die anders als ein Abbild des Urbildes, der Entstehung unterworfen und sichtbar“Footnote 16 ist. Genau durch diese dritte Gattung, die in Platons Timaios als χώρα (Chora) bezeichnet wird, wird die zweite Frage beantwortet. Zugleich haben wir jedoch damit noch lange nicht diese Funktion der χώρα und ihre entsprechende Natur erschöpfend erklärt. Sie zeigt sich bei näherer Lektüre des Timaios.
Da die χώρα „als Empfängerin und gleichsam Amme alles Werdens“ (γενέσεως ὑποδοχή) anzusehen istFootnote 17 ermöglicht sie das Werden, indem sie eine Brücke zwischen dem Urbild und dem Abbild, der Vernunft und der sichtbaren Welt, zwischen Sein und dem Gewordenen errichtet. Die χώρα erfüllt diese Funktion nicht auf die Art und Weise der Elemente, die der Wankelmütigkeit von unterschiedlichen Gestalten und Erscheinungen unterliegen. Vielmehr vermag sie eine Unerschütterlichkeit zu beweisen, obwohl sie als „natürliche […] Aufnahmestätte aller Körper“ dem Sein „Sitz“ fürs Werden bietet. Indem sie das tut, nimmt sie alles auf, ohne eine bestimmte Gestalt anzunehmen, die „irgendwelche Ähnlichkeit […] mit einem der in sie eintretenden Gebilde“ hätte.Footnote 18 Trotz dieser unerschütterlichen Beständigkeit bleibt sie eine gestaltbare Grundlage für alle Dinge der Natur. Gestaltbar, weil ihre Grundlage neutral ist. Sie nimmt unterschiedliche Gestaltungen auf, die wiederum aus ihr als „Abbilder des Seienden“ austreten, und „die auf eine schwer zu beschreibende und wunderbare Weise zustande gekommen sind.“Footnote 19 Während sie auf der einen Seite Mutter, „unsichtbares und gestaltloses, allempfängliches Gebilde ist“,Footnote 20 nimmt sie auf der anderen Seite „an dem nur Denkbaren teil.“Footnote 21 Nichts, was wird, ist daher ohne sie möglich. Genau dies ist die grundlegende vermittelnde Funktion, die Richir der platonischen χώρα zugeschrieben hat und die den Timaios ausmacht. Somit ist auch die erste Frage beantwortet.
Wenn die χώρα als die „Aufnahmestätte aller Körper“ oder als allempfängliches Gebilde, Sitz usw. bezeichnet wird, dann muss sie ein Raum sein. Ist mit diesem Raum also nicht auch der geometrische euklidische Raum gemeint, der im ersten Teil des Timaios (27–48) diskutiert wird? Denn in solch einem leeren geometrischen Raum ist das Werden nur auf eine abstrakte und nicht natürliche Weise möglich. Daher kann die χώρα nur dem Naturraum entsprechen, wie sie im zweiten Teil des Dialogs geschildert wird. Ein ausführliches Zitat verdeutlicht das:
Das dritte [die χώρα, D.E.] aber ist das ewige Reich des Raumes, das keiner Vernichtung zugänglich, allem Entstehenden eine Stätte gewährt und selbst ohne Sinneswahrnehmung erkannt wird durch eine Art unechter Einsicht […] Dieses Gebiet ist es denn, auf das wir uns beziehen, wenn wir sehend träumen und sagen, alles was da ist, müsse doch an einem bestimmten Orte sein und einen bestimmten Raum einnehmen, was aber weder auf Erden noch irgendwo in der Welt sei, habe überhaupt kein Sein.Footnote 22
Der Bezug zur Erkenntnis durch Sinneswahrnehmung, Sehen, Träumen und der Hinweis auf Ontologie (den Raum der Welt) heben alle Behauptungen eines geometrischen Raumes auf und legen daher die Deutung der χώρα als eines natürlichen Raumes. Als Naturraum spielt die χώρα eine vermittelnde Funktion und dient sowohl als ein A priori als auch als eine empirischeFootnote 23 Grundlage für die Möglichkeit der Wirklichkeit. Wie Richir es fasst: „Es muss also etwas in der Seele sein, das dasselbe und […] das andere versöhnt, (was den Zugang zum Sensiblen und zur Doxa ermöglicht).“Footnote 24 Sie ermöglicht den Zugang zum oder besser ausgedrückt das Werden von „δόξα μετ҆“ αἰσϑήσεως ʹαλόγου“, Meinung die gar nicht von verständlicher Wahrnehmung begleitet wird.Footnote 25 Für Richir ist die χώρα nicht das mögliche Objekt von δόξα. Diese Letztere gehört dem Bereich des Werdens und in Richirs Augen dem Bereich der Positionalität, d. h. der Stellungnahme, an. Jedoch vermag die δόξα auf diesen Raum der χώρα zuzugreifen.
2.3 Die χώρα als archaische Grundlage der Phänomenologie
Die χώρα wurde seit PlatonFootnote 26 und besonders in der modernen Zeit unterschiedlich interpretiert und in vielfältigen Disziplinen wie Architektur,Footnote 27 Sprachphilosophie,Footnote 28 Genderdebatten,Footnote 29 PolitikwissenschaftFootnote 30 usw. aufgegriffen. Auch in der Philosophie gibt es zahlreiche Bearbeitungen dieses Begriffs: durch Heidegger, Fink oder Derrida, um nur einige Philosophen zu nennen.
Aber was nun den Anspruch der Neubearbeitung der Phänomenologie anbelangt, fordert Richir einen Perspektivwechsel in Bezug auf die χώρα des Timaios von Platon. Zunächst handelt es sich gar nicht mehr um einen natürlichen, sondern um einen phänomenologischen Raum. Das metadoxische Feld der Phänomenologie entspricht dem Feld dessen, was in der vielfältigen Bewegung der χώρα geschehen kann. Man sieht, wir haben hier nicht nur einen phänomenologischen Raum, sondern auch einen, der alle Felder der δόξα in Frage stellt, wie später klarer werden wird. Für Richir muss die Phänomenologie, die er zu gründen versucht, sich von der geheimen Macht (emprise secrète de la doxa) der δόξα befreien, sodass diese im Feld der Intentionalität und Positionalität eigeschränkt wird.Footnote 31
Als phänomenologischer Raum spielt die χώρα fortan keine vermittelnde Funktion mehr. Der Anspruch der Neubearbeitung der Phänomenologie verlangt aber mehr als auf den ersten Blick sichtbar. Daher soll diese χώρα zu einer tiefgründigeren Schicht gehören bzw. eine archaischere Funktion erfüllen als die platonische. Deshalb heißt es für Richir: „Anstatt der unvermeidliche Vermittler der Weltordnung zu sein, ist die Chôra deren Ausgangspunkt“.Footnote 32 Das heißt: Damit jegliche Art von Bezug zur Welt überhaupt möglich sein kann, brauchen wir nicht nur das Notwendige, sondern auch das Hinreichende. Denn das eine vermag genügend zur Weltordnung zu gelangen, aber ohne die unterschiedlichen Schichten der Ordnung der Welt auseinander halten zu können. Nur das andere vermag es, Rechenschaft für diese unterschiedlichen Schichten der Weltordnung als nicht phänomenologisch abzulegen, die die symbolischen Stiftungen (dem Feld von Doxa entsprechend) ausmachen. Das zweite schließt außerdem das erste nicht aus. Um das alles in einem anschaulichen Beispiel zu verdeutlichen, kann man von der Notwendigkeit der Leibkörper (z. B. der Augen oder Ohren) für die Wahrnehmung von Objekten sprechen, wenngleich sie für die damit verbundenen Erlebnisse nicht hinreichend sind. Die Neubearbeitung der Phänomenologie soll Rechenschaft über die Frage ablegen, was das Hinreichende in der Phänomenologie ausmacht. Richirs Ziel ist es, eine tiefere, hinreichende Schicht zu fordern, die nicht nur Zugang zu jeglicher Art von Erfahrung der Welt ermöglicht, sondern auch für die Sedimentierung dieser in symbolischen StiftungenFootnote 33 potenzielle Basis ist. Deshalb reicht ihm für diesen Zweck das Verständnis der Funktion von χώρα als Vermittler einfach nicht aus. Vielmehr ist sie die ultimative phänomenologische Basis (la base phénoménologique ultime) oder was er an anderer Stelle als das „Archaische“ bezeichnet.
Jedoch kann der Begriff „Basis“ oder „Grundlage“ verwirrend sein. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, als würde „Grundlage“ (im Sinne eines Ausgangspunkts) einfach eine Position voraussetzen. Dies ist aber bei Richir nicht der Fall, denn die „phänomenologische Grundlage“ ist gar nicht positionell, es sei denn durch eine architektonische Umsetzung,Footnote 34 die sie zum Fundament verwandeln würde. Die phänomenologische Grundlage grenzt sich vom Begriff „Fundament“ (fondement) ab, welcher aber positionell ist. Daraus folgt für Richir erstens, dass die Grundlage über kein Prinzip verfügt. Ist die χώρα (also die Leiblichkeit) die „ultimative phänomenologische Grundlage“,Footnote 35 dann soll das eigentlich bedeuten, dass sie ohne Prinzip (anarchisch) ist. Wenn Richir dieser Grundlage wichtige Funktionen zuschreibt – dass sie nährt und dass sie Matrix ist –, dann bedeutet dies, dass die Leiblichkeit den Boden des Fundaments nährt und dessen Matrix ist. Die zweite Implikation, die Richir gibt, verstärkt die Abgrenzung der beiden Register der Grundlage und des Fundaments. Während die Grundlage dem Fundament gegenüber transpossibel (über alle Möglichkeiten hinausFootnote 36) bleibt, bleibt das Fundament seinerseits für die Grundlage transpassibel. Wenn dies für Richir wieder bedeutet, dass man nicht vom Fundament zur Grundlage übergehenFootnote 37 kann, solange die Umsetzung des Fundaments stattgefunden hat, radikalisiert dies für uns die Idee weiter, dass nur die Leiblichkeit und nicht ihre Verformung – zum Beispiel in der Phantomleiblichkeit – die ultimative Grundlage der Phänomenologie sein kann. Das Register des Fundaments schaltet andere Register, wie etwa „Grundlage, nicht aus. Würde die χώρα (die Leiblichkeit) als Grundlage also die unterschiedlichen Register ausschalten, die es gibt, dann würden wir es dabei nicht mehr mit einem Register zu tun haben, das neben anderen architektonischen Registern besteht, sondern mit einem Register, das sie ausgrenzt, als hätten wir es mit einer „Ebene des Seins“ (niveau d’être) zu tun. Dann würden wir nicht mehr von der Phänomenologie reden, sondern von der Metaphysik.Footnote 38 Das Gegenteil davon erfordert daher, dass die verschiedenen Register, die gleichzeitig nebeneinander bestehen, auch thematisiert werden, wobei der Übergang von einem Register zum anderen Register eine Deformation des vorigen Registers mit sich bringt. Das bedeutet auch „eine Offenheit für das Neue“,Footnote 39 eine Bereitschaft, mit dem anderen Register zu kommunizieren. Jeder Übergang wird durch die Schaffung einer neuen Stiftung verwirklicht.Footnote 40 Laut Richir werden in der Phänomenologie also keine „Schichten des Seins“ thematisiert. Angelehnt an eine Passage aus Hua XV Nr. 4,Footnote 41 wo Husserl von einer Schichtung statt einer Gliederung spricht, verteidigt Richir das schon erwähnte architektonische Register.
Schnell hat die These vertreten, dass Richirs Begriff der Grundlage das Prinzip aller Prinzipien Husserls in Frage stellt.Footnote 42 Dieses Prinzip besagt,
dass jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt.Footnote 43
Damit wird der Anspruch erhoben, dass eine phänomenologische Bezeugung sich auf einen legitimen Beweis gründen soll. Der Beweis kann nur in einer originär intuitiven Intuition gegeben sein. Nur aus diesen originären Gegebenheiten kann die Wahrheit jeder phänomenologischen Bezeugung gezogen werden. Da Kants transzendentale Synthesen nur als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung dienen und es deshalb an einer phänomenologischen Bezeugung mangelt, kann aus ihnen im Husserl’schen Sinne keine Wahrheit geschöpft werden.Footnote 44 Die transzendentale Synthese basiert selbst nicht auf Erfahrung. Daraus ergibt sich deshalb die Frage, wie solch eine transzendentale Synthesis ErkenntnisFootnote 45 legitimieren kann. All das wird nun in Richirs Begriff Grundlage auf den Kopf gestellt. Ihm sei nicht mehr eine Erkenntnistheorie wichtig, nicht einmal die Bedingung ihrer Möglichkeit. Die Schicht, in der er die Phänomenologie gründen will, ist archaischer und ursprünglicher als diese, wobei das Wort „ursprünglich“ nicht im Sinne einer Arche verstanden werden soll.
In diesem Zusammenhang also sollte nun der Hinweis auf die χώρα als Grundlage verständlicher sein als zuvor. Allein mit der Tatsache, dass der Demiurg über die χώρα nicht willkürlich nach seinem Willen verfügen kann, will Richir nicht nur beweisen, wie ihm dieser phänomenologische Raum entgeht, sondern auch um wieviel grundlegender und archaischer letzterer ist.
Als ultimative phänomenologische Basis ist die χώρα für Richir 1) der Ort des phänomenologischen Schematismus der Phänomenalisierung (das bedeutet, wie wir sehen werden, dass die χώρα mit der Phantasia, Affektion und Leiblichkeit zusammenhängt), des mütterlichen Schoßes als Transzendental, und fungiert deshalb als Protoraum für die Alterität (und auch für den Weltraum überhaupt) oder für das Selbst.Footnote 46 Wir fügen hinzu: Durch die χώρα ist der Zugang zum Realen möglich. Unsere Aufgabe ist es aber nun, diese These darzulegen. Deshalb wenden wir uns nun einer Behandlung der unterschiedlichen Register zu und werden sie nacheinander thematisieren.
2.3.1 Die χώρα als Ort des phänomenologischen Schematismus
Für Richir ist die klassische Lehre, die den Blick und das Sehen dem Geist zuordnet, nicht mehr haltbar. Man müsse die Herausforderung annehmen und sie als ein Rätsel erneut überdenken. Beim Schematismus sei diese Zuordnung zum Geist im Gegensatz zum Blick und zum Sehen haltbar, wenn man ihn auf die neue Auslegung von Timaios § 52–53/45 bezieht. Wenn man nun fragt: „Was ist der Schematismus überhaupt?“, „was macht ihn aus?“, dann dürfen wir ihn zunächst als eine Bewegung im Geist oder eine Denkbewegung,
wie es besonders bei KantFootnote 47 der Fall ist, verstehen.Footnote 48 Es handelt sich hier schlicht um die Bewegung, die bei der χώρα ausgelöst wird, jedes Mal wenn die Nachahmung – also die μίμημα – (des immer Seienden) in sie eintritt und wieder aus ihr austritt; genauso wie beim Gold, das alle Arten von Figuren (Schemata) als Abdrücke aufnimmt, die aber in ständigem Wechsel sind,Footnote 49 sodass das Gold ständiger Bewegung ausgesetzt ist. Genau das ist die Natur (Physis) der Elemente (Wasser, Luft, Erde und Feuer), denn keines von ihnen erscheint auf die gleiche Art und Weise; sie erscheinen in unterschiedlichen Figuren oder Gestalten. Wir sehen jetzt, dass es die μίμηματα in ihren vielfältigen Gestalten sind, die einer unendlichen Duktilität und deshalb einer „unaufhörlichen Wende des Werdens“ ausgesetzt sind und die die χώρα ständig aufnimmt. Deshalb schreibt Richir, dass die Empfängerin „in Bewegung gesetzt und in Figuren geschnitten wird.“ Letzteres übersetzt er mit: „schematisiert“ und fügt hinzu, dass die Empfängerin der Ort des Schematismus sei,Footnote 50 ohne dass die Zeit dabei eingreift.
Es ist aber noch nicht klar, wodurch sie in Bewegung gesetzt wird. Dazu greift Richir auf Timaios 52–53 zurück und setzt fort: „sie wird durch die Elemente ‚schematisiert‘“. Der phänomenologische Schematismus geschieht also dadurch, dass die Empfängerin vermittels der Elemente erschüttert wird. Damit ist nicht gemeint, dass die χώρα einer Passivität zugeordnet wird. Sie ist nicht nur eine reine Empfängerin, die von außen affiziert wird. Daher „setzt sie auch ihrerseits durch ihre eigene Bewegung wieder jene Elemente in Erschütterung.“Footnote 51 Diese Bewegung in zwei Richtungen, das Aufnehmen der von den Elementen entstehenden Bewegungen und die Erschütterung der Elemente durch die χώρα nennt Richir: „Kondensation und Dissipation“, die den phänomenologischen Schematismus ausmachen. Affektivität entsteht laut Richir durch diese zwei entgegengesetzten Bewegungen der Elemente.
Nun bleibt noch offen, als was die Elemente in Richirs Augen verstanden werden kann. In Platons Timaios meinen die Elemente konkret Feuer, Erde, Wasser, Luft. Bei Richir hingegen hat es gar nichts mit solchen Körpern zu tun, denn das Element ist weder Ort (Topos), noch Raum, noch Zeit,Footnote 52 auch wenn es den phänomenologischen Ausgangspunkt (also die Grundlage) für Letztere in Bewegung setzt, wie wir später sehen werden. Ihre Hylè – im Sinne Richirs – ist nichts Physisches. Vielmehr soll sie phänomenologisch verstanden werden. Auch die Schwierigkeit, einen passenden Namen für das Elementale zu finden, verrät einigermaßen die hier gemeinte Immaterialität des Elementalen, welchem Richir nun den Namen „fundamentales Element“ gibt. Da diese Immaterialität den Eindruck erwecken könnte, dass das fundamentale Element anfällig dafür sei, affiziert zu werden – jedes Mal, wenn es von der χώρα erschüttert wird –, schreibt Richir dem fundamentalen Element eine Aktivität zu. Hier ist auch das Gegenteil der Fall, denn dieses Element wird ebenso von der χώρα erschüttert („schematisiert“). Außerdem bedeutet die Immaterialität keine Nichtigkeit. Wenn nun dem fundamentalen Element eine Nichträumlichkeit (weder χώρα noch τόπος), eine Nichtzeitlichkeit (weder Vergangenheit noch Zukunft), weder Materialität noch Nichtigkeit eingeräumt werden, dann ist das so, weil es laut Richir ein unendlich spannungsgeladenes Übergangsumfeld (le milieu même d’un „transire“ infini) oder der unendliche Übergangsbereich zwischen χώρα und τόπος ist. In diesem Zusammenhang könnte man sagen, dass es sich durch eine irreduzible Unbestimmtheit auszeichnet, die seinen originären Abstand ausmacht.Footnote 53 Halten wir zunächst diese Idee des originären unbestimmten Abstandes fest, die Richirs Phänomenologie charakterisiert und die für uns in der ganzen Arbeit zum hermeneutischen SchlüsselFootnote 54 wird. Genau in diesem unendlich spannungsgeladenes Übergangsumfeld wird der phänomenologische Schematismus ausgelöst. Wir werden uns nunmehr bemühen, einige phänomenologische Konsequenzen hieraus zu ziehen, die Richirs Neubearbeitung der Phänomenologie charakterisieren.
Nachdem Richir den Schematismus nicht in einem vorgegebenen Milieu, sondern in einem Milieu des originären Abstands identifiziert hat, das den Übergang selbst ermöglicht, hat er sich nicht nur von der Idealität der Antike verabschiedet, deren Formen des Schematismus nur bereits vorgegebene Identitäten und Habitus wiederholen, sondern er hat auch eine radikale Abkehr von der Doxa durchgeführt, sei sie ein Subjekt oder ein Gegegenstand der Welt. Die erste Art von Schematismus findet sein Echo in Zenon und Platon, während die zweite Art von Schematismus angelehnt an DescartesFootnote 55 eine Überwindung oder Vertiefung der phänomenologischen Epoché von Husserl darstellt. Wir beginnen mit der ersten Art von Schematismus, während wir die zweite einer späteren Diskussion vorbehalten.
Zenons Paradoxe, die als die wichtigsten Beispiele für eine reductio ad absurdum angeführt werden könnten, wurden im Zusammenhang mit der Förderung von Parmenides Vorstellung von der Singularität der Realität, der Unmöglichkeit der Veränderung und der Zeitlosigkeit des Seins bestimmt. Die Paradoxe entwickelten daher eine Reihe von Argumenten zur Unterstützung der Annahme einer trugbildhaften Natur der Bewegung und Veränderung. Zenons Argumente bestanden im Wesentlichen aus einer Reihe von Paradoxien, die konsistent waren, selbst wenn sie bis ins Unendliche geführt werden könnten. Zum Beispiel lesen wir im Paradox über Achilles und die Schildkröte: „In einem Rennen kann der schnellste Läufer niemals den langsamsten überholen, da der Verfolger zuerst den Punkt erreichen muss, an dem der Verfolgte begonnen hat, so dass der langsamere immer […] führen“ muss.Footnote 56 Nehmen wir an, Achilles hat der Schildkröte beispielsweise im Rahmen eines Lauf- oder Laufwettbewerbs einen Vorsprung von zehn Kilometern eingeräumt und jeder von ihnen beginnt mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu laufen. Nehmen wir weiter an, Achilles ist schneller und die Schildkröte langsamer. Wenn Achilles die zehn Kilometer zurückgelegt haben muss und damit zum Ausgangspunkt der Schildkröte gelangt ist, hätte die Schildkröte einige Fortschritte gemacht, sagen wir 100 Meter mehr. Achilles würde einige Zeit benötigen, um diese 100 Meter abzudecken, während die Schildkröte in diesem Zeitraum 4 Meter gelaufen wäre. Achilles würde eine weitere Zeit benötigen, um diese 4 Meter abzudecken, während die Schildkröte weiter fortgeschritten wäre. Wir können jetzt sehen, dass es bei dem Argument um die Unendlichkeit eines Kontinuums (ad infinitum) geht, da dieselben Prozesse ohne Ende fortgesetzt werden könnten. Aus diesem Grund wirft Richir dem Prozess eine tautologische „Wiederholung derselben Operation der Teilung eines Körpers oder einer Bewegung eines Körpers“ vor, insofern diese Operation die „Teilung einer Menge in aufeinanderfolgende Mengen impliziert, die niemals zu Ende geht.“Footnote 57 Das heißt aber nicht, dass der Vorgang eine wirkliche Pluralität beschreibt. Die Paradoxe zeigen, wie trügerisch die Behauptung einer Pluralität des Vorgangs ist. Denn jeder Vorgang entspricht einem Haltepunkt, wie Achilles’ Pfeil zeigt. Der Pfeil bewegt sich von einem Stillstand zum anderen, von wo aus wir sehen können, dass es nicht so sehr um eine Pluralität geht, sondern um eine ewige „Wiederholung desselben Vorgangs“.Footnote 58 Die Unendlichkeit, um die es bei Zenon geht, ist daher statisch und nicht fortschreitend. Sie ist gefangen in einer sich stetig wiederholenden Abfolge, die denselben Vorgang wiederholt. Man könnte von einer vorgegebenen Identität in einem vorgegebenen Milieu sprechen. Solch eine vorgegebene Identität würde dann auch Platons Idee des immer Seienden, welches kein Werden zulässt, entsprechen. Laut Richir handelt es sich hier um die symbolische Stiftung einer Idealität,Footnote 59 welche auch einen Schematismus impliziert, der aber nur durch eine Ingangsetzung eines kinästhetischen Habitus fungiert. Ein Habitus verfügt in der Regel über eine in der Leiblichkeit sedimentierte Intentionalität. Laut Richir sind diese sedimentierten Intentionalitäten einfach „Gedanken, die den Apperzeptionen der Objekte Sinn geben“, woraus man schließen kann, dass es sich hier um eine Denkbewegung handelt, auch wenn solch eine Denkbewegung (Schematismus) einfach nur zu einer ewigen Zirkularität verurteilt ist. Damit Denken überhaupt möglich sein kann, muss die sedimentierte Intentionalität wieder neu aktiviert werden, wo nur das alte Selbe wieder in Bewegung gesetzt wird.
Der phänomenologische Schematismus hingegen, den Richir in die Phänomenologie einführt, und der im Übergangsfeld des fundamentalen Elements geschieht, unterscheidet sich durch seine Dynamik sehr stark vom oben geschilderten Schematismus. Ist er in Gang, so kann ihn nichts aufhalten. Deshalb ist er „unendlich“ und „inchoativ“ wie „eine Spiralbewegung“ (mouvement en spiral), bei der weder „Vorzeitigkeit noch Nachzeitigkeit“ Platz haben. Zugleich geht er über alle Möglichkeiten hinaus (transpossible), denn er ist nicht von irgendeiner Bestimmbarkeit abhängig. Daraus folgt, dass dem phänomenologischen Schematismus keine Übereinstimmung mit einem Selbst eingeräumt werden kann,Footnote 60 wie die MetaphysikFootnote 61 und alle symbolischen Stiftungen in der Regel voraussetzen. Darüber hinaus vermag er es, anhand seines im fundamentalen Element geschehenden inhärenten Abstands („écart originaire“), der Mächtigkeit der δόξα zu entgehen. Es ist aber noch nicht geklärt, was diese Konsequenzen mit der χώρα zu tun haben.
Vorhin haben wir in aller Kürze auf den Zusammenhang zwischen dem fundamentalen Element, dem Schematismus und der χώρα hingewiesen. Der phänomenologische Schematismus geschieht dadurch, dass die Empfängerin vermittels der Elemente erschüttert wird, wobei die Empfängerin ihrerseits die Elemente erschüttert. Deshalb ist die χώρα nicht nur der Ort des fundamentalen Elements, sondern auch der des Schematismus. Die zwei entgegengesetzten Bewegungen (also Kondensation und Dissipation des Schematismus) des fundamentalen Elements hinterlassen in der χώρα ihre Spuren, die die Phantasiai-AffektionenFootnote 62 darin schimmern lassen. Eine Stelle aus dem Timaios, auf die Richir Bezug nimmt, verweist auf dies:
Dieses Gebiet ist es denn, auf das wir uns beziehen, wenn wir sehend träumen und sagen, alles was da ist, müsse doch an einem bestimmten Orte sein und bestimmten Raum einnehmen, was aber weder auf Erden noch irgendwo in der Welt sei, habe überhaupt kein Sein. Alle diese und dem verwandte Einbildungen übertragen wir infolge dieses Traumzustandes auch auf das Reich des nimmer schlummernden, wahrhaften Seins und sind beim Erwachen, nicht fähig durch Unterscheidung die Wahrheit festzustellen, nämlich so: ein Bild trägt ja den Grund seiner Entstehung gar nicht einmal in sich selbst, sondern ist immer nur die flüchtige Erscheinung eines anderen; deshalb muss es, wenn es überhaupt etwas sein will, seine Entstehung in irgendeinem anderen finden, um doch irgendwie am Sein teilzuhaben.Footnote 63
Kurz vor diesem Zitat hat Platon schon über die χώρα als Empfängerin (Raum) geschrieben, sie würde „selbst ohne Sinneswahrnehmung (etwa Bewusstsein) erkannt“, „durch eine Art unechter Einsicht.“Footnote 64 Richir bedient sich des Traumbegriffs, um die Phantasiai auszudrücken. Das Zitat oben verweist an vielen Stellen auf die Doppelweltlichkeit des Traumes. Er scheint zugleich zu sein und nicht zu sein, ein Bild von etwas an einem bestimmten Ort zu tragen, was aber gleichzeitig „weder auf Erden noch irgendwo in der Welt sei.“ Der Traum ist also mit einem Bein in der Welt des Seins und doch mit dem anderen in der Welt des Nichtseins. Deshalb vermögen wir es beim „Erwachen“ nicht, das eine von dem anderen zu unterscheiden. Wir haben es nur mit einer „flüchtigen Erscheinung“ zu tun. Wenn Richir sich also auf den Traum bezieht, dann ist es so, weil nur Letzterer das Wesen der Phantasia artikulieren kann, die zunächst eine objektlose, flüchtige Erscheinung, aber anfällig für die Gefangennahme des Seins ist. Das heißt, dass vom archaischen Raum der Phantasia – dieser Raum ist die χώρα, wie wir schon erwähnt haben – eine Umsetzung (Richir spricht oft von „Transposition“) zum Raum der Wahrnehmung geschehen kann. Die Möglichkeit dieser Umsetzung ist vom grundlegendsten, archaischen Register der Phantasia abhängig,Footnote 65 wobei auch die Umsetzung im Übergangsbereich zwischen χώρα und τόπος von dem einen zum anderen thematisiert wird.
Ist der Raum der Phantasia die χώρα, dann ist die Vorherige (Phantasia) nicht ohne eine Wirkung auf die Letztere (χώρα,). Das Gegenteil wäre ja dann undenkbar, denn in der χώρα wird die flüchtige Erscheinung (das Phantasmata)Footnote 66 apperzipiert,Footnote 67 die immer im Übergang ist. Das Phantasmata, also nach Richirs Erachten die Phantasia, hat nichts Eigenes, nicht einmal „das“, von dem es das BildFootnote 68 oder der μίμημα ist. Das heißt, dass nur schwingende Bewegungen, Instabilität und sich immer verändernden Erscheinungen in der χώρα erblickt werden. Während Platons Timaios ein metaphysisches Urbild (τὸ ὅϑεν ἀϕομοιούμενον ϕύεται τὸ γιγνόμενον) voraussetzt, wird diese Voraussetzung bei Richir durch eine Voraussetzungslosigkeit ersetzt, welche durch diese Instabilität und Unbestimmbarkeit der Erscheinungen in der χώρα gekennzeichnet wird. Da also die χώρα die Empfängerin der Figuren (Schemata) – also der μίμημα – (des immer Seienden) ist, schreibt ihr Richir den Ort des phänomenologischen Schematismus zu.Footnote 69 Auch hier entgeht die χώρα dadurch der bestimmenden Mächtigkeit der δόξα.
2.3.2 Die χώρα als die Leiblichkeit
Die χώρα als Aufnahmestätte aller Körper ist aber eine körperlose Gestalt, durch die alles, was ist, einen Platz hat. Sie ist eine Räumlichkeitszelle („cellule de spatialisation“), die in Richirs Phänomenologie der Leiblichkeit des Leibes entspricht. Diese Gleichstellung der platonischen χώρα mit Leiblichkeit ist für die neue Phänomenologie, nach der er strebt, eine radikale und innovative Wende, was die Verwendung des Begriffs anbelangt. Wie die platonische χώρα ist die Leiblichkeit bei Richir vom Körper abgelöst.
Aus der Tatsache, dass die χώρα bei Platon alle Körper aufnehmen kann und dass sie als gestaltbar unterschiedliche Gestaltungen aufnehmen kann, entsteht die theoretische Intuition der Leiblichkeit. Nicht mehr die natürliche vermittelndeFootnote 70 Funktion der χώρα bei der Weltordnung ist wichtig, sondern die Leiblichkeit als notwendiger Ausgangspunkt dieser Weltordnung.Footnote 71 Mit der Leiblichkeit haben wir also einen theoretischen Ausgangspunkt, der jegliche Art von Weltbezüglichkeit erfasst. Von ihr als sicherer Grundlage ausgehend ist die Eröffnung der „Welt“ gesichert, auch wenn „Welt“ als Welt der Alterität und Welt des räumlichen Seienden verstanden werden soll. Genau in dieser Hinsicht wollen wir untersuchen, ob die Welt, die die Leiblichkeit erschließt, nicht über die der Alterität und die des räumlichen Seienden hinausgehen kann: die Welt der Objekte, die physische und kosmische Welt, die mich transzendiert. Dies ist eine andere Art und Weise zu sagen, dass die Leiblichkeit die Möglichkeit eines Treffpunkts mit absoluter Transzendenz eröffnet, die völlig anders ist, als das Selbst. So interagieren ausgehend von der Leiblichkeit das Selbst, die Welt und die Transzendenz, jedoch in einem Abstand voneinander.
Das heißt: Wenn die Leiblichkeit uns also Zugang zur Welt ermöglicht, beziehungsweise uns einen Bezug dazu verschafft, auf welcher Art von Kohärenz könnten wir dann ein Verständnis dieses Zugangs bzw. Bezugs zur Welt aufbauen? Anders ausgedrückt, in welchem beziehungsweise durch welchen phänomenologischen Modus ist uns die Welt über den Modus der Positivität der Alterität und der Exteriorität hinaus gegeben, so, dass dieser Richirs Bemühung um eine transzendentale Phänomenologie Rechnung tragen kann? Diese Fragen sollen ganz am Ende der Arbeit eine Antwort finden.
Wie die platonische χώρα, in der sich die Phantasmata erblicken lässt, wird die Leiblichkeit zum „Ort“ der Apperzeption der Phantasia-Affektionen. Das Verhältnis zwischen Leiblichkeit, Phantasia und Affektionen wurde schon bei Richir in einem frühen Text mit dem Titel Phantasia, Imagination, Affektivität, entwickelt, wo Richir die Leiblichkeit als schematisch und proto-ontologisch versteht. Beim letzten Begriff, also dem Proto-Ontologischen, entgeht die Leiblichkeit der Positionalität in der historischen Zeit. Anstatt in der Vergangenheit liegt sie in einer Vergangenheit, die nicht in einem bestimmten Zeitraum der Vergangenheit stattgefunden hat und die zugleich auch eine Zukunft in sich trägt, die nicht verwirklicht werden kann. Diese ist eine transzendentale und keine historische. Der Name, der laut Richir diese Zeit beschreibt, ist „immemorial“ (Uralt, Unvordenklich) und ist an Levinas „l’immemorial“Footnote 72 angelehnt, der versucht hat, ein Ereignis zu thematisieren, das die Geschichte nicht erfassen kann, das aber trotzdem alle zeitlichen Ekstasen – im Sinne Heideggers – prägt. Deshalb ist diese Vergangenheit gar nicht vorbei. Weder das menschliche Gedächtnis noch die Geschichte kann sie erfassen. Sie ist weder die Vergangenheit eines bestimmten Ereignisses noch der Mangel an ErinnerungFootnote 73 an ein bestimmtes Ereignis wie die eigene Geburt. Der Begriff ist nicht nur auf die Vergangenheit fixiert, denn er trägt die künftigen und die gegenwärtigen Ereignisse in sich. Die deutsche Übersetzung „Uralt“ vermittelt aber den falschen Eindruck, diese Vergangenheit hätte stattgefunden. Deshalb ist diese mit dem Adjektiv „transzendental“ zu kennenzeichen. Genauso und gleichzeitig wird dem Proto-ontologischen eine transzendentale Zukunft – was Richir nun „das Unreife“ (l’immature) nennt – eingeräumt. Auch wenn diese Zukunft in der historischen Zukunft zu liegen scheint, ist sie wie das Immemorial nicht geschichtlich. Außerdem ist diese transzendentale Zukunft nicht ohne Spuren in der Gegenwart und der Vergangenheit. Das Proto-Ontologische ist somit von zwei transzendentalen Unbestimmtheiten (das Uralte und das Unreife) durchkreuzt, womit sich Richir bemüht, den Bereich der Positionalität, der Darstellbarkeit, der Stellungnahme durch das Bewusstsein zu überwinden. Das Proto-ontologische kennzeichnet das Register der affektiven Ereignisse (also der Affektivität) in Richirs Phänomenologie, das ursprünglicher ansetzt als Heideggers Affektivitätslehre (Stimmung/ Befindlichkeit). Für Richir ist dieses Proto-Ontologische der lebendige, unendliche Hintergrund des Sich- Befindens. Es ist in actu sondern impliziert eine Potenz zu Sein,Footnote 74 die nie zustande kommt, da es über alle Möglichkeiten hinausgeht, die dem Subjekt zugänglich wären.
Beim zweiten Begriff des Schematischen, auf den wir schon hingewiesen haben, wird die Phantasia ausgelöst, durch die die „Phänomenalität der Phänomene als Phänome“ oder die „phänomenologische Konkretheit“ zur Erscheinung kommen. Diese ist laut Richir die Leistung der Leiblichkeit. In ihr wird die Phantasia erschüttert, also schematisiert. Die Erschütterung wandelt die Aktivität der Phantasia, wo die Phantasia nun zum offensichtlichen Stück der Phänomenalität von Phänomenen und nichts als Phänomenen wird. Hier gibt es eine Bewegung, die nicht zu übersehen ist, wodurch alle objektivierende Positivität ausgeschaltet wird, sodass wir hier nur „Konkretheiten“, „Phänomene und nichts anderes als Phänomene“ (phenomen comme rien que phenomen) haben. Diese sind ihrerseits gar nicht darstellbar, es sei denn durch ihr Blinken als flüchtige, anfängliche „Proto-Intentionen.“Footnote 75 Die beiden der Leiblichkeit inhärenten Eigenschaften (als schematisch ist sie affektiv und als proto-ontologisch ist sie in einem phänomenologischen Sinn eine Konkretheit im Sinne eines Phänomens) greifen aber durch einen Abstand ineinander, sodass „die phänomenologische Konkretheit […] eine Funktion […] des Erwachens und des Wiederwachens der tiefen Affektivität“Footnote 76 haben. Durch diese reflexiven Bewegungen (also den Schematismus) hat das Denken Zugang zu Welt, ohne in die Weltlichkeit zu verfallen. Denn die Bewegung führt das Denken wieder zu sich selbst und in eine unendliche Schwankung, wo nichts anderes als das transzendentale Feld der Phänomenologie erscheint.
Im Folgenden sollen alle Verweise auf Phantasia und Affektivität notwendigerweise als ein Verweis auf die Leiblichkeit verstanden werden. Die eine impliziert die andere, denn ohne die eine ist die andere nicht möglich, sodass Leiblichkeit immer eine Phantasieleiblichkeit (und affektiv) ist. Die Letztere gibt uns Zugang zur Vorherigen und die Vorherige ist der Raum der Letzteren. Auch aus diesem Grund ist die Leiblichkeit der Raum des phänomenologischen Schematismus, wobei man sagen muss, dass die Apperzeption der Phantasia in der Leiblichkeit aus der energetischen Aktivität des phänomenologischen Schematismus entsteht und nicht umgekehrt.
Auch auf diesem Register des Schematismus ist eine Welt anhand der Leiblichkeit geöffnet. Wir wissen aber noch lange nicht, was für eine „Welt“ geöffnet wird. Dies zu erforschen, macht das Ziel dieser Arbeit aus.
2.3.2.1 τόπος und das Ganze: Leib und Leibkörper
Der Hinweis auf der theoretischen Intuition bzw. Funktion der Weltbezüglichkeit bei der Leiblichkeit lässt sich aber ohne die dazugehörenden Leibbegriffe bei Richir nicht verwirklichen. Richir greift auf den Aristotelischen Begriff von „τόπος“ und „Ganzem“ (ὃλον) zurück, in denen er seine Leibthematik verorten konnte.
Aristoteles ist in seiner Physik bemüht, das Wesen des τόπος (Ort/ Raum) zu erforschen. Er geht davon aus, dass der Raum sich von diesen Bestimmungsarten unbedingt ableiten müsse: Form, Stoff, ein Zwischenraum, „der stets bleibt als verschieden von dem Dinge, welches sich entfernt.“Footnote 77 Aber da sich der τόπος von keiner dieser Bestimmungen (wir wollen auf die ausführlichen Argumente verzichten und uns auf das Wesentliche konzentrieren, auf das es für uns ankommt) ableiten lässt, meint Aristoteles, der Raum müsse etwas anderes sein: „die Grenze des umgebenden Körpers, nach welcher er den umgebenden berührt“,Footnote 78 wobei der umgebende Körper sich im Raum bewegen kann. Die Schwierigkeit τόπος zu definieren hängt mit dem Hineinspielen von Stoff und Form zusammen und der Tatsache, dass das, was sich räumlich bewegt, beim „Ruhen des Umgebenden“ geschieht. Beim Letzteren haben wir es mit einer räumlichen Versetzung eines Körpers auf der einen Seite und einem stationären Gefäß auf der anderen Seite zu tun. Wenn zum Beispiel ein Körper in einem Gefäß sich räumlich versetzt, wie ein Schiff in einem Fluss, dann ist das Gefäß (in diesem Zusammenhang der Fluss) das Umgebende. Im Gegensatz zu dem sich von Ort zu Ort bewegenden Schiff ist τόπος wie der ganze Fluss aber unbeweglich: „Darum ist eher der ganze Fluss ein Ort (τόπος), weil er unbeweglich als ganzer ist.“Footnote 79 Während man über ein Gefäß sagen kann, dass es im Raum versetzbar ist, ist τόπος wie ein unbewegliches Gefäß. Einen Körper, z. B. einen Computer, kann man versetzen. Beim τόπος ist das nicht möglich. Denn τόπος umfasst einen Körper unmittelbar. Versetze ich den Computer vom Schreibtisch zum Esstisch, so wird sein τόπος nicht mitversetzt, während der Computer aber zu einem anderen Ort gebracht wird. Daher kommt Aristoteles zu dieser Definition von τόπος: „[D]es Umgebenden unmittelbare, unbewegliche Grenze, dieses ist der Raum [τόπος, D.E.].“Footnote 80
Diese aristotelische Intuition von τόπος, die aber dem Raum des Naturforschers entspricht, verwendet Richir innerhalb einer phänomenologischen Entwicklung seiner Leibtheorie. In Fragments Phénoménologiques sur le Temps et l’Espace schreibt er unter anderem, dass diese „unmittelbare, unbewegliche Grenze […] ein körperliches Ganzes“Footnote 81 umgibt. Aber Letzteres besteht aus Teilen, auch wenn noch nicht klar ist, als was es sich gibt. Anders als der sich von Ort zu Ort im Raum bewegende Körper, was bei Zenon zur unendlichen RegressionFootnote 82 führt, ist τόπος laut Richir nicht darstellbar (es kann nicht wie eine Körperoberfläche figuriert werden), nicht lokalisierbar (es ist weder im Raum noch als Mitte in irgendeinem Körper situierbar) und nicht im Raum übertragbar. Ihm zufolge kann nur solch eine Vorstellung von der Nichtdarstellbarkeit, Nicht-Situierbarkeit und Nichtübertragbarkeit von τόπος die Absurdität einer unendlichen Regression vermeiden bzw. aufhalten.Footnote 83 Damit bleibt noch lange nicht klar, was man sich in Bezug auf die schon erwähnte Leibtheorie unter dieser sogenannten unmittelbaren und unbeweglichen Grenze vorstellen kann. Der Leib, der im Raum nicht situierbar ist, ist diese unmittelbare und unbewegliche Grenze. Er ist das „absolute Hier“ (ici absolu), welches nun als der Ausgangspunkt der Orientierung im Raum dient, auch wenn es selbst nicht im Raum situierbar ist. In diesem Zusammenhang macht Richir auf Merleau-Pontys Erörterung über das „universale Maß“ aufmerksam. Ist etwas ein „universales Maß“, dann darf es auf keinen Fall der Leibkörper, sondern muss es der Leib sein, denn durch seine Körperlichkeit ist der Leibkörper ein Teil der Welt „als Ganzes“. Das körperliche Ganze, das wir vorhin erwähnt haben, welches von der unmittelbaren und unbeweglichen Grenze (also vom Leib) umgegeben wird, ist dieser hier gemeinte Leibkörper, welcher im Gegensatz zum Leib aus Teilen besteht, er ist also „teilbar“,Footnote 84 „in Kontinuität mit seiner Außenfläche“Footnote 85 und im Raum oder im Orte des Leibes nicht nur darstellbar und versetzbarFootnote 86, sondern auch lokalisierbar.
Die oben eingeführte Differenzierung und der Zusammenhang zwischen den beiden Leibbegriffen verweisen auf einen „nicht verminderbaren Abstand“ zwischen Leib und Leibkörper („un irreductible écart entre Leib et Leibkörper“). Die Opposition von Nichtdarstellbar und Darstellbar, Nichtlokalisierbar und Lokalisierbar usw. begründet die Evidenz eines Abstandes, als ob man dem einen eine Art Innerlichkeit und dem anderen eine Art Äußerlichkeit zuschreiben wollte. Das mag eine Konsequenz haben für die Theorie der Leiblichkeit, die Richir entwickelt, besonders wenn wir an den in der Einleitung schon vorgestellten Überschuss der Erfahrung denken. Es ist laut Richir die Leiblichkeit (χώρα), die diesen Abstand verständlich macht, denn dieser Abstand „ist tatsächlich entweder der der Leiblichkeit“ oder der „des Umherirrens des Sehens, das keiner anderen Grenze begegnet als jenen […] die es jedes Mal binden und die es dazu bringen, sich selbst in einem Gesehenen zu vergessen.“Footnote 87 Der hier erwähnte Abstand bedarf einer vertieften kontextualen Differenzierung dieser leibtheoretischen Begriffe. Der Verweis auf die Leiblichkeit aber heißt für uns, dass nur innerhalb einer ausführlichen Darstellung der operativen bzw. theoretischen Intuition der Leiblichkeit solch eine erfolgreiche Differenzierung geschehen kann. Im folgenden Abschnitt wollen wir uns solch einer Darstellung im Kontext der transzendentalen Interfaktizität widmen. In einem späteren Abschnitt soll dieser Zusammenhang zwischen Leiblichkeit, Leib und Leibkörper, klarer werden.
Trotz der Originalität solch einer Neubearbeitung der aristotelischen Theorie von τόπος ist also noch nicht klar, wofür das Leibkonzept als τόπος dienen soll. Was sollen wir aus τόπος in einer konkreten phänomenologischen Theorie der Leiblichkeit machen? Welche Rolle spielt dieses neue Konzept in Richirs Phänomenologie? Mit anderen Worten: Was ist der Leib in Richirs Phänomenologie?
2.3.3 Von χώρα (Leiblichkeit) als dem transzendentalen mütterlichem Schoß der transzendentalen Interfaktizität zum Selbst und Realen
2.3.3.1 Vergleich der χώρα mit dem Übergangsraum Winnicotts
Für Richir ist die χώρα (also die Leiblichkeit) der transzendentale Boden der Interfaktizität, die im Winnicott’schen Übergangsraum geschieht. Diese Verknüpfung ist kein Zufall, wenn man daran denkt, dass die χώρα bei Platon sich sowohl zur höchsten Vernunft als auch zur sichtbaren Welt verhält und dadurch das Werden vermittelt. Genau diese Eigenschaften lassen sich beim Begriff des Übergangsraums beobachten, welcher vom Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Wood Winnicott entwickelt wurde. Der Übergangsraum ist der Raum zwischen dem Subjekt und dem Objekt und ist nicht wie bei der platonischen χώρα für das Werden eines Abbildes zuständig, sondern spielt eine unverzichtbare Rolle für die Erfahrung. Das Besondere dabei ist seine Ermöglichung des Übergangs von der Illusion zur objektiven Perzeption (Desillusionierung).
Wenn Richir aber diesen Übergangsraum als transzendentalen Schoß der Interfaktizität benennt, dann ist das so, weil er die theoretische Intuition der Leiblichkeit als Ausgangspunkt zur Weltbezüglichkeit thematisieren will. Diesen Gedankengang wollen wir hier ausarbeiten. Am Ende dieser Ausarbeitung soll uns dies, nämlich dass die Leiblichkeit besonders als der Protoraum der Interfaktizität, der Individuation und als der Zugang zum Realen fungiert, grundlegend verständlich sein. Die im Übergangsraum verwurzelte Leiblichkeit ist unseres Erachtens dem Raum aller symbolischen Stiftungen gegenüberzustellen.
Bevor wir dazu kommen, müssen wir uns Winnicotts Ansatz widmen. Da wir diese zunächst mit der Phase der Illusion beim Säugling beginnen wollen, welche nur logisch zum sogenannten Übergangsraum führtl, ist es deshalb zunächst erforderlich die „Übergangsobjekte“ und „Übergangsphänomene“ zu behandeln.
2.3.3.2 Übergangsobjekte und Übergangsphänomene Winnicotts
Die Übergangsobjekte und Übergangsphänomene könnenFootnote 88 laut Winnicott die Illusion erweitern, die ursprünglich aus der magischen Beziehung des Säuglings zur mütterlichen Brust entstanden ist. Das ist ungefähr der Anfang der transzendentalen Geschichte, die wir hier zu skizzieren bemühen und die den Säugling zur „Autonomie“ führt. Die Illusion besteht darin, zu glauben, dass die Brust ein Teil des Säuglings wäre. Diese Illusion besteht auf Seiten des Säuglings. Dabei spielt die absolute Verfügbarkeit der Mutter eine wichtige Rolle: Jedes Mal, wenn der Säugling aus dem Instinkt oder aus triebhaften Bedürfnissen heraus nach der Brust greift, ist sie da. Nach der Befriedigung verschwindet die Brust. Sie taucht wieder auf in dem Moment, wo die instinktive Spannung beim Säugling wieder auftritt und sich nach einer Befriedigung sehnt. So entsteht ein kohärenter Rhythmus zwischen Hunger und Sättigung, Anspannung und Entspannung, Essen und Schlafen usw. Dies erweckt den Eindruck seitens des Säuglings, als hätte er die Brust erzeugt.Footnote 89 Daher ist Richir der Meinung, man müsse phänomenologisch unterscheiden zwischen dem, was das Kind halluziniert, und der Brust als eigentlich zur Mutter gehörigen.Footnote 90 Der Säugling vermag es aber in Wirklichkeit nicht, etwas zu schaffen, das seine triebhaften Bedürfnisse (wir sind noch in der Phase des primordialen Zustandes, wo der Säugling praktisch mit einem TierFootnote 91 zu vergleichen ist) befriedigen würde. Zugleich sieht es so aus, als hätte die Mutter allein diese Illusion erzeugt, es ist die Anpassung der Mutter an seine Bedürfnisse, die diese Illusion erzeugt, da die Anpassung durch absolute Verfügbarkeit kenngezeichnet ist. Diese Illusion entsteht deshalb aus der Annahme, dass „es eine äußere Realität gibt, die der eigenen Schöpfungsfähigkeit des Kindes entspricht.“Footnote 92 So wird ersichtlich, dass weder die Bedürfnisse des Säuglings allein noch die Anpassung der Mutter allein diese Illusion erzeugen. Vielmehr entsteht sie aus der Überschneidung zwischen dem, was das Kind fantasiert (Phantasma oder Halluzination) und dem, was die Mutter bietet.Footnote 93 Es ist genau diese Eigenschaft der Überschneidung oder diese Übereinstimmung, die laut Richir den Eindruck erweckt, dass Mutter und Kind einsFootnote 94 wären und zueinander gehören würden, als ob die Brust oder die Mutter ein Teil des Kindes wäre. Diese Eigenschaft wird weiterhin auf die Übergangsobjekte und Übergangsphänomene übertragen. Wie sind diese aber zu verstehen?
Die Übergangsobjekte und das Übergangsphänomen entwickeln sich um die magische, fantasierende Kreativität des Kindes, das Grundbedürfnis nach Befriedigung usw. Aus diesen entstehen unterschiedlichen Aktivitäten: Etwa Faust bzw. Daumen in den Mund, Daumenlutschen. Nach einigen Monaten werden diese Aktivitäten auf die folgenden Objekte erweitert: weiche oder harte Objekte wie Puppe, Teddybär, Spielzeug. Man sieht, es gibt zwischen beiden Phasen einen Übergang, der einen Zwischenbereich eröffnet. Diese Entwicklung markiert die Beschäftigung mit den Daumen, dem Mund und die Manipulation von Spielzeugen. Das ist der „Zwischenbereich der Erfahrung“ (intermediate area of experience), von dem Winnicott gesprochen hat und der die Übergangsobjekte und die Übergangsphänomene ausmacht. Manchmal gibt es in diesem Bereich aber andere Phänomene, wie z. B. das Plappern des Kindes, oder sein Gebrauch von Objekten (z. B. Teile der Decke, Servietten, Wolle usw.), die intuitive Benennung dieser Objekte manchmal durch intuitive Nachahmung größerer Kinder usw. Das alles sind die „funktionalen Erfahrungen“,Footnote 95 die der Säugling macht. Winnicott scheint zu glauben, dass selbst in diesem aufkeimenden Stadium diese Phänomene normalerweise mit FantasienFootnote 96 oder Gedanken einhergehen, als ob der Säugling die Objekte fantasiert und sich ausgedacht hätte. Hat er die Objekte halluziniert und erzeugt, dann ist verständlich, warum die Übergangsobjekte und Übergangsphänomene in der Illusion verwurzelt sind. Deshalb kann die ursprüngliche Illusion der magischen Erzeugung der (und die der Kontrolle über die) Brust auf die Übergangsobjekte und Übergangsphänomene übertragen werden. Zwar sind die Objekte nicht Teil des Kindes. Das Kind erkennt sie jedoch nicht als unabhängig von ihm, als im Besitz einer autonomen Existenz. Sie scheinen immer noch ein Teil von ihm zu sein, wie die Brust der Mutter, die sie symbolisieren.
Die Übergangsobjekte bzw. Übergangsphänomene sind bei Winnicott als der erste „Nicht-Ich“-Besitz bekannt, und sie werden von der Mutterbrust symbolisiert. Deshalb können sie die Illusion in der frühesten Phase des Lebens erweitern, die wir oben geschildert haben. Bei Winnicott werden die Übergangsobjekte im Leben erhalten, sofern sie diese intime Überschneidung zwischen der Lebendigkeit der inneren ObjekteFootnote 97 und deren Entsprechung bei äußeren Objekten bewahren. Die Übergangsobjekte könnten für die inneren Brüste stehen – „könnten“ besagt z. B., dass sie auch für die Mutter stehen könnten – wobei dieses Symbol unmittelbar mit einer inneren Brust verbunden und davon abhängig ist. Sie verschwinden aber oder zumindest verlieren sie ihre Bedeutung, sobald diese lebendige Überschneidung nicht mehr vorhanden ist. Wenn die äußere Brust in ihren Funktionen versagt (zum Beispiel, wenn sie es nicht schafft, da zu sein, sobald das Kind sie wegen Hunger usw. erzeugen will), könnte das innere Objekt seine lebendige Bedeutung für das Kind verlieren, obwohl diese Bedeutung nicht der objektiven Realität entsprach.
2.3.3.3 Der Übergangsraum bei Winnicott
Mit den Übergangsobjekten hat der Säugling bereits das Vermögen erworben, in einem Übergangsbereich zu sein, der die frühesten Erfahrungen des Kinds charakterisiert. Diese Übergangsobjekte führen den Säugling in „einen neutralen Erfahrungsbereich“Footnote 98 ein, der Subjektivität und Objektivität überspannt. Bei den Übergangsobjekten kann man nicht fragen, ob sie vom Kind subjektiv und kreativerweise geschaffen wurden, oder ob sie aus der Außenwelt entstanden sind. Man kann sagen, dass die Übergangsobjekte von einem Übergangsbereich der Erfahrung gekennzeichnet sind, den die Übergangsobjekte mit dem SpielFootnote 99 gemeinsam haben.
Überspannt der Übergangsraum den Bereich der subjektiven Kreativität und den der objektiven Wahrnehmung, so ist die Illusion seitens des Säuglings aber noch lange nicht überwunden. Wie geht er also von der magischen, aber trughaften Kontrolle über die Mutterbrust (das Prinzip der Lust) aus zur Autonomie der Realität (das Prinzip der Realität)? Die Antwort, die Winnicott gibt, zeigt nicht nur, wie er sich von der Tradition (etwa der Verhaltenspsychologie, Freud und Neo-Freudianern usw.) verabschiedet, die statt dieser Beziehung zu anderen in der Welt die Befriedigung von instinktiven TriebenFootnote 100 in den Vordergrund stellt. Indem er den Bereich zwischen dem Selbst und dem anderen in der Welt als den Bereich des geistigen Lebens in den Vordergrund stellt, umgeht er damit auch weitgehend den Objekt-Subjekt-Dualismus, der dem Freud’schen Modell des Geistes innewohnt.
Das Spiel ist ein gutes Beispiel, das die Überwindung des Dualismus zeigt und veranschaulicht, wo der Übergangsraum evident wird. In Playing and Reality finden wir eine ausführliche Entwicklung des Spiels. Darin räumt Winnicott dem Spiel einen Raum und eine Zeit ein. Der Raum des Spiels nennt er einen potentiellen Raum (potential space), den er von der inneren und tatsächlichen Welt absetzt, und der zwischen dem Kind und der Mutter platziert ist.Footnote 101 Das Spiel setzt daher eine Mutter voraus, die es vermag, da zu sein – und die darauf wartet, gefunden zu werden –, und das darstellt, was das Kind finden könnte. Dieser Verlauf verleiht dem Kind ein Gefühl der Allmächtigkeit,Footnote 102 was seine Kontrolle der tatsächlichen Welt anbelangt. Der Spielraum ist deshalb weder eine innere psychische Realität noch eine äußere Welt. Er ist außerhalb des Individuums, obwohl er nicht zur äußeren Welt gehört. In diesem Raum bedient sich das Kind der Objekte aus dieser Welt im Dienst seiner inneren psychischen Bewegungen. Die körperliche Manipulation von „äußeren Phänomenen“ geschieht also im Dienst seiner Träume, die auf die „äußeren Phänomene“ abfärben. Wenn Winnicott von der Prekarität des Spiels spricht, dann liegt es an der Zugehörigkeit zu diesem Übergangsraum. Bietet das Spiel dem Kind die Gelegenheit, äußere Phänomene mit seinen psychischen Prozessen zu manipulieren, dann ist es nicht nur eine kreative Erfahrung, sondern auch die Grenze zwischen der Entwicklung des Übergangsphänomens und dem gemeinsamen Spielen (und damit auch kulturellen Erfahrungen).Footnote 103 Auf diese Weise ist das Kind bereit, die Welt der Illusion zu verlassen und auf den Weg der Realität gebracht zu werden, wo es ihm auch gelingt, allein zu sein,Footnote 104 wenn die Mutter mit ihrem Leibkörper nicht da ist.Footnote 105
Die Mutter, die bei der Entstehung dieser Illusion eine wichtige Rolle spielte, muss sich nun auch am Desillusionierungsprozess beteiligen. Nicht irgendeine Mutter, sondern eine hinreichend gute Mutter ist dafür notwendig.Footnote 106 Sie passt sich nicht mehr komplett an die Bedürfnisse des Kindes an, sondern „immer weniger, allmählich, je nachdem, wie gut der Säugling in der Lage ist, mit ihrem Fehlen umzugehen“.Footnote 107 Diese veränderte Anpassung ist erforderlich, um das Kind aus der trughaften Haltung herauszuholen „da die genaue Anpassung der Magie ähnelt und das Objekt, das sich perfekt verhält, nicht besser wird als eine Halluzination“.Footnote 108
Der Übergangsraum zwischen dem Kind und der Mutter bietet einen Spielraum für Kreativität an, auch wenn Winnicotts Beschreibung, wie dies geschehen soll, oft unklar ist. Er hinterlässt daher eine Lücke,Footnote 109 die gefüllt werden soll. Diese Lücke wird von Richir mit einer phänomenologischen Beschreibung gefüllt. Ihm geht es nicht um die Beschreibung der Kreativität, sondern darum, die Quelle dieser in der Phantasieleiblichkeit zu verorten, die erst durch das Verhältnis zwischen Kind und Mutter entwickelt wird. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind in dem Übergangsraum wird bei Richir zum Modell der transzendentalen InterfaktizitatFootnote 110 – und später – der Individuation in der transzendentalen Intersubjektivität (Husserl) und des Zugangs zum Realen.
Wir fügen unsererseits hinzu, dass alle symbolischen Institutionen diesen Übergangsraum behindern. Das merkt man bei ihrer Vorbestimmung unseres Bezugs zur Welt und unserer Erfahrung dieser, wie wir später zeigen werden. Diese Institutionen behindert also die Kreativität des Spielraums. Das merkt man am besten bei der Sprache: sobald wir anfangen zu sprechen, stehen uns bestimmte Worte schon zur Verfügung.
2.3.3.4 Die χώρα (Leiblichkeit) als der transzendentale Schoß der Interfaktizität
Winnicotts psychoanalytische These, dass die Mutter oder eine mütterliche Äquivalenz für die Kontinuität des kindlichen Lebens erforderlich ist, dass das Verhältnis zwischen dem Kind und dessen Mutter – dieses war anhand der Brust ersichtlich – wichtig für die Einführung des Kindes in die Kulturwelt ist, inspirierte Richir, den transzendentalen phänomenologischen Sinn des mütterlichen Schoßes herauszuarbeiten, der die Funktion der Brust phänomenologisch erweitert.Footnote 111 Dabei verlassen wir einen natürlichen Boden, wo der Akt des Fütterns und Ernährens ein physischer ist. Wie kann also der Schoß ein transzendentaler Boden der Interfaktizität sein? Was ist damit phänomenologisch gemeint?
Richir schreibt dem Verhältnis zwischen Mutter und Säugling, was die Veränderung der Anpassung an den Säugling angeht, eine aus der Physik abgeleitete Phasenverschiebung (Déphasage) zu. Dies impliziert zugleich eine PhasenverschiebungFootnote 112 zwischen dem Rhythmus des Hungerhabens und dem Rhythmus der mütterlichen Verfügbarkeit. Aus diesem ursprünglichen Abstand entsteht eine Halluzination, in Richirs Begriff eine „leere Phantasia-Affektion“, die eine Art Angst und Unzufriedenheit wegen der Unbefriedigung durch Mangel an mütterlicher Verfügbarkeit übersetzt. Richirs These ist nämlich, dass sich dieser Abstand, diese Phasenverschiebung in lebendigen Austausch, also in SprachphänomeneFootnote 113 (phénomènes de langage)Footnote 114 umwandeln kann.
Die Unzufriedenheit oder die Unbefriedigung impliziert eine Art Anspannung aufgrund des Hungers. Für das Kind kann das den Anfang einer geistigen Bewegung im phänomenologischen Sinne (phänomenologischer Schematismus des Sprachlichen) bedeuten, wo etwas im Säugling vorgeht, egal wie unbestimmt dieses sein mag. Dass ein Kind aus der Unverfügbarkeit der Mutterbrust heraus das Brustlutschen durch ein Daumennuckeln ersetzt, beweist für Richir den Anfang eines kreativen Spiels, wo ein Austauch von Sinn von großer Bedeutung ist, egal wie primitiv und roh er sein mag. Dieser Austausch kann auch bei einem anderen Ersatz geschehen, wie z. B. dem Mund, wenn er als ein Übergangsobjekt beim Brustlutschen fungiert. Dabei wird er zum Ort des vorläufigen Austausches von „Sachen“ (wie z. B. Geruch, Qualität des Geschmacks, dem Klang der Stimme), die in der χώρα geschehen. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um „Leibvorkommnisse“, sondern um „Leiblichkeitsereignisse“ (événements de Leiblichkeit), wo ein Sprachphänomen vage schematisiertFootnote 115 wird. Dabei aber öffnet sich der zwischen den beiden entgegengesetzten Rhythmen verortete Abstand letztendlich zu einem Übergangsraum, in dem eine nichtdarstellbare (es sei denn sehr vage) Alterität auftaucht und für das Kind eine stabile Unterstützung für das LebenFootnote 116 darstellt. Das Da-Sein dieser Alterität ist nicht da wie in einem Raum, sondern in der Phantasia-Affektion.Footnote 117 Nur aus solch einem Zusammenhang kann Austausch entstehen. Das sind alles Instanzen von Richirs These des lebendigen Austausches.
Wir reden gerade von der Leiblichkeit, also der χώρα, die bei der transzendentalen Geschichte des Kindes der Sitz für Phantasia-Affektion ist, die wie die platonische χώρα traumhaft ist, auch wenn es noch keine Darstellung der realen Welt gibt, aber eine „Sachlichkeit“Footnote 118 schon in der Schwebe ist. Diese Leiblichkeit verleiht der Brust seitens des Säuglings ihre Lebendigkeit. Sie beweist ihre Wahrhaftigkeit und Leibhaftigkeit. Diese Leiblichkeit ist für uns in diesem Zusammenhang also die nichtdarstellbare Unterstützung, die dem Säugling eine Alterität bietet, damit überhaupt irgendein Austausch zwischen dem einen und dem anderen entstehen kann. Der Verweis auf „Unterstützung“ ist eine bewusste Kritik an jenen Denktraditionen,Footnote 119 die etwa durch Heidegger und Biswanger repräsentiert sind, die die Alterität als ein Ideal verstehen, sei es existenzial oder transzendental. Im nächsten Abschnitt werden wir diese Unterstützung anhand des austauschenden Blickes konkretisieren. Dadurch soll klarwerden, dass diese Unterstützung der transzendentale Boden der Leiblichkeit des Säuglings ist. Die Leiblichkeit als eine nichtdarstellbare Unterstützung kann nicht nur auf den Austausch zwischen Mutter und Säugling reduziert werden. Denn sie ist, wie wir zeigen werden, auch diese nichtdarstellbare Unterstützung, sofern sie die Überkreuzung eines anderen BlickesFootnote 120 ermöglicht, sei es der Blick des Malers, den dieser dem Kunstwerk aufgedrückt hat, oder der Blick des Schauspielers, der einen bestimmten Protagonist, sagen wir Okonkwo aus Things Fall Apart, „perzipieren“ lässt.
Obwohl die Wanderschaft des Sehens seine Lokalisation an einem bestimmten Ort erschwert, da es überall und nirgendwo ist, ist der Mutterblick im Gegenteil das Einzige, was das wandernde Sehen des Säuglings fixieren kann. Es wird nicht bei einem Gesehenenen fixiert, bei dem es sich vergessen würde, sondern bei einem Blick. Der Blick hat seinen Ursprung in einem Teil des Leibkörpers (den Augen), was dann den Eindruck erweckt, als wäre er rein physikalisch. Im Gegenteil geht der Blick über das Physikalische hinaus, denn er wird von der Leiblichkeit und der Phantasia-Affektion gefüllt, die den Augäpfeln innewohnt und sie animiert. Einmal gefüllt und bewohnt, vermag das Sehen, das nun zum Mutterblick wird, einen Blick zu erwecken, der erst dann auf den blickenden Mutterblick zurückblicken kann. So kreuzen sich die Blicke. Hier ist die Einfühlung stark am Werk. Nur der mit Leiblichkeit und Phantasia-Affektion gefüllte Mutterblick, der sich dem Übergangsraum öffnet, kann einen anderen Blick zum Austausch der Phantasia-Affektion einladen. So schreibt Richir: „Durch diese Mediation wird der Blick anderer gefühlt […] (in dem was wir als Affektion gekennzeichnet haben) und wird in Phantasia ‚perzipiert‘“.Footnote 121 Nur der Blick des Säuglings, der sich von einem nichtdarstellbaren leiblichen Leben hinter den Augäpfeln angeblickt fühlt, kann in den Übergangsraum eintreten und die Phantasia-Affektion seiner Leiblichkeit mit der Phantasia-Affektion der mütterlichen Leiblichkeit austauschen.Footnote 122 Der Blick, der sich also angeblickt fühlt, fühlt sich in dem Blick auch implizit verstanden,Footnote 123 während er sich zugleich als verständnisvoll in den Austausch der Blicke gibt. Ohne diese nichtdarstellbare Unterstützung der Leiblichkeit und der dazugehörigen Phantasia-Affektion würde überhaupt kein Bezug zum anderen stattfinden.
Die These des Austausches verweist auf die archaischste, lebendige, leibliche Schicht der Weltbezüglichkeit durch die Kommunikation – in diesem Fall zwischen Mutter und Säugling –, auch wenn diese eine vorsprachliche und kreative Verständigung ohne vorbestimmte Regeln impliziert. In dieser archaischsten Schicht des Austausches zwischen Mutter und Säugling siedelt Richir den Begriff der transzendentalen Interfaktizität an. Aber damit ist man der Gefahr ausgesetzt, die transzendentale Interfaktizität so zu betrachten, als wäre sie nur auf das kreative und kommunikative Verhältnis zwischen Mutter und Kind beschränkt. Denken wir so, dann haben wir das, worum es bei Richir geht, verpasst und hätten das Eigentliche mit dem Fiktiven verwechselt. In dem Begriff der Interfaktizität („Interfacticité“) steckt das französische Wort „factice“, das sich auf ein Unechtes, Imitiertes, Nichtnatürliches bezieht. Das, worum es dabei geht, ist das Phänomenologische. Dieses Verhältnis zwischen Mutter und Kind soll eher als Modell für die Intersubjektivität und Weltbezüglichkeit dienen. Darum schreibt Richir: „[D]er Schoß – und das ist fiktiv, aber notwendigerweise am Ursprung der mütterliche Schoß, den wir sehen werden, werden wir in diesem phänomenologischen Sinne niemals verlassen“.Footnote 124 Dass wir niemals den mütterlichen Schoß verlassen, soll genau besagen dass alle Fixierung auf den kindlichen Austausch aufgehoben ist. Jede Fremderfahrung oder jede Begegnung mit einer Alterität, jede transzendentale Koexistenz (Husserl) setzt also eine aktive, deshalb kreative im Sinne von schöpferisch, und kommunikative Sinnbildung voraus. Aus dem Zitat können wir weitere Schlussfolgerungen ziehen. Erstens impliziert die transzendentale Interfaktizität eine Pluralität in der Alterität. Sie soll nicht mehr in den Solipsismus verfallen, wie bei Husserl. Zweitens kann man sich nach dem Status dieser Alterität fragen: Gibt es etwas wie eine reine Alterität, die sozusagen ohne etwas anderes einen Zugang zur Welt schaffen kann? In einem späteren Kapitel werden wir u. a. auf diese Frage eingehen, denn wir glauben, dass eine reine Alterität, also eine einsame Alterität, nicht möglich ist. Die Struktur der Innerlichkeit ist nicht mehr ohne das ständige Hin und Her in der Leiblichkeit denkbar, wobei das Hin und Her zwischen einer Pluralität von Alteritäten stattfindet. Der Andere als dieser mütterliche Schoß ist deshalb ursprünglich gegeben in jedem phänomenologischen Subjekt.
Der Schoß ist der Boden, also der Protoraum zur transzendentalen Interfaktizität, sofern er dem Kind die leibliche UnterstützungFootnote 125 zum lebendigen Austausch bietet. Damit ist nun die oben gestellte Frage beantwortet. Für uns übersetzt all das die Notwendigkeit der Leiblichkeit für den Bezug zur Welt. Da die χώρα (Leiblichkeit) nur im Übergangsraum des freien Spiels der PhantasiaFootnote 126 fungieren kann, hält sie uns fest und unterstützt uns. Das heißt, dass sie das phänomenologische Subjekt vom Griff der Intentionalität (und auch der Illusion) fernhält, sei es durch die Imagination oder durch die Wahrnehmung, in der es sich verlierenFootnote 127 würde. Dieser Verlust würde passieren, wenn z. B. der Blick leiblos wird, wenn er sich der Imagination oder dem anonymen und wandernden Sehen ausliefert, das sich im Gesehen verliert. Das heißt, wenn der Blick seine Leiblichkeit verliert, verfällt er in die Phantomleiblichkeit,Footnote 128 die überall und nirgendwo ist, und die den „Blick“ nun ernährt. In solch einem Falle ist keine Weltbezüglichkeit mehr möglich. Ferner bedeutet das Fernhalten vom Griff der Leiblichkeit, dass die χώρα (Leiblichkeit) nichts enthält oder behält, was Gegenstand von Doxa sein könnte.
2.3.3.5 Von χώρα (Leiblichkeit) zu τόπος (Leib): Individuation
Die These des Austausches hat gezeigt, dass die tierische Phase erst durch die transzendentale Interfaktizität überwunden wird, wenn das Kind durch die Leiblichkeit der Mutter zur Welt und zum eigenen Leib gelangen kann. Nachdem wir uns mit der These des Austausches bei Richir beschäftigt haben, wo die leibliche Unterstützung der Alterität in den Vordergrund getreten ist, wollen wir nach dem Status dieser Alterität fragen. Die Alterität ist die Kehrseite der Ipseität. Wird sie als ein „Quid“ oder ein „Qui“ perzipiert“? Wie und wodurch ist sie dem phänomenologischen Subjekt zugänglich? Die Antwort, die Richir gibt, ist paradox: „Was der Blick, der so geweckt wird, wenn er als Blick angeblickt wird, buchstäblich betrachtet, ist jedoch nicht der andere Leib selbst des anderen (der Mutter), sondern sozusagen ihr Leib ‚in der Abbildung‘ d. h. ihr Leibkörper.“Footnote 129 Nach Richir verfügt der Leibkörper als das „körperliche Ganze“ über einen doppelten Charakter, der mit dem zugrundeliegenden oder neutralen „X“ bei Waldenfels verglichen werden könnte.Footnote 130 An sich ist er das „Ganze“ (ὃλον), aber in einem anderen Sinne ist er „Ort“ (τόπος). Was ihm noch den rätselhaften und paradoxen Charakter verleiht, ist seine abstrakteFootnote 131 Seite. Er ist zugleich beweglich (Körper) und unbeweglich (Leib). Handelt es sich um seine Trägheit, Leblosigkeit, die ihn der Erfassung des Sehens ausliefert, dann stellt dieses seine abstrakte Seite als Körper dar. Geht es aber um seine leibliche Lebhaftigkeit, die nur dem Blick zugänglich ist, dann haben wir es mit seiner abstrakten Seite als Leib zu tun. Dieses Paradox liegt also in dem doppelten Charakter des Leibkörpers. Deshalb schreibt Richir, dass nicht der Leib selbst des anderen, sondern dessen Leib „in der Abbildung“ also der Leibkörper „perzipiert“ wird. Es ist also der Leib, insofern er Leibkörper ist, der figuriert oder apperzipiert werden kann. Der Leib als die abstrakte Dimension des Leibkörpers ist im klassischen Sinne nicht wahrnehmbar. Er kann nicht mit der Körperlichkeit gleichgestellt werden, welche ihn in Raum der Welt externalisieren und ihn zum Ding (Quid in der Positionalität von Doxa) machen würde.
Ist der Leib nicht im Raum der Welt als Körper wahrnehmbar, dann ist er nicht figurierbar, sei es durch die Perzeption (Wahrnehmung) oder durch die Imagination.Footnote 132 Das Sehen kann ihn also nicht erfassen. Deshalb schreibt Richir: „Leib […] ist in gewisser Weise die unsichtbare Peripherie des Ganzen […] und es ist diese Peripherie, die nirgends für das Sehen ist, die für es verloren geht.“Footnote 133 Was kann also diese unsichtbare Peripherie erfassen, die im Übergangsraum erscheint? Dieser schwer fassbare und unbestimmte Bereich ist nur der Leiblichkeit zugänglich, welche ihn erfassen kann. Genau deswegen vermag es nur die Leiblichkeit, den Leib zu „perzipieren“ (damit ist eine Erfassung gemeint, die nicht durch die Wahrnehmung, sondern durch die Phantasia möglich ist).
Ist der Leib, oder dessen Abbildung als Leibkörper, also anhand der Leiblichkeit erfasst, dann haben wir es eher mit einer Alterität und nicht mit einer ExteriotitätFootnote 134 zu tun. Die Alterität ist nur dem mit Phantasia-Affektion erfüllten Blick zugänglich. So ist der Leibkörper der Leib, sofern er anhand der Gestik, der Gebärde, der Wörter, der Stimme, des GebarensFootnote 135 usw. die Alterität von innen her erfasst, wie die Begriffe Phantasia, Imagination, Affektivität schon ihrem Sinn nach klarmachen. Der Leib ist für uns das „Selbst“ (auf Französisch soi; auf Lateinisch qui), das im Übergangsbereich apperzipiert wird. Erst hier gelingt es dem Kind, die tierische Phase zu verlassen. In der transzendentalen Interfaktizität begegnet das „Selbst“ anhand der Leiblichkeit seiner „Abbildung“, wobei diese Abbildung nicht als eine „Kopie“ eines Originals verstanden werden soll. Das Kind erkennt anhand des Erweckens seines Blickes durch den mütterlichen Blick (Leiblichkeit) den Leib(Körper) seiner Mutter dort und kann dadurch zur Erkenntnis kommen, dass dieser Leib(Körper) hier – als wäre dieser eine Abbildung des Leibs(Körpers) dort – seinerFootnote 136 ist. Nun erscheint ihm der Leib(Körper) hier als sein eigener. Das Kind ist durch die Leiblichkeit vermenschlichtFootnote 137 und kein Tier mehr und kann deshalb dadurch Schritt für Schritt auf den Weg der Kultur gebracht werden. Wie ersichtlich wird, bewegen wir uns von der Leiblichkeit (χώρα) zum Leib (τόπος). Damit ist die Problematik des verminderbaren Abstands zwischen Leib und Leibkörper, auf die wir bei der Ausarbeitung des aristotelischen τόπος aufmerksam gemacht haben, nun anhand der Leiblichkeit gelöst. Aber mit der Konstitution des Leibkörper haben wir auch das Register der transzendentalen Interfaktizität verlassen.
An dieser Stelle wollen wir ganz kurz auf den Zusammenhang zwischen den Leibbegriffen anhand einer Stelle in Fragments Phénoménologiques sur le Temps et L’Espace verweisen:
Die Chôra ist auch nicht die phänomenologische Grundlage von Topos, da es vor allem der Leibkörper und der Körper sind, die der unbeweglichen Grenze des Ortes „Materie geben“. Der Leibkörper ist von seiner physischen Basis her in seiner Körperdimension heterogen zur Chora – er ist dort nur durch seine Leiblich-Dimension eingeschrieben, als wäre es im Gegenzug aufgrund unseres Ausgangspunkts jetzt der Leibkörper-Bastard, der die illokalisierte und flüchtige Leiblichkeit – wenn auch der Schoß oder transzendentaler Boden – zur Körperlichkeit verknotet, die nur „lebendig“ sein, einen Blick selber leiblich tragen kann, wenn sie einen Ort, einen Leib findet, wo sie sich als ein absolutes Hier unter der transzendentalen Interfaktizität lokalisieren oder definieren kann, die die Pluralität des absoluten Hiers trägt und dort ist, ohne verschlungen zu werden.Footnote 138
Die χώρα ist nicht die Basis von τόπος. Damit will Richir betonen, dass der Leib seine Materialität sowohl vom Leibkörper als auch vom Körper erhält. Der Leibkörper ist deshalb nicht mit χώρα zu vergleichen, da der erstere physisch ist. Der Leib ist dieses Selbst, von dem wir gesprochen haben. Der Leibkörper ist die physische Verbindung der Körperlichkeit zur χώρα. Nun bekommt die Körperlichkeit, also die reine Exteriorität, ihren Platz vom Leib, durch den sie Lebendigkeit erfährt. Dieses Selbst ist als das Unbewegliche und als das absolute Hier der Nullpunkt zur Orientierung im Raum der Welt, während dem Leibkörper die Deckungsgleichheit mit der Welt des Seienden zugeschrieben werden kann. Mit der Stiftung von Leibkörpern in der Welt des Seienden sind wir bereit für die Stiftung der Intersubjektivität. Die erstere darf aber die Innerlichkeit des Leibes nicht ausschließen, der zu ihrem wesentlichen Teil gehört.
Wir hatten ganz am Anfang behauptet, dass Richirs Neubearbeitung der Phänomenologie mit der Mathesis der Instabilität zusammenhängt. Dazu gehört die „Infragestellung“ jeglicher Art von Stellungnahme oder Positionalität, welche Richir in Fragments Phénoménologiques sur le Temps et l’éspace mit der δόξα gleichstellt. Obwohl diese „Infragestellung“Footnote 139 die Infragestellung der Husserl’schen phänomenologischen Epoché impliziert, die den Anspruch einer Enthaltung eines Urteils erhebt und die wir am Ende dieser Arbeit behandeln, fragen wir jedoch, ob das hier gemeinte Selbst in der Lage ist, dem mächtigen Griff der δόξα zu entkommen, wie wir einigermaßen bei der Leiblichkeit bewiesen haben. Das heißt, wir wollen wissen, ob das Selbst (Leib) dem Bereich der Positionalität (δόξα) entgeht, auch wenn diese Frage dem Bereich der Infragestellung der Husserl’schen phänomenologischen Epoché (Griechisch: ἐποχή) zugehört, den Richir durch seine neue hyperbolische phänomenologische EpochéFootnote 140 ersetzt, d. h. radikalisiert. Bevor wir im nächsten Abschnitt systematisch zu dieser Frage kommen, wagen wir es, anhand einiger Hinweise eine vorläufige Einsicht zu geben.
Was ist also der Status dieses Selbst? Wie wird es dem Säugling oder der Mutter (uns) gegeben? Das Selbst (der Leib), das der Säugling erfasst, ist weder Objekt der Wahrnehmung, das uns irgendein Körper vermittelt, noch ein Objekt der Imagination. Deshalb wird es nicht als eine Darstellung gegeben. Das Selbst ist weder ein Körper (es ist keine Exteriorität, die uns unzugänglich bleiben würde) noch ein Phantomleib. Wenn also weder die Wahrnehmung noch die ImaginationFootnote 141 am Werk ist, die von einer Intentionalität durchkreuzt werden, dann ist dieses Selbst laut Richir eine „Sachlichkeit“, die durch die „perzeptive PhantasiaFootnote 142“ erfasst ist, in der das Selbst als eine „unsichtbare Kaverne“ erscheint. Die kinästhetische Anspannung und Entspannung löst Phantasieerscheinungen aus, die nichts darstellen und die noch nichts oder Objekt einer möglichen Doxa sind, weder durch die Wahrnehmung noch durch die ImaginationFootnote 143. So verstanden ist das Selbst kein Ding (wie ein „Quid“, ein „Was“), sondern ein „Quis“, das im freien Spiel der Phantasia als ein absolutes Hier „perzipiert“ wird. Das Selbst ist daher kein Objekt, das sich im Raum der äußerlichen und aktuellen Welt lokalisieren lässt. Vielmehr liegt es im Abstand des Übergangsraums, wo es „perzipiert“ wird. So sieht man zusammenfassend, dass dieses Selbst von einer Unbestimmtheit durchkreuzt wird. Deshalb schreibt Richir:
Was aber im Werden bleibt, das dem Leben innewohnt, ist das Selbst, das kein „Was“ ist, das die Doxa aufhält, sondern ein Selbst in unaufhörlichem Geschehen, das niemals erreicht werden wird, als unendlicher „lebenswichtiger Impuls“ der primordialen Affektivität, selbst proto-ontologisch, nicht positionell.Footnote 144
Die Nichtpositionalität des Selbst bedeutet, dass es mit sich selbst nicht übereinstimmt, wie es bei der symbolischen Zirkularität in der symbolischen Stiftung der Fall ist. Das Selbst ist auf unendlicher Suche nach sich selbst. Es ist also nicht bestimmt und ist sozusagen selbst in Klammern gesetzt. Sobald der Bereich der ontologischen (existenzialen) und transzendentalen Bestimmung überwunden wird, – wir haben auf diese schon oben in Bezug auf Heidegger und Binswanger verwiesen – verschwindet die δόξα. Wir befinden uns in einem anderen Bereich der Phänomenologie, wo weder der Idealismus noch der Realismus einen Platz hat. Das ist der Bereich der meta δόξα.
2.3.3.6 Von der χώρα (Leiblichkeit) zum „Realen“ in der „perzeptiven“ Phantasia
Eines der vielen Ergebnisse der Interfaktizität war die Konstitution des Selbst anhand der Leiblichkeit, wo die tierische Phase des Säuglings (diese Phase ist die des „primordialen Zustandes“, die genetisch aber nicht phänomenologisch die erste Phase ist; phänomenologisch ist die Interfaktizität die erste Phase) dadurch überwunden wurde, dass aus dem biologischen Rhythmus des Hungerhabens und der Befriedigung der Rhythmus der Vernichtung und des Überlebens der Brust folgt. Für Richir signalisiert das Überleben der Mutterbrust einfach die Stiftung dieser als ein lebendiges absolutes Hier, das sich anhand der Phantasia Übergangsphänomenen öffnet. Wenn das Kind die Illusion des primordialen Zustandes überwunden hat und zum Selbst gelangt ist, wie kommt es dann, dass es zur Realität gelangen kann? Wir befinden uns bereits im Übergangsraum – im Kontext des Spielphänomens, in dem, wie Winnicott sagt, das Kind Objekte oder Phänomene aus der äußeren Realität im Dienste der Sachen aus der inneren oder persönlichen Realität verwendet, wo sozusagen die äußeren Phänomene im Dienst der (inneren) Träume manipuliertFootnote 145 werden. So können wir sehen, dass es hier eine Verschmelzung von innerer und äußerer Realität gibt. Wenn es eine zusammenhängende Entwicklung von Übergangsphänomenen zum Spielen und vom Spielen zum gemeinsamen Spielen und von diesem zur kulturellen ErfahrungFootnote 146 gibt, wie Winnicott behauptet, dann wäre Richirs These, nämlich dass dieser Übergangsbereich zum Realen führen kann, das in der Erfahrung thematisiert ist, legitim sein. Da es hier um ein Zusammenspiel von Realität (im Sinne von der in der Welt aktuell seienden Lage der Exteriorität) anhand der Wahrnehmung auf der einen Seite und von innerer persönlicher Realität auf der anderen Seite geht, greift Richir auf Husserls Konzept der perzeptiven Phantasia zurück. Diese ist genau das, was hier im Übergangsbereich das „Reale“ „perzipiert“ und es vermag, Winnicotts Übergangsphänomene zum Ausdruck zu bringen. Das heißt, sie kann die Antwort auf die Frage liefern: Wie gelangt der Leib (das Selbst) zur Realität (im Sinne von Richirs „le réel“)? Man kann hinzufügen: Was macht dieses Reale (le réel) aus, das leiblich in der Erfahrung gegeben ist? Was ist also der phänomenologische Status dieses Realen? Bevor wir auf diese Frage eingehen, ist es erforderlich, Husserls Lehre der perzeptiven Phantasia kursorisch zusammenzufassen.
Richir bedient sich Hua XXIII, n.18: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. In erster Linie fassen wir den Zusammenhang zwischen der Realität, der Imagination und der PhantasiaFootnote 147 zusammen. Husserl schildert zunächst, was er „perzeptive Fikta“ nennt, die den Charakter durchgestrichener Wirklichkeit haben. Dann gibt es aber auch „mannigfaltige Fikta, die schon in sich selbst Mischungen sind.“Footnote 148 Solche eine Mischung erfährt man am Beispiel eines Theaters, wo es perzeptiven Widerstreit gibt. Der König, den man auf der Bühne apperzipiert, ist im realen Leben nur ein Schauspieler, dessen Mantel nur zur Theatergarderobe gehört und gar kein Krönungsmantel eines wirklichen Königs im realen Leben ist. Der hier offensichtliche Widerstreit ist aber nur passiv, d. h. potential. Er kann aktiviert werden, sodass die Doppelapperzeption des Realen und des Bildsujets (Königs) durch das Bildobjekt (Schauspieler) zustande kommt. Alle Abschnitte von Seite 511 bis Seite 513 zeigen, dass es hier um die Mischung von Realität und Imagination (Fiktum) geht, wobei das Fiktive sich am Realen festhält. Das ist aber im Theaterspiel, wo eher die Realität und das Fiktive (nun die Phantasia) sich widerstreiten, anders. So fügt Richir hinzu: „Was im Theater dargestellt wird, ist dort in der Tat, als ob es real wäre.“Footnote 149 Husserl stellt die Phantasia dar, die er als „das eigentümliche Bewusstsein des Als-ob“ beschreibt, als das, in das „die Änderung der Einstellung“ der realen „Erfahrung“Footnote 150 übergeht. Ist das Bewusstsein der realen Erfahrung gehemmt, dann ist das Bewusstsein des Als-ob erleichtert. Bei der Betrachtung (Erfahrung) einer Landschaft wird die Wirklichkeit zum „Als ob“. Sie wird „zum Spiel“,Footnote 151 wobei die realen Objekte zum ästhetischen Schein (zu „Phatasieobjekten“) werden. Für Richir heißt es, dass sie reale Objekte aber keine Objekte (Bildobjekte) sind, die andere Objekte (Bildsujets) darstellen. Diese gehören eher zum ästhetischen Schein, wo die Phantasia am Werk ist.
Nach dieser Ausführung nennt Husserl eine andere einzigartige Art von Phantasia, die er als „reichlich, passive Phantasien“Footnote 152 versteht, die noch nicht vollzogen sind. Für Richir ist diese Art von Phantasia nicht positionell. Erst durch die Imagination wird die Phantasia durch eine Intentionalität umgesetzt, Husserl spricht davon, dass sie „aktiviert“ werde. In solchem Fall wirkt das intentionale Objekt der Imagination „als ob sie positionell“ wäre (Richir schreibt ihm deshalb eine „Quasi-Positionalität“ zu), während es in der Wirklichkeit überall, aber nirgendwo (also ein Fiktum) ist.
Husserl beschreibt zudem den Fall einer perzeptiven Phantasia, die sich von der puren passiven Phantasia enorm unterscheidet. Für Husserl ist „die Kunst […] das Reich gestalteter, Phantasie“, sei es perzeptiv oder reproduktiv. Die große Frage für Husserl ist nämlich, ob bei der Kunst die Kunstwerke im Bilde dargestellt werde oder nicht, wo die Darstellung als eine Abbildung (für Richir Kopie eines Bildes, image-copie) verstanden wird. Auf diese Frage geht Husserl ein und lehnt die Abbildlichkeit bei der perzeptiven Phantasia ab. Vielmehr handelt es sich dabei um eine „Bildlichkeit“:
Bei einer Theateraufführung leben wir in einer Welt perzeptiver Phantasie, wir haben „Bilder“ in der zusammenhängenden Einheit eines Bildes, aber darum nicht Abbilder. Wenn Wallenstein oder Richard III. auf der Bühne dargestellt wird, so handelt es sich sicherlich um abbildliche Darstellungen, obschon es eine zu erwägende Frage ist, inwiefern diese Abbildlichkeit selbst eine ästhetische Funktion hat. In erster Linie ist es nicht die Abbildlichkeit, sondern die Bildlichkeit im Sinne der perzeptiven Phantasie als unmittelbare Imagination. Bei einem bürgerlichen Lustspiel oder Schauspiel fällt die Abbildlichkeit offenbar fort und ebenso bei Erzählungen, auch wenn sie mit „Es war einmal“ beginnen, wie es bei Märchen üblich ist. Es sind anschauliche oder partiell anschauliche Reproduktionen von Vergangenem, die uns dargeboten werden, und zwar im Modus der Vergangenheits-Phantasie und evtl ganz reiner Phantasie, wie in den Hofmannsthal’schen Märchen.Footnote 153
Man sieht, dass des Schauspielers Darstellung des Wallenstein als dessen Bildobjekt (Abbild) von Husserl abgelehnt wird. Stattdessen kann er in einem ästhetischen Zusammenhang nur bildlich „im Sinne der perzeptiven Phantasie“ dargestellt werden. Das heißt: Die „perzeptive“ Phantasia wandelt alle schauspielerischen Darstellungen in einen neuen Modus des „als ob“, denn man weißt ja, dass der Schauspieler ein echter Mensch ist. Diese Darstellung, um es noch einmal ausdrücklich zu betonen, ist auf gar keinen Fall eine „Kopie eines Bildes“, das Bild wäre dann das von Wallenstein und die Kopie dieses Bildes wäre das des Schauspielers. Wir haben es hier mit einer „Intrige“ zu tun, auf die Husserl in seinen Ausführungen zuvor aufmerksam gemacht hat. Er bringt die ganze Diskussion wie folgt auf den Punkt:
Um die Sache am Schauspiel noch näher auszuführen, so sprechen wir von schauspielerischer Darstellung und nennen sie vielleicht auch bildliche Darstellung. Die Schauspieler erzeugen ein Bild, das Bild eines tragischen Vorgangs, jeder das Bild einer handelnden Person usw. Aber „Bild von“ besagt hier nicht Abbild von. Und was davon abzugrenzen ist: Die Darstellung des Schauspielers ist auch nicht eine Darstellung in dem Sinn, in dem wir von einem Bildobjekt sagen, dass sich in ihm ein Bildsujet darstelle. Weder der Schauspieler, noch das Bild, das seine Leistung für uns ist (die Darstellung des Schauspielers heißt hier also die Erzeugung eines „Bildes“ mittels seiner wirklichen Tätigkeiten, darunter seiner Bewegungen, seines Mienenspiels, seiner äußeren „Erscheinung“, die sein Erzeugnis ist), ist Bildobjekt, in dem sich ein anders Objekt, ein wirkliches oder selbst fiktives Bildsujet abbildet.Footnote 154
Die Sache, die der Schauspieler darstellt, geht also über die Darstellung eines Bildsujets anhand eines Bildobjekts, sei es fiktiv aus einer Märchenwelt oder sei es aus der realen Welt, hinaus. In Richirs Augen wäre solch eine Interpretation der Welt (der Wirklichkeit) eine spiegelnde MimesisFootnote 155, die die Wirklichkeit anhand seines realen Leibkörpers perfekt und mechanisch imitiert. Bei der „perzeptiven“ Phantasia werden reale Dingen der realen Welt benutzt, ohne diese trotzdem in eine Positionalität zu setzen, sodass das, was in der „perzeptiven“ Phantasia erscheint, ein „perzeptives Fiktum“ ist, das uns in die Intrige des „als ob“ (Illusion) versetzt. Husserl schreibt:
Wo aber ein Schauspiel dargestellt wird, da braucht gar kein Abbildungsbewusstsein erregt zu werden, und was da erscheint, ist ein reines perzeptives Fiktum. Wir leben in der Neutralität, wir vollziehen hinsichtlich des Angeschauten gar keine wirkliche Position, alles, was da vorkommt, was da ist an Dingen und Personen, was da gesagt, getan wird usw., alles hat den Charakter des Als-ob. Die lebendigen Menschen, die Schauspieler, die realen Dinge, genannt Kulissen, wirkliche Möbel, wirkliche Vorhänge usw., „stellen dar“, sie dienen dazu, uns in die künstlerische Illusion zu versetzen. Nennen wir jeden Fall, wo eine perzeptive Phantasie durch wirkliche Dinge „erregt“, sagen wir lieber, auf dem Hintergrund von Wahrnehmungen und evtl, sonstigen Erfahrungen von wirklichen Dingen erzeugt ist, und zwar so, dass in ihnen sich das künstlerische Objekt darstellt, eine Illusion, so haben wir es hier mit Illusionen zu tun.Footnote 156
Die „perzeptive“ Phantasia nutzt reale Dinge in der Welt, die als Vermittler zur Wirklichkeit dienen. Dies impliziert jedoch keine Art von Positionalität, in der die Dinge (Möbel, Kulissen, Vorhänge) in der Welt durch eine Intentionalität vermittelt würden, wie sie bei der Wahrnehmung in roher Form gegeben sind. Im Gegensatz dazu gibt es eine Form der Neutralisierung dieser Dinge. Da die Phantasia, die sie „perzipiert“, neutral und ohne Position ist, kann ihre „Perzeption“ anhand der Phantasia nicht in einer Beziehung der Positionalität erfolgen. Wenn sie also „perzipiert“ und „positioniert“ werden, ist es im Sinne von und im Modus eines „als ob“. Richir schreibt, dass das Spiel, das in die Tat umgesetzt wird, das eines „als ob“ ist, sowohl von der Seite des Schauspielers als auch von der Seite des Zuschauers. Die Zuschauer schauen sich das Spiel im realen Theater an, als ob es eine reale AktionFootnote 157 wäre, die sich gerade in Fleisch und Blut, hinc et nunc abspielt, sodass wir zum ursprünglichen Zusammenhang zwischen dem Realen und dem Fiktiven (es handelt sich hierbei um das Fiktive der Phantasia und nicht um das Fiktive der Imagination) zurückkehren. Damit ist es möglich, die Illusion zu verstehen, auf die Husserl an in diesem Zusammenhang deutlich und auf betonte Weise anspielt.
Richir schreibt der „perzeptiven“ Phantasia deshalb ein paradoxes Leben (Husserl nennt dies „Widerstreit“, der „von vornherein schon da ist“Footnote 158) zu. Das Paradox besteht darin, dass die „perzeptive“ Phantasia das Reale braucht. Gleichzeitig wird dieses Reale nicht verwirklicht oder positioniert. Es bleibt inaktuell (passivFootnote 159), um näher an Husserls Ausdrucksweise zu bleiben. Richir bezieht sich auf folgendeStelle: „Aber wir, die wir keine Kinder sind, vollziehen hier keine Durchstreichung als tätige Negation, ebensowenig wie wir das Wirklichkeitsbewusstsein der Erfahrung, in dem uns die Schauspieler und die ‚darstellenden‘ Dinge als Wirklichkeiten gegeben sind, aktiv vollziehen“,Footnote 160 um das Paradox deutlich zu machen, das im kindlichen Spiel passiert. Husserl wollte sagen: Auch wenn wir keine Kinder sind, sind wir kindlich genug, an die Illusion des Theaters zu glauben.Footnote 161 Ohne dem Realen eine Positionalität zu verleihen, ohne es durch die Imagination in ein Bildobjekt eines Bildsujets umzusetzen, bleibt Husserl nur übrig, den paradoxen Begriff von „perzeptiver“ Phantasia – und nicht „wahrnehmungsmäßig“, da dieser durch die Intentionalität aktuell ist, die auf ein Objekt gerichtet ist – zu benutzen, deren „Perzeption“ inaktuell (passiv) ist. Nur diese Phantasia kann das Reale „perzipieren“, ohne es in ein Bildobjekt eines Bildsujets umzusetzen (Imagination) und ohne sich auf ein Wahrnehmungsobjekt intentional zu richten, als wäre es aktuell (Wahrnehmung). So kommt Richir zu einer neuen Entdeckung bei Husserl: „Dies ist zweifellos die Grundlage von Husserls Gedanken: Wir sehen, dass wir uns in einem Zwischenregister zwischen Phantasia und Imagination befinden“.Footnote 162 Nun haben wir einen Fall der Phantasia, die sich von der oben erwähnten puren Phantasia unterscheidet, und die das „Reale“ dadurch „perzipieren“ kann, dass sie über ein „Objekt“ verfügen darf. Der reinen Phantasia ist es nicht möglich über ein Objekt zu verfügen.
Wendet man sich zu Husserls Konzept der „doppelten Apperzeption“Footnote 163 (das Fiktive und die Realität) zu, dann stellt sich die Frage, wie sich diese zu der „perzeptiven“ Phantasia verhält. Beim Fiktiven bewohnen wir die Phantasia in dem Modus des „als ob“. Dadurch nehmen wir am Schauspiel teil. Aber was das Zweite, die Wirklichkeit, anbelangt, haben wir Zugang zum Schauspiel anhand der realen Dinge im Theatersaal und auf der Bühne. Nun fragt Richir, warum diese realen Dinge – prosaisch wie sie sind – das Fiktive nicht auslöschen. Die Antwort lautet: „Es ist so, weil sie selbst darin genommen werden […] Sie stellen die Fiktion dar und lassen ihren realen Charakter nicht posieren“.Footnote 164 Dies bedeutet, dass die realen Dinge auf der Bühne des Theatersaals von der Phantasia verwendet werden, so dass sie nun als die „Dinge der Phantasia“ wie in einem „Spiel“ fungieren können, genauso wie das Kind äußere Phänomene im DienstFootnote 165 der (inneren) Träume manipuliert. Offensichtlich liegt zwischen den beiden ein Verhältnis des Widerstreits, der alle Positionalität durchstreicht. Denken wir an die wirklichen Möbel auf der Bühne, die nun in die „Einstellung des im Spiel lebenden Zuschauers“ übergehen und genau dort nicht als wirkliche Möbel fungieren. Sie werden zu Phantasiemöbeln. Diese „haben ihren Widerstreit mit der realen Wirklichkeit, der die wirklichen Möbel angehören.“Footnote 166 Das alles hat zur Folge, dass die Positionalität der Schauspieler und der realen Objekte auf der einen Seite suspendiert wird. Die Wirklichkeit wird nicht gesetzt – ihre Setzung ist nur die eines „als ob“ in der Phantasia. Auf der anderen Seite setzt die Phantasia diese realen Objekte nicht in Positionen, während sie, wie im Spiel, frei schwebt. Die Dinge werden also nicht durch die Phantasia gesetzt; weder das Selbst noch das Objekt werden gesetzt.Footnote 167 Da wir schon im letzten Abschnitt von der Nichtpositionalität (Setzungslosigkeit des Leibes, Selbst) gesprochen haben, fragen wir nun: Was ist denn der Status dieser Objekte, die in der Phantasia als „als ob“ erscheinen? Antwort: Sie sind auch setzungslos.
Dieses Modell der Leistung der „perzeptiven“ Phantasia im Theater kann aber Richirs Meinung nach als Modell in intersubjektiven Verhältnissen fruchtbar gemacht werden. Die setzungslosen Konkretheiten (Objekte) in der Phantasia könnten sich zwischen Personen abspielen, wenn die gesprochenen Worte, der Blick, der leibliche und affektive Austausch zwischen Subjekten nun als setzungslose Objekte in der Phantasia „perzipiert“ werden. Außerdem kann der ästhetische (Kunst) Kontext von Husserls Ansatz erweitert und auf die Art der Kommunikation zwischen Leser und Autor, Kunstinteressierten und Maler bei der Betrachtung eines Kunstwerks zwischen Hörer (Zuschauer) und Pianist bei einer musikalischen Aufführung usw. übertragen werden. Richirs großes Interesse dabei ist, zu zeigen, dass die hier fungierende Einfühlung (also der Zugang zu „Objekten“ der Wirklichkeit – wir wissen, es gibt da kein prosaisches Objekt – in der Phantasia) bei der Phantasia gar nicht durch die Imagination, sondern durch die „perzeptive“ Phantasia vermittelt wird. Wäre es durch die Imagination, dann wäre das Leben, das in der Phantasia sichtbar ist, nur imaginär. Es wäre nur ans Trugbild gebunden, etwa eine Fantasie oder die ursprüngliche Illusion beim Säugling, für den die Mutterbrust vom Selbst erzeugt wird und zum Selbst gehört. Die Imagination vermag es laut Richir nicht, uns an das „Reale“ zu führen. Nur dasjenige Leben wird real erfahren, das real in der Phantasia „perzipiert“ und erlebt wird. Also nur die „perzeptive“ Phantasia vermag es uns im Übergangraum zum Realen zu führen. Wenn man will, ist das die Kernthese, der sich Richir in dem 527-seitigen Buch Phantasia, Imagination, Affektivität widmet.
Oben haben wir schon die Frage gestellt: Wie gelangt der Leib (das Selbst) zur Realität (im Sinne von Richirs „le réel“), verstanden als das Reale? Nun dürfen wir mit Richir antworten, dass für den Leib der Weg zum Realen im Übergangsraum geschieht, wo die Übergangsphänomene erscheinen, die im phänomenologischen Sinn durch die „perzeptive“ Phantasia übersetzt werden. Jedes Übergangsphänomen setzt die „perzeptive“ Phantasia voraus. Während die „perzeptive“ Phantasia eine Vermittlungsfunktion zwischen der reinen Phantasia und der Wahrnehmung von äußeren Objekten innehat, übernimmt das Übergangsphänomen diese Funktion zwischen dem im Innen des „Kindes“ Erlebten und dem, worum es bei dem innen als eine mit der Mutter geteilte Welt eigentlich geht. Damit der Weg zum Realen (le réel) möglich wird, muss das reine Ding (Exteriorität) im Modus des „als ob“ in der Phantasia perzipiert werden. Mit anderen Worten: Erst wenn die „perzeptive“ Phantasia einen Widerstreit zwischen dem Spiel der Phantasia und dem reinen Ding öffnet, kann der Weg zum Realen möglich werden. Bei dem Widerstreit ist offensichtlich, dass die reinen Dinge eine doppelte Apperzeption durch die Perzeption (Wahrnehmung) und durch die Phantasia erfahren können. Die Phantasia greift auf diese Dinge (Objekte) zu und macht sie (Wandlung) zu Objekten des Spieles, wo sie in den Objekten etwas entdeckenFootnote 168 (perzeptiv), was nicht mehr zum Status eines reinen Dinges gehört.
Um den Status dieses Etwas zu präzisieren, geht Richir über Winnicott und Husserl hinaus. Beim ersten setzt er die Suche nach dem Etwas vermittels der kulturellen Fakten („les faits de culture“) fort, die Winnicott sozusagen ignoriert hatte. Winnicott ist im Register des kindlichen Spiels geblieben. Diese kulturellen Fakten, die Richir thematisieren will, thematisieren „aus dem Inneren des Spieles“ auch das Reale, das sich „am Horizont des Übergangsraums“Footnote 169 zeigt. An erster Stelle ist dies die Philosophie (die Phänomenologie). Hier gibt es auch das Spiel. Das Spiel geschieht durch Begriffe als reinen Dingen. Zwischen den Zeilen und Begriffen (oder Wörtern) wird philosophiert, da das Spiel der Phantasia des entsprechenden Philosophen zwischen den Zeilen etwas schildert, was den Leib des Lesers zum Zugang zu sich (zu diesem etwas) führen soll. Genauso thematisiert jede Musik, jedes Gemälde, jede Literatur etwas – das worum es eigentlich in diesem Stück Musik oder diesem Gemälde geht und nicht etwas anderes –, was am Horizont des Übergangs durchscheint. Auch in der Religion wendet man sich an etwas.
In all diesen Beispielen geht dieses Etwas über das einfache Register des „als ob“ hinaus, da man es eigentlich mit einem Sinn zu tun hat. Für Richir ist dieses Etwas die Sache selbstFootnote 170, die bei „den kulturellen Fakten der Erwachsenen“ angestrebt wird und die „darin Sinn macht.Footnote 171“ Richir versteht dies als das „Reale.“ Das Reale ist also als die Sache selbst, der „Sinn“, den Richir als Sinn der Sprache (sens de langage) versteht, ohne dass man dabei in die „Bedeutung“ verfällt, denn dieser Sinn ist ursprünglicher als die Stiftung der SpracheFootnote 172 selbst. Das Reale erscheint am Horizont der „perzeptiven“ Phantasia oder hinter dieser, was bedeuten soll, dass es keine Positivität durch eine Setzung erfährt. Darin wird jegliches Urteil verschoben. Der Ausdruck Richirs „am Horizont“ oder „hinter“ der perzeptiven Phantasia ähnelt dem lacanschen Verständnis vom Realen, als das, was sich nicht darstellen kann, ohne den Verlust eines direkten oder unmittelbaren Zugangs zur gegebenen RealitätFootnote 173 zu erleiden. Das Reale entgeht deshalb der Setzung durch Sprache als System in der symbolischen Stiftung. Während das Letztere (Sprachsystem) in einer Temporalisierung der Gegenwart geschieht, wird das Vorherige (das Reale) in einer „Temporalisierung ohne eine Gegenwart“ („temporalisation en présence sans présent assignable“) „perzipiert“. Dies ist so, weil das Reale zum Sprachphänomen gehört.
Dieser Sinn, der nicht gesetzt wird, macht sich selbst, ist das, was das kindliche Spiel und die kulturellen Fakten der Erwachsenen gemeinsam haben. Er verfügt nicht über die Intentionalität, wie das bei HusserlFootnote 174 anhand des Korrelats Noema-Noesis wäre, wo also ein konstituierendes SubjektFootnote 175 die Welt erfassen würde. Der Sinn, der sich selbst macht, bleibt radikal anonym, genauso wie das Subjekt, das mit sich selbst nicht übereinstimmt (und deshalb anonym ist), und das zur unendlichen Suche nach sich selbst verurteilt ist. Während dieser Sinn in seiner Bildung nicht gesättigt werden kann, erfährt sein anderes Korrelat in der symbolischen Stiftung eine Überformung bzw. eine Sättigung, die das Ende der Diskursivität bedeutet
Ist dieses Ding nun zum Etwas, dem Realen – welches für Richir Sinnbildung impliziert –, gewandelt, dann darf das Übergangsobjekt im Übergangsraum nicht zum Imaginären führen. Das würde passieren, wenn dasFootnote 176 (ein Stück Taschentuch oder die Mutter), was das Kind perzipiert, das Bildobjekt der Mutter (Bildsujet) wäre. Dann hätte das Kind das, worum es geht, eigentlich verpasst. Es wäre noch beim „subjektiven Objekt“ geblieben und nie zum „objektiven Objekt“ im geteilten Realen gelangt. Denn eigentlich ist das „Taschentuch“ etwas, was zur Mutter gehört („quelque chose de la mère“) und kein imaginäres Bildsujet der Mutter. Dies könnte traumatisch für das Kind werden, wenn es anstatt zum Realen zum Trugbild gelangt, da das Zusammenspiel von Phantasia (also Spiel) und „Perzeption“ nicht gelungen ist, und die Leiblichkeit zur Phantomleiblichkeit umgesetzt wird, die nur eine Illusion mit sich bringt.
2.4 Schlussüberlegung
Wir haben nicht nur gesehen, dass Leiblichkeit (χώρα) die Thematisierung von Leib und Realem in einer Weise ermöglicht, die die Positionalität degradiert, sondern der Leib erlangt auch innerhalb der Matrix dieser Leiblichkeit einen anonymen Status, und das Reale wird im Rahmen des Phänomens als Phänomen diskutiert. Zugleich bleibt der Status des Sinns anonym, der uns die leibliche „Perzeption“ der Phantasia öffnet, also der Sinn, der sich selbst macht. All dies ist dank der Leiblichkeit als jener transzendentalen Matrix des Schematismus möglich, in der die Phänomenalisierung stattfindet. Auch bei der Phänomenalsierung – wir haben dies als das verstanden, was das Phänomen geschehen lässt – die sich selbst vermittels Verzögerungen und im Voraus (par avances et retards) flüchtig erblickt (s’entre-aperçoit), gibt es kein FesthaltenFootnote 177 am Selbst, sondern eine unendliche Reflexivität. Diese Reflexivität ist die des Phänomens als nichts anderem als Phänomen. Der ganze Vorgang bleibt anonym.
Ist der ganze Vorgang anonym ohne jegliche Positivität geblieben, dann ist dies so, weil die Leiblichkeit von einem unvermeidbaren Abstand durchdrungen ist, der ihr eine Unbestimmtheit verleiht. Unsere Bemühung war es also, die oft vergessenen Leistungen des originären unbestimmten Abstandes innerhalb der Thematik der Leiblichkeit (χώρα) zu thematisieren, ohne die das Denken selbst, oder anders gesagt: die Phänomenalisierung, nicht möglich wäre. Ohne diesen Abstand kann keine Bewegung, kein Schematismus, kein Blinken, keine Reflexivität erfolgen, kein Überschuss geschehen, geschweige denn das Erzeugen des Sinns (also des Phänomens). Auch damit wird gezeigt, dass jegliche phänomenologische Erfahrung oder jeglicher Bezug zur Welt auch von dem sogenannten Abstand durchdrungen ist. Denn da wo sich die Leiblichkeit des Leibes mit der Welt und der Transzendenz trifft, ist dies durch einen Abstand gekennzeichnet. Die hier erwähnte Leistung wird die ganze Arbeit durchdringen, aber im letzten Kapitel wird diese These ausführlich als unsere These behandelt werden.
An dieser Stelle möchten wir dieses Kapitel mit der Feststellung beenden, dass Richirs Leiblichkeitslehre als Grundlage der Phänomenologie unseres Erachtens in der Lage ist, das Projekt einer transzendentalen Phänomenologie zu artikulieren. Dies ist daher nicht primär eine Schlussfolgerung, sondern vielmehr Ausgangspunkt für unsere weiteren Untersuchungen. Insofern soll noch geklärt werden, wie sich Richirs Anspruch an die Leiblichkeit (χώρα) als Grundlage der Phänomenologie entfalten und geltend machen lässt. Ist damit gemeint, dass die Leiblichkeit (χώρα) für jede Thematik der Phänomenologie, wie wir sie bei der Kunst, Affektivität, Intersubjektivität usw. antreffen, unvermeidbar ist? Ist also die Weltbezüglichkeit nicht ohne diese Grundlage thematisierbar? Wie kann diese Grundlage nun explizit und konkreter für solch eine Thematik, die einer verhältnismäßigen Erschließung der Welt zugeordnet wird, geltend gemacht werden? Kann man auch so bei der genannten Thematik von den unterschiedlich sich entgegensetzenden Registern sprechen? In welchem Verhältnis stehen diese Register, wie z. B. das der Positivität und das der Nichtpositionalität, das des Symbolischen und das des Phänomenologischen zueinander?
Wenn die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie gilt und wenn sie die Ausschaltung jeglicher Objektivierung der Welt erfordert, wie funktioniert sie dann in der Wahrnehmung, wo wir mit bestimmten Objekten und Gegenständen der Welt zu tun haben, die schon in der Sprache kodiert sind? Das ist eine Frage, der wir uns im nächsten Kapitel widmen wollen.
Notes
- 1.
Cf. Marc Richir, Phénomènes Temps et Etres. Ontologie et Phénomènologie, Grenoble: Editions Jérôme Million 1987, S. 18 ff.
- 2.
Ibid., S. 18.
- 3.
Ab sofort beziehen wir uns auf Sondereggers Übersetzungen der griechischen Begriffe in Zur Funktion der Chora in Platons Timaios und des Äthers in: Ders.,Kants Übergangsschrift, Würzburg: Königshausen & Neumann 2015.
- 4.
Cf. Alexander Schnell, Au-déla de Husserl, Heidegger et Merleau-Ponty: la phénoménologie de Marc Richir, in: Revue germanique Internationale 13, 2011a, S. 103.
- 5.
Otto Apelt, Einleitung zum Timaios, in: Platon, Sämtliche Dialoge, Band VI. hrsg. Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1993, S. 3.
- 6.
Platon, Timaios, in: Sämtliche Dialoge, Band VI. hrsg. Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner Verlag 1993, 28/42.
- 7.
Es lässt sich aber fragen, ob das Seiende, das zur noetischen Dimension gehört, nicht auch werden kann. Oder besser gesagt: Kann man nicht das Werden im Bereich des Seienden, also des Noetischen oder der Vernunft denken? Kann man z. B. nicht durch das Denken ein Haus mit diesen und jenen Eigenschaften bauen? Für Platon ist es im Timaios ganz eindeutig, dass solch ein Gedanke des immer so Seienden außer der Ideenwelt nicht in der Wirklichkeit vollzogen werden kann. Das Seiende war „je schon“, immer so als urzeitlich und kann daher nicht in der Zeit anfangen. So gilt im Timaios: „alles Werdende aber hat notwendig irgendeine Ursache zur Voraussetzung, denn ohne Ursache kann unmöglich etwas entstehen“ (Ibid., 28/42).
- 8.
Cf. Ibid., 28/43–44.
- 9.
Im Timaios werden dafür die Begriffe μίμημα und εἰκών verwendet.
- 10.
Cf. Ibid., 29/46.
- 11.
Sonderegger, op. cit., S. 33.
- 12.
Timaios, op. cit., 48/130–131.
- 13.
Ibid., 48/131.
- 14.
Ibid., 51/145.
- 15.
Die drei Gattungen – das Urbild von dem das Werdende als Abbild herstammt (τὸ ὅϑεν ἀϕομοιούμενον ϕύεται τὸ γιγνόμενον), das Werdende (τὸ γιγνόμενον) und das, worin es wird (τὸ ἐν ᾧ γίγνεται), worum es eigentlich im Timaios geht, entsprechen jeweils dem Vater, dem Kind und der Mutter (Cf. Timaios 50). Wenn wir also von einer mütterlichen Funktion sprechen, ist dies daher von der Rolle des Aufnehmens abgeleitet, die wir in Kürze erläutern werden.
- 16.
Ibid., 49/138.
- 17.
Cf. Ibid., 49/139.
- 18.
Ibid., 50/142.
- 19.
Ibid.
- 20.
Ibid., 51/145.
- 21.
Ibid., 51/145–146 (Das Denkbare verweist auf das Urbild).
- 22.
Ibid., 52/149–150.
- 23.
Das ist das Argument von Sonderegger, der es bei Kants Begriff vom Äther im selben Licht sieht. Dabei spielt auch der Äther eine vermittelnde Rolle in Sachen der Erfahrung. Auf der einen Seite ist das Territorium der metaphysischen Anfangsgründe, und auf der anderen Seite das der Physik. Das eine ist a priori, das andere ist empirisch. Es ist der Äther, der eine Brücke über die zwei unterschiedlichen Territorien baut. Als die Bedingung möglicher Erfahrung ist er deshalb sowohl a priori als auch empirisch und entspricht daher dem Naturraum und nicht dem geometrischen Raum der Geometrie (Cf. Sonderegger, op. cit., 2015, S. 11 f.) Siehe auch: Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, in: Ders., Werkausgabe Band IX: Schriften zur Naturphilosophie, hrsg. Wilhelm Weischedel, Berlin: Suhrkamp 1995; Albrecht Krause, Die nachgelassenen Werke Kants. Vom Übergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik, mit Belegen populärwissenschaftlich dargestellt. Frankfurt am Main: Schauenburg 1988.
- 24.
Marc Richir, Fragments Phénomélogiques sur le temps et l´ Éspace, Grenoble: Éditions Jérôme Million 2006a, S. 262: „Il faut donc, dans l’âme, quelque chose qui concilie le même, tournant sur le cercle du même, et l’autre (qui donne accès au sensible et à la doxa)“.
- 25.
Timaios, op. cit., 28/43–44.
- 26.
Man findet ein besonderes Beispiel in der Antike. Als ein Alltagswort wurde χώρα neben τόπος als Platz, Ort usw. oft benutzt. Sonderegger hat gezeigt, dass auch Aristoteles sich auf die platonische χώρα bezogen hat, und zwar in verschiedenen Zusammenhängen. Der häufigste Bezug stehe im Zusammenhang mit seinen Beschäftigungen mit ὕλη und τόπος. Wir verzichten auf die Einzelheiten (Cf. Sonderegger, op. cit., S. 43 ff.).
- 27.
Die poststrukturellen architektonischen Werke Derridas und die Zusammenarbeit zwischen dem Philosophen Derrida und dem Architekten Eisenmann im Jahr 1997 sind dafür Beispiele. Darin haben beide anhand der χώρα sowohl den Anthropozentrismus als auch die Metaphysik der Anwesenheit infrage gestellt. Aber am Ende ist dieses Projekt nicht gelungen, da χώρα sich als ein unmögliches Paradigma erwiesen hat (Cf. Jacques Derrida & Peter Eisenman, Chora L Works, hrsg. Jeffrey Kipnis & Thomas Lesser, New York: The Monacelli Press 1997, S. 71). Siehe auch: Alberto Pérez-Gόmez & Stephen Parcell, CHORA: Intervals in the philosophy of Architecture, Ontario: McGill Queen’s Univ. Press 1994.
- 28.
Kristeva sieht die χώρα als den Raum des Semiotischen bei der Entwicklung der Sprache, auch wenn sie zugleich auch der Raum für die Subjektwerdung ist. In ihrem Buch Die Revolution der poetischen Sprache entwickelt sie zwei Begriffe, nämlich „semiotisch“ und „symbolisch“ und benutzt sie für ihre Sprachphilosophie, wobei dem Semiotischen der Raum der χώρα eingeräumt wird (Cf. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1978). Auch in seinem Buch hat Derrida den Raum der χώρα textualisiert und ihn als Figur seines Konzepts der Differance interpretiert (Cf. Jacques Derrida, Chora, Wien: Passagen Verlag 2013).
- 29.
In Body that matters. On the Discursive Limits of Sex greift Judith Butler auf die Platonische χώρα in Bezug auf Kristeva zurück. Sie vertritt dort die Meinung, dass jede Diskussion über Geschlecht auf die grundlegendste materielle Dimension des Körpers zurückzuführen ist. Auch die Idee der „Performativität“ in der Geschlechter-Debatte hat sie erläutert. Sie warf Kristeva vor, das Semiotische so wie eine prä-diskursive Realität zu behandeln (Cf. Judith Butler, Body that matters. On the Discursive Limits of Sex, New York: Routledge 1994).
- 30.
Serres Analyse der χώρα ist eine philosophische Kritik der westlichen Zivilisation oder Philosophie. Aber sie enthält eine rein historische und politische Sensibilität für die Ausgeschlossenen. Er kritisiert einen männlich, also patriarchalisch basierten Dualismus als immer gewalttätig, spaltend und kurzsichtig. In diesem Sinne erscheint ihm der Gedanke der χώρα als Gegenmittel. Sie wird als eine umfassende Offenheit für alle möglichen Welten verstanden, die nicht jeden ausgrenzt, sondern vielmehr einschließt (Cf. Michel Serres, Genesis, Ann Arbor, MI: University of Michigan 1995; cf. Michel Serres, Rome. The first book of foundations, London: Bloomsbury Academic 2015).
- 31.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 261 f.
- 32.
Ibid., S. 263. In der französischen Version lesen wir: „au lieu d’être le médiateur inévitable de ce qui est tout de même l’ordre du monde, la chôra en est le point de départ“ (Meine Kursivschrift).
- 33.
In dieser Schicht stimmen das Fundierende und das Fundierte miteinander überein. Um das im Gebiet der Sprache zu exemplifizieren, passiert diese Stiftung sobald mit einem bezeichnenden Sprachzeichen „rot“ eine Farbe in der Welt „rot“ gemeint wird, sodass die beiden miteinander übereinstimmen. Eine wichtige Eigenschaft dieser Schicht ist ihre Sedimentierung, die aber ohne eine Intentionalität nicht auskommen kann. Eine andere ist ihre Zirkularität, die das Ende des Phänomenologischen impliziert. Jede Kultur, die es gibt, sei es in der Wissenschaft oder in den vielfältigen Traditionen der Welt, sei es, was die Sprachen, die Erziehung usw. angeht, ist dieser Schicht zugeordnet. Daher stellt Richir diese Schicht der Stiftung der der Phänomenologie immer wieder entgegen. Ab sofort dürfen wir die symbolische Stiftung als den Gegenpol des wirklich Phänomenologischen verstehen. In dem, was uns in diesem Kontext interessieren sollte, hat der phänomenologische Raum der χώρα einen überwiegenden Vorrang vor dieser symbolischen Schicht, für die sie die Basis ist. Mit anderem Worten: Ohne den phänomenologischen Raum wird es in Richirs Augen keine symbolischen Stiftungen geben: keine Erziehung, kein Lernen, keine Ansteckung durch die Affektivität, keinen Zugang zur Kunst, Sprache und Welt.
- 34.
Unter architektonischer Umsetzung (Transposition) versteht Richir die Bewegung von einem Register zum anderen. Ein Beispiel wäre die Bewegung vom Register der Sinnbildung zum Register der Stiftung der Sprache. Die Bewegung von einem Register zum anderen bringt eine Verformung mit sich. Genau das ist, was man unter architektonischer Umsetzung versteht (Cf.. Schnell, op. cit., 2011a, S. 101 & 106). Im Fall der Umsetzung des Phänomenologischen von seiner Positionslosigkeit zur Positionalität wird sie verformt. Das Fundament, in das das Register der Sinnbildung umgesetzt wird, wird positionell. Das Fundament setzt zugleich das Fundierte in eine Position. Diese beiden gehören zum selben Register der symbolischen Stiftung, auch wenn sie nicht identisch sind. In diesem Fall ist es keine architektonische Umsetzung (Transposition) (Cf. Richir, op. cit., 2006, S. 377.)
- 35.
Ibid., S. 263.
- 36.
Für eine ausführliche Erklärung siehe das vierte Kapitel.
- 37.
Die unterschiedlichen Register bestehen nebeneinander. Die Bewegung von einem Register zu einem anderen hält Richir für phänomenologisch. Er schreibt: „Mit anderen Worten handelt es sich in der Phänomenologie nicht um „Hypostasen“ oder „Ebenen des Seins“ sondern um architektonische Register, von denen jeder sein mögliches Feld hat, die aber „tot“ (träge und letztendlich ununterscheidbar) wären, wenn es keine Transpossibilität von einem zum anderen und keine Transpassibilität von einem zum anderen gäbe“. Meine Übersetzung des französischen Originals: „Autrement dit, en phénoménologie, nous n’avons pas affaire à des „hypostases“ ou des „niveaux d’etre“, mais a des registres architectoniques, dont chacun a son champ de possibilité, mais qui seraient „mortes“ (inertes et finalement indiscernables) s’il y avait pas transpossibilité de l’un par rapport à l’autre et transpassibilité de l’un à l’autre“. (Ibid., S. 377).
- 38.
Solch ein Beispiel findet man bei Plotin, bei dem sowohl „die Transpossibilität als auch die Transpassibilität in die Unendlichkeit des Prinzips verschlungen sind.“ Meine Übersetzung des französischen Originals: „ transpossibilité et transpassibilité sont englouties […] dans l ‘ infinité du principe“ (Ibid.).
- 39.
Marc Richir, Phenomenologie en esquisses. Nouvelle fondations, Grenoble: Éditions Jérôme Million, 2000a, S. 397.
- 40.
Cf. Ibid.
- 41.
„Die konkrete ‚Umwelt‘ ist danach durchaus eine ‚bedeutsame‘, ‚interessante‘, den personalen Interessen gemäß gegliederte und typisierte, also Korrelat der Person selbst (die seiend ist als identische ihrer jeweils begründeten Habitualitäten). Hierbei ist nicht bloß von Gliederung, sondern auch von Schichtung zu sprechen. Was immer schon Bedeutsamkeit hat in Bezug auf gewisse Interessen, tritt in Betracht für andere Interessen und bekommt von ihnen Bedeutsamkeiten einer evtl., neuen Dimension, sodass die Bedeutsamkeiten nicht etwa nebeneinanderliegen und sich so zur Einheit eben aus der Einheit eines Interesses verknüpfen, sondern verschiedenen Dimensionen angehören“. Diese Passage spricht also gegen ein geschlossenes System. Es handelt sich hier grundsätzlich um das Register oder das System der Apperzeption. Für Richir ist dieses Register aber ohne das der Sprache und das des „Zeichens“ (Ibid.) zu verstehen, was dann die These der verschiedenen Dimensionen und der Schichtungen anstatt die der Schichten oder Ebenen des Seins (etwa einer hierarchischen Gliederung der Wirklichkeit) bekräftigt.
- 42.
Cf. Schnell, op. cit., 2011a.
- 43.
Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana, Bd.III/1, hrsg. Karl Schuhmann, Den Haag: Nijhoff 1976, S. 51 [43–44].
- 44.
Cf. Schnell, op. cit., 2011a, S. 99.
- 45.
Cf. Ibid.
- 46.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 263.
- 47.
Diese Bewegung ist bei Kant eine doppelte. Auf der einen Seite bewegt sich die Einbildungskraft („Imagination“) in ihrer Freiheit. Die Einbildungskraft entspricht dem Vermögen, Intuitionen zu konstituieren. Auf der anderen Seite ist das Verständnis (Verstehen), das sich als das Vermögen der Einheit der Phänomene erweist. Diese Bewegungen sind ineinander verflochten. Während sich die Vielfältigkeit der Einbildungskraft schon zur Einheit hin bewegt, hat die Einheit sich schon der Vielfältigkeit der Einbildungskraft geöffnet. Richir meint, dass das Denken (pensée im Sinne von entendement) und die Sensibilität („Imagination“) voneinander untrennbar seien (Cf. Richir, op. cit., 1987, S. 20f).
- 48.
Cf. Richir, Ibid.; cf. Tengelyi, op. cit., 2011, S. 106.
- 49.
Cf. Timaios, op. cit., 50/141–143.
- 50.
Cf. Richir, op. cit., 2000a, S. 467.
- 51.
Timaios, op. cit., 52/152; Richir, op. cit., 2006a, S. 304.
- 52.
In Fragments Phénoménologiques sur le temps et l’espace unterstreicht Richir an vielen Stellen die Immaterialität des Elements durch seine Nichträumlichkeit und Nichtzeitlichkeit. Etwa auf S. 302: „Dieses Element ist nirgends im Bezug auf alle vorstellbaren Leibkörper“ („Cet ‚élement‘ n’est nulle part par rapport à tout Leibkörper imaginable“. Es sind „die Momente ohne Vergangenheit und Zukunft“ (S. 298: „les instants sans passé ni avenir“). Diese Nichträumlichkeit und Nichtzeitlichkeit des Elements kann man auch mit der Nichträumlichkeit und Nichtzeitlichkeit des Sinns vergleichen, wie es bei der Antike der Fall ist. Dies erlaubt uns laut Richir jedoch nicht, von Idealität (Noeton) zu sprechen.
- 53.
Cf. Ibid., S. 302 ff.
- 54.
Dieser Abstand ermöglicht nicht nur eine Bewegung oder Schwingung. Er artikuliert auch den Überschuss in der Erfahrung.
- 55.
Hier findet sich der Verweis auf Descartes’ hyperbolischen Zweifel, aus dem Richir seine hyperbolische phänomenologische Epoché entwickelt. Diese hyperbolische phänomenologische Epoché öffnet die Tür für einen phänomenologischen Schematismus, der alle Positionalität und Intentionalität ausschaltet, wie diese in Husserl zu denken ist. Das intentionale Gerichtetsein wird nun durch ein phänomenologisches Blinken ersetzt.
- 56.
Aristoteles, Physik VI: 9, 239b15 Zitiert nach:. http://www.zeno.org/Philosophie/M/Aristoteles/Physik/4.+Buch/4.+Capitel. 1829, Zugriff am 25.06.2020.
- 57.
Richir, op. cit., 2006a, S. 297.
- 58.
Ibid.
- 59.
Sobald der Noeton oder die νόησις, sagen wir „rot“ oder „Schönheit“, gestiftet ist, muss die nachahmende Gewohnheit reaktiviert werden, um sie erneut zu reproduzieren.
- 60.
Cf. Richir, op. cit., 2000a, S. 470; cf. Ders., op. cit., 2006, S. 298 ff.
- 61.
Die Metaphysik profiliert das Sein, das bei Platon als wahres Sein und bei Aristoteles als Sein qua Sein bezeichnet wird. Sofern nichts außer Sein selbst das Sein erläutern kann, kann die Metaphysik dieser Problematik der Übereinstimmung mit sich selbst nicht entgehen. Genau dies unterstreicht die Unmöglichkeit der Metaphysik. Siehe dazu Jean Grondin, Introduction to Metaphysics: From Parmenides to Levinas, New York: Columbia Univ. Press 2012, S. XXI.
- 62.
Richirs gesamte Phänomenologie strebt danach, alle Stiftungen außer Kraft zu setzen, die das eigentlich Phänomenologische verdecken. Ihm war wichtig, über die Frage Rechenschaft abzulegen, wie die Phänomene in ihrer Reinheit möglich sein können, ohne dass sie verdeckt werden. Der von ihm entwickelte und vom Griechischen abgeleitete Begriff der Phantasia (Singular) allein, für welchen es keine hinreichende deutsche Übersetzung gibt, macht die Phänomene zugänglich. Die daran angehängten Affektionen verweisen darauf, dass die Phantasiai (Plural) von inchoativer Leidenschaft begleitet sind. Die Phantasiai sind sozusagen emotional geladen.
- 63.
Timaios, op. cit., 52/150.
- 64.
Ibid.
- 65.
Zur Frage, welches der beiden Register ursprünglicher ist, würde Richir sagen, dass sich die Wahrnehmung von der Phantasia „ernähren“ lässt. Während Husserl die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte in der synthetischen Einheit des Kontinuums in der Aussschaltung gründen würde, würde Richir die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte selbst in der Unbestimmtheit des archaischen Registers des Phantasieraumes (also der χώρα) gründen. Wir werden im nächsten Kapitel wieder ausführlich auf diese Problematik zurückkommen, wobei sich zeigen lässt, was die Phantasia der Leiblichkeit zur Welterschließung bei der Wahrnehmung leistet bzw. beiträgt.
- 66.
Ibid., 52/150.
- 67.
Dieses Verb soll aber nicht den Eindruck erwecken, dass das, was in der χώρα erblickt wird, zum Register der Wahrnehmung als Perzeption gehört. Weder ein Objekt noch ein Subjekt wird von der Phantasia wahrgenommen. Deshalb benutzt Richir das Wort „Apperzeption“ in Bezug auf die Phantasia, um eine besondere Art von „Perzeption“ auszudrücken.
- 68.
Lesen wir noch einmal die Stelle, wo den Phantasmata eine Anonymität zugeschrieben wird: „Bild trägt ja den Grund seiner Entstehung gar nicht einmal in sich selbst“ (Ibid., 52/150), dann wird deutlich, warum Richir Platons Begriff von Phantasmata gezielt für das Verständnis seines Phantasiasbegriffs übernahm. Die Verwendung des Begriffs „Bild“ (εἰκών) bedeutet aber keinerlei Identität, weder von einem Subjekt noch von einem Objekt.
- 69.
Cf. Richir, op. cit., 2000a, S. 469.
- 70.
Zunächst wollen wir auf die Anonymität der Funktion der Vermittlung hinweisen, denn die platonische χώρα als Vermittlerin wirkt anonymisierend oder neutral. Richir hingegen zielt auf eine hinreichende und notwendige transzendentale Sphäre zur Weltbezüglichkeit, die zugleich nicht entfremdend ist, sondern eine Subjektivität thematisiert. Wenn Richir nun die Grundlage seiner Phänomenologie aus dieser Ungewöhnlichkeit ableitet – ungewöhnlich, da die χώρα weder männlich noch weiblich ist, weder Idee noch ihr Abbild usw. –, dann dürfen wir darin seine Grundlage der Phänomenologie – die Leiblichkeit – als rein anonym und absolut transzendental ansehen. Kann dann aus einer positionslosen Anonymität der Leiblichkeit eine reine Subjektivität folgen? Was wäre dann der Status des phänomenologischen Selbst in seiner Phänomenologie? Das sind Fragen, auf die wir später zurückkommen müssen. Ganz kurz in diesem Kapitel, aber später eingehender und im viertenn Kapitel, wo wir uns Richirs Auseinandersetzung mit Heideggers und Binswangers Lehre des Selbst widmen, wird dies behandelt.
- 71.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 263.
- 72.
Wenn wir versuchen, dieses Immemorial in der Vergangenheit der Geschichte oder des Gedächtnisses zu verankern, dann scheitern wir, denn sie ist ursprünglicher als das, was sich in jener historischen Vergangenheit begibt. Ihre Vergangenheit ist noch ursprünglicher als die, die im Sein (sei es in der Geschichte oder im Gedächtnis) gegeben ist. Vielleicht kann man von einer Vergessenheit der Vergangenheit sprechen. Aber auch da würde Vergangenheit eine Geschichte oder ein Gedächtnis implizieren. Deshalb könnte Vergessenheit der Vergessenheit ein ursprünglicherer Ausdruck für solch eine Vergangenheit sein. Eine Vergessenheit – in jedem Fall radikaler als die Seinsvergessenheit Heideggers –, die nichts mit dem, was im Gedächtnis oder in der Geschichte gegeben ist, zu tun hat. Trotz dieser „Uraltigkeit“ einer Vergessenheit, die über das Sein hinausgeht, ist das Uralte (Immemorial) noch über die Gegenwart und die Zukunft hinaus da. Man liest über dieses „Immemorial“ (Uralt) in Levinas’ zweitem Hauptwerk Autrement qu’être ou au delà de l ‘ essence, das darauf abzielt, den Bereich des Heidegger’schen Seinsdenkens zu überwinden: „Es zerlegt die wiederherstellbare Zeit der Geschichte und des Gedächtnisses, in der/dem die Aufführung fortgesetzt wird.“ Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, Autrement qu’être ou au-dela de l’essence, [Den Haag: Nijhoff 1978.], Paris: Édition du Livre de Poche, coll. « biblio essais», 2016, S. 141: „Elle démonte le temps récupérable de l’histoire et de la mémoire où la représentation se continue.“ Siehe auch dazu Paulette Kayser, Emmanuel Levinas. La trace du féminine, Paris: Presse universitaire 2000.
- 73.
Augustinus’ Bekenntnissen entnehmen wir einen solchen Mangel. Es handelt sich um den Mangel eines Gedächtnisses an die eigene Geburt: „Was ist es denn aber, das ich reden will, mein Herr und mein Gott, als daß ich nicht weiß, von wannen ich hierhergekommen […] in dieses sterbliche Leben oder in dieses lebendige Sterben […] Es empfingen mich die Tröstung deiner Barmherzigkeit, wie ich es erfahren habe von meinem irdischen Vater, aus welchem du mich, und von meiner irdischen Mutter, in welcher du mich in der Zeit gebildet hast, denn ich kann mich ja dessen nicht selbst erinnern“ (Augustinus, Die Bekenntnisse, übersetzt von Otto F. Lachmann, Leipzig: Reclams Universal-Bibliothek 1888. Buch 1, VI. Unsere Kursivschrift) Die Geburt ist ja ein historisches Ereignis. Sie kann daher in der Zeitlichkeit des Seins lokalisiert werden, auch wenn dieses Sein im Sinne Heideggers verstanden werden soll. Levinas will aber über solch eine zeitliche Dimension hinausgehen, die dem Sein entspricht.
- 74.
Cf. Marc Richir, Phantasia, Imagination, Affectivité. Grenoble: Éditions Jérôme Million, 2004, S. 247.
- 75.
Ibid., S. 248.
- 76.
Ibid.
- 77.
Aristoteles, Physik, op.cit., Nr.85.
- 78.
Ibid.
- 79.
Aristoteles, Physik, op. cit., Buch IV, Kapitel 4, Nr. 86.
- 80.
Ibid.
- 81.
Richir, op. cit., 2006a, S. 285: „la limite immédiate immobile […] d’un tout corporel“.
- 82.
Aristoteles ist diese Schwierigkeit zur unendlichen Regression bewusst. Eine Stelle in Buch IV erinnert an diese Problematik, und zwar dort wo Aristoteles schrieb: „Wenn nämlich alles was ist, im Raume ist, so muß offenbar auch für den Raum ein Raum sein. Und dieß geht fort ins Unbegrenzte“ (Aristoteles, Physik, op. cit., Buch IV, Kapitel 4, N. 77). Dies wird dann ersichtlich, wenn wir an die Bewegung des Pfeiles von einem Raum zu einem Raum denken, deren räumliche Versetzung in die unendliche Voraussetzung eines Raumes geht.
- 83.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 285.
- 84.
Siehe dazu Hubertus Busche, Die Seele als System: Aristoteles’ Wissenschaft von der Psyche, Hamburg: Meiner Verlag 2001, S. 8. Es geht hier um ein „körperliches Ganzes“, das den Körper als ein System mit vielerlei Teilen zu verstehen bemüht ist.
- 85.
Richir, op. cit., 2006a, S. 285: „divisible en parties, en continuité avec sa surface externe“.
- 86.
Über den Begriff des beweglichen „Ganzen“ cf. Aristoteles, Physik, op. cit., Buch IV, Kapitel 5, Nr. 87.
- 87.
Richir, op. cit., 2006a, S. 288: „est en effet soit celui de la Leiblichkeit […] celui de la divagation du voir qui ne rencontre d’autre limite que celles […] qui chaque fois le fixent et le font s’oublier lui-même dans du vu“.
- 88.
Das heißt, sie können auch zur Realität führen, wenn sie im Übergangsraum das Element des Spieles thematisieren können, wie wir gleich zeigen werden.
- 89.
Der hier geschilderte Gedanke ist offensichtlich angelehnt an Milners On Not Being Able to Paint. Für den Letzteren hat der Dichter in uns die Außenwelt für uns geschaffen. Dem Dichter ist dies dadurch gelungen, dass er es vermag, das Vertraute im Unvertrauten zu sehen. Cf. Marion Milner, On Not Being Able to Paint, Revised edition, London: Heinemann 1957.
- 90.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 279.
- 91.
Es dauert eine Weile, bis er vermenschlicht wird. Allein schafft er dies nicht. Vielmehr braucht er die Mutter, die ihn Schritt für Schritt in die Welt der Realität einführt. Diese Idee wird später im Zussamenhang der transzendentalen Interfaktizität behandelt.
- 92.
Donald Woods Winnicott, Playing and Reality, London/New York: Routledge Classics 2005, S. 16: „That there is an external reality that corresponds to the infant’s own capacity to create“.
- 93.
Cf. Ibid.
- 94.
Das ist der Grund, warum Richir dem Kind ein Selbst abschreibt. Es habe weder ein Außen noch ein Innen. Siehe dazu Richir, op. cit., 2006a, S. 279. Gleichzeitig habe es keinen Zugang zur Mutter.
- 95.
Unter Funktion ist eine Art Pragmatismus der Phänomene gemeint, die für den Säugling von Nutzen sein können. Zum Beispiel in der triebhaften Meldung des Hungers, der Müdigkeit, der Einsamkeit, der Angst usw. kann er sich des Objekts bedienen. All dies kristallisiert sich zu einer Form der Erfahrung für das Kind, die aber ohne eine Art Fantasie zu verstehen ist. So entwickelt sich schon in dieser früheren Phase ein Muster. Das Muster kann in einer späteren Phase des Lebens wieder auftreten und für das Kind in depressiven Zeiten oder Momenten der Entbehrung weiterhin von großem praktischem Nutzen sein.
- 96.
Cf. Winnicott, op. cit., 2005, S. 5.
- 97.
Dies offensichtlich in Anlehnung an Melanie Kleins Begriff des „internen Objekts“. Darunter versteht Klein jene internen Bilder, die den äußeren Objekten entsprechen. Das Selbst verinnerlicht diese äußeren Objekte, die es aufnimmt. Dabei sind die Projektion und die Einmischung des Selbst in diesen internen Objekten zu sehen. Solche internen Objekte sind aus Trieben erzeugt, da sie inhärent sind. Der Begriff ist für psychische Prozesse wichtig, sowohl bei normalen als auch bei nicht normalen Fällen. Siehe dazu Stephen A. Mitchell, The Origin and Nature of the „Object“ in the Theories of Klein and Fairbairn, in: Contemporary Psychoanalysis 17 (1981), S. 374–398.
- 98.
Cf. Winnicott, op. cit., 2005, S. 17.
- 99.
Für Winnicott beweisen die Übergangsobjekte nicht nur den ersten Gebrauch eines Symbols, sondern auch die erste Erfahrung eines Spiels (cf. Ibid., S. 130).
- 100.
Laura Praglin, The Nature of the „In-Between“. D.W. Winnicott’s Concept of Transitional Space and Martin Buber’s Das Zwischenmenschliche, in: Universitas, Bd. 2, Nr. 2, 2006, S. 2.
- 101.
Cf. Winnicott, op. cit., 2005, S. 55.
- 102.
Cf. Ibid., S. 63.
- 103.
Cf. Ibid., S. 69 ff.
- 104.
Cf. Donald Woods Winnicott, The Capacity to be Alone, in: The International Journal of Psychoanalysis XXXIV, Nr. 29 (1958), S. 416- 418.
- 105.
Cf. Richir, op. cit, 2006, S. 270.
- 106.
Cf. Donald W. Winnicott, The Theory of the Parent-Infant Relationship, in: International Journal of Psychoanalysis, Nr. 41 (1960), S. 585–595; Cf. Ders., The Maturational Processes and the Facilitating Environment, New York: International Universities Press 1965.
- 107.
Unsere Übersetzung: Winnicott, op. cit., 2005, S. 14: „she adapts less and less completely, gradually, according to the infant’s growing ability to deal with her failure“.
- 108.
Ibid: „since exact adaptation resembles magic and the object that behaves perfectly becomes no better than a hallucination“.
- 109.
Für weitere Lektüre kann man hier auf die Arbeit The Nature of the „In-Between“ in D. W. Winnicott’s Concept of Transitional Space von Praglin und auf Martin Bubers Das Zwischenmenschliche zugreifen. Praglin schreibt sowohl Buber als auch Winnicott einen poetischen Schreibstil zu. Dies hat zur Folge, dass ihre Prosa ein offenes Ende hat, „mit dem klaren Wunsch, dass der Leser seine eigenen Erfahrungen einbringt“ (Meine Übersetzung, Praglin, op. cit., 2006, S. 2: „with clear wish to have the reader fill in his [or her] own experiences“).
- 110.
Dieses Register unterscheidet sich vom Register der transzendentalen Intersubjektivität dadurch, dass es sich bei dem ersten nur um die „Erahnung“ oder „Apperzeption“ der Austausche der Blicke, also der „perzeptiven“ Phantasiai handelt. Dabei ist also der Leibkörper noch nicht konstituiert, in dem Sinne, dass es noch keinen inneren und äußeren Raum gibt, wie es im Falle der transzendentalen Intersubjektivität ist. In Phantasia, imagination, affectivité vergleicht Richir die transzendentale Interfaktizität mit der an Husserl angehlehnten Primoridialität des Leibes, wo der Leib noch kein Außen hat, auch wenn er der Nullpunkt aller Orientierung im Raum ist. Wir werden in einem späteren Kapitel den primordialen Leib behandeln. Zunächst halten wir die Idee fest, dass der primordiale Leib in enger Verbindung zur transzendentalen Interfaktizität zu verstehen ist. Der Grund ist nämlich – und das macht die Eigenschaft der transzendentalen Interfaktizität aus –, dass diese nicht auf die Erfassung eines Objekts (eines Menschen) zielt, wie es bei der transzendentalen Intersubjektivität der Fall ist. In der transzendentalen Intersubjektivität wird eine Intimität nicht so sehr von der Ferne erfasst, wie sie in der Chora erfasst wird. Das erklärt auch, warum die sich darin durchkreuzenden Blicke auch in der Virtualität geschehen können. Cf. Marc Richir, L’écart et le rien: Conversations avec Sacha Carlson. Grenoble: Editions Jérôme Million 2015, S. 241 f.
- 111.
Unter Schoß versteht Richir nicht mehr die Brust allein, sondern alles, was sie umgibt. Dementsprechend umfasst der Schoß die mütterliche körperliche Wärme, ihre Zartheit, ihren Geruch, ihre Stimme, ihre Gestik usw. Dabei spielt für Richir die Brust seitens des Kindes eine nicht auffällige Rolle. Das heißt, sie soll nicht mehr reduktionistisch betrachtet werden, wie ein Teil des mütterlichen Körpers reduktionistisch vom Kind betrachtet werden würde.
- 112.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 280 f.
- 113.
Cf. Ibid., S. 281.
- 114.
Richirs Begriff von phénomène de langage zielt darauf ab, Sinn zu artikulieren, der ursprünglicher als die Sprache selbst ist, wobei ursprünglich nicht im Sinne einer metaphysischen Voraussetzung – z. B. im Sinne von Arche (αρχή) – verstanden werden soll. Im Gegensatz zur Bedeutung, welche das Gebiet des Sprachsystems thematisiert, markiert das Sprachphänomen ein Abenteuer des Sinnes, denn es wird auch nicht durch ein Telos (τἐλος) gekennzeichnet, wobei dieses Abenteuer ständig auf der Suche nach sprachlichen Ausdrücken ist.
- 115.
Siehe oben unsere Auslegung des phänomenologischem Schematismus. Cf. auch Ibid., S. 282.
- 116.
Cf. Ibid., S. 281.
- 117.
Cf. Ibid., S. 282.
- 118.
Diese befindet sich zwischen Darstellung und Nichtdarstellbarkeit. „Etwas“ ist apperzipiert in dem Übergangsraum, aber dieses kann man noch nicht mit einem Begriff als „so“ und „so“ festlegen. Sagen wir z. B., dass die Brust apperzipiert wird. Sie wird nicht als ein Objekt wahrgenommen, also nicht anschaulich, sondern als eine Sachlichkeit dargestellt. Da die Sachlichkeit zwischen einer Darstellung (z. B. ein Ding) und einer Nichtdarstellbarkeit steht, ist das, worum es bei ihr geht, nicht darstellbar, auch wenn dieses real ist. Das also, worum es bei dieser Sachlichkeit der Brust oder irgendeines mütterlichen Körperteils – z. B. der Stimme, dem Geruch, der Wärme usw. – geht, ist die Leiblichkeit. Hinter dieser Letzteren schwebt unendlich eine Alterität, die einem durch die Phantasia-Affektion zugänglich ist (Ibid., S. 282).
- 119.
Während es sich bei Heidegger um die symbolische Stiftung eines heroischen und entschlossenen Daseins (existenzial) handelt, geht es Binswanger um die symbolischen Stiftung von Dasein als eines Wir in der Liebe (existenzial und transzendental). Diese „Ideale“, zu denen laut Richir die Phänomenologie keinen Zugang hat, da sie unter anderem zur symbolischen Zirkularität verurteilt ist, vermögen es nicht, dem Säugling diese Unterstützung zu verleihen (Cf. Richir, op. cit., 2004, S. 261). Die Zirkularität besteht aus dem existentialen oder transzendentalen Ideal und aus dem, wofür es ein Ideal ist, ohne aber dabei Zugang zu seinem konkreten Inhalt, also zu diesem „Wofür“ zu geben. Dies bedeutet, dass die darin vertretenen ontologischen Argumente nicht verwirklicht werden können. Das Ideal gehört zum Inhalt und umgekehrt. Nur haben wir keinen phänomenologischen Zugang zu dem Ideal (Cf. Richir, Ibid., S. 227). Das Ideal vermittelt den Eindruck, Existenz zu ermöglichen. Das Ideal z. B. eines absoluten Anderen (Wesens: wie Gott oder das durch den Tod vereinzelte Dasein, das nur im Seinkönnen liegt, oder die Stimme des Gewissens, oder was Richir als Daimon beschreibt) gibt den Eindruck, das „absolute Hier“ (das „ich“ mag sein) zu beherrschen und unterzuordnen. Richir lehnt diese Annahme ab und schreibt nur dem Modell Winnicotts der leiblichen Unterstützung die Ermöglichung des „Existenz“ zu. Der mütterliche Schoß mit allem, was dazu gehört, ermöglicht den Eintritt in die Kontinuität der „Existenz“. Um dieser Leiblichkeit alle Art von Idealismus abzuschreiben, fügt Richir hinzu, dass die Mutter aber kein Schöpfer der Menschheit wie Gott ist. Vielmehr ist sie diejenige, die anhand ihrer guten menschlichen Leiblichkeit, Leibhaftigkeit dem Säugling Zugang zur Leiblichkeit, Leibhaftigkeit und „Existenz“ ermöglicht (Cf. Richir, Ibid., S. 261).
- 120.
Cf. Richir, op. cit., 2015, S. 242.
- 121.
Richir, op. cit., 2006, S. 291: „C’est par cette médiation que le regard d’autrui est senti ou ressenti (dans ce que nous avons repéré comme l’affection) et est ‚perçu‘ en phantasia.“
- 122.
Cf. Ibid., S. 286.
- 123.
Cf. Ibid., S. 291.
- 124.
Ibid., S. 281: „le giron – et qui est facticement, mais nécessairement, à l’origine, le giron maternel, dont nous allons voir qu’en ce sens phénoménologique, nous ne le quittons jamais“.
- 125.
Es muss betont werden, dass wir uns auf einem anderen Boden befinden. Dieser, so kann man sagen, ist nicht mehr der natürliche, sondern – mangels eines besseren Ausdrucks – ein psychischer, wobei es sich wiederum nicht um einen Psychologismus handelt. Dieser Boden ersetzt den des natürlichen Ernährens mit dem der psychischen Unterstützung.
- 126.
Als „eine nicht zentrierte und unendliche Peripherie“ können nur die Phatasiai (-Affektionen) und nicht die Gegenstände von Doxa in ihr schweben (Cf. Ibid., S. 270). Angelehnt an Platons Timaios hat Richir die χώρα (für Richir Leiblichkeit) als den Behälter der Phantasie-Affektionen (bei Platon sind das die Träume) interpretiert. Die Halluzination der Brust (im Sinne Winnicotts) durch das Kind ist wie ein Traum im Sinne Platons. Für Richir ist der Traum eine Überspannung des Nichtfiguierbaren in den Phantasie-Affektionen und Figurationen von Imaginationen und Affekten. Träume stehen für Richir für die Phantasiai, wenn sie etwas darstellen oder figurieren. Deshalb signalisieren sie den Übergangsraum. Aus der Phantasia kann auch Intentionalität durch eine Umsetzung entstehen. Das heißt, die Phantasiai könnten auch in Objektintentionalität verfallen. Wenn das passiert, verlieren sie ihre Lebendigkeit und Leiblichkeit. Wenn also die Phantasiai in Imagination umgesetzt werden, werden sie nicht mehr von der Leiblichkeit, sondern von einem Phantomleib genährt.
- 127.
Cf. Ibid., S. 269.
- 128.
Zunächst versteht sich dieser Leib als ein fiktiver und imaginärer Leib, der überall und nirgendwo ist. Im vierten Kapitel wird es ausführlich behandelt.
- 129.
Ibid., S. 286: „Ce que le regard ainsi éveillé en étant regardé comme regard prend littéralement en vue, ce n’est pas cependant le Leib lui-même autre d’autrui (la mère), mais pour ainsi dire son Leib ‚en effigie‘, c’est-à-dire son Leibkörper.“
- 130.
Für Waldenfels löst dieses neutrale „X“ das Problem der Zweisubstanzenlehre Descartes’, die sich mit der Problematik beschäftigte, „wie zwei verschiedenartige Seiende als zusammenhängend gedacht werden können“ (Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2000, S. 247). Descartes verwies dabei auf die Zirbeldrüse, die mit der kausalen Wechselwirkung verbunden ist. (Für eine ausführliche Analyse cf. Gregor Betz, Descartes’ „Meditationen“. Ein systematischer Kommentar, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2011, S. 236). Bei der Wechselwirkung ist ein Medium wichtig, wodurch die Wirkung der Seele zum Leib übergeht oder umgekehrt. Für ihn ist damit die Problematik der Zweisubstanzenlehre nicht gelöst. Wenn aber die Verdoppelung der zwei Substanzen durch dieses X ersetzt wird, dann haben wir nicht mehr zwei Substanzen, sondern „zwei Blickweisen […] wie etwas erscheint“ (Waldenfels, op. cit, 2000, S. 248.) In Bezug auf die Leibthematik ist das neutrale „X“ in zwei unterschiedlichen Erscheinungsweisen oder Erscheinungsaspekten zu betrachten. Wir zitieren ausführlich dieses „X“ in seiner doppelten Gestalt, das eine Alternative zur Verdopplung ist, wodurch wir zwei Substanzen hätten – für Descartes Leib als res extensa und Seele als res cogitans (Cf. René Descartes, op. cit. 1959.) – die für Waldenfels Körper und Leib entsprechen: „‚Dieses X erscheint als Leib und als Körper‘; dabei stünden Leib und Körper für zwei Attribute oder Aspekte, die dem X zugeschrieben werden. Dieses X wäre dem Leib und dem Körper gegenüber neutral. Wir würden dann sagen: hier gibt es ein X, das in doppelter Gestalt auftritt. Spinoza denkt es sich so: Deus sive natura. Natur und Geist sind zwei Aspekte desselben, das Zugrundeliegende ist dasselbe, das sich in zwei Aspekten zeigt. Ein anderes vielzitiertes Beispiel findet sich bei Frege: Der Planet Venus taucht auf als Abendstern und als Morgenstern. Es gäbe also den physischen Planetenkörper, der in zwei Konstellationen auftaucht: am Morgen als Morgenstern und am Abend als Abendstern. Dahinter stünde ein identischer Planet, der – wenn man von einer Natur an sich ausgeht – weder abends noch morgens auftritt, weil er ja von sich selbst aus keinen Bezug zu einem bestimmten Beobachter und seinen Tageszeiten hat. Doch können wir beim Leib auch so vorgehen? Wir hätten dann ein identisches X im Hintergrund, das einmal als Leib einer Person und einmal als Körperding erscheint. Das zugrundeliegende X wäre eine neutrale Instanz“ (Waldenfels, op. cit., 2000, S. 250 f.). Zwar benutzt Waldenfels „in diesem Kontext“ den Begriff des Leibkörpers nicht, der für ihn auf den „Zusammenhang von Leiblichkeit und Körperlichkeit“ hinweist. Aber sein Begriff des neutralen „X“ fasst diese Idee des Leibkörpers als Ganzes mit einem doppelten Charakter zusammen. Die doppelten Charaktere stehen für Waldenfels für die zwei Aspekte des „X“. Der Leib steht also für die Natur und das Körperding steht für die Kultur, wobei der Leib einen Vorrang hat. Deshalb sprechen wir von Leibkörper und nicht Körperding. (Für eine ausführliche Analyse: Cf. Ibid., S. 246–252).
- 131.
Husserl hat schon die alte Leib-Seele Problematik im Kontext der Herausarbeitung der Grundbegriffe Leib, Körper und Leibkörper behandelt. Richir übernimmt dieses alte Problem, um seinen rätselhaften Charakter zu zeigen. Bei ihm sind die unterschiedlichen Aspekte ineinander verflochten, auch wenn wir diese abstrahierend auseinanderhalten können. Die Lebendigkeit des Leibkörpers liegt nicht in irgendeiner begrifflichen Unterscheidung, sondern in der Verflechtung seiner unterschiedlichen Ineinander. Der Abstand zwischen (bzw. das Zusammenhalten von) den unterschiedlichen Aspekten ist für ihn das Wichtigste.
- 132.
Die Imagination würde anhand eines Phantasmas – also eines Phantoms im Husserl’schen Sinne – den Leib entführen, sodass dem Leib eine Positionalität durch die Intentionalität verliehen wird. Die intentionale Entführung des Leibes und deren Verknüpfung mit einem Phantasma macht ihn zu einen Phantomleib, weil das Phantasma nicht zur Realität gehört. Es ist überall, nirgendwo in der realen Welt der Wirklichkeit. Es ist fiktiv und nur ein Scheinphänomen. Solch ein Leib kann nur ein Phantomleib sein.
- 133.
Richir, op. cit., 2006a, S. 289: „Le Leib […] est en quelque sorte la périphérie invisible du tout […] Et c’est cette périphérie, nulle part pour le voir, qui est perdue pour lui“.
- 134.
Cf. Ibid., 286 ff.
- 135.
Cf. Richir, op. cit., 2004, S. 255.
- 136.
Cf. Richir, op. cit., 2006a, S. 287.
- 137.
Eine Stelle in Phantasia, Imagination, affektivité macht diese Individuation deutlich: „Mit anderen Worten ist die Apperzeption des Absoluten hier (es ist „das erste Objekt“, sagt Husserl in den Cartesianischen Meditationen) auch nur die Apperzeption eines anderen absoluten Hiers insofern mein absolutes Hier sozusagen durch sie individualisiert wird.“ (Richir, op. cit., 2004, S. 276: „ Autrement dit, l’aperception de l’ici absolu (c’est „le premier objet» dit Husserl dans les Meditations cartesiennes) n’est aussi aperception d’un autre ici absolu que dans la mesure où par elle s’individue pour ainsi dire mon ici absolu“.
- 138.
Richir, op. cit., 2006a, S. 303: „La chôra n’est pas non plus la base phénoménologique du topos puisque c’est tout d ‘ abord le Leibkörper et le Körper qui „donnent matière“ à la limite immobile du lieu. Physique par sa base, le Leibkörper dans sa dimension corporelle est hétérogène à la chôra – il s’y inscrit que par sa dimension leiblich, comme si, en retour, du fait de notre point de départ, c’était désormais le Leibkörper qui était bâtard, nouant la Leiblichkeit, illocalisé et fugace bien que giron ou sol transcendental, à la Körperlichkeit qui ne peut être „vivant“, porter un regard lui-même leiblich, que si elle trouve un lieu, un Leib où se situer ou se définir comme en un ici absolu, parmi L’interfacticité transcendantal portant la pluralité des ici absolus, et s’y situer sans s’y engloutir“.
- 139.
Wir setzen Richirs „Infragestellung“ bewusst in Anführungszeichen, um sie von der Infragestellung Husserls zu unterscheiden. Diese „Infragestellung“ impliziert eine Meta-Infragestellung, also die Infragestellung einer Infragestellung.
- 140.
Für eine ausführliche Erklärung siehe den ersten Teil des neunten Kapitels.
- 141.
Cf. Richir, ibid., S. 279.
- 142.
Die „Perzeption“ findet in der Phantasia statt und gehört zu einem anderen Genus als der Wahrnehmung oder Perzeption (und Imagination), weil das „Reale“, das in ihr „perzipiert“ wird, darin neutralisiert wird: Wenn wir also von der Neutralisierung des „Realen“ in der Phantasia sprechen, dann setzt sie in Richirs Augen eine Figuration von etwas voraus, wenn diese auch nicht einer wahrnehmungsartigen Figuration entspricht; Zugleich „perzipiert“ die Phantasia das Nichtdarstellbare, denn die Neutralisierung der Wahrnehmung des Realen schließt nicht die „Perzeption“ in der Phantasia aus.
- 143.
Cf. Ibid., S. 268.
- 144.
Ibid., S. 260: „Ce qui demeure, mais dans le devenir intrisèque au vivre, c’est le soi qui n’est pas un ‚ce que‘ arrêtant la doxa, mais un soi en incessante advenu, qui ne s’accomplira jamais, comme ‚elan vital‘ infini de l’affectivité primordiale, elle-même proto-ontologique, non-positionnelle“.
- 145.
Cf. Winnicott, op. cit., 2005, S. 69.
- 146.
Ibid.
- 147.
Husserl schreibt immer „Phantasie“. Aber wir richten uns nach Richir, der die griechische Version Phantasia bevorzugt.
- 148.
Edmund Husserl, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass 1898–1925, Husserliana, Bd. XXIII, hrsg. von Eduard Marbach, Den Haag: Nijhoff 1980, S. 509.
- 149.
Richir, op. cit., 2004, S. 499.
- 150.
Husserl, op. cit., 1980, S. 513.
- 151.
Ibid., S. 513. Für Richir verweist dieser Begriff auf das „Spiel“ bei Winnicott, im Kontext des Übergangsraums.
- 152.
Ibid., S. 514. Diese ist von großer Bedeutung, denn was wir hier haben, ist eine absolut reine Phantasia. Sie verfügt weder über eine Position (Intentionalität) noch über Objekte als solche. An dieser Stelle heißt das, dass sie nichts perzipiert, was in der Welt intentional gegeben ist. Darüber hinaus ist dieser Punkt sehr wichtig, da wir gleich eine andere Art von Phantasia sehen werden – es handelt sich aber auf keinen Fall um die Imagination, welche intentionale Objekte darstellt –, die perzipieren kann.
- 153.
Ibid., S. 514 f.
- 154.
Ibid., S. 515.
- 155.
Bei dieser Art von Mimesis fungiert die Imagination und nicht die Phantasia. Vielmehr verteidigt Richir eine aktive und nicht spiegelnde Mimesis von innen, die nur die Phantasia durchführen kann, wo der Leib des Schauspielers die Wirklichkeit darstellt, ohne in die Abbildlichkeit (Bildobjekt eines Bildsujets) überzugehen.
- 156.
Ibid., S. 515 f.
- 157.
Cf. Richir, op. cit., 2004, S. 502.
- 158.
Husserl, op. cit., 1980, S. 516.
- 159.
Ibid.
- 160.
Ibid.
- 161.
Cf. Richir, 2004, op. cit., S. 502.
- 162.
Ibid., S. 503: „Tel est sans doute, ici, le fond de la pensée de Husserl: on voit qu’on se trouve à un registre intermédiaire, transtionnnel, entre le phantasia et l’imagination“.
- 163.
Husserl, op. cit., 1980, S. 517.Cf. Richir, op. cit., 2004, S. 504.
- 164.
Richir, op. cit., 2004, S. 504: „C’est qu’elles-mêmes y sont prises, et qu’alors, en accentuation par rapport à ce qui précède, elles figurent elles-mêmes la fiction, laissant leur caractère réel non posé“. (Unsere Kursivschrift).
- 165.
Wir haben vorhin auf diesen Übergangsraum aufmerksam gemacht, wo die Subjektivität und die Objektivität zusammenspielen, da wo das Kind Objekte oder Phänomene aus der äußeren Realität im Dienst der Sachen aus der inneren oder persönlichen Realität verwendet, wo sozusagen die äußeren Phänomene im Dienst der (inneren) Träume manipuliert werden.
- 166.
Husserl, op. cit., 1980, S. 518.
- 167.
Wir lesen bei Husserl: „Denn der Fingierende lebt in der Fiktion, d. h. er lebt im Vollzug der quasi Erfahrungen, quasi Urteile etc., und soweit er das tut, setzt er weder die wirkliche Erfahrungswirklichkeit noch sich selbst und mischt nicht beides zusammen bzw. lässt nicht das eine im anderen zum Nichtigen werden“ (Ibid., S. 521.).
- 168.
Richir verweist an dieser Stelle auf Winnicotts Wortspiel: Erzeugung und Entdeckung oder Perzeption (Erzeugung ist aus dem Verb „to create“, Entdeckung im Sinne von discovery aus dem Verb „to discover“, Perzeption ist aus dem Substantiv perception abgeleitet (Cf. Winnicott, op. cit., 2005.) Die Erzeugung spiegelt das Spiel der Phantasia wieder. Die Entdeckung weist auf die Perzeption hin (cf. Richir, op. cit., 2004, S. 518).
- 169.
Richir, op. cit., 2004, S. 515.
- 170.
Dieser Wandel im Denken ist nicht zu übersehen. Nie wieder soll in der Phänomenologie von den puren gegebenen „Dingen“ gesprochen werden, die dem Bereich des Realismus angehören. Genau darin ist eine Radikalisierung der phänomenologischen Reduktion Husserls zu sehen, die die Objektivierung anhand der Bestimmtheit des Erscheinenden neutralisiert bzw. suspendiert. Genau das ist mit dem Begriff „die Sache selbst“ gemeint, die deshalb den Horizont der Phänomenologie erweitern soll, auch wenn das bedeutet, mit dem Nichtgegebenen oder einfach nur mit den Überresten dieser radikalisierten Reduktion anzufangen. Wir sagen „Überreste“, da Richir der Meinung ist, dass die Gegebenheit weniger wird, sobald die Reduktion groß ist. Zu diesem Punkt cf. Marc Richir, L’intentionalité et Intersubjektivität. Commentaire d Husserliana, in: Dominique Janicaud (Hrsg.) L’intentionnalité en question: entre phénoménologie et recherches cognitive, Paris: Vrin 1995, S. 154. Das ist das, was die transzendentale Phänomenologie in Richirs Augen ausmachen soll. Darin ist keine Gegebenheit zu erwarten, als würde man darin etwas „sehen“, was aber in Wirklichkeit nur zur transzendentalen Illusion gehören würde, wie es in der Abstraktion der Psychologie der Fall ist.
- 171.
Richir, op. cit., 2004, S. 516.
- 172.
In der transzendentalen Geschichte von jedem Subjekt ist dieser Sinn die erste Schicht der Bedeutung, ohne Setzungen der Intentionalität oder Positionalität. Das ist die erste Schicht, die uns der Zugang zum Realen gibt. Aber durch die Permanenz der Leiblichkeit wird diese Schicht des Sinns in intentionale Habitus überformt (cf. Ibid., S. 516).
- 173.
Für Lacan ist das Reale nicht das tatsächlich gegebene Mögliche, sondern das Unmögliche; das was dabei bezeichnet wird, zeigt sich nicht tatsächlich dort. Deshalb liegt es nur am Rand oder dahinter, wie Richir es zeigt: Cf. László Tengelyi, L’histoire d’une vie et sa région sauvage, Grenoble: Éditions Jérôme Million, 2005, S. 333 f. Cf. auch Florian Forestier, Le Réel et le transcendental. Grenoble: Jérôme Million, 2015.
- 174.
Wir verzichten hier auf eine ausführliche Erklärung, um sie aber in einem späteren Kapitel ausführlicher zu behandeln.
- 175.
Cf. Schnell, 2011a, op. cit., S. 98.
- 176.
Für Erwachsene könnte dies auch passieren, wenn uns anstatt der Musik – das ist das, worum es bei dem Stück geht – ihre Darstellung eines imaginären Bildes vom Künstler gespielt wird, sodass wir nicht der Musik, sondern dem Phantasma des Künstlers verfallen.
- 177.
Cf. Richir, op. cit., 2004, S. 246.
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Ekweariri, D.N. (2023). Die Χώρα (Leiblichkeit) als die Grundlage der Phänomenologie. In: Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit bei Marc Richir. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-67190-0_2
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