Wenn wir nun den Einstieg in die Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit bei Marc Richir mit einem Ansatz aus der Soziobiologie beginnen, so hat das auch zum Zweck, die Anschlussfähigkeit unseres Unterfangens und das fachübergreifende Potenzial des Denkens von Marc Richir von vornherein zu buchstabieren. Der Vater der Soziobiologie, Edward Osborne Wilson, hat in seinem Buch „The Social Conquest of the Earth“ kürzlich die These aufgestellt, dass nicht das egoistische Gen oder die Theorie der Verwandtschaftsselektion (kin selection theory), – diese Theorie behauptet, dass die Idee, Gene mit dem einzigen Ziel zu duplizieren, ein bereits bestehendes Genom zu immortalisieren, größere evolutionäre Vorteile hätte – sondern die Theorie der Gruppenselektion oder the group selection theory (die Begünstigung größerer genetischer Diversität und Interaktivität) die dynamische und treibende Kraft der Evolution sei. Er argumentiert gegen die Ansicht, dass größere genetische Verwandtschaft mehr Altruismus und soziale Evolution von Individuen dieser geschlossenen Gruppe verspreche. Viel eher sei es die Gruppenselektionstheorie, die eine weiterentwickelte und komplexere soziale Evolution und mit Sicherheit „a shift at the level of the species toward greater and wider instinctive co-operations“Footnote 1 verspricht, besonders wenn diese Selektion zwischen Gruppen stattfindet, die mehr Mitglieder enthalten im Vergleich zu solchen mit weniger Mitgliedern. Gruppenselektion begünstige Kooperationsfähigkeit und Empathie innerhalb der Gruppe und soziale Ablehnung und Aggressivität zwischen verschiedenen Gruppen.Footnote 2 Kooperation bringe daher in der Gruppenselektionstheorie, die keine genetische Nähe voraussetzt, größere evolutionäre- und Überlebensvorteile für die Gruppe mit sich. Dies geschieht, wenn Gruppen mit größerer genetischer Diversität und soziale Interaktivität dazu bereit sind, miteinander zu kooperieren und dadurch eine komplexere soziale Organisation zu optimieren.Footnote 3

Die Konzepte der Kooperation können sicherlich über die Grenzen der evolutionären Vorteile, die sie für einige spezielle Guppen haben, hinaus ausgeweitet werden: Die gruppeninterne Kooperation könnte einige potentiell vorteilhafte politische Auswirkungen für die daran beteiligten Individuen haben. Solche Auswirkungen können heute im Zusammenhang mit einer neuen Weltordnung bis auf die globale Ebene ausgeweitet werden, besonders in Situationen, die die Menschheit nicht mehr ohne einander bewältigen kann. Heutzutage ist die Globalisierung etwas, dem sich fast jeder – mehr oder weniger freiwillig – verschreibt. Während die Globalisierung auch die Gefahr einer Einebnung kultureller Unterschiede mit sich bringt, so hat sie doch auch das Potential, die Menschheit für das Gemeinwohl zusammenzubringen. Erfahrungen, die aus der Corona-Pandemie entstehen, bekräftigen die Vorstellung zusätzlich, dass Kooperation sogar auf globaler Ebene eine Bedingung sine qua non ist, wenn die Menschheit einen gemeinsamen Feind erfolgreich besiegen will. Wegen dieser Tatsache, dass die Corona-Pandemie auf eine globalisierte Welt traf, kann die Kooperation der Menschheit während dieser Pandemie und der aus ihr folgenden Auswirkungen auch niemals mit dem Grad der Kooperation in vergangenen Jahrhunderten verglichen werden, als der schwarze Tod, die justinianische Pest, die antoninische Pest oder die spanische Grippe ganze Bevölkerungsgruppen innerhalb weniger Tage dezimierten. Obwohl niemand die genaue Zahl der diesen vergangenen Pandemien zum Opfer gefallenen Menschen benennen kann, wird geschätzt, dass insgesamt etwa zwei bis drei Milliarden Menschen während all dieser vergangenen Pandemien gestorben wären, wenn wir die Zahlen auf die heutige Weltbevölkerung hochrechnen würden. Der Grad der Kooperation zwischen Städten, Provinzen und Ländern lag meilenweit hinter dem zurückliegen, was uns heute möglichFootnote 4 ist. Und während vergangene Generationen nicht einmal den Schimmer einer Vorstellung davon hatten, auf welche Weise sich die Pest verbreitete – ganz zu schweigen davon, wie man diesen Feind gemeinsam besiegen könnte – so brauchten Wissenschaftler weltweit heute nur wenige Monate oder sogar Wochen, um das Coronavirus, seine Infektions- und Verbreitungsweise, sowie Wege, es in Schach zu halten, zu untersuchen. Die Menschen waren in der Lage zu kooperieren, um die katastrophale Ausbreitung von Covid-19 unter Kontrolle zu bringen, indem sie Anweisungen folgten Masken zu tragen, zuhause zu bleiben, soziale Kontakte zu minimieren, Hygienemaßnahmen zu befolgen etc. Vielleicht könnte man sagen, dass die Menschheit hierdurch etwas Neues auf globaler Ebene gelernt hat und damit haben die Menschen die Erde im Sinne des Titels von Osbornes Buch The Social Conquest of Earth nun weitgehend sozial erobert.

In seinem aktuellen Buch Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen vertritt Yuval Noah Harari die Idee, dass der Homo sapiens die Welt (die Welt von Flora und Fauna) weder erfolgreich erobert hat, weil er dazu in der Lage war, komplizierte Werkzeuge herzustellen noch weil er im Prozess der Hominisation eine bemerkenswert hohe Intelligenz entwickelt hat. Vielmehr hat die Menschheit diese Leistung erreicht, indem sie etwas Neues gelernt hat: Kooperation. Dies ist für Harari eine besondere Fähigkeit, die die Menschheit heute in höherem Maße besitzt als Tiere oder ihre Vorfahren. Seines Erachtens ist die Fähigkeit, Werkzeuge zu produzieren nicht das Monopol der Menschen, da auch einige Tiere (Schimpansen, Orang-Utans, Seeotter, Delphine, Vögel usw.) dies tun; obwohl man argumentieren kann, dass solch eine Werkzeugherstellung auf keinen Fall mit der Fertigkeit bei der Herstellung durch den Menschen verglichen werden kann. Wenn man die Auffassung vertritt, dass Intelligenz das entscheidende Merkmal der Menschheit sei, so würde Harari argumentieren, dass kein Konsens über die Bedeutung von Intelligenz bestünde. Selbst wenn wir davon ausgehen würden, der Homo sapiens sei das intelligenteste oder in der Werkzeugherstellung geschickteste Tier, so müssten wir uns doch auf die Tatsache einigen, dass er für lange Zeit eine der bedeutungslosesten Kreaturen mit nur minimalem Einfluss auf das Ökosystem blieb.Footnote 5 Denn wir wissen, dass der Homo sapiens der Steinzeit bei weitem hilfloser war, als die Menschheit Zehntausende Jahre später – und das obwohl sie auch damals mit ihren geschärften Sinnen bereits ausgefeilte Werkzeuge herstellen konnten. So schreibt Harari und wir zitieren ihn ausführlich:

Die Menschen beherrschen den Planeten heutzutage nicht deshalb vollkommen, weil der einzelne Mensch viel klüger und viel fingerfertiger ist als der einzelne Schimpanse oder Wolf, sondern weil Homo sapiens als einzige Art auf Erden in der Lage ist, in großer Zahl flexibel zu kooperieren. Natürlich spielten auch Intelligenz und Werkzeugherstellung eine wichtige Rolle. Aber hätten die Menschen nicht gelernt, in großer Zahl flexibel zusammenzuarbeiten, würden unsere schlauen Hirne und flinken Hände noch immer Feuersteine spalten und nicht Urankerne.Footnote 6

Nehmen wir uns nun zwei wichtige Teile aus diesem Zitat heraus: 1) „flexibel“ und 2) „in großer Zahl“; beides macht für Harari die Unterscheidungskriterien von Menschen und Tieren aus in physischer und mentaler Hinsicht. Ameisen und Bienen kooperieren und arbeiten auf sehr komplizierte Weise zusammen, jedoch mangelt es ihrer Kooperation an der Flexibilität des Homo Sapiens. Wenn der Bienenstock beispielsweise angegriffen oder sich einer Gefahr ausgesetzt sehen würde, dann könnten die Bienen ihr System nicht komplett umstrukturieren, um der Gefahr zu trotzen; z. B. ihre Regierung zu wechseln, indem sie einige Anpassungen vornehmen: „sie können ihr Gesellschaftsystem nicht über Nacht neu erfindenFootnote 7 Und während soziale Säugetiere wie Schimpansen mit höherer Flexibilität kooperieren als Bienen, so ist diese Kooperation doch in Bezug auf die Quantität eingeschränkt. Diese sozialen Säugetiere kooperieren lediglich mit bestimmten Individuen wie z. B. einem Familienmitglied, Freunden oder Verwandten. Sie sind nicht dazu in der Lage, mit Fremden oder Individuen, die sie nicht wirklich kennen, zu kooperieren. Daher schließt Hariri, dass nur der Homo Sapiens flexibel mit einer großen Zahl von FremdenFootnote 8 kooperieren kann.

Wenn Kooperation innerhalb von Gruppen mit mehr genetischer Diversität nicht nur einen evolutionären Vorteil hat, sondern auch dazu beitrug, eine höher entwickelte und komplexere soziale Ordnung zu entwickeln und – wenn der Mensch die einzige Spezies auf der Erde ist, die flexibel und im großen Maßstab selbst mit absolut Fremden und Menschen mit verschiedenen Hintergründen und Kulturen kooperieren kann – dann findet bei ihnen mehr Kooperation statt, als mit dem bloßem Auge sichtbar ist. Unterstreichen wir, dass die hier gemeinte Kooperation allumschließend ist: Sie ist nicht nur auf die Pandemiebekämpfung begrenzt, sondern dient auch der Aufrechterhaltung eines funktionierenden demokratischen Systems, der Wissenschaft, des Wirtschaftssystems, von Herrschaft und Kontrolle, der rein zwischenmenschlichen Beziehungen und der Durchführbarkeit des täglichen Lebens. Der Schüssel ist nämlich, dass wenn Menschen dazu in der Lage sind, mit Fremden und Unbekannten zu kommunizieren, dann muss es eine Bedingung a priori geben, die solch eine Kooperation überhaupt erst ermöglicht. Diese Voraussetzung oder Bedingung a priori garantiert einen sehr wichtigen Faktor der interpersonellen Beziehung: Verstehen. Denn wie kann ich an dem inneren Leben des anderen anteilnehmen oder sogar mit ihnen kommunizieren, wenn ich sie nicht verstehen kann? Diese Arbeit wird versuchen aufzudecken, dass die Leiblichkeit – der Leib wird unabdingbar mit einbezogen, wie wir unten verdeutlichen werden – bei Marc Richir diese Bedingung a priori nicht nur für ein mögliches soziales Leben, sondern auch für Welterschließung ist, wobei die Letztere globaler ist, wie wir später sehen werden.

1.1 Problemstellung der Begriffe: Marc Richir, Leib und Leiblichkeit, Welterschließung

Wir haben damit drei wichtige Elemente, die einer Erklärung bedürfen: 1) A priori der Welterschließung, 2) Leib und Leiblichkeit und 3) Marc Richir. Wir fangen zunächst mit dem Letzten (Marc Richir, 1943–2015) an, um dann später mit der Idee des Leibes, der Leiblichkeit und der der Welterschließung fortzufahren.

Es ist auf keinen Fall ein einfaches Unterfangen diesen belgischen Philosophen, Phänomenologen und Physiker – er hat ein Masterstudium in der Physik absolviert – vorzustellen. Er verdient es meiner Meinung nach, als einer der wichtigsten Denker seiner Zeit angesehen zu werden. Seine Gedanken und Forschungsgebiete erstrecken sich über die Bereiche der Ästhetik, Politikwissenschaft, Anthropologie, Religion, Wissenschaftstheorie, Physik, Mathematik, Biologie, literarische Klassiker, Kunst im Allgemeinen, Poesie, Literatur im Allgemeinen und Musik im Besonderen, Psychopathologie, Ethnologie usw. So haben seine Gedanken ein großes Potenzial, in anderen Wissenschaftsdisziplinen erforscht zu werden. Ich bin davon überzeugt, dass sein Werk das Potenzial hat einige Bereiche der Theologie, Soziologie, Psychiatrie, Psychologie, Geistesphilosophie, Neuroethik und Kognitionswissenschaft mit einem Hauch frischer Luft zu beleben. Sein Denken und seine Werke haben ein fachübergreifendes Potenzial. Das heißt, man kann mit Richir auch etwa in der Anthropologie, Religion, Soziologie, Kognitionswissenschaft, analytischen Philosophie usw. arbeiten.

Aber wenn Richir ein Denker ist, dann hauptsächlich, weil er ein Philosoph ist. Seine philosophische Breite ist konkurrenzlos und deckt sehr tiefe Gebiete ab: von antiken Philosophen wie den Sophisten, Skeptikern, Platon, Aristoteles, den Neuplatonikern (insbesondere Plotin) und dem heiligen Augustinus über Nikolaus von Kues, Descartes, Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Nietzsche und Frege bis zu Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty, Levinas, Dessanti, Ricoeur, Henry, Derrida u.v.m. Er hat die fachlichen Grenzen seiner philosophischen Forschungsinteressen so weit ausgereizt, dass sie sich aus der Sache heraus in Überschneidungen mit anderen Fachbereichen begeben; so hat er auch Inspirationen aus den folgenden Bereichen mit einbezogen: Psychopathologie, Psychoanalyse, Psychologie, Psychiatrie (Freud, Binswanger, Lacan, Maldiney, usw.), Anthropologie, Strukturalismus (Lévi-Straus), Ethnologie (Clastres) Post-Strukturalismus (Derrida), Physik und Quantenmechanik (Newton, Einstein), antike griechische Literatur, Mythologie und Dichtung (Hesiod, Homer), Historiker (Michelet, Quinet) Essayisten (Melville, Lorenz, Dedekind) usw.

Unaufhörlich die großen systematischen Ablagerungen und Traditionsbestände des philosophischen Denkens untersuchend, hat Richir die Diskussionen in philosophischen Bereichen durch seine zahlreichen Kommentare (so ist das Lesen von Richir in etwa wie eine Reise durch die gesamte philosophische Geschichte) und Auseinandersetzungen belebt. Ein solches Unterfangen zeichnet sich nicht nur durch einen Geist der Treue zum philosophischen Register aus, sondern auch durch eine skeptische Haltung, die versucht, die Themen von ihren Wurzeln, d. h. vom Standpunkt ihrer Probleme und Fragen her, wieder aufzugreifen. Oft erschwert dies die Lektüre. Begriffe wie die platonische Χώρα (chora), der Augenblick in Platons Parmenides, der Schematismus und das Erhabene bei Kant, τόπος (topos) und Mimesis bei Aristoteles, hyperbolischer Zweifel bei Descartes (Hyperbel), die Epoché in Husserls Phänomenologie, ebenso wie die phänomenologische Reduktion und die Phantasie und die Intersubjektivität oder die Stimmung bei Heidegger usw. greift Richir auf, füllt sie aber mit einem neuen Inhalt ohne das immer eindeutig erkennbar wäre, was Richirs Weiterentwicklung und was der originäre Gebrauch ist. Wir sehen somit eine Kontinuität sowie eine Diskontinuität in der Veränderung des jeweiligen Begriffs. Auf diese Weise macht er Philosophie zu einem Horizont dynamischer Fluidität gegen einen Geist von Stereotypen, als wäre die Philosophie ein Archiv, in dem Gedanken gespeichert werden. Wenn Platon, Aristoteles oder Kant aus ihren Gräbern auftauchen würden, um Richirs Kommentare, Neuanpassung und Anwendung ihrer Philosophien zu lesen, könnten sie vielleicht zu dem Schluss kommen, dass es so viele Dinge gibt, die sie vergessen haben zu sagen oder dass sie bestimmte Dinge nicht richtig verstanden haben. Damit wollen wir sagen, dass Richirs durchdringende Untersuchung verschiedener philsophischer Texte, Themen und Geschichten gut dazu geeignet ist, die fehlenden Glieder, die Aporien und Grenzen des Denkens aufzudecken. Er wird nie müde, philosophisches Denken zu dessen möglichen Endlichkeiten zu treiben. Aus diesem Grund glauben wir, dass seine Philosophie viele noch nicht genutzte Anschlussmöglichkeiten birgt. Einige der Fachgebiete in denen solche lägen wären dann die Geschichte der Philosophie, der deutsche Idealismus, die kontinentale Philosophie, der Strukturalismus, die analytische Philosophie des Geistes, die philosophische Anthropologie, die Sprachphilosophie, die Metaphysik und auch die EthikFootnote 9. In seinen politischen und philosophischen Gedanken sind auch einige anarchischeFootnote 10 Prinzipien enthalten, die die Grundlagen der Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Organisation erschüttern könnten. Kurz gesagt, Richirs Arbeiten müssen noch in interdisziplinärer Perspektive untersucht werden.

Aber wenn Richir ein Philosoph ist, so besteht kein Zweifel daran, dass er dies in erster Linie als Phänomenologe ist, obwohl manch einer behaupten könnte, er habe einen größeren Einfluss von anderen philosophischen Orientierungen erhalten, zum Beispiel dem deutschen Idealismus, als von der Phänomenologie selbst. Dass Richir aber primär Phänomenologe ist, zeigt sich besonders in seinen unaufhörlichen produktiven und fruchtbaren Verbindungen und Dialogen mit den Begründern der Phänomenologie (Husserl und Heidegger) und der zweiten GenerationFootnote 11 von Phänomenologen (Fink, Langrebe, Patočka, Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Ricoeur, Henry usw.). Man kann, um sich davon zu überzeugen, auf die unzähligen und umfangreichen Monografien,Footnote 12 Aufsätze,Footnote 13 Herausgeberschaften,Footnote 14 Übersetzungen usw. zugreifen, die er veröffentlicht hat.

Seit er die Physik verließ, um sein Leben dem Studium der Philosophie zu widmen, war es ein langer Weg, bis zu dem Punkt, an dem wir ihn heute als PhänomenologenFootnote 15 kennen. Als er sein philosophisches Studium in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begann, waren – wie es heißt – Heidegger und Derrida die maßgeblichen philosophischen Größen in seiner Umwelt. Durch die Lektüre von Heidegger distanzierte sich Richir von Derridas Denken – dies war die erste philosophische Phase von Richirs Entwicklung, die durchaus symbolisch (metaphysischFootnote 16) geprägt war. In einer späteren Phase wiederum distanzierte er sich, angeregt vor allen Dingen durch die Auseinandersetzung mit Merleau-PontyFootnote 17 und dem deutschen Idealismus, von Heidegger. Von dort aus begann er die Entwicklung eines eigenständigen phänomenologischen Ansatzes, in dem Husserl und weiterhin auch Heidegger einen wichtigen Ausgangspunkt seiner phänomenologischen Analysen bildeten. Darüber hinaus hat er sich immer bemüht, das gemeinsame phänomenologische Projekt zu verwirklichen, das für ihn transzendental sein muss, wo es um die Phänomenologie und nichts anderes als die PhänomenologieFootnote 18 geht. Was ihn in diesem Zusammenhang von den Vorgenannten unterscheidet und ihn zumindest für meine Forschung interessant macht, ist, dass seine Analyse der Phänomenologie als nichts anderem als Phänomenologie Rechenschaft darüber ablegt, dass das Phänomen immer von einer bestimmten Illusion begleitet wird, die er als transzendental bezeichnet. Diese Idee ist an Kants „transzendentale Illusion“ in der Kritik der reinen Vernunft angelehnt. Es ist mir nicht bekannt, ob die Analyse von Husserl und Heidegger diese Idee enthält. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es in ihren Positionen keine transzendentalen Illusionen gab. Es war nur so, dass sie sie nicht artikulierten. Später werden wir sehen, dass Richir sich von beiden auch aus anderen Perspektiven distanziert. All die Auseinandersetzungen zur Verwirklichung des phänomenologischen Projekts haben eine grundlegende Motivation: die Neugründung der Phänomenologie unter dem Motto der nova methoda der, Phänomenologie seit dem Buch Phénoménologie en esquisses.Footnote 19 Denn nur so würde in Richirs Augen die Husserl’sche Phänomenologie fruchtbar werden.

Lange Zeit – dies wird in den Kreisen der Richirianer oft bemerkt – blieben Richirs Werke unbekannt. Den ersten und den zweiten Einblick in die Arbeit von Richir gab Joëlle Mesnil in ihren Artikeln L’anthropologie phénoménologique de Marc RichirFootnote 20 aus dem Jahr 1994 und Aspects de la phénoménologie contemporaine: vers une phénoménologie non symboliqueFootnote 21 aus dem Jahr 1995. Seitdem und seit der Gründung der Association pour la phénoménologie zum Beginn des Jahrtausends hat sich viel geändert. Viele akademische Beiträge und Bücher über Richir folgten aufeinander. Das erste Buch, das sich der Phänomenologie Marc Richirs gewidmet hat, war 2006 das von Frédéric Streicher: La phénoménologie cosmologique de Marc Richir et la question du sublime.Footnote 22 Im Februar des selben Jahres hat László Tengelyi mehrere BeiträgeFootnote 23 in Annales de phénoménologie und anderen Zeitschriften veröffentlicht und 2011 veröffentlichten Hans-Dieter Gondek und László Tengelyi Neue Phänomenologie in Frankreich, wo Richirs Phänomenologie spontaner Sinnbildung, Richirs phänomenologische Anthropologie und Richirs Auseinandersetzung mit der politischen Theologie meisterhaft behandelt werdenFootnote 24. Bereits im Jahr 2004 hat Alexander Schnell einen Beitrag zu Richir mit dem Titel: La temporalité de la Stiftung de phantasia selon RichirFootnote 25 veröffentlicht. In den Jahren danach folgten: Leib et Leiblichkeit chez M. Merleau-Ponty et M. RichirFootnote 26 (2009), La refondation de la phénomenologie transcendantale chez marc RichirFootnote 27 (2010) und La précarité du reel. Sur le statut de la „réalité“ chez J. G. Fichte et M. RichirFootnote 28 (2012). Zu dieser Liste von Veröffentlichungen gehört natürlich auch Pablo Posada Varela, der unzählige Übersetzungen von Richir auf Spanisch und unzählige Beiträge zu ihm veröffentlicht hat.Footnote 29 Zu nennen sind auch die Veröffentlichungen von Sacha Carlson, der als einer der besten Kenner der Phänomenologie Richirs gilt.Footnote 30 Die Beiträge von Robert Alexander,Footnote 31 Tetsuo Sewada, und Florian Forestier,Footnote 32 Philip Flock, István Fazakas neben anderen in Annales de PhénoménologieFootnote 33 und anderen Zeitschriften zählen ebenfalls zu den wichtigsten Sekundärliteraturen über Richir. Es ist uns bewusst, dass diese Liste möglicherweise nicht vollständig ist und dass einige wichtige Autoren nicht berücksichtigt wurden.Footnote 34

Seit etwa 2007 besteht bei einer wachsenden Zahl junger Forscher und Wissenschaftler aus der ganzen Welt ein wachsendes Interesse an Richirs Phänomenologie. So zum Beispiel in Frankreich,Footnote 35 Belgien,Footnote 36 Deutschland,Footnote 37 Kanada,Footnote 38 Afrika (der Verfasser dieser Dissertation). Heute könnte man sagen, dass Richirs Phänomenologie nicht mehr auf eine regional begrenzte, spezifische Tradition von Phänomenologie reduziert werden kann, die nur in Frankreich und Belgien praktiziert wird. Vielmehr gewinnt Richir immer mehr international an Boden und Leserschaft. In Deutschland hat Philip Flock schon 2018 seine Dissertation mit dem Titel Das Phänomenologische und das Symbolische: Marc Richirs Phänomenologie der Sinnbildung in Auseinandersetzung mit dem symbolischen Denken, meisterhaft abgeschlossen. Somit gilt Flocks Doktorarbeit als die erste Doktorarbeit über Richirs Phänomenologie überhaupt im deutschsprachigen Raum.Footnote 39

Wenn wir uns jedoch entschlossen haben, diese Phänomenologie zu untersuchen, so tun wir dies nicht unter dem Gesichtspunkt anderer früherer Forschungen, die zur Richir’schen Phänomenologie seit den letzten zehn Jahren durchgeführt wurden. Wir haben uns entschlossen, diese Neugründung der Phänomenologie unter dem Gesichtspunkt oder besser ausgedrückt unter dem Leitfaden des Leibes und der Leiblichkeit zu untersuchen. Wie wir später sehen werden, bringt dieses Thema seine Herausforderungen und Schwierigkeiten mit sich, insbesondere aufgrund der Tatsache, dass kein systematischer Umgang mit dem Thema in Richirs Phänomenologie vorliegt. Bei Richir findet man kaum ein hilfreiches systematisches Leitmotiv. Somit sind wir bereit, das zweite Element vorzustellen – ohne es jedoch zu definieren oder zu problematisieren, wozu wir später kommen werden –, das zu den drei wichtigen oben eingeführten Elementen gehört: Leib und Leiblichkeit.

An dieser Stelle wollen wir – bevor wir unsere Analyse fortsetzen – erwähnen, dass der Begriff der Leiblichkeit (wie gesagt, wenn von einem der beiden Begriffe „Leiblichkeit“ und „Leib“ die Rede ist, ist das andere mitgedacht), wie wir ihn heute in der Phänomenologie kennen, stark von Edmund Husserl geprägt ist. Aber natürlich war Husserl nicht der erste Philosoph, der sich mit dem Thema befasst hat: Vor Husserl tauchte dieses Thematik auch bei Kant, Fichte, Nietzsche, Arthur Schopenhauer, Theodor Lipps usw. auf. Aber es war Husserl, der die erste ausführliche Analyse der Leiblichkeit entwickelt hat. Und diese Analyse beschäftigte sich mit der Frage, wie Subjekte (als leibliches Selbst) sich gegenseitig verstehen können oder auf welche Weise wir uns zur Welt in Beziehung setzen. Eine Entwicklung, die Merleau Ponty sehr ernst genommen hat. Man weiß, dass der Begriff des Leibes Merleau Pontys Phänomenologie sehr geprägt hat – mehr als irgendeinen anderen Phänomenologen des 20. Jahrhunderts. Nur innerhalb dieser Traditionen kann das Begriffspaar des Leibes und der Leiblichkeit bei Marc Richir, mit dem wir es in dieser Arbeit zu tun haben, verständlich werden. Aber so weit sind wir mit der Problematisierung dieser Begriffe im Hinblick auf die Phänomenologie allgemein noch lange nicht; wir werden noch dazu kommen.

Wir gehen nun zum dritten oben genannten Elementüber: der „Welterschließung“. Dabei setzten wir wieder unsere ursprüngliche Überlegung zur Kooperation und Kommunikation fort. Um mit Fremden zu kooperieren, müssen die Menschen miteinander kommunizieren – und um miteinander zu kommunizieren, müssen sie sich gegenseitig verstehen. Wenn man nun fragt, was sie überhaupt kommunizieren, so könnten wir hier das folgende Beispiel dafür geben: Stellen Sie sich vor, Sie hätten das letzte Mal vor 25 Jahren Französisch in der Schule gelernt und seitdem diese Sprache weder gehört noch gelesen, geschrieben oder gesprochen. Nun ist ein Freund von Ihnen verreist und erwartet einen dringenden Brief und Sie sollen diesen Brief lesen und dem Freund sagen, worum es darin geht. Der Brief ist auf Französisch und obwohl Sie der Meinung waren, Sie würden kläglich versagen, verstehen Sie überraschenderweise fast den gesamten Inhalt problemlos, ohne jedoch unbedingt die einzelnen Wörter zu kennen bzw. übersetzen zu können. Nachdem Sie den Inhalt gelesen und verstanden haben, bleibt noch ein Schritt übrig. Sie müssen ihm den Inhalt mitteilen. In den Augenblicken, in denen Sie beschlossen haben, ihm diesen Inhalt mitzuteilen, beginnen sich Ideen in Ihrem Kopf zu entwickeln. Jetzt brauchen Sie Worte, um sie auszudrücken. Gelingt es Ihnen, Ihrem Freund die Idee des Briefes zu übermitteln, so sind Sozialität und Kooperation gelungen.

Die Erschließung der Welt ist aber nicht nur auf Sozialität oder Kooperation reduziert. Sie ist vielfältig. Dieses erste Beispiel soll daher nur der Veranschaulichung dienen, aber man kann das Prinzip natürlich erweitern: Wie z. B. schaffen wir es, die Emotionen anderer Menschen, bzw. ihr psychisches Leben zu verstehen und nachzufühlen, obwohl wir keinen direkten Zugang dazu haben und haben können? Oder auch: Wie schaffen wir es, uns im Wasser beim Schwimmen zu bewegen und uns den Bewegungen des Wassers anzupassen, ohne darüber nachdenken zu müssen? Oder: Wie erhalten wir Zugang zur Welt – zur Wahrheit –, die ein Künstler in seinem Kunstwerk zum Ausdruck gebracht hat? Das sind die Ausgangspunkte einiger Fragen rund um die Welterschließung, der wir uns in unserer Arbeit widmen werden.

Das Briefbeispiel scheint an der Oberfläche problemlos zu sein. Betrachten wir zunächst einige wichtige Aspekte für unsere weitere Analyse. Erstens muss der Verfasser des Briefes seine Idee gehabt haben, bevor er überhaupt mit dem Schreiben des Briefes angefangen hat. Er muss es danach schaffen, diese Idee in einem Schriftkörper zu verleiblichen – im Sinne von: seine subjektive Dimension darin einzuprägen –, damit auch in seiner Abwesenheit diese Idee anderen zugänglich ist. Diesbezüglich schreibt Husserl:

Es ist die wichtige Funktion des schriftlichen, des dokumentierenden sprachlichen Ausdrucks, dass er Mitteilungen ohne unmittelbare oder mittelbare persönliche Ansprache ermöglicht, sozusagen virtuell gewordene Mitteilung ist. Dadurch wird auch die Vergemeinschaftung der Menschheit auf eine neue Stufe erhoben. Schriftzeichen sind, rein körperlich betrachtet, schlicht sinnlich erfahrbar und in ständiger Möglichkeit, intersubjektiv in Gemeinsamkeit erfahrbar zu sein.Footnote 40

Husserl hebt hervor, dass der dokumentierende sprachliche Ausdruck einen gemeinschaftlichen Charakter hat. Er muss auch ohne das Beisein des originären Erzeugers allen zugänglich sein. Rein körperlich – d. h. wenn es nur um das Schriftzeichen an sich ohne Begleitung der Sinnlichkeit geht – wäre er nicht erfahrbar und infolgedessen wäre er nicht in der Lage, der Sprachgemeinschaft etwas verständlich zu vermitteln. Damit er aber zugänglich wird, muss das Schriftzeichen von der Sinnlichkeit begleitet werden, durch die die Mitteilung eines sprachlichen Ausdrucks intersubjektiv erfahrbar ist. Diese Sinnlichkeit (also die Leiblichkeit) ist deshalb die Bedingung a priori nicht nur der Kommunikation, sondern auch jeglichen Weltbezugs überhaupt, ohne die uns die Welt nicht erschlossen wäre. Wenn die Sinnlichkeit diese Bedingung a priori der Kommunikation und des Weltbezugs ist, dann setzt dies auch voraus, dass jedes Subjekt ein „Gemeinschaftssubjekt“ ist. Denn wie würde der Leser des Briefes den Verfasser verstehen, verfügte er nicht über diese Sinnlichkeit? Damit der Leser des Briefes Zugang zum Inhalt hat, muss er genau so eine Sinnlichkeit haben, wie sie beim Verfasser auch fungierend war. Husserl schreibt: „[D]er Leib jedes Gemeinschaftssubjekts muss a priori vom selben sinnlichen Typus sein, das ist eine Bedingung der Möglichkeit der Einfühlung.Footnote 41 Mit anderen Worten, damit „die Welt des einen Subjektes“ (Leibes) gleichzeitig die „Welt des Anderen“Footnote 42 (Leib) oder auch umgekehrt ist, wird die Leiblichkeit als diese Bedingung a prioriFootnote 43 der Welterschließung, der Einfühlung usw. vorausgesetzt. So sind wir auf die zwei Grundbegriffe Leib und Leiblichkeit gekommen, die unsere Untersuchung im Laufe der ganzen Arbeit begleiten werden. An dieser Stelle erwähnen wir auch, dass jeder Begriff in dem Paar „Leib-Leiblichkeit“ den anderen impliziert. Im Laufe der Arbeit wird ihre eindeutige Definition klarer werden.

Damit sind wir bereit zum nächsten wichtigen Aspekt der Analyse unseres Briefbeispiels überzugehen. Dieser problematisiert das erfahrende und fungierende Selbst. Nur innerhalb solch einer Problematisierung kann der Status des Leibes in der Phänomenologie verständlich werden. Wenn das „Apriori der Leiblichkeit“Footnote 44 eine Bedingung zur Einfühlung (bzw. zur Sozialität, zur Kommunikation usw.) eines einzelnen Subjekts ist, – wir haben noch die Interaktivität zwischen dem Verfasser des Briefes und dem Leser vor Augen – so kann gesagt werden, dass dieses Subjekt in einer bestimmten Haltung und Beziehung zu seiner Umwelt steht. So gesehen kann das Subjekt nicht mehr außerhalb dieser Bezüglichkeit gedacht werden. Seine Bewegungen, seine Wahrnehmungen, seine Empfindungen und Handlungen sind alle eine Art von Interaktivität mit seiner Welt. Diesbezüglich schreibt Grohmann: „Es ist alles andere als ein geschlossenes homöostatisches System.“Footnote 45 Mit anderen Worten ist das Selbst kein solus ipse, das sich nur auf sich selbst bezieht und unabhängig von seiner Umwelt lebt.

Diese Idee kann nun am Beispiel des Lesers des Briefes veranschaulicht werden. Zunächst hat der Leser nicht einfach nur Zugriff auf die Schriftzeichen des Briefes: Er würde den Brief auch nicht lesen können, wenn er keine Augen hätte. Er muss zuerst die Ausdrücke des Briefes schwarz auf weiß sehen. Vielleicht könnte auch ein Schimpanse oder eine Gorilla all das wahrnehmen, ohne jedoch die Botschaft hinter den Schriftzeichen des Schriftkörpers zu erhalten. Dies bedeutet, dass der Ausdruck über das Schriftzeichen hinaus Bedeutung verleihen muss. Damit der Leser die Botschaft hinter dem Schriftkörper des Briefes verstehen kann, muss dies für ihn Sinn machen: es muss nachvollziehbar jenseits dessen werden, was die bloße Wahrnehmung der Schriftzeichen vermitteln könnte. Dies zeigt, dass 1) die physischen Aspekte (Schriftzeichen, Schriftkörper, die physischen Augen) unbedingt notwendig sind 2) aber, dass es mehr erfordert: nämlich einen Aspekt, der jenseits von Körperlichkeit oder Objektivität und dem liegt, was die Augen wahrnehmen könnten. Daher ist auch ein Aspekt erforderlich, der durch die Unmittelbarkeit der Dinge für das Selbst richtig erfasst werden kann. Zwar hat der Leser den Brief gelesen, aber er hätte ihn nicht entschlüsselt, hätte es keine Art von Unmittelbarkeit der Bedeutung gegeben, die nicht nur der Außenwelt, sondern auch dem Leser vollständig zugeschrieben werden kann. Hat er nun den Brief entschlüsselt und verstanden, so hat er ihn auch verinnerlicht. Das heiß, dass etwas im Schriftkörper für ihn sinnvoll gewesen ist. Aus dieser persönlichen intimen Perspektive konnte er dann seinem Freund die Bedeutung des Briefes vermitteln.

Daher können wir diese beiden Aspekte der subjektiven Erfahrung (den äußeren und den inneren) nicht trennen. Ebenso ist das erlebende Selbst nicht von seiner Welt zu trennen. Somit kann das Selbst nicht auf die physischen oder objektiven Aspekte (z. B. die Augen, die Hand usw.) reduziert werden. Es hat auch einen intimen, unsichtbaren und „psychischen“ Teil, der die Dinge in der Welt verinnerlichen kann. Das erfahrende Selbst bezieht sich daher nicht nur auf die Außenwelt. Es muss auch als „die Betriebsschnitttstelle“ fungieren, die „die Austauschdynamik zwischen den sogenannten internen und externen Prozessen“Footnote 46 reguliert. Wollen wir dies mit Paul Ricoeur ausdrücken, so erweist sich dieses Selbst als das, was man gleichzeitig mit „physischen und psychischen Prädikaten“ bezeichnen kann, wobei die erste Kennzeichnung es zur „öffentlichen Entität“ und die zweite es zur „privaten Entität“Footnote 47 macht.

Fassen wir den letzten Abschnitt zusammen, um die für unsere weitere Problemstellung wichtigen Punkte hervorzuheben: 1) Das Selbst verfügt sowohl über eine private, psychische als auch eine öffentliche, physische Seite 2) Das Selbst ist nicht ohne sein Verhältnis zur Welt denkbar. Wir fangen zunächst mit dem ersten Punkt an.

1.1.1 Die Theoretische Intuition des Körpers und des Leibes in der Phänomenologie

„Wenn alle Gegebenheit von Dingen letztlich in einer originär-leiblichen Darbietung gründet, wie steht es dann um den Leib selbst?“Footnote 48 Nun wollen wir hinzufügen: Wie steht es um das Selbst selbst? Laut Alloa und Depraz wäre Husserl in diesem Zusammenhang an ein Paradox gestoßen. Das Selbst wird sich selbst auf unmittelbare Weise gegeben, während die Dinge in einer originär-leiblichen Darbietung gegeben werden. So stellt sich die Frage, wie das Selbst sich von der Gegebenheitsweise der Dinge abgrenzt. Wenn sich der Schriftkörper des Briefes mir leibhaftig gibt, wenn ich mir das darin enthaltene Schriftzeichen ansehe, weiß ich, dass er dies nicht als das tut, was ich selbst bin. Ich könnte etwa um den Brief herumgehen, aber er könnte nicht um mich herumgehen. Wie kann das Selbst also diese Schnittstelle zwischen internen und externen Prozessen sein, – mit Grohmanns oben dargestellter Beschreibung sprechend– ohne sich auf die Letzteren zu reduzieren? Oder was stellt sicher, dass das Subjekt ein Subjekt bleibt und die Welt die Welt bleibt, ohne das eine auf das andere zu reduzieren? Bezüglich dieser Schwierigkeiten und Paradoxien lässt sich diese Frage auf eine einzelne Frage reduzieren, durch die – wie wir sie verstehen – die vorige eindeutiger werden können: Haben wir unseren Leib oder sind wir derselbe? Die Idee hinter dieser Frage geht auf Helmuth Plessner zurück. Bevor wir uns jedoch der Analyse von Plessners komprimiertem Satz zuwenden, wollen wir kurz darauf aufmerksam machen, dass das Wir in der letzten Frage aufzeigt, worauf Ricoeur hingewiesen hat, nämlich, dass das Konzept des Selbst kein weniger ursprüngliches Konzept ist, als das des Leibes.Footnote 49 Vielmehr fallen die beiden Aspekte (das Selbst und der Leib) zusammen. Das Selbst und der Leib sind ab initio gleichursprünglich.

Wenn wir uns nun Plessners Idee zuwenden, so wird offensichtlich, dass er zwischen Leib und Körper anhand des Seins und des Habens unterscheidet:

Ein Mensch ist immer zugleich Leib (Kopf, Rumpf, Extremitäten mit allem, was darin ist) – auch wenn er von seiner irgendwie ‚darin‘ seienden unsterblichen Seele überzeugt ist – und hat diesen Leib als diesen Körper. Die Möglichkeit, für die physische Existenz derart verschiedene verbale Wendungen zu gebrauchen, wurzelt in dem doppeldeutigen Charakter dieser Existenz selbst. Er hat sie, und er ist sie.Footnote 50

Zunächst ist anzumerken, dass Plessner dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren eine besondere Stellung zur Welt zuschreibt. Diese Stellung zur Welt versteht er in seiner Anthropologie als „exzentrische Positionalität“. Den Tieren hingegen schreibt er eine „zentrische Positionalität“ zu, was im Gegensatz zu den Menschen bedeutet, dass sie es nicht vermögen, sich auf sich selbst zu beziehen. Zweitens ist anzumerken, dass man in dieser Unterscheidung die spezifische theoretische Intuition, für die der Leib in der Philosophie steht, entdecken kann. Damit erhalten die oben eingeführten Paradoxien, die auf die von Husserl eingeführte Leib-Körper-Differenz verweisen, ihre richtige Platzierung. Thomas Fuchs arbeitet diese Unterscheidung in seinem Beitrag Zwischen Leib und Körper weitergehend aus. Der Körper bezeichnet etwa einen zu verdinglichen Gegenstand, den man besitzen und manipulierenFootnote 51 kann (hier ist es hilfreich, das Wort Körper auf seinen lateinischen Ursprung „Corpus“ = Leichnam zurückzuführen). Der Körper ist daher wie ein „instrumentelles oder expressives Medium“ den man einsetzen kann. Dass ein Mensch einen Körper hat, verweist daher auf das Vermögen zur „reflexiven Selbstdistanzierung.“Footnote 52 Der Leib steht für das Lebendige – und zwar für lebendige Vorgänge, die nicht zu besitzen, sondern lediglich erlebbar sind. Den Leib in der Dimension des Seins zu lokalisieren, macht ihn zu einem Ort des Widerfahren, des Befindens, wo man alles Erlebbare wie z. B. Lachen, Weinen, Freude, Neid, Schmerz usw. spüren kann. In diesem Sinne kann man mit Gugutzer sagen, dass für Plessner Leibsein bedeutet, „eine biologisch-organische Existenz mit Gliedmaßen, Rumpf, Wahrnehmungsorganen etc. zu sein.“ Gleichzeitig bedeutet es auch, „im Hier-und-Jetzt, das heißt, zuständlich zu sein.“Footnote 53 Der Leib trägt also unser Leben in sich, ohne selbst gesehen zu werden. „Es sind“ – so Fuchs – „zugleich Erfahrungen, in denen sich die Natur in uns meldet – ‚Natur‘ insofern, als die Regungen von Hunger, Durst, Müdigkeit […] auftreten.“Footnote 54

Zu dieser Unterscheidung Plessners zwischen Leib und Körper führt Schmitz auch zwei weitere Eigenschaften ein: Örtlichkeit und Ausgedehntheit.Footnote 55 Das Körperliche ist immer örtlich gebunden. Es ist immer mit einer bestimmten Grenze identifizierbar, die es an einen Ort der Räumlichkeit bindet. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Ricoeur ihm die Kennzeichnung der Selbigkeit (mêmete) im Gegensatz zur Selbstheit (ipse) zuschreibt. Die Selbstheit bedeutet, dass es durch die Wiedererkennung gekennzeichnet ist, wobei die Wiedererkennung nur durch eine räumlich-temporelle IdentifizierungFootnote 56 möglich ist. In der Räumlichkeit kann also der Körper als dies oder jenes identifiziert werden. Ein Körperliches kann aber auch auf kleinere Teile aufgeteilt (Ausgedehntheit) werden. Dies ist zum Beispiel möglich und nachvollziehbar in einer medizinischen Behandlung (etwa einer plastischen Chirurgie), die darauf abzielt, bestimmte Körperregionen in seine Bestandteile zu zerlegen. Diese Regionen werden als ein „Körperding“ behandelt. Im Gegensatz dazu kann der Leib weder an einen Ort gebunden werden, noch kann man ihn ausdehnen und in Stücke reißen. Ein Leib ist nicht wie Körper im Raum, die in einem bestimmten Abstand zueinander stehen. Er ist, wie Husserl sagt, der Nullpunkt aller Verhältnisse zum Körperraum.Footnote 57 Deshalb kann man die leiblichen Regungen wie Freude, Durst, Schmerzen usw. nicht auf zwei Freuden, zwei Dürste usw. aufteilen.Footnote 58

Auf der Grundlage dieser Kennzeichnungen lässt sich fragen, ob dem eigenen Leib eine Körperlichkeit zugeschrieben werden kann, wenn z. B. zwei Menschen in einem gewissen Abstand zueinander in einem bestimmten Raum stehen. Husserl liefert uns in Ding und Raum eine klare Antwort hierauf. Sofern ein Leib Raum hat, ist er auch ein Ding. Er ist deshalb ein Ding genauso wie andere Dinge im Raum: er kann ruhen und sich im Raum bewegen. Aber anders als Dinge im Raum ist der Leib ein Träger des Ichs und der Empfindungen.Footnote 59 Als solch ein Träger hat der Leib ein besonderes Verhältnis zu sich selbst, das anders als jenes zum Ding ist. Um dies mit Alloa und Depraz auszudrücken: „Ich erlebe meinen Körper, durchlebe ihn gleichsam und lebe somit immer schon durch ihn.“Footnote 60 In diesem Sinn kann der Leib als erlebendes und Empfindung tragendes Selbst nicht verdinglicht werden, denn während ich auf die Dinge einen gewisse Einfluss habe – diese können durch meinen Leib verändert oder im RaumFootnote 61 versetzt werden –, ist dieser Einfluss ohne meinen Leib nicht denkbar. Folgen wir dieser an Husserl angelehnten Analyse von Alloa und Depraz, so erweist sich der eigene Leib als anders als alle anderen Dinge, als besonders: dieser eigene Leib hat „für mich eine grundverschiedene Art der Erfahrung, als alle anderen Körper sie für mich haben,“Footnote 62 weil ich auf die anderen Körper einwirken kann, während mein Leib auf meiner Seit, „Hier“ (als Nullpunkt), steht und nie „weggelegt werden kann.“Footnote 63 Oder, um es mit Merleau-Ponty auszudrücken, während ich einen Körper als Gegenstand „aus meinem Gesichtsfeld entfernen, schließlich also auch aus ihm verschwinden kann,“ ist mein Leib durch eine Ständigkeit bezeichnet: „er entzieht sich vielmehr jeder Durchforschung und stellt sich mir stets unter demselben ‚Blinckwinkel‘ dar.“Footnote 64 Ich kann meinen eigenen Leib spüren: „Wir spüren uns selbst“, schreibt Böhme. Deshalb führt er den Begriff der „Selbsterfahrung“Footnote 65 ein.

Wenn in dieser Arbeit vom Leib aus der phänomenologischen Perspektive die Rede ist, ist in etwa ein corps vivant aufzufassen – lebendiges, fungierendes Selbst, wie Richir ihn in Anschluss an Merleau-Pontys französische Übersetzung des deutschen Leibbegriffs und innerhalb der phänomenologischen Tradition seit Husserl verstanden hat. Leib betrifft im Gegensatz zum Körper das menschliche Wesen als ein erfahrendes, lebendiges Selbst. Körper steht dann für einen leblosen Organismus, eine Art von Exteriorität, die mir durch die Wahrnehmung vermittelt ist. Sie ist sozusagen das, was uns immer schon in der symbolischen InstitutionFootnote 66 gegeben ist. Insofern betrifft der Begriff der Körperlichkeit nicht nur Objekte oder Gegenstände der Wahrnehmung sondern auch Subjekte, insofern sie außerhalb meines nicht ausdehnbaren und nicht lokalisierbaren Nullpunktes stehen, von dem aus ich mich in der Welt orientiere, und somit als Äußerlichkeiten bezeichnet werden können. Gernot Böhmes Definition ähnelt unserem Begriff der Exteriorität: „Körper ist die Natur des Menschen in Fremderfahrung“,Footnote 67 wobei die Fremderfahrung den Körper im naturwissenschaftlichen Zusammenhang – also in Bezug auf die Anatomie, die Physiologie, Neurowissenschaft usw. – bezeichnet.

1.1.1.1 Der Leib als Ort des Überschusses

Wenn jedoch vom Leib als der fungierenden erlebenden Subjektivität die Rede ist, so ist – zumindest bei Husserl – aber nicht klar, wo „die Grenze zwischen dem Leib und den Körpern“Footnote 68 gezogen wird. Diesbezüglich könnte die Frage gestellt werden, auf welche Seite das Gewicht eines Verständnisses des Selbst (ist das Selbst nun der Leib oder der Körper?) gelegt werden soll: auf die Seite des Körpers oder auf die des Leibes? Oder um dies besser auszudrücken: Wo soll das Gewicht in Bezug auf das Verhältnis des Leibes zum Haben und zum Sein gelegt werden: auf die Seite des Habens oder die des Seins? Während laut Alloa und Depraz Husserl dabei kaum geholfen hätte, da er immer wieder verwirrende Begriffe (Leibkörper, leiblichen Körper usw.) verwendet hat, sodass die Kluft dieses Leibbegriffs zwischen Körper und Seele unüberwundenFootnote 69 blieb, schließ sich Richir dieser SchwierigkeitFootnote 70 an: Seine These ist nämlich, dass man das Wesentliche der leiblichen Erfahrung verpassen könnte, wenn das Verständnis des Leibbegriffs nur auf Sein (être) und Haben (avoir) bezogen wird.Footnote 71 Das Wesentliche der leiblichen Erfahrung, der nur die Phänomenologie Rechnung tragen kann, geht über Sein und Haben hinaus; mit anderen Worten, es soll nicht auf Sein und Haben reduziert werden. Der Grund ist ein ganz einfacher: Nur die Phänomenologie vermag es, dieses Wesentliche der leiblichen Erfahrung, also den Überschuss des Leibes zu thematisieren, ohne ihn symbolisch (wir haben diesen Begriff schon definiert)Footnote 72 vorzubestimmen. Wie ist dies zu verstehen? Um diese Frage zu beantworten, muss die Implikation – in Richirs Augen – des Seins und des Habens für den Leibbegriff abgeklärt werden, was wir im folgenden Abschnitt angehen werden.

Ein Teil des Problems des Körpers (corps und nicht corps vivant) ist laut Richir die gemeinsame Zugehörigkeit von Sein (être) und Körper: Die Evidenz, dass dieser vergängliche biologische Körper, in dem wir geboren sind und durch den wir sterben werden, uns gehörtFootnote 73. Wenn wir also die Frage stellen würden, „wer“ dieser Körper ist, würden wir sofort sehen, dass wir dies sind. Aber fragen wir, was oder wer dieses „Wer“ ist, so würden wir feststellen, dass das „Wer“ nicht der Körper selbst ist, denn dieser Körper ist nicht das „Wer“, welches diese Frage stellt, das sich mit solchen Gedanken beschäftigt. Wenn das „Wer“ mit dem Körper gleichbedeutend wäre, wären wir wie Tiere: Dies sind ihre Körper,Footnote 74 und dies ist der Grund, warum sie nichts mit Gedanken zu tun hätten und vielleicht, warum sie nicht in der Lage wären, von ihrem eigenen Körper zu sprechen. Wenn wir also in der Lage sein müssen, Fragen zu stellen, unsere Gedanken zu haben und mit ihnen zu spielen, um von unserem Körper zu sprechen, dann können wir nicht einfach unser Körper sein. Richirs These ist: das Selbst fällt nicht mit dem Körper zusammen – zwischen dem Selbst und dem Körper gibt es also einen unvermeidlichen Abstand (écart), welcher nicht zulässt, dass ein Mensch mit seinem Körper übereinstimmt –, genauso wie der Begriff „Sein“ den Körper nicht erschöpft, obwohl man den Körper in gewissem Sinne nicht ohne „Sein“ artikulieren kann. Für Richir wäre der Körper für sich selbst transparent gewesen, wenn das „Wer“ Körper gewesen wäre, d. h. wenn das Sein von Selbst und Körper zusammenfiele. Darüber hinaus wäre der Körper nur ein Organ, das keine einzige Spur oder keinen Schatten von sich selbst hinterlässt, wäre er für sich selbst transparent. In gewisser Weise wäre er ein Körper ohne „Dicke/ Tiefe“Footnote 75 (épaisseur). Dies zeigt zunächst, wie unzureichend es ist, den Leibbegriff durch den Begriff „Sein“ zu artikulieren.

Um diese Schwierigkeit zu überwinden, hebt Richir hervor, dass es notwendig ist, auch die Dimension des Habens (avoir) in Bezug auf die Leibthematik mit einzubeziehen. Wenn wir fragen, was die Dimension des Habens bedeutet, dann ist dies für Richir nicht so zu verstehen wie im Sinne von Krankheit oder Leiden. In diesem Sinne wäre es bezüglich dieser französischen und deutschen Ausdrücke hilfreich, zu verstehen, was das Haben nicht sein darf: „Ich habe Kopfschmerzen“ (j’ai mal à la tête), „er hat Bauchschmerzen“ (il a mal au ventre), „sie hat Augenschmerzen“ (elle a mal aux yeaux). Einen Körper zu habenFootnote 76, kann nur unter dem Gesichtspunkt der „Dicke“ (der Tiefe) in der Erfahrung verstanden werden. Richirs Ansatz ist, dass diese Dimension des Habens der Erfahrung des Körpers Dicke oder Tiefe verleihen muss. Die Dicke hebt für Richir den Aspekt hervor, der in der Erfahrung denkbar ist, wenn es im Körper etwas gibt, das ihn übersteigt, und in Bezug auf das der Körper sehr begrenzt erscheint.Footnote 77 Es ist dieser Überschuss, der die Frage beantworten kann, warum ein eigener Körper allein zu sein, nicht einmal die Möglichkeit des Denkens und des Sprechens eröffnen kann.

Aber die Frage bleibt: Was ist dieser Überschuss, den Richir verteidigt? Für Richir wurde dieser Überschuss traditionell als Psyche oder Seele in einer symbolischen Zirkularität – die Idee, dass eine Entität, ein Sein, eine Handlung usw. schon von vornherein kodiert ist, und dass diese Kodierung immer auf die Entität, das Sein, die Handlung zurückzuführen ist – voridentifiziert, die ihn (den Überschuss) als das Physische kodierenFootnote 78 will. Unterscheidet sich dies dann von der Herangehensweise an Erfahrungen in anderen Wissenschaften (z. B. Psychologie, Kognitionswissenschaft usw.)? Stimmt es nicht, dass diese die Erfahrung immer auf bestimmte Weise analysieren, sie symbolisch vorbestimmen wollen und deshalb keinen Platz für den Überschuss haben? Bei jeder Erfahrung geht es um diesen oder jenen Zustand oder dieses Verhalten oder jene Körperreaktion usw. Gemäß der Zirkularität der Identifikation wird der „psychische Körper“ (corps psychique) zum „physischen Körper“Footnote 79 (corps physique). Diese Haltung findet sich in der Haltung der Kognitionswissenschaft oder sogar in der analytischen Philosophie des Geistes, wenn beispielsweise versucht wird, das Gehirnkorrelat dieses oder jenes Gedankens oder diese oder jene emotionale Episode im Gehirn zu lokalisieren. Die Überbestimmung des Überschusses in der Erfahrung würde die Erfahrung selbst verarmen lassen. Im Gegensatz dazu argumentiert Richir, dass dieser Überschuss in Bezug auf Empfindung, Affektion, Gedanken usw.Footnote 80 (als anonyme Vorgänge) – und nicht im Hinblick auf die Psyche – verstanden werden muss, da in diesen immer etwas ist, das mehr ist als das, was in ihnen identifiziert wird.

Das Vorbestimmen des Überschusses durch eine symbolische Identifizierung als psychisch ist vergleichbar mit der Darstellung des Überschusses im Begriff der Seele. Richirs Idee ist, dass der Überschuss (Empfindung, Gedanke, Emotion, Affektionen usw. in der Anonymität ihrer Operationen) nicht in der Seele gesucht werden soll, um später seine physische Reaktion in der körperlichen SignalanlageFootnote 81 zu suchen. Der Überschuss in der Erfahrung darf also nicht symbolisch – wir haben diesen Begriff definiertFootnote 82 – vorbestimmt werden. Diese Herangehensweise wäre sehr restriktiv, da sie uns nicht über die Trennung und Korrelation zwischen einem „physischen Körper“ (corps physique) und einem „psychischen Körper“ (corps psychique) hinausgehen lassen würde, die die philosophische Analyse vieler Philosophen oder Wissenschaftler geprägt haben. Vielmehr brauchen wir laut Richir einen phänomenologischen Entwurf, wo der phänomenologische Leib als erlebter Leib (le corps vécu) der Ort dieses Überschusses ist, jenseits jeglicher Referenz auf Haben und Sein. Aber das Problem ist, dass jede phänomenologische Analyse das SymbolischeFootnote 83 nicht komplett ausklammern kann. Dies ist nicht nur so, weil die Sprache der Phänomenologie (wie der Philosophie) auch schon symbolisch geprägt ist, sondern auch, weil das Phänomenologische die KehrseiteFootnote 84 des Symbolischen (z. B. der Metaphysik) ist, ohne welches das Phänomenologische nicht möglich ist.

Richirs Projekt, wie wir es verstehen, lautet: Wie können wir diesem phänomenologischen Leib (corps vécu) als dem Ort des ÜberschussesFootnote 85 Rechnung tragen, ohne ihn in einer symbolischen Zirkularität vor- bzw. überzubestimmen und gleichzeitig zeigen, wie sich dieser phänomenologische Aspekt des Leibes zu dem anderen Register der symbolischen Institution (des Körpers) – der immer vorgegeben ist und parallel zum Phänomenologischen existiert – verhält? Wir wollen die These vertreten, dass dieser Überschuss des Leibes im Überschuss des Phänomens und des Erlebens (vivre) belegt bzw. bezeugt ist; und dass die Spannung zwischen der phänomenologischen Darstellung des Leibes und seiner symbolischen Bestimmung in Richirs phänomenologischer Darstellung des Sprachlichen – mit „die Phänomene des Sprachlichen“ bezieht sich Richir auf jene Phänomene in ihrer Vielfalt, die nur in Bezug auf das Regime des Sinnes verstanden werden können – bezeugt werden kann. Wenn wir dies nun am Anfang unserer Arbeit vorschlagen, dann deshalb, weil einer der stärksten Beiträge von Richir zur Phänomenologie unter anderem im Regime der Sinnbildung des Sprachlichen liegt. Deshalb wollen wir untersuchen, wie im Überschuss des Sprachlichen nach dem Überschuss des Leibes gesucht werden kann.

Bevor wir diesen ersten Teil beenden und zum nächsten Teil übergehen, wollen wir zwei wichtige Punkte erwähnen. Erstens: der Leib kann zum Körper und zum Phantomleib werden. Und zweitens: es gibt auch Fälle, wo der Leib unabhängig vom Körper leben und wirken kann.

Der Leib kann besonders da zum Körper werden, wo er sein Sein, seine unmittelbare und unbemerkte Medialität, seine „Selbstverständlichkeit“ der Umwelt und seine Spontaneität verliert und zum InstrumentFootnote 86 wird. Wenn sich also der Leib bewusst wird, wird er eher dem Körper zugerechnet; der Leib wird von uns als ein Bild erfasst, wenn er uns erscheint oder von uns als Objekt gesehen wird. Man stelle sich vor in Gedanken einzutauchen, während man versucht, die Ideen herauszufinden, die einem in den Sinn kommen. Vielleicht hat man über seine Ideen in Bezug auf sein nächstes Buch nachgedacht, sodass man in Gedanken versunken waren. Vielleicht saß man vor seinem Schreibtisch und Computer, obwohl man ihn oder andere Dinge um sich herum nicht zur Kenntnis genommen haben. In dem Moment, den man als „in Gedanken versunken“ bezeichnen könnte, kroch möglicherweise die eigene Katze ohne Wissen ihres Besitzers aus ihrem Versteck unter dem Schreibtisch hervor und sprang darauf. Durch die Anpassung ihrer schönen Bewegung starrt sie einem ins Gesicht, während sie die Aufmerksamkeit ihres Besitzers sucht. In diesem Moment wird einem schlagartig bewusst, dass man über zehn Minuten ungeplant in Gedanken versunken war. Es fällt einem auf, dass man bis zum Mittag immer noch seinen Pyjama an hat. In diesem Moment, den wir als einen Moment des Selbstbewusstseins beschreiben könnten, kann man sich jetzt in der Welt positionieren. Man kann sich selbst wahrnehmen, beurteilen oder objektivieren. Man erscheint sich selbst als Bild. In diesem Sinne wird uns das Bild des Leibes entweder wahrnehmungsmäßig – als dieses oder jenes Ding im Sinne eines Körpers, der immer noch seinen Pyjama anhatte – oder spiegelhaft – als „Scheinleib“ oder als PhantomleibFootnote 87 – gegeben. Dieser letzte Teil ähnelt der Bewegung, die Richir als architektonische Transposition (d. h. Bewegung von einem Register zum anderen) versteht, vom primordialen Register einer phänomenologischen Erfahrung zu 1) der Erfassung des fungierenden Selbst durch die Imagination (nicht Einbildungskraft im kantischen Sinne) oder 2) zum Leib bei geistig kranken Menschen. Dem Leib der geistig Kranken werden von Richir zwei Kennzeichnungen zugeschrieben: Leibhaftigkeit in AbgeschiedenheitFootnote 88 und die Phantomleiblichkeit. Wir werden später weitere Anlässe haben, um diese Begriffe genauer in einen Zusammenhang zu setzen.

Es gibt aber laut Richir auch Fälle, wo man vom Leib sprechen kann, ohne den Körper mit einzubeziehen – ich beziehe mich hier auf das Gespräch Richirs mit Sacha Carlson in L’écart et le rien.Footnote 89 Das heißt, es ist möglich, den Leib ohne seine Bindung zum Körper zu konzipieren, wo der Leib die Körperlichkeit transzendiert und weiterhin lebt. Solche Situationen findet man in der Kunst, zum Beispiel in einem Theater, in der Musik usw. Das bekannte Oratorium Johann Sebastian Bachs, die „Matthäus-Passion“, wäre in diesem Zusammenhang ein Leib, der weiter lebt und vom Körper unabhängig ist. Dabei bezeichnet Leib die Lebendigkeit eines Kunstwerkes. Damit es wieder erlebt wird, muss ein Schauspieler oder ein Interpret es verleiblichen. Oder besser ausgedrückt, der Schauspieler muss der Figur (dem Charakter) eines Stücks oder der Musikant der komponierten Musik seinen Leib leihen, damit der Leib der Figur des Theaterstücks oder der Leib der Musik (also der Komponist) beim Zuschauer (oder beim Zuhörer) wirken kann. Dies heißt nicht, dass der Schauspieler oder der Musikant über keinen Körper verfügt. Richir betont vielmehr, dass dieser Körper desto weniger sichtbar wird, je mehr der Komponist (die Musik) oder die Figur oder der Charakter eines Theaterstücks sichtbar und lebendiger wirkt.

1.1.2 Leiblichkeit zwischen Subjektivität und Weltbezüglichkeit

Nachdem wir das Selbst in Bezug auf den Leib und den Körper dargestellt haben, gehen wir nun – wie oben bereits eingeführt – zum zweiten oben genannten Punkt über: das Selbst in seiner Bezüglichkeit zur Welt, damit meinen wir den Begriff der Leiblichkeit. Damit befinden wir uns in der Dimension der lebendigen Erfahrung, die in der phänomenologischen Tradition seit Husserl den Leibbegriff ausmacht. Dass Erfahrung durch den Leib vermittelt wird, setzt voraus, dass dadurch eine doppelte Dimension abgedeckt wird: Die der „Subjektivität“ und die der „Weltlichkeit“, oder der „Weltbezüglichkeit“, wie diese bei Husserl (vor allem in seiner Kinästhesie) und Merleau-Ponty (anhand seines Begriffes des Körperschemas) zu finden sind. Der Punkt ist, dass das Selbst ohne ein Verhältnis zur Welt nicht denkbar ist. Versuchen wir, diese letzte Idee mit Husserl und Merleau-Ponty als Orientierungspunkt zu artikulieren. Wir fangen mit Husserl an.

In Raum und Ding entwickelte Husserl eine Analyse über die Kinästhesie, die versucht hat, die Konstitution des Dingkörpers in der Mannigfaltigkeit seiner ErscheinungFootnote 90 zu entwerfen. Diese Mannigfaltigkeit seiner Erscheinung geschieht aber durch eine Bewegung, die Husserl als die Kinästhesie versteht. Eine der Besonderheiten dieser Analyse über die räumliche Konstitution zeigt sich an der Korrelation zwischen dem Objekts und dem „Ichleib“Footnote 91, der mir die leiblichen Empfindungen von dessen Subjekt vermittelt. Genauso wie jegliche Art von Wahrnehmung der Weltobjekte durch die Medialität des Leibes geschieht, besteht auch eine ParallelitätFootnote 92 zwischen der Kinästhesie und der Wahrnehmung.

Das wahrgenommene, visuelle Ding bleibt im Raum unverändert gegeben. Zwar vermittelt das Ding eine mannigfaltige Erscheinung – die mannigfaltigen Erscheinungen verharren nicht unbedingt in der Realität sondern in der Potentialität, wodurch ein Leib als absoluter Nullpunkt jedes Dort in ein „Hier verwandeln“ kann, und woraus der Ausdruck „Ich kann“ entstehtFootnote 93 – im Raum, aber diese Mannigfaltigkeit seiner Erscheinung aus unterschiedlichen Gesichtsfeldern verändert nicht das Ding als solches. Der konstitutive BestandFootnote 94 eines Tisches bleibt immer unverändert, sodass ein Tisch immer ein Tisch bleibt und ein Hammer immer ein Hammer. Wenn es aber eine Änderung bei der Erscheinung gibt, so hängt dies mit der Kinästhesie zusammen. Wie Husserl betont, werden verändert sich die Erscheinung, wenn man die UmständeFootnote 95 der Kinästhesie ändert. Die Mannigfaltigkeit der Erscheinung hat prinzipiell mit der Mannigfaltigkeit – auch in der Analyse zur passiven Synthesis, wo die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen mit der Intentionalität gedacht wird, wird dies thematisiert – der Bewegung des wahrnehmenden Ich zu tun. Genauso kann die Ruhe dieses Ichs auch die Erscheinung des Dings beeinflussen.Footnote 96 Auch die Empfindungen variieren: Beim Tasten zum Beispiel wird das betastete Objekt in der Tastempfindung als rau (Rauhigkeitsempfindung) oder auch als glatt (GlätteempfindungFootnote 97) usw. gegeben. Jedoch ist zu betonen, dass sich diese Wahrnehmung (der Rauhigkeitsempfindung oder der Glätteempfindung) der Bewegung der taktilen Organe auf der taktilen Oberfläche verdanktFootnote 98.

Die Bewegung des Ichs, die für die Dingerscheinungen wichtig ist, ist vielseitig: nicht nur die Sinne – wie etwa der Tastsinn oder der Gesichtssinn – sind hier wichtig. Auch unterschiedliche Aspekt des Leibes sind dafür relevant: Husserl veranschaulicht seine Analyse mit Oberleib, Kopf, Augen usw. Jede kinästhetische Veränderung bringt bestimmte intime sinnliche Empfindungen mit sich. Werden die Augen nach links oder rechts, nach oben oder unten bewegt, so entspricht jede Bewegung auch „einem intimen Sinn,“Footnote 99 der zu jeder Bewegung gehört. Der Sinn, der die kinästhetische Bewegung bei Husserl öffnet, ist jedoch intentional, was dafür sorgt, dass die unterschiedlichen Erscheinungen durch die Intentionalität auf ein und dasselbe ObjektFootnote 100 in der Welt gerichtet werden.

Die oben erwähnte Doppeldimension – also dass der Leib nicht nur der Ausgangspunkt zur Handlung, Bewegung, Beziehung des Selbst oder dessen Bezug zu sich, sondern auch der Ausgangspunkt für einen Weltbezug ist –, welche die Erfahrung anhand des Leibes voraussetzt, wird durch Merleau-Pontys Begriff des Körperschemas abgedeckt. Dieser aus der Neurologie, Psychiatrie, Psychoanalyse und der Neuropsychiatrie entstandene Begriff verdankt sich der Forschung von Henry Head, Gordon Holmes,Footnote 101 Paul SchilderFootnote 102 usw. Der Begriff des Körperschemas drückt die Idee des Zur-Welt-sein des Leibes aus. Es ist das, was die Erfahrung des Leibes in der WeltFootnote 103 ermöglicht. Dadurch hat das erfahrende Subjekt ein prä-reflexives Bewusstsein über die Stellung seines Leibes in der Welt. Mit anderen Worten, das Körperschema zeigt, wie das Subjekt sich zur Welt verhält und auf sie bezieht:

Denn der Normale hat seinen Leib nicht bloß als ein System aktueller Positionen, sondern ebensosehr und in eins damit als offenes System einer Unendlichkeit gleichwertiger Stellungen in anderen Orientierungen. Was wir das Körperschema nannten, ist eben dieses System von Äquivalenzen, diese unmittelbar gegebene Invariante, auf Grund deren die verschiedensten Bewegungsaufgaben augenblicklicher Transposition fähig sind. Es ist also nicht allein eine Erfahrung meines Leibes, sondern eine Erfahrung meines Leibes in der Welt und auf Grund dessen allein vermag es sprachlichen Anweisungen einen Bewegungssinn zu geben.Footnote 104

Dieser Beschreibung des Körperschemas entnehmen wir drei wichtige Punkte: anfangend vom Letzteren zeigt das Körperschema, wie der Leib einfach in Beziehung zur Welt steht, wo die Erfahrung des eigenen Leibes durch die Dynamik der Beziehung zur Welt reguliert wird. Das Körperschema zeigt, wie sich der Leib zur Welt verhält, wo das Haben und Erleben eines Leibes durch die Dynamik der Beziehung zur Welt reguliert wird. Es ist sozusagen das Prinzip des DialogsFootnote 105 zwischen Welt und Leib. Das Vermögen des Leibes, sich auf sich selbst zurück zu beziehen, setzt aber a priori das Vermögen voraus, sich über sich hinaus auf die Welt zu beziehen, da er sonst nicht mehr leiblichFootnote 106 wäre, denn erst durch den Leib erschließt sich uns die Welt. Zusammenfassend schreibt Merleau Ponty über diese DoppelfunktionFootnote 107 des Körperschemas: „Es ist also nicht alleine eine Erfahrung meines Leibes, sondern eine Erfahrung meines Leibes in der Welt“, wodurch klar wird, dass wir uns nicht nur auf der Ebene der Subjektivität, sondern auch auf der des Leibbezugs zur Welt befinden, wo eine Art des Gerichtetseins im Spiel ist, welches eine intersensorische (intersensoriel) Welt öffnetFootnote 108 Wir können auch dort von einer Intersubjektivität sprechen, wo das Körperschema u. a. das Dasein des Anderen, bzw. seinen Leib in meine leiblichen Tätigkeiten einschließt, was zu einer Zirkularität zwischen den beiden Leibern führt. Das ist keine Überraschung, denn für Husserl, der Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die Diskussion um die „Leiblichkeit“ bedeutend vorangetrieben hat, wäre dieser Begriff gar nicht zustande gekommen, hätte er damit keinen Schlüssel für die Intersubjektivität entwickelt. Insofern ist der Leib nicht nur das, was ich als Subjekt erlebe, wodurch ich wirke, wie wir schon mit Alloa und Depraz erwähnt haben, sondern auch das, wodurch ich mich in Verbindung mit der Welt setze.

Zweitens betrifft das Körperschema nicht das, was sich in der Aktualität sondern das, was sich in der Potentialität befindet. Grohmann hat kürzlich dafür argumentiert, dass das Körperschema sich anstatt in die Realität einer aktuellen Handlung in die Potentialität einer künftigen Aktion erstreckt. In diesem Sinne ist es vorausschauend.Footnote 109 Darum ist es als ein offenes System zu bezeichnen. Das bedeutet, dass der Leib kein explizites sondern ein implizites Wissen über die Stellung der Gliedermaßen hat. Da solches Wissen – folgen wir Gallaghers Erklärung – vorintentional ist, kann es weder vollständig im Bewusstsein dargestellt werden, noch kann es mit BegriffenFootnote 110 erfasst werden. Vielmehr gehört es zum Bereich des Unbewussten, also über jegliches intentionales Bewusstsein hinaus. Ich brauche zum Beispiel keine gründliche logische Überlegung, um zu wissen, dass der Abstand zwischen mir und meinem Computer ausreicht, um ihn anzufassen. Ich fasse ihn einfach trotzdem an, ohne immer wieder darüber nachzudenken, wie es möglich sein könnte, ihn anzufassen. Wenn wir uns nun an das oben zitierte Beispiel des Schwimmens im Wasser erinnern, wird deutlich, dass es sich hier um eine Passivität handelt, da wir in dieser Erfahrung des Schwimmens und Bewegens unseres Leibes in einem Schwimmbad dies nicht auf eine Weise tun, die uns objektiviert. Wir tun dies einfach ohne das aktive Eingreifen des Bewusstseins. Das Beispiel, den eigenen Leib in einem Schwimmbad zu bewegen, könnte auf die Erfahrung des Klavierspielens ausgedehnt werden. In all diesen Fällen ist das Wissen von Leib über die Welt, in der er sich bewegt, nicht nur prä-reflexiv, sondern auch passiv, zumindest wenn wir Merleau-Pontys Idee des Körperschemas folgen. In Kapitel Vier werden wir diese passiv vermittelte Öffnung der Welt im Gegensatz zu einer anderen Form der Öffnung der Welt vorstellen, die aktiv ist (Richir). In dieser passiven Öffnung der Welt ist die Sinnhaftigkeit, die uns die Erfahrung des Leibes in der Welt verleiht, eine, die bereits geschlossen ist. Die vorzeitige Abgeschlossenheit der Sinnhaftigkeit zerstört nicht die Möglichkeiten (die Potentialitäten) des Körperschemas hinsichtlich seiner impliziten Kenntnis eines zukünftigen Ereignisses. Die Potentialität ist auch mannigfaltig. Als ein Beispiel wäre hier nochmal die Potentialität des Anfassens meines Computers zu erwähnen. Diese scheint unendlich zu sein. Ich kann ihn mich beugend anfassen, wenn er am Boden liegt, oder ihn mit meiner linken Hand anfassen, wenn die rechte Hand nicht frei ist. Wenn wir jetzt von der Gechlossenheit der Sinnhaftigkeit der Welt (wir werden dazu im vierten Kapitel kommen) in Bezug auf das Körperschema und auch von der Unendlichkeit der Möglichkeiten in Bezug auf den Leib sprechen, muss die Frage gestellt werden: Wie ist der unveränderliche Aspekt des Körperschemas mit der Unendlichkeit möglicher Veränderungen oder Anpassungen des Leibes zu versöhnen? Diese Frage führt uns zur dritten Eigenschaft des Körperschemas.

Drittens ist das Körperschema nämlich eine Invarianz, also das, was unveränderlich ist und unveränderlich bleibt, inmitten der Unendlichkeit möglicher Veränderungen des Leibes. Es ist also das, was all die verschiedenen Haltungen, Bewegungen und Zustände der Gliedmaßen zusammenhält. Zusammenhalt deutet auf eine Einheit des Körperschemas hin.

In Bezug auf diese Einheit schreibt Merleau-Ponty, dass der Leib nicht wie die Summe von Organen zu verstehen ist, die nebeneinandergesetzt werden. Vielmehr ist der Leib ein „synergisches System“, „dessen sämtliche Funktionen übernommen und verbunden sind in der umfassenden Bewegung des Zur-Welt-seins.“Footnote 111 Laut Merleau-Ponty soll diese Einheit nicht auf den Leib beschränkt werden. Die Einheit des Körperschemas betrifft auch die Einheit des Sinns und die des Gegenstandes der Welt. Jedoch sei es die Bewegung, die die Einheit des Leibes bestimmt, wobei dabei auch die Lage des Leibes und des Dinges im Raum betroffen werden. Ist diese Einheit im Leib durch die Bewegung bestimmt, so zeichnet sich eine Korrelation zwischen dem sich bewegenden Leib und dem sich bewegenden GegenstandFootnote 112 ab. Denn der Leib hat gelernt, sich die Bewegung „seiner Welt“ einzuverleiben.Footnote 113

Diese Einheit des Körperschemas geht nicht einmal nach dem Verlust von Gliedmaßen nach einer Amputation verloren. Das Subjekt, dessen Gliedmaßen amputiert worden sind, erlebt weiterhin sein verlorenes Glied (Phantomleib), als ob es noch da wäre. Für Merleau-PontyFootnote 114 bedeutet dies, dass dieses Subjekt immer noch mit dem Schema rechnet, obwohl das verlorene Glied objektiv gesehen nicht mehr existiert.

Das Beispiel der verlorenen Gliedmaßen zeigt auf, dass das Körperschema, um es mit Kristensen auszudrücken, eine „vorlogische Einheit des Leibes“Footnote 115 ist, die dafür sorgt, dass der Leib eine Umwelt hat. Bei der apraktischen Störung sei zum Beispiel nicht die symbolische Funktion oder das Vermögen zur Darstellung verloren, sondern „eine viel ursprünglichere Funktion motorischen Charakters“. So wird bei dieser Apraxie etwas Vorlogisches betroffen bzw. gestört, das für den Weltbezug von großer Bedeutung ist: ein prä-intentionales Vermögen, den eigenen Leib auf Gegenstände der Welt zu beziehen.

1.1.2.1 Die theoretische Intuition über die Leiblichkeit und unterschiedliche Modi der Weltbezüglichkeit in der Phänomenologie

Mit dieser Darstellung sind wir bereit, die theoretische Intuition über den Status der Leiblichkeit in der Phänomenologie zu definieren:

Die Leiblichkeit vermittelt in der faktischen Welt die Verständigung der Geister dieser Leiber, die Verständigung der ganzen Menschen nach ihrem „Seelenleben.“ Ist aber anders Verständigung denkbar als durch Leiber? Jeder Bewusstseinsablauf ist etwas völlig Gesondertes, eine Monade, und sie bliebe ohne Fenster der Verständigung, wenn nicht intersubjektive Phänomene da wären etc. Das ist denn auch die Bedingung der Möglichkeit einer Dingwelt, die ein und dieselbe ist für viele Ich.Footnote 116

Dabei werden sowohl der Aspekt der Subjektivität (der Leib) als auch der der „Weltbezüglichkeit“ abgedeckt. Dieser Bezug zur Welt ist eine Vermittlung der Geister, fast ähnlich wie der Status der Χώρα in Platons Timaios, die das Werden vermitteln.Footnote 117 Insofern ist die Leiblichkeit die Bedingung der Möglichkeit zum Weltbezug und steht genau im Herzen der Frage, wie sich die Interiorität und Exteriorität verhält. Wir wissen, dass diese Problematik schon in der Form des Leib-Seele Dualismus seit der Geburt der neuzeitlichen Philosophie, also seit Descartes, eine wesentliche Frage des Denkens ist.Footnote 118 Aber indem Descartes das Ich (in diesem Sinne die Seele) verdinglicht – „Ich bin ein Ding, das denkt“Footnote 119 – strebt er danach, das psychische Leben in Bezug auf das Physische (oder die reine Materie oder die Körperlichkeit) zu verstehen. Dieser Reduktionismus hat Descartes viel Kritik eingebracht.Footnote 120

Die Frage der Leiblichkeit bleibt bestehen: wenn die Leiblichkeit ein Verhältnis zwischen der Subjektivität und der Welt darstellt und dem Subjekt die Welt vermittelt, in welchem Modus geschieht diese Darstellung bzw. Vermittlung dann? Man sieht, dass diese Frage auf die klassische Debatte in der Philosophie über die Vorstellung des Realismus und des Idealismus hindeutet. Husserl, der für diese Rätsel höchst sensibel war, verstand das Bewusstsein als ein Merkmal der Subjektivität. Nur in Bezug auf das Bewusstsein konnte er die Sache (das Phänomen) der Phänomenologie formulieren. Das Wesentliche des Bewusstseins ist sein Bezug zur Welt. Husserl hat sich mit der erkenntnistheoretischen Frage beschäftigt, wie das Bewusstsein, also das Immaterielle über sich hinaus zum Materiellen gelangen kann, also zu den Dingen in der Welt. Dies hat ein Erkenntnisproblem in der Phänomenologie ausgelöst. Während bei Husserl die Intentionalität die Grenze zur Welt (im Sinne des cartesianischen Dualismus) überbrückt, hat Heidegger die Problematik mit der Seinsfrage (durch den Seinsmodus des Daseins als In-der-Welt-Sein) verschoben. Die Intentionalität ist laut Husserl ein wichtiges Merkmal des Bewusstseins und sie liefert Antwort auf die Frage, wie ein Subjekt sich auf „die Sachverhalte oder Gegenstände“ bezieht. Dadurch erscheint diese Letztere „im Bewusstsein“Footnote 121 als transzendent. Dabei ließ sich Husserl von den Gedanken seines Lehrers Brentano inspirieren, obwohl er sich von Brentanos Lehren bezüglich des Status des PhänomensFootnote 122 und der Intentionalität distanzierte.

Der Begriff „Intentionalität“ stammt von den Scholastikern. Diese haben sich mit der Darstellung der Dinge im Subjekt beschäftigt. Während für sie intentio auf einen Begriff verweist, bezeichneten Sie mit esse intentionale (Thomas von Aquin) die Art und Weise, wie Dinge im Bewusstsein gegeben und dargestelltFootnote 123 werden. Brentano bezog seinen Anspruch, die Psychologie auf das Niveau der empirischen Wissenschaft zu erheben, auf diesen Begriff des esse intentionale womit er geistige Zustände (psychische Phänomene) zum Ausdruck bringen konnte. Jedes psychische Phänomen ist laut Brentano

durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (sic.) (worunter hier eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden.Footnote 124

Wie Crane auch betont, verweisen die Begriffe – „intentionale Inexistenz“, „die Beziehung auf einen Inhalt“, „die Richtung auf ein Objekt“ oder „die Immanente Gegenständlichkeit“ – auf die Darstellung (VermittlungFootnote 125) der Welt anhand der psychischen Phänomene. Mit dieser Definition unterscheiden sich die psychischen Phänomene von den physischen Phänomenen dadurch, dass sie auf eine BezüglichkeitFootnote 126 zurückzuführen sind, während die physischen Phänomene keine Bezüglichkeit besitzen. Anhand der psychischen Phänomene vermochte es Brentano, das Gerichtetsein des Bewusstseins auf die Welt (Intentionalität) zu konzipieren: „Jedes (psychische Phänomen) enthält etwas als Objekt (sic.) in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise.“Footnote 127 In Bezug auf die psychischen Phänomene: Vorstellung, Liebe, Urteil usw. schreibt Brentano: „In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urteil (sic.) ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt usw.Footnote 128“ Auch wenn sich Husserls Begriff der Intentionalität des Bewusstseins ganz unmittelbar auf Brentano bezieht, merkt man auch eine erhebliche Distanzierung von demselben Verständnis des Begriffs. Diese Distanzierung und Kritik fassen Alloa und Depraz wie folgt zusammen:

Indem Brentano die Intentionalität an empirische Inexistenz knüpft, verfehlt er laut Husserl, dass Intentionalität keine ontologische Aussage über einen Inhalt darstellt (über die realweltliche Existenz oder die Inexistenz ihres Gegenstands), sondern lediglich eine Beziehungsform charakterisiert.Footnote 129

Die Idee dahinter ist ganz eindeutig: Brentanos Idee der „Inexistenz“ (laut den Scholastikern) erweckte den Eindruck, dass das, was im Bewusstsein durch Intentionalität dargestellt wird, nicht in der Welt real wäre. Mit anderen Worten, die Inexistenz sagt nicht, ob der Hund, auf den ich mich in meinen Gedanken beziehe, in der Welt ist oder nicht. Das heißt: in der Intentionalität wird nur eine formelle Beziehung zur Welt dargestellt. Crane zufolge bedeutet Inexistenz aber, dass der Gedankeninhalt im Akt des Denkens ist, und keine reale Existenz bedeutet, als wäre ein Hund in meinem Bewusstsein, während ich an einen Hund denke:

‚Inexistence‘ is meant to express the idea that the object of a thought – that what the thought is about – exist in the act of thinking itself. This is not to say that when I think about my dog ‚in‘ my mind. Rather it is just the idea that my dog is intrinsic to my thought, in the sense that what makes it the thought that it is is the fact that it has my dog as its object.Footnote 130

Man sieht, dass auch Crane fast das Gleiche sagt wie Alloa und Depraz obenFootnote 131, auch wenn sehr implizit. Die „Inexistenz“ sagt viel über den Inhalt des Bewusstseins (Psyche, Seele, Erfahrung. usw.) aber nichts über die Welt (Physis, Körperlichkeit, die Gegenstände der Welt usw.). Man könnte diese Bewegung als eine Art Psychologismus bezeichnen. Die innere Wahrnehmung eines Subjekts wird als eine Wahrnehmung eines inneren Objekts verstanden. Wenn ich Husserls Kritik richtig verstanden habe, so kann ich sagen, dass ihm die Dimension des realweltlich Existierenden bei Brentano fehlte. Sacha Carlson kommentiert auch Husserls Kritik an Brentanos „psychischem Erlebnis“ und hebt hervor, dass Brentano zwei unterschiedliche Sachen miteinander verwechselt, nämlich das Erlebnis (vécu) und das Wahrgenommene (perçu). Husserls Originalität besteht eben darin, zwischen den beiden zu unterscheiden. Das Wahrgenommene erscheint in der Wahrnehmung, während das Erlebnis (psychisch) auf die Inhalte der Empfindung zurückzuführen ist. In diesem Sinn wird ein äußerliches Objekt wahrgenommen, während die Empfindungen erlebt aber nicht wahrgenommen werden.Footnote 132 Sacha argumentiert somit, dass diese Unterscheidung von großer Bedeutung ist, da sie Husserl erlaubt, den Psychologismus Brentanos zu verabschieden, der das Erlebnis mit dem Wahrgenommenen vermischt, indem er ein erscheinendes Objekt in die psychische Operation assimiliert.Footnote 133 Wenn das so ist, so könnte die Frage gestellt werden, ob es bei Brentano überhaupt um die Beziehung des Psychischen zur physischen Welt geht.

In jedem Fall war es Brentano, der Husserl sehr stark beeinflusst hat, die „Grundeigenschaft des Bewusstseins“ als „Bewusstsein von etwas“Footnote 134 in der Welt zu konzipieren. Wenn jedoch die Objekte der Außenwelt im Bewusstsein sind, dann sind sie niemals so zu sehen, als wären sie darin enthalten, wie in einem Behälter.Footnote 135 Jedoch bleibt bei Husserls Beschreibung der relationalen Beziehung die grundlegende Unterscheidung zwischen „innen“ und „außen“, als wäre die GegenstandswahrnehmungFootnote 136 das Model. Die Beschreibung weist ein Rätsel und Paradox seitens der Psyche auf: Obschon sie auf etwas Reales (auch wenn dieses nicht mit der Physis gleichgestellt wird) in der Welt hindeutet, behält sie es auch im Bewusstsein.Footnote 137 Trotz der Paradoxien bleibt aber bei der Intentionalität des Bewusstseins die RelationFootnote 138 zum Realen konzeptionell maßgeblich.

1.1.2.2 Die Leiblichkeit und Weltbezüglichkeit jenseits der Intentionalität

Genau in dieser Tradition bewegt sich Richirs Phänomenologie der Leiblichkeit. Trotzdem distanziert er sich von Husserls Verständnis der Art des Bezugs zur Welt, die die Intentionalität als grundlegend voraussetzt, das heißt als allgemeingültige Struktur, die das Erlebnis oder die „Sache“ der Phänomenologie erschließt. Die Infragestellung der symbolischenFootnote 139 Struktur der Husserl’schen Phänomenologie – um es mit Mesnil auszudrücken: die „symbolische Phänomenologie ist immer eine Objektphänomenologie“Footnote 140 – geht Hand in Hand mit der Infragestellung der Basis dieser Phänomenologie, wie wir sie anhand der Methode (phänomenologische Reduktion, die phänomenologische Epoché) kennen. Erläutern wir nun diese zwei wichtigen Ideen. In La Vision et son imaginaire z. B. erfahren wir, dass der wilde und nicht symbolisch gestiftete Mensch (l’homee sauvauge) a priori anhand seiner Sinnesorgane, also seines Leibes, konstituiert ist. Wichtig dabei ist, dass die Welterschließung aus dieser Perspektive möglich ist, da die leiblich-affektiven Organe „Welterschließung a priori sind.“ Richir schreibt:

Der wilde Mensch, das heißt der nicht gestiftete Mensch, der nirgendwo als solcher existiert, das heißt soviel wie von allem Faktischen abstrahiert zu sein, ist a priori konstituiert aber nicht gestiftet, darin liegt die ganze Nuance – durch eine gewisse Anordnung, die ihm in seinen Empfindungsorganen eigen ist […], die a priori ebenso viele Öffnungen zur „Welt“ sind, d.h. so viele „Orte“ der dazwischen a priori nicht artikulierten Phänomenalisierung, wobei diese selbst durch die Undurchsichtigkeit oder das Fleisch der darin gegebenen Erscheinung die Rolle der Eröffnerin zur Welt hin spielt.Footnote 141

Die Leiblichkeit bewegt sich hier offensichtlich in zwei Richtungen: sie zeigt sich zunächst anhand der Sinnlichkeit eines Subjekts. Dieses Subjekt ist aber nicht symbolisch gestiftet. Es ist immer noch „wild“. In diesem Sinne ist es noch nicht bestimmt denn es verkörpert den Raum der Unbestimmtheit oder des Überschusses. Zweitens gewinnt dieses Subjekt nur durch die Leiblichkeit Zugang zur Welt, wobei der Zugang eine Pluralität von Öffnungen ermöglicht. Wir sehen auch hier, dass die Leiblichkeit bei Richir sowohl eine Kontinuität als auch eine Diskontinuität artikuliert. Die Kontinuität besteht darin, dass sie wie oben bereits behandelt die gleiche theoretische Intuition wie in der Tradition erfasst: die Welterschließung.Footnote 142 Jedoch besteht die Diskontinuität darin, dass dabei die Objektivierung außer Kraft gesetzt wird.

Diese letzte Aussage steht im Einklang mit Richirs Unzufriedenheit mit der Behandlung des Körpers – nicht mit dem phänomenologischen Leib zu verwechseln – unter dem Gesichtspunkt des Habens und Seins, wie bereits dargestellt. Während der Aspekt des Seins den Eindruck erweckt, der Körper sei etwas Positives, das man besitzen könnte, eröffnet der Aspekt des Habens die Möglichkeit, ihn als etwas Ungreifbares zu verstehen, obwohl er transparent ist. Das Problem für Richir ist, dass der zweite Aspekt des Habens eventuell dazu führen könnte, dass der Körper auf eine Art psychische Aktivität reduziert wird – wie eben in der Psychologie, in den Kognitionswissenschaften, in der Neurowissenschaft usw. –, nach deren physischen Reaktionen wir suchen sollten. Am Ende ist es also nicht immun gegen das Risiko, den Körper irgendwann mit „dies“ oder „das“ zu behandeln oder zu verbinden. Somit würde die Leiblichkeit nicht mehr den Überschuss und die Aporie der Erfahrung fassen und infolgedessen würde sie dann symbolisch bestimmt. Die Aufgabe einer phänomenologischen Analyse ist es also, den Überschuss der Leiblichkeit zu erklären, der zwischen dem Symbolischen und dem Unzugänglichen oder dem Symbolischen und dem Nichtsymbolischen schwankt und somit die strikte Aufteilung eines Entweder-Oder von Sein und Haben überwindet. Würde man sich fragen, was die Natur dieses Überschusses konstituiert, so würde Richir antworten, dass der Überschuss jenseits seiner Bestimmung in der griechischen Tradition (als Psyche oder Seele) in der Affektivität, in den „Affektionen“, im „Gefühl“ (über Richir hinausgehend könnte man sagen:in „wahrnehmender Empfindung“), im DenkenFootnote 143 usw. zu erforschen und zu finden ist. Richir verteidigt diese Idee, indem er schreibt: „es ist immer mehr in ihnen als das, was identifiziert wird.“Footnote 144 Diese Idee erklärt auch den Grund, warum Richirs Behandlung der Leiblichkeit in seinen ganzen Werken zerstreut ist, was allerdings das Studieren und die Forschung zu diesem Thema sehr erschwert. Die Thematik der Leiblichkeit ist da zu finden, wo die einzelnen genannten Elemente von ihm diskutiert werden. Das heißt, die Leiblichkeit und das fungierende Selbst (das leibliche Selbst) sind immer explizit gedacht, wo Richir z. B. das Sehen oder die Wahrnehmung die Emotion, die Stimmung, den Blick, Phantasia usw. behandelt. Dies erklärt auch die Auswahl der im folgenden behandelten Themen und des Aufbaus der Kapitel. Sie sind so strukturiert, dass sie diese Idee widerspiegeln.

Die Frage, die unsere Arbeit begleiten wird, lautet: Wenn die Leiblichkeit das A priori der Welterschließung ist, und deshalb einen Bezug bzw. Zugang zur Welt ermöglicht und, wenn die Interiorität des Leibes den Ort des Überschusses bezeugt, in welchem Sinne oder in welcher Art von Kohärenz sollen wir diesen Zugang zur Welt dann verstehen?

1.2 Die Herausforderungen der Arbeit

Das Begriffspaar „Leib und Leiblichkeit“ ist für Richir von großer Bedeutung. Aber es wurde bei ihm nicht systematisch behandelt. Es ist überall in seinen ganzen Werken verstreut zu finden. Dies hat zur Folge, dass kein einziges seiner Bücher allein ausreicht, um die Thematik zu erschöpfen. Die Herausforderung besteht deshalb darin, dieses Thema aus den unzähligen Veröffentlichungen von Richir herauszufiltern und zu strukturieren. Die Frage bleibt jedoch, woran wir uns orientieren sollten. Dazu kommt noch, dass Richir seine Begriffe kaum definiert, um es mit Alexander Schnell zu sagen und wenn er das tut, dann nur sehr kurz oder in Bezug auf eine Neuanpassung, wenn er einem vorigen Begriff eine neue subtile Bedeutung verleiht.Footnote 145 Dies kommt mit der Herausforderung, dass die Lektüre oder die Untersuchung seiner Werke in einer Hin- und Her- Bewegung stattfindet, in der der Leser zurückgehen muss, um die vorherigen Bedeutungen zu überprüfen und diese mit den gegenwärtigen Bedeutungen zu vergleichen. Nur so kann der Zugang zum Begriff selbst erlangt werden. Er springt in seinen Gedanken, schreibt, ohne seine Leser zu führen. Man braucht viel Geduld, um zu entziffern, wie er einen Begriff verwendet. Sein Schreibstil, sein Gedankenfluss haben keinen Anfang und keine Ende. Um sich zur Beschreibung einer angemessenen Übertreibung zu bedienen: die Intensität und die Breite von Richirs Gedanken scheinendie kontinuierliche Kreativität des Universums nachahmen zu wollen, sie sind so explosiv und massiv wie die Entwicklung der Welt seit dem Urknall. Man hat den Eindruck, dass der jeweilige Gedanke gleichzeitig in alle Richtungen und weiter hin zu einer Unendlichkeit strebt. Richir bleibt immer in Bewegung. Das Lesen von Richir ist – wie bereits gesagt – wie eine Reise durch die gesamte Geschichte der Philosophie. Er besteht darauf, mit der symbolischen institutionellen Sprache der Philosophie zu philosophieren. Dies impliziert einen großen Lesehorizont, der alle großen Philosophen abdeckt. Aber es gibt in Bezug auf die philosophische Tradition und ihre Begriffe immer sowohl eine Diskontinuität als auch eine Kontinuität. In Bezug auf die Diskontinuität transformiert er meistens die Bedeutung des bestehenden Terminus, um seine phänomenologische Wendung auszudrücken. Dies steht normalerweise im Einklang mit seinem Projekt einer „Neugründung der Phänomenologie“. Daher muss der Leser Geduld und Ausdauer mitbringen (um es mit den Autoren von Neue Phänomenologie in FrankreichFootnote 146 auszudrücken), um mit ihm eine lange, mühsame Reise zu unternehmen. Meistens lohnt es sich aber dies zu tun. Die meisten seiner Radikalisierungen des phänomenologischen Projekts seit Husserl finden im Zusammenhang mit einer Neuinterpretation einer bestehenden Terminologie statt. Dies bedeutet, dass die Neuinterpretation Hand in Hand mit einer Kultur der Kritik und der Polemik geht. Man könnte also sagen, dass Kritik bei Richir zu einer Art Methodik wird. Die Konsequenz für die Lektüre ist, dass wir ihm folgen müssen, um zu wissen, wie er seine neuen Konzepte für eine Neugründung der Phänomenologie von bestehenden Begriffen abgeleitet hat.

Richir hat hauptsächlich auf Französisch geschrieben. Zwar gibt es neben der Übersetzung einer seiner Monographien, den Phänomenologischen Meditationen, ein paar übersetzte Artikel; die Mehrheit der Werke, mit denen wir arbeiten werden, sind jedoch auf Französisch. Deshalb könnte man behaupten, dass unsere Arbeit eine Art Übersetzung ist. Wir verpflichten uns, nicht nur seine schwierigen Gedanken und Philosophien in eine mehr oder weniger leicht verständliche Philosophie zu übersetzen, sondern der deutschsprachigen Öffentlichkeit auch eine vereinfachte Form und Version der in französischer Sprache verfassten Philosophie von Marc Richir zur Verfügung zu stellen. In diesem Sinne versuchen wir, möglichst nahe am französischen Inhalt und der Idee seines Denkens zu sein. Unsere Zitate werden zusätzlich neben der deutschen Version auch in den Fußnoten auf Französisch zitiert. Damit wollen wir unseren Deutschen Lesern mit Französischkenntnissen die Möglichkeit geben, einen unmittelbareren Zugang zur Richirs Denken zu bekommen.

1.3 Die Einschränkung, die Methodik und die Struktur der Arbeit

Der erste wichtige Punkt, der hier zu beachten ist, ist, dass Richirs Forschungsprojekt global und sehr massiv ist und man den Eindruck hat, er würde gerne an der Erschaffung der Welt teilnehmen. Wir könnten ohne Angst vor Widersprüchen sagen, dass sein Projekt eine unermüdlich dynamische Erforschung der Aufgaben der Phänomenologie anstrebt und, diese Erforschung bis zu ihrer möglichen und vorstellbaren Endlichkeit treibt. Aber seine Arbeit hat nie ein Ende. Die Dynamik ist solcher Art, dass jeder Punkt ein Eingang und ein Anfang ist: der Beginn neuer Problemfelder und neuer Fragestellungen. Wenn ich dies sage, möchte ich damit vorweg deutlich machen, dass ich nicht beabsichtige, alle Richtungen und die Globalität seines Denkens abzudecken, obwohl diese Globalität auch in der Bewegung und in den Schritten unserer Arbeit deutlich wird. So werden wir uns aus den oben beschriebenen Perspektiven im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Konzept der Sinnhaftigkeit nur mit Leib und Leiblichkeit beschäftigen. Unsere Motivation, diese Hypothese aufzustellen, besteht daher darin, zu prüfen, ob die theoretische Intuition von Leib und Leiblichkeit die Sinnhypothese erklären kann. Diese Motivation stützt sich auf die Tatsache, dass einer der größten Beiträge von Richir zur Phänomenologie, insbesondere in seinem Opus Magnum Méditations phénoménologiques, der Begriff der spontanen Sinnbildung ist. Unsere Arbeit ist also eine explorative Arbeit.

Ein weiteres Problem, das wir bereits hervorgehoben haben, ist, dass Richirs Untersuchung der Leiblichkeit nicht systematisch ist. Sie ist in mehreren Texten verstreut. Dies stellt bereits ein großes Problem für die Auswahl der Texte dar, die für unsere Untersuchung verwendet werden sollen. Wir werden daher auf alle Texte verweisen, die uns während unserer Recherche zur Verfügung stehen, sofern sie dazu beitragen, unsere Fragestellungen zu beantworten. Dabei erhebt unsere Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Aber wie wir sehen werden, bleiben Phénoménologie en esquisses (2000), Phantasia, Imagination, Affectivité (2004). Fragments Phénoménologiques sur le Temps et l'Éspace (2006) für unsere Untersuchung maßgebliche Referenztexte. Der Vorteil ist, dass sich Richirs Denken und Phänomenologie mit der Veröffentlichung der Phénoménologie en esquisses ab dem Jahr 2000 in einer einheitlicheren Grundlinie entwickelt hat. Somit bieten die drei Bücher eine strategische Möglichkeit, Richirs Phänomenologie von Leib und Leiblichkeit als Einheit zu lesen, obwohl jedes Buch seine spezifischen Ziele hat. Fragments phénoménologiques sur le langage (2008) und die beiden Variations sur le sublime et le soi (2010/2011) setzen jedoch die Projekte fort, die in Fragments Phénoménologiques sur le Temps et l'Éspace eröffnet wurden. Für die Untersuchung des Erhabenen bleiben Du Sublime en politique (1991), Phénoménologie et institution symbolique (1993) und die beiden oben genannten Variations unvermeidlich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir andere Texte nicht verwenden werden. Wir werden zudem keine chronologische Untersuchung dieser Werke verfolgen, da wir nicht historisch arbeiten und die Genese der einzelnen Konzepte bei Richir rekonstruieren wollen. Wir werden unsere Untersuchung nur an den Themen (z. B. Wahrnehmungsobjekte, Stimmung, Phantasia, Affektivität usw.) ausrichten, die unser Untersuchungsgegenstand erfordert.

Nachdem wir verstanden haben, dass sich Richirs Phänomenologie in einem breiteren Kontext entwickelt hat und dass man sich in der unendlichen Entwicklung seiner Gedanken verlieren könnte, haben wir uns entschlossen, uns auf die wichtigsten Gesprächspartner unseres Autors zu konzentrieren. Platon, der Neuplatonismus, Aristoteles, Kant, Husserl, Heidegger, Merleau-Ponty und Winnicott bleiben unvermeidliche Bezugsgrößen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass Richirs Phänomenologie eine Phänomenologie ist, die immer im Gespräch steht. Sie ist daher eine intersubjektive Phänomenologie, die aus den Reibungen zu ihren Gesprächspartnern schöpft. Wenn wir diese wichtigen Gesprächspartner von Richir einbeziehen, dann tun wir das, insofern sie für unsere Anliegen wichtig sind: d. h., insofern sie für die Entwicklung der jeweiligen Themen und für die Problemstellung wichtig sind, die Richir zu klären versucht. Aus Gründen der Klarheit erlauben wir uns, an dieser Stelle ein Beispiel zu geben. Um sein Konzept der Leiblichkeit als das zu definieren, was für die Vermittlung der Wirklichkeit unvermeidlich ist, ist eine Auseinandersetzung mit Platons Begriff von χώρα (in seinem Timaios) unausweichlich. Um den unvermeidlichen Abstand zwischen Leibkörper und Leib zu artikulieren, erscheint Aristoteles’ Toposlehre (in seiner Physik) als notwendige Referenzgröße. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht auf andere Autoren verweisen, wo dies erforderlich ist. Es ist sehr klar, dass der spätere Richir einige der Heidegger’schen Positionen in Sein und Zeit sehr kritisch sieht. Wenn wir diese kritischen Positionen aufdecken, dann nur mit einem Ziel: dem Leser zu helfen, zu verstehen, was Richirs Phänomenologie auszeichnet, welche, wie bereits angeführt, einen polemischen Charakter hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns den gesamten Inhalt all dieser Kritikpunkte zu eigen machen.

Wir haben eine spezielle Untersuchungsmethode eingeführt, die als „Kontextualisierung“ bezeichnet werden kann. Was bedeutet das? Es bedeutet einfach, dass wir in jedem Fall versuchen werden, Richirs Phänomenologie in die Kontexte und Perspektiven zu bringen, in denen sie aufgetreten sind. Richirs Phänomenologie ist ein klassisches Beispiel für Philosophie im Dialog. Auf diese Weise werden wir zum Beispiel verstehen, warum er ein spezifisches philosophisches Sprachregister verwendet hat, um seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Es soll auch helfen, seinen polemischen Ansatz oder seine Unzufriedenheit mit anderen Philosophen hervorzuheben. Auf diese Weise können wir sehen, wie er seine Phänomenologie versteht. Wir denken, dass sich Richirs Phänomenologie nicht isoliert entwickelt hat und dass er am besten verstanden werden kann, wenn er kontextualisiert wird. Wenn wir also Richir kontextualisieren, so wird uns diese spezielle Untersuchungsmethode helfen, die wichtigsten Fragen zu entschlüsseln, die wir zur Erforschung unternommen haben.

Die Frage der Strukturierung unserer Arbeit ist besonders schwierig. Es ergibt sich aus der Tatsache, dass sich Leib und Leiblichkeit gegenseitig implizieren. Wir können nicht von Leib sprechen, ohne in gewisser Weise von Leiblichkeit zu sprechen. Und wenn wir von Leiblichkeit sprechen, dann deshalb, weil sie mit einem Leib zu tun hat. Es stellt sich die Frage: Wie sollen wir dann jeden dieser Begriffe mit seiner spezifischen theoretischen Intuition separat behandeln, um es unseren Lesern klarer und verständlicher zu machen? Wenn wir diese Frage stellen, möchten wir dadurch erreichen, dass der Leser diese Schwierigkeit berücksichtigt. Die Arbeit wird jedoch so strukturiert sein, dass sie die Aspekte behandelt, bei denen Leib und Leiblichkeit zuerst zusammenfallen. Aus diesem Grund sind wir der Meinung, dass die Behandlung der platonischen χώρα (Leiblichkeit) als Grundlage der Phänomenologie im ersten Kapitel – und unmittelbar danach die Unbestimmtheit der Wahrnehmungsobjekte im zweiten Kapitel – ein geeigneter Ausgangspunkt ist, unsere Untersuchung zu beginnen. Später werden wir dann jene Aspekte behandeln, bei denen die Frage nach dem Leib als solchem behandelt werden kann, obwohl dies niemals isoliert von der theoretischen Intuition von Leiblichkeit passieren kann. Wir beginnen daher im dritten Kapitel mit dem leiblichen Selbst. Im vierten Kapitel setzen wir unsere Untersuchung der Rolle des Leibes in einer intersubjektiven (Interfaktizität im Richir’schen Sinne) Begegnung fort. Selbst hier können wir sehen, dass es zwar um die Frage nach dem Leib geht, man ihn aber nicht isoliert von der Welt verstehen kann. In diesem Sinne untersucht das Kapitel den Leib in Bezug auf die Größen Intentionalität, Passivität und Bildlichkeit. Am Ende wenden wir uns den Aspekten zu, bei denen die Leiblichkeit separat behandelt werden kann. So werden wir in Kapitel fünf das Erhabene behandeln, das uns auf das Kapitel sechs über die Betrachtung von Kunstwerken in der „perzeptiven“ Phantasia vorbereitet. Danach wenden wir uns im letzten (siebten) Kapitel der Affektivität zu. Selbst in diesen Kapiteln, in denen es vorrangig um Leiblichkeit zu gehen scheint, werden wir sehen, dass auch hier der Bezug zum Leib ebenfalls unverzichtbar ist. Letztlich ist diese Gliederung, die wir versucht haben, größtenteils eine theoretische Abstraktion.

Die Kapitel, in denen die Leiblichkeit als ein operatives Konzept erscheint, enthalten Themen wie: Wahrnehmung, das Erhabene, Affektivität, Phantasia, Affektionen usw. Der Grund ist, dass Richir in diesen Aspekten den Überschuss der Leiblichkeit untersuchen will. Wenn wir die Wahrnehmung, das Erhabene, die Stimmung, die Affektivität, die Phantasia usw. untersuchen, dann soll verstanden werden, dass wir die Leiblichkeit als theoretische Bedingung der Weltbezüglichkeit untersuchen. In jedem Fall ist es unser Anliegen zu verstehen, wie diese Themen der Weltbezüglichkeit mit der Idee der Sinnhaftigkeit (im phänomenologischen und symbolischen Sinne) zusammenhängen.

Wenden wir uns nun der Darstellung der einzelnen Kapitel zu. Hier werden die einzelnen Thesen der jeweiligen Kapitel deutlich, obwohl jede einzelne These, anstatt von unserem allgemeinen Ziel getrennt zu sein, vielmehr dazu beiträgt, unsere gemeinsame Frage wie oben gestellt zu beantworten.

Im ersten Kapitel wird zunächst gezeigt, wie Richir der platonischen χώρα eine phänomenologische Bedeutung verleiht. Die These, der wir also in diesem Kapitel nachgehen werden, ist, dass die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie auf der einen Seite der theoretischen Intuition zur Welterschließung dient und dass sie auf der anderen Seite im Dienst von Richirs Projekt einer transzendentalen Phänomenologie steht, wo jegliche bestimmende Objektivierung des Subjekts und des Objekts ausgeschaltet werden soll, die das Phänomen als „Positionell“ hält. Positionell ist ein häufig von Richir gebrauchter Begriff der sich nicht ohne weiteres übersetzen lässt. Er will damit ein Phänomen in seiner objektiven Gegebenheit bezeichnen. Ist die Phänomenalisierung – das, was das Phänomen erscheinen lässt – das, was Richirs transzendentale Phänomenologie ausmacht, dann soll die Leiblichkeit die Phänomenalisierung artikulieren. Sie soll mithin die Reflexivität des Denkens artikulieren, den Bezug zu außen und innen, ohne dabei in eine Objektivierung zu verfallen. Erst dann kann die Leiblichkeit im wahrsten Sinne des Wortes als die Grundlage von Richirs transzendentaler Phänomenologie gelten. Unsere Aufgabe in diesem Kapitel wird darin bestehen, aufzuzeigen, wie diese transzendentale Phänomenologie in Richirs Phänomenologie des Leibes und der Leiblichkeit zu artikulieren ist.

Wenn die Leiblichkeit als Grundlage der Phänomenologie gilt und wenn sie die Ausschaltung jeglicher Objektivierung der Welt erfordert, so wird zu untersuchen sein, wie die Leiblichkeit dann in der Wahrnehmung fungiert – wo wir mit bestimmten Objekten und Gegenständen der Welt zu tun haben, die schon in der Sprache kodiert sind. Wir werden sehen, dass diese Frage zwei unterschiedliche Register (das Phänomenologische oder das Nichtpositionelle und das Symbolische oder das Positionelle) eröffnen werden. Dabei wird untersucht werden, in welchem Verhältnis diese Register zueinanderstehen?

Im zweiten Kapitel werden wir uns diese Fragen widmen und die Überlegungen des ersten Kapitels vertiefen. Wir werden zeigen, dass die Objekte und Gegenstände der Welt schon durch die Sprache kodiert sind, mit der wir in der Wahrnehmnung zu tun haben. Heidegger bietet ein gutes Beispiel zur Veranschaulichung dieses symbolischen Aspekts. Heideggers Analyse vom Zuhandensein und Vorhandensein vermittelt den Eindruck, dass Objekte – selbst innerhalb der Wechselhaftigkeit und Schwankung der Zeit – stabil sind. Soll das nicht heißen, dass Dinge, mit denen man es in der Welt wahrnehmend zu tun hat, absolut festgelegt sind und somit eine feststehende Sinnhaftigkeit haben? Wenn diese Art mit Dingen in der Welt in Beziehung zu stehen, wahr ist – dass die Dinge also einen festgelegten Sinn haben – würde das dann nicht heißen, dass diese Beziehung gewohnheitsmäßig durch eine Art von kodierter Institutionalisierung (symbolisch) vollzogen wird, die dem Sinn zu einer Art Sättigung verhelfen könnte? Husserls Begriff der äußerlichen Wahrnehmung, wie wir ihn erforschen und erläutern werden, wird jedoch etwas Gegenteiliges besagen: Dieser weist auf die These der Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten hin, wobei diese Unbestimmtbarkeit auf der Vorstellung von Abschattungen beruht. Die Lektüre von Richirs Auseinandersetzung mit der Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten nach Husserl soll und wird das Thema sogar noch vertiefen und zeigen, wie Richir diese Unbestimmbarkeit von Wahrnehmungsobjekten durch die Vorstellung von anderweitiger Abschattung begründet. Die Aufgabe des zweiten Kapitels ist es, die Gründung der Möglichkeit von Wahrnehmung durch Abschattung in der unendlich potentiellen Pluralität anderer Blicke (Phantasia, Leiblichkeit) in einem sehenden Blick zu erforschen. Sie soll beispielhaft das Phänomenologische und das Nichtpositionelle aufweisen. Zu diesen Überlegungen tritt als weitere die Auseinadersetzung mit der Frage zu, ob die Lebendigkeit der symbolischen Institution selbst durch die Zirkulation der Phantasia und der Leiblichkeit aufrechterhalten wird und wie die bestimmte symbolische Institution zugleich durch die Phantasia und die Leiblichkeit unbestimmt bleiben könnte. Dies wird uns erlauben, mit der These der Transpassibilität (einer Offenheit für) der Leiblichkeit zu enden, durch die eine Kommunikation mit der Welt möglich ist.

Im letzten Teil des Kapitels werden wir sehen, dass die Leiblichkeit, um die es hier geht – und die für die Aufrechterhaltung der Lebendigkeit der symbolischen Institution wichtig ist – nichts mit der des Menschen zu tun hat. Es ist vielmehr die Leiblichkeit des Tyrannen. Zu jeder Menschlichkeit gehört auch eine Unmenschlichkeit, die der Menschlichkeit zugrunde liegt. Die Analyse von Richirs Begriff des Tyrannen soll diese Idee herausarbeiten. Nachdem wir die Leiblichkeit eines tyranischen Leibes unter Bezugnahme auf die Zirkulation der Bedeutsamkeit untersucht und auch die Leiblichkeit eines menschlichen Leibes als Wahrnehmungsgrundlage behandelt haben, soll die Frage gestellt werden, was wir aber unter Leib verstehen. Auf welche Weise sollen wir den Leib in seiner Leiblichkeit verstehen? Mit dem Begriff „Leib“ beziehen wir uns nicht mehr auf den des unmenschlichen (den Tyrannen), sondern auf den des rein menschlichen Subjekts. Im dritten Kapitel werden wir sehen, wie sich Richir von einem Begriff des Menschen (des Selbst) distanziert, das als leiblos verstanden werden kann. Er folgt dabei Husserl, um das auf dem Leib und der Gemeinschaft von Leibern basierende Verständnis des Selbst zu verteidigen. Wir werden sehen, dass die Idee eines Selbst nur in einer solchen Gemeinschaft von Leibern möglich ist. Darüber hinaus entwickelt Richir im Kontext eines solchen Selbstbegriffs das, was er die Reflexität (die Schwingung) des Selbst nennt, die jenseits jeglicher Etablierung in einer symbolischen Institution liegt.

Im dritten Kapitel werden wir Richirs Phänomenologie des Selbst behandeln, die sich auf zwei Stufen stützt. Wenn die Leiblichkeit voraussetzt, dass sich ein Subjekt auf die Welt bezieht und sich derselben öffnet, wie können wir uns dieses Selbst vorstellen? Ist dieses Selbst ein leibliches oder ein metaphysisches? Im ersten Schritt wird sich Richir gegen all diejenigen Theorien des Selbst wenden, die als „leiblose“ Ideale zusammengefasst werden können und die durch das Prisma einer metaphysischen Hyperbel (Heidegger, Levinas, Binswanger) denkbar sind. Im zweiten Schritt soll gezeigt werden, wie er Husserl folgt, um die transzendentale Geschichte des Selbst zu verteidigen. Bei diesem zweiten Fall wird das Konzept des Leibes unvermeidlich, wenn man alle Schwierigkeiten, Ambiguitäten und Rätsel des leiblosen Selbst, abbauen muss. Im Rahmen dieses zweiten Schrittes, in dem das Register des primordialen Leibes als Basis der Erfahrung und der Orientierung im Raum durch die Einfühlung (in der transzendentalen Intersubjektivität) aktiviert wird, werden wir als erstes die These vertreten, dass das Selbst als Leib-Körper eine unmögliche Möglichkeit ist. Mit dieser Bezeichnung werden wir im Anschluss an Husserls Idee der physisch-psychische Einheit des Menschen dafür argumentieren, dass das Selbst aus der lückenhaften Einheit zwischen einem Nichtdarstellbaren und einem Darstellbaren, einer Unmöglichkeit und einer Möglichkeit besteht. Damit werden wir versuchen, Richirs Vorstellung vom Überschuss des Leibes und dem Abstand zwischen Leibkörper und Leib zu artikulieren. Diesbezüglich werde wir dafür argumentieren, dass der Phantasieleib im Abstand zwischen der Unmöglichkeit und der Möglichkeit ein „Nichtgegebenes“ empfindet und so ein kommunikatives Verhältnis zwischen den Leibern ermöglicht. Weiter werde ich die zweite These verteidigen, dass die oben genannte Unmöglichkeit im Hinblick auf das leibliche Selbst und die Möglichkeit im Hinblick auf das Körperding verstanden werden kann. Der Zusammenhang des leiblichen Selbst zwischen der Unmöglichkeit und dem Sinn auf der einen Seite und der Kontext des Körperdings zwischen der Möglichkeit und der Bedeutung (in einem Sprachsystem) auf der anderen Seite soll herausgearbeitet werden. Mit dem Begriff des Phantomleibs werden eine mögliche Täuschung des Selbst und die Sinnlosigkeit behandelt. Auf diese Weise können die von Richir vorgetragenen Kritiken gegen ein „ideales Selbst“ aufgehoben werden.

Immer wenn die Schwingung des leiblichen Selbsts ein Ende findet – das heißt, wenn die Bewegung der Reflexivität gestoppt wird –, bewegt sich das Selbst aus der Dimension der Unmöglichkeit und schlüpft symbolisch in die Dimension der Möglichkeit. Das Selbst – sagen wir das symbolische Selbst, das wir aus Mangel eines besseren Begriffs als Körperding bezeichnen können – wird als eine Möglichkeit dargestellt, die anhand der bildlichen Darstellung verwirklicht wird, auch wenn diese Darstellung die eines unbewussten Symbolisches sein mag. Im Laufe der Entwicklung unserer Arbeit wird klarwerden, dass Richir solch eine Bewegung eine architektonische Umsetzung nennt. Sie veranlasst, dass das Phänomen nicht mehr in der Phantasia perzipiert, sondern in der Darstellung der Bildlichkeit (Imagination) als dieses oder jenes Objekt (Bildobjekt) wahrgenommen oder anvisiert wird.

Im vierten Kapitel werden wir uns deshalb mit jener Art von leiblichem Gerichtetsein zur Welt befassen, die nicht nur intentional, sondern auch passiv und bildlich ist. Dort sollen die intentionalen, bildmäßigen und passiven Bezüge der Leiber zur Welt behandelt werden, wie diese sich bei Husserl und Merleau-Ponty darstellen. Dabei soll Richirs Auseinandersetzung mit solchen intentionalen, bildmäßigen und passiven Verhältnissen (dies mag in der Imagination geschehen) der Leiber im Rahmen der Intersubjektivität und im Rahmen des Verständnisses von sprachlichen Ausdrücken dargestellt werden. Zugleich soll herausgearbeitet werden, wie er durch die Entdeckung und die Revision der Husserl’schen Phantasia darauf besteht, dass dieser Zugang der Leiber zueinander eher durch eine aktive und nicht spiegelhafte Mimesis von innen geschieht. Diese Rekonstruktion soll uns erlauben, zwei Horizonte der Sinnbildung (phänomenologisch und symbolisch) festzustellen, die die Bezüge der Leiber zueinander ausmachen. Die Frage wird gestellt werden, ob die Transzendenz der Welt keine Rolle dabei spielt. Was ist die Rolle der Welt als absolute Transzendenz in der Fremderfahrung oder sogar in der Erfahrung überhaupt? Welche Rolle spielt diese absolute Transzendenz in Hinblick auf die Konstitution des Selbsts?

Das fünfte Kapitel soll sich diesen Fragen widmen. Dieses wird sich mit Richirs Transformation des kantischen Erhabenen beschäftigen und sich mit der Frage befassen, ob Kants Vernunftidee (der Ort des symbolischen Stifters) in der Einbildungskraft (Richirs „phänomenologisches Feld“) sich schematisieren kann. Damit das Symbolische sich also im phänomenologischen Feld artikulieren kann, muss eine Akzentverschiebung durch eine hyperbolische phänomenologische Epoché geschehen, die die Natur – als brutale Gewalt – als eine Gegebenheit („la donation“) neutralisiert. In diesem Kapitel wird argumentiert werden, dass das phänomenologische Erhabene bei Richir zum Modell menschlicher Erfahrung wird. Um dies zu realisieren, werden wir folgende These vertreten: Unsere erste These wird darauf abzielen, zu zeigen, dass bei Richir die Zusammenwirkung des phänomenologischen und symbolischen Felds für die Möglichkeit der Erfahrung notwendig ist. Aus dieser ersten These soll eine zweite These folgen – nämlich, dass die Transzendenz eine wichtige Bedingung für die Selbstkonstitution und die Sinneröffnung ist. Deshalb soll dieses Kapitel herausarbeiten, dass sich das leibliche Selbst dank der Transzendenz zum leiblichen Selbst bewegt – diese Bewegung nennt Richir „phänomenologische Schwingung“ – und damit einen Horizont des Phänomens (Sinnhorizont) eröffnet. Zugleich soll thematisiert werden, wie die Transzendenz anhand ihrer Virtualität das Phänomen aufruft, sich selbst zu übertreffen. Dieses Vorgehen wird die zwei Dimension des Phänomens artikulieren: dass es einen Fuß im Protoraum des Leibes – dies erinnert an Husserls „Erde“ als Interiorität, die als Protoraum der Erfahrung fungiert – und einen anderen im transzendenten Ort des symbolischen Stifters hat– dies erinnert an Kants „bestirnten Himmel über mir“ als Transzendenz. Deshalb werden wir dafür argumentieren, dass Richirs Phänomenologie der Erfahrung als ein dualistisches Denken verstanden werden kann.

Nachdem wir die Rolle der absoluten Transzendenz für die Möglichkeit der Erfahrung und deren Virtualität für die notwendige Zusicherung des Sprachlichen herausgestellt haben, wird offensichtlich, dass die Virtualität die lebendige Kraft des Realen (Sinns) ist. Wenn dies so ist, dann lässt sich die Frage stellen: Ist die Virtualität der absoluten Transzendenz bei Richir eine universelle Struktur für die Erfahrung? Wenn ich nun auch Kunstwerke betrachte, auf welche Weise wird mir die Welt der Kunstwerke vermittelt? Was wird in einem Kunstwerk eröffnet? Ist es nicht eine Welt, die in der Wahrnehmung gegeben ist, also eine Welt der realen Dinge? Oder wird mir in Kunstwerken die Welt der Künstler in Bildern gegeben, sodass mir nur eine „Kopie“ davon vermittelt wird? Somit scheint uns das Kunstwerk die Welt zu öffnen, wie sie ist – d. h. die reale Welt der Dinge als Körper (durch die Wahrnehmung) oder als Phantomleib (durch die Imagination). Oder öffnet das Kunstwerk nur die Welt der Dinge, die niemals sind und niemals sein werden – also eine rein virtuelle Welt? Noch einmal: Unser Interesse soll darin bestehen, zu untersuchen, ob diese Virtualität der absoluten Transzendenz eine allgemein notwendige Struktur für die Erfahrung ist.

Wir werden dies im sechsten Kapitel am Beispiel der Kunst diskutieren. Dort werden wir mit der Frage konfrontiert werden: Kann die Wahrheit des Seins, wie Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes zeigt, uns in der Erfahrung gegeben sein? Und wenn ja – auf welche Weise ist diese Erfahrung möglich? Hierzu werden wir mindestens drei Arten erörtern, wie Kunstwerke in der Geschichte der Kunstphilosophie betrachtet wurden. Die drei Arten sollen für uns den drei Leibbegriffen entsprechen: Wahrnehmung (Körperlichkeit), imaginative Mimesis (Phantomleiblichkeit) und „perzeptive“ Phantasia (Phantasieleiblichkeit). Wir werden zeigen, dass die erste zum naiven Realismus und die zweite zur Irrealität führt. Innerhalb eines polemischen Kontextes, der die ersten zwei Arten anzweifelt und durch die revolutionäre Entdeckung der „perzeptiven“ Phantasia Husserls wird Richir in der Diskussion führen, indem er phänomenologisch demonstriert, wie eine metaphysisch geladene „Wahrheit des Seins“ in Kunstwerken als „Sache“, als „Phänomen“ erfahren werden kann. Somit erweckt er Heideggers phänomenologische Intuitionen zum Leben. Daneben wird er aufzeigen, wie die uns durch Kunstwerke offenbarte Welt nie gewesen ist und nie sein wird, es sei denn durch eine Transposition, die die Erstere verzerrt. Dieses Kapitel soll herausstellen, dass Kunstwerke also eine virtuelle Welt erschließen, die sehr weit von unserer natürlichen Seinsweise entfernt ist: die Ontologie. Während wir erkunden, wie Richir dies in Bezug auf Theater, Literatur, darstellender Kunst und Musik vollzieht, werden wir „Partizipation“ als phänomenologische Herangehensweise vorschlagen, die sowohl Heideggers, als auch Richirs Intuition verständlich macht.

Wir wollen klarmachen, dass die Konsequenzen der Überbearbeitung der Husserl’schen Phantasie bei Richir nicht nur für die „perzeptive“ Phantasia sondern auch für die Affektivität gelten soll. Trotz der Festellung der Zusammengehörigkeit der Phantasia und der Affektivität bleiben noch die Konsequenzen der Überarbeitung der Husser’lschen Phantasie für die Affektivität offen: Wie ist es möglich, dass die Affektivität nicht mehr vom Gesichtpunkt der intentionalen Erfassung von Ereignissen der Welt (im Sinne einer Noesis) her verstanden wird, die auf ein affektivies Noema gerichtet ist? Wie könnten die nichtintentionalen Charaktere der Affektivität – ihre Flüchtigkeit, die unfassbare Fluidität des Leibes, der Überschuss des Leibes, extreme Mobilität der Gefühle zum Beispiel, die gar nicht der Gattung der Intentionalität eines Objekts der Welt angehören – genauso wie die Phantasia thematisiert werden? Wenn die Phantasia als das Nichtintentionale fungiert, aber durch eine architektonische Transposition in die Imagination umgesetzt werden kann, so muss man auch von der Nichtintenionalität der Affektivität und deren Umsetzung in […] sprechen können. Dies wird erst im folgenden Kapitel behandelt werden, in diesem Kapitel werden wir diesen Sachverhalt in Bezug auf die Affektivität nicht richtig thematisieren, sondern nur als Problemzusammenhang anreißen: eine Thematisierung, die die Affektionen genauso wie die Phantasia als eine leibliche Bezüglichkeit zur Welt behandelt, die aber durch eine architektonische Umsetzung auf ein intentionales Objekt der Welt gerichtet werden kann. Wir werden dabei sehen, dass der Affektivität auch bei Richir unterschiedliche phänomenologische Analysen zukommen. Wir werden uns daher im siebten Kapitel mit Richirs Entwicklung der Phänomenologie der Affektivität befassen, welcher er eine leibliche, sinnhaftige Instanz der Welteröffnung zuschreibt. Diese Entwicklung Richirs wäre aber ohne Heideggers Lehre von Stimmung (und Befindlichkeit) in Sein und Zeit nicht möglich gewesen.

Im siebten Kapitel soll unsere Untersuchung zeigen, dass Heideggers Darstellung der Affektivität (Stimmung) – obwohl seine programmatische Bestimmung eine ontische Dimension oder anderweitig gelebte persönliche Erfahrungen beinhaltet – von einer dichten Ontologie überschattet wird, die es nicht vermag, phänomenalen Erfahrungen einen Platz einzuräumen. Von daher wird gezeigt, warum Heidegger andere geistige affektive Dispositionen, Emotionen, Gefühle und die Rolle des Leibes bei der Affektivität nicht thematisieren konnte. Außerdem sind wir in diese Ontologie verstrickt, wenn wir versuchen, die Frage zu beantworten, ob die Stimmung „eine“ ist oder „viele“ umfasst. Mein Ziel soll es sein, darauf hinzuweisen, wie diese Mängel in Heideggers Stimmungslehre in Richirs Phänomenologie über die leibliche Affektivität überwunden werden könnten, wo unbestimmte Hintergrundgefühle (Affektionen) mit ihrer Sinnhaftigkeit zu einer bestimmten und auftretenden Emotion (Affekte) mit ihren Bedeutsamkeiten führen können. Der Vorteil dieses Schrittes ist eine reichhaltige ontische Darstellung der Affektivität, bei der der Leib in einem „intersubjektiven“ Kontext eine große Rolle spielt. Wenn Richir Heidegger den existenzialen Solipsismus vorwirft, könnte man dem ersteren nun aber einen existenziellen Solipsismus vorwerfen. Am Ende werde ich vorschlagen, dass diese beiden zentralen, aber gegensätzlichen Aspekte der Affektivität (der ontologische und der ontische) zur gleichen Realität gehören. Dieser Vorschlag wird versuchen zu zeigen, wie Gegensätze miteinander vereinbar sein können: Dasein ist nicht nur in der Welt, sondern auch die Welt ist im Dasein, da Letzteres innerlich gerührt werden und an der Welt teilnehmen kann.

Die Beantwortung der Frage, deren Untersuchung an den Anfang der Arbeit gestellt wurde, soll das Hauptziel unserer Analyse im abschließenden Teil dieser Arbeit sein. Dazu sollen die zuvor entwickelten Argumente und Überlegungen zusammengefasst und fokussiert werden. Die Entwicklung eines solchen Fokus bestimmt die Struktur des achten Kapitels.

Dieses ist in drei Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt werden wir zeigen, dass Richirs Phänomenologie als Ganzes und unsere einzelnen Kapitel durch die hyperbolische phänomenologische Epoché zusammengehalten werden können. Es soll gezeigt werden, dass die hyperbolische phänomenologische Epoché erstens Konsequenzen für die „Welt“ hat, die dem Leib die Leiblichkeit erschließt. Sie hat auch Konsequenzen für das leibliche Selbst. Dass diese Epoché durch die phänomenologische Schwingung (Reflexivität) ausschließt, dass der Leib (selbst) sich etabliert, soll herausgearbeitet werden. Eine andere, dritte Folge dieser Epoché besteht darin, dass sie es vermag, die Illusion der ontologischen Simulacra aufzudecken. Somit werden die „Welt“ und der Leib vor Täuschung bewahrt.

Im zweiten Teil des achten Kapitels deckt unsere Untersuchung dies auf und verteidigt die These: sowohl der Zugang zur Welt anhand der Leiblichkeit als auch die Erlebnisse einzelner Leiber sind nichts anderes als „Sinneröffnung“. Wir werden zeigen, wie sich dieser Sinn bei Richir in drei Dimensionen („das Sprachliche“, „das Sprachsystem“ „das Jenseits des Sprachlichen“) und auf unterschiedlichen Sinnschichten bewegt. Damit soll verdeutlicht werden, dass der Leib und die Leiblichkeit einen Überschuss der Erfahrung dadurch aufweisen, dass sie unterschiedliche Schichten der Sinnbewegung (Reflexivität) artikulieren. Wir werden argumentieren, dass diese Reflexivität für die Sinnbildung vorteilhafte Gründe hat. Außerdem wird die Meinung vertreten, dass Richirs Jenseits des Sprachlichen eine Herausforderung für die Theorie der Transparenz des Bewusstseins in der analytischen Philosophie darstellt, da das Jenseits des Sprachlichen das artikuliert, was dem Bewusstsein entgeht. Auch die Reflexivität zeigt die Grenze der logisch-eidetischen Stiftung des Sprachlichen im Strukturalismus, bei Platon und bei Husserl.

Im dritten Teil des achten Kapitels argumentieren wir, dass Richirs Leibthematik in der aktuellen Debatte in der Neuroethik, Kognitionswissenschaft, der Biologie usw. über den Status des Selbst auch eine hilfreiche Intuition einbringen kann. In diesem Zusammenhang verteidigen wir die These, dass das leibliche Selbst ein minimales und auch interaktives Selbst ist. Zugleich stellt sich die problematische Frage, die sich aus Richirs paradoxem Verständnis des Leibes als etwas „Asubjektivem“ ergibt.

In der allgemeinen Schlussfolgerung sollen die vorangegangenen Kapitel in ein geschlossenes Narrativ eingefügt werden. Zum Schluss werden wir auf einige enigmatische Situationen hinweisen, auf die wir während dieser Arbeit gestoßen sind, und auf die wir keine richtige Antwort haben. Hilfreich könnten künftige Forschungen sein, indem sie diese enigmatischen Fragen oder Unklarheiten ausräumen.